Mein Hindu-Sohn - Ursula Guthörl - E-Book

Mein Hindu-Sohn E-Book

Ursula Guthörl

0,0

Beschreibung

Als die in Luxemburg lebende Ursula bei einem ihrer Indien-Besuche 1990 den damals etwa zehnjährigen Straßenjungen Rajan kennenlernt, spürt sie, dass Rajan ein ganz besonderes Kind ist. Ursula beschließt, dem kleinen Rajan eine Schulbildung zu ermöglichen. Dass gute Absichten nicht immer gut ankommen, muss Ursula bald erfahren, sie gibt dennoch nicht auf. Die Tage mit Rajan werden zu erhebenden Erlebnissen. Sie übt mit ihm Englisch und erfährt immer mehr über seinen familiären Hintergrund. Mit den Jahren verändert sich die Beziehung zwischen Ursula und Rajan. Ursula wird gezwungen, zu reflektieren und ihr Handeln sowie ihre Erwartungen neu zu bewerten ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 481

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Weitere Publikationen der Autorin:

„Abhärtungen und Freuden“

(Frieling-Verlag Berlin, 2023)

„Körbe in Kampen“

(Frieling-Verlag Berlin, 2023)

„Die Erde hängt an einem Faden“

(August von Goethe Literaturverlag, 2023)

„Tanz um den Göttelborn“

(novum Verlag, 2022)

„Zeichen und Gnade“

(edition sawitri, 2021)

„Wasser-Morgen oder Intuition und Liebe“

(Edition Göttelborn, 2005)

19. 1.1990

Nun bin ich wieder in Pondicherry.

Folgende Gedanken ziehen durch mein Gehirnstübchen: Alles, was passiert und manchmal unsere Vorhaben durchkreuzt, hat einen Sinn. Auch wenn die Ereignisse nicht immer angenehm für uns sind, so bringen sie doch oft das Bessere, Richtige mit sich. Schöne Pläne werden manchmal von etwas Höherem umgeworfen. Wenn unsere innere Stimme noch zu schwach ist, treffen wir leicht die falschen Entscheidungen.

20. 1. 1990

Jetzt sitze ich in der Sri-Aurobindo-Bibliothek und überlege, wie und wo ich dem kleinen Jungen, der mit seiner Großmutter auf der Straße vor der Bibliothek lebt, ein paar Geschenke geben könnte. Ich möchte vermeiden, dass die Großmutter es mitbekommt, damit sie den Jungen nicht für ihre eigenen egoistischen Zwecke benutzt. Bis jetzt wirkt er unverdorben und bettelt auch nicht. Nachbarn haben versucht, ihn in die Schule zu schicken, doch die Großmutter lässt es nicht zu. Sie sagt, dass sie sich ohne ihn einsam fühlen würde. Sie hat eine Zeitlang am Bau gearbeitet.

Debranjan, der Chef der Bibliothek, meinte, es wäre am besten, wenn ich dem Jungen das Geschenk im Beisein des Torwächters gäbe. Er ist ein sehr feiner Tamile, der sich viel mit Rajan (Name des Jungen) beschäftigt. Er könnte die Dinge für ihn aufbewahren, sodass die Großmutter nichts davon erfährt und sie nicht am Ende noch verkauft. Debranjan sagte: „Wenn Rajan sich weiter gut entwickelt, werde ich ihn in ein paar Jahren in der Bibliothek anstellen.“ Shaupon (Mitarbeiter der Bibliothek) fand das jedoch nicht ratsam und meinte, dass er besser zur Schule ginge. Ich werde Saudamini (Mitarbeiterin der Bibliothek) fragen, ob sie bereit wäre, der Großmutter regelmäßig eine kleine Summe zu geben von dem Geld, das ich ihr dalasse. Ich hoffe, dass es Saudamini nicht zu lästig sein wird.

Gebildete Inder sind Leuten von der Straße gegenüber recht skeptisch. Debranjan erzählte mir von einer europäischen Dame, die ihrem indischen Angestellten zu viel Geld gegeben hat. Er hätte das nicht verkraftet und wäre nun rauschgiftsüchtig. Man müsse sehr vorsichtig sein. Doch ich finde, wenn man in einem Kind etwas Besonderes spürt, sollte man ihm nicht nur Almosen schenken, sondern versuchen, seinem Leben eine bessere Wende zu geben. Natürlich ist es für Europäer nicht leicht, „gut“ und „schlecht“ hier in Indien einzuschätzen. Ich frage mich zum Beispiel, ob der Junge auf der Straße, vor allem wenn sie freundlich und ruhig ist, nicht freier und glücklicher aufwächst, als wenn er eingesperrt wäre in einem reichen Haus unter dem Einfluss hochmütiger, ihn verhätschelnder Eltern oder in einem lieblosen Waisenhaus.

Wenn ich diesem Kind in die Augen sehe, habe ich das Gefühl, als kenne ich seine Seele. Letztes Jahr dachte ich sogar, er könnte die Wiedergeburt von Abdallahs Seele sein. Abdallah, mein Liebster, ist 1982 im Meer ertrunken. Aber ich will nun nicht zu viel spekulieren, sondern einfach die Entwicklung des Jungen abwarten und ihm, wenn möglich, helfen, falls meine Ashram-Freunde mich dabei unterstützen.

Seit ich heute Nachmittag in der Bibliothek bin, plaudert er mit dem „doorman“. Er scheint gern zu sprechen und sich für vieles zu interessieren. Leider habe ich die Geschenke heute nicht dabei. Debranjan sagte zu dem doorman, er solle den Jungen für morgen gegen elf Uhr herbestellen. Rajan sieht mich an, als wisse er, worum es gehe, als spüre er eine Verbindung mit mir. Er ist aber nicht aufdringlich und hat einen natürlichen Stolz.

22. 1. 1990

Vorhin, als ich vom Fahrrad stieg, kam der kleine Junge, dem ich Geschenke versprochen habe, angelaufen. Er setzte sich einfach auf den Bürgersteig und lehnte gegen die Mauer der Bibliothek ohne eine gierig erwartende Haltung. Ich machte ihm Zeichen, durch die Tür zum Wächter zu kommen, was er tat. Dort gab ich ihm das Duplo-Auto und eine Zaubertafel. Sofort fing er an zu schreiben in schönen lateinischen Buchstaben: RAJAN, sein Name. Danach schrieb ich: URSULA, und er schrieb ihn gleich darunter ab, schöner als ich ihn geschrieben hatte. Dann wischte er beide Namen wieder aus.

Ich hockte vor ihm und konnte seine Gegenwart spüren. Seine Augen sind außergewöhnlich ausdrucksvoll und klug. Ich war innerlich bewegt und zitterte ein wenig. Die Jungen und Mädchen, die in der Bibliothek arbeiten, kamen herbei und sahen zu. Schließlich packte Rajan alles zusammen, nahm das Paket unter den Arm und ging hinaus, wahrscheinlich zur Großmutter, um ihr seine Geschenke zu zeigen.

Ich fragte den Torwächter, ob er die Sachen nicht besser abends für Rajan aufbewahren würde. Doch das schien ihm nicht angebracht zu sein, so als wolle er die Freiheit des Jungen, mit seinen Sachen zu tun, was er wolle, nicht beschneiden. Er erscheint mir sehr feinfühlend. Pari (meine iranische Freundin) sagte: „Er ist ein Gentleman.“ Tim, ihr englischer Freund, hatte ihr einmal die Eigenschaften eines „Gentleman“ aufgezählt: alles oberflächliche, äußerliche Dinge. Sie lachte darüber und antwortete: „The doorman at the Sri Aurobindo Library is a gentleman.“

Auf dem Weg zum dining room fuhr ich, ohne es zu wollen, in die andere Richtung am Getränke-Kiosk vorbei. Dort saß Rajan auf einem Stuhl mit hochgezogenem Bein, die Tafel auf den Knien, eifrig schreibend. Dieser Anblick machte mir Freude. Am Nachmittag saß er vor der Bibliothek und aß Reis, seine Großmutter neben sich. Sie sah mich schon wieder bettelnd an, aber vielleicht irrte ich mich ja. Von der Terrasse aus hörte ich später seine Stimme, wie er mit dem doorman sprach. Ich stand auf, ging zum Geländer der Terrasse und stützte meine Hände auf, um hinunterzuschauen.

23. 1. 1990

Am Morgen saß Rajan wieder vor der Bibliothek und schrieb. Jemand hatte ihm eine Seite aus einem Tamil-Lehrbuch hingelegt, und er übte sich im Abschreiben. Die Tamil-Schrift sieht ja recht kompliziert aus. Er las mir mit zarter Stimme vor, was er geschrieben hatte, nicht in diesem lauten, bellenden Ton, wieviele hier sprechen. Ich blieb eine Zeit lang bei ihm stehen.

Beim Verlassen der Bibliothek sah ich ihn dann neben seiner Großmutter sitzend. Sie lächelte mich an. Da der Riegel am Tor schon vorgeschoben war, musste ich mir selbst öffnen und hatte Not, die Tür von außen wieder zu schließen. Debranjans Hund, Elsa, hätte weglaufen können. Also nahm ich den Stein, der hinter der Tür lag, und legte ihn so, dass ich gerade noch durch den Spalt kam. Von außen wollte ich ihn näher ziehen, damit die Tür sich nicht weiter öffnete.

Kaum hatte ich das gedacht, als Rajan aufsprang und mit seinen schlanken Händen den Stein durch den Spalt so weit vorzog, dass die Tür geschlossen blieb. Ich war überrascht ob seiner schnellen Beobachtungsgabe und Reaktion. Sein Interesse ist es doch nicht, dass die Tür geschlossen ist. Er würde sich bestimmt gern öfter im Garten aufhalten, so wie letztes Jahr. Debranjan wollte ihn nicht mehr in den Garten lassen, weil er fürchtet, die Großmutter könnte folgen und am Ende gar eine Tasche stehlen, die die Besucher vor Betreten des Gebäudes ablegen müssen.

Ich überlege, wie es mir doch noch gelingen könnte, einen Tamil- und Englischlehrer für Rajan zu engagieren. Ich würde ihnen das Geld direkt geben und brauchte so keinen meiner Freunde mit der Aufbewahrung und Übergabe des Geldes belasten. Alle haben eine Heidenangst, wenn es um die Verantwortung für Geld geht. Sie sind ja selbst kaum an Geld gewöhnt.

Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich der Großmutter dieses Jahr wieder Geld gebe. Sie würde es vielleicht für sich allein verbrauchen. Aber wiederum gewinne ich so vielleicht ihr Vertrauen, damit sie nicht glaubt, ich wolle ihr das Kind wegnehmen. Sie scheint zu fürchten, wenn Rajan etwas lernt und gebildet wird, würde er sich nicht mehr um sie kümmern. Er ist ihre Altersversorgung. Wenn ein Lehrer ihn privat unterrichtet, braucht sie das kaum zu merken und auch nicht zu erfahren, dass ich ihn bezahle.

26. 1. 1990

Rajan, mein kleiner Freund von der Straße, ist wirklich fürs Schreiben begabt. Er beobachtet gut und hat Ausdauer. Ich gab ihm ein Blatt Papier mit allen Großbuchstaben darauf. Als ich später die Bibliothek verließ und bei ihm stehen blieb, sah ich, dass er alle Buchstaben säuberlich abgeschrieben hatte auf ein anderes Blatt. Er wirkt ganz selbstverständlich und nicht übermäßig stolz, wenn man ihn lobt. Als ich ihm die Buchstaben vorsprach, wiederholte er sie sofort exakt mit süßer, nicht zu lauter Stimme.

Mittags verließen Shaupon und ich gemeinsam die Bibliothek, um zum dining room zu fahren. Vor der Tür, an die Mauer gelehnt, saß ganz allein Rajan und lächelte mich an. Er scheint fast immer gut gelaunt zu sein. Nur einmal, gegen Abend, hörte ich ihn in einem klagenden, leicht weinerlichen Ton seiner Großmutter antworten.

Im Vorbeifahren sagte ich zu Shaupon: „Hoffentlich kocht ihm seine Oma etwas.“ Er antwortete: „Du mit deinem westerner Jedem-helfen-Wollen!“ – „Nein, das ist es nicht; ich bin gar nicht dieser Typ. Ich finde nur, dass dieser Junge etwas Besonderes, eine ‚evolutioned soul‘ ist.“ –„Das ist ja möglich, aber das Einmischen nützt nichts. Du hast ja erfahren, dass jeder dir abrät, weil es so oft ohne Erfolg versucht wurde.“ – „Ich will ihn ja gar nicht beeinflussen. Ich habe ihm nur ein paar Bücher für Schulanfänger gekauft, mit denen er allein ohne Lehrer lernen kann.“ Darauf sagte Shaupon nichts mehr.

Ich finde, die Ashramiten und gebildeten Inder überhaupt sind immer noch zu überheblich den Armen auf den Straßen gegenüber. Sie sind so sehr mit sich und ihren Problemchen beschäftigt, dass sie kaum interessiert sind, wie es denen ganz unten geht. Auf meine Frage: „Könnte denn nicht ein junger Mann oder ein junges Mädchen aus dem Ashram gegen Bezahlung von mir dem Jungen Unterricht geben?“, antwortete Shaupon: „No Ashramite would do it!“

Ich empfinde das als hochmütig, wo doch sehr viele Ashramiten nicht gerade anstrengend für ihren Unterhalt arbeiten. Alle haben ihre Tamil-Servants, die für wenig Geld die schwere Dreckarbeit machen, und das zahlt der Ashram. Mir scheint, gebildete Inder, egal wie sozial und edel sie sonst sein mögen, haben Berührungsängste Menschen von der Straße gegenüber. Ich habe auch keine Lust, mich mit allen möglichen schmutzigen, frechen Straßenkindern abzugeben. Aber wenn ein so intelligentes, wissbegieriges Kind hier neben der Tür sitzt und ich ihm mit Leichtigkeit im Vorbeigehen ein bisschen Aufmerksamkeit schenken kann, fällt mir doch kein Zacken aus der Krone.

Ich war gerade an der Eingangstür zum Garten, wo der doorman sitzt, um Rajan ein Schaubild mit Buchstaben und Wörtern aufzuhängen, damit er es lesen und abschreiben kann. Er saß bereits vor seiner magischen Tafel und legte gleich los. Er ist exakt beim Schreiben. Wenn er mit einem Buchstaben nicht zufrieden ist, wischt er ihn aus und beginnt von neuem.

28. 1. 1990

Es hat mich mit Freude erfüllt, wie Rajan gleich begann, in das Heft zu schreiben, das ich ihm gab, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit. Er hat viel Selbstbewusstsein, so als fühle er sich mir völlig ebenbürtig. Deshalb finde ich ihn interessant. Er biedert sich nicht an, drängt sich nicht auf und zeigt keine unterwürfige Dankbarkeit.

Wir standen noch eine Weile vor der Bibliothek, weil der doorman Shaupons und mein Fahrrad aufpumpte. Rajan half ihm dabei. Dieses Kind verrichtet alle seine Aufgaben mit großer Hingabe und Freude. Fast hätte ich zu den anderen gesagt: Seht mal, wie schön der Junge schreiben kann. Doch bremste ich mich. Diese gebildeten Inder verschwenden kaum einen Blick, geschweige denn ein Lächeln an ein solches Kind von der Straße. Ich denke, das Kastensystem ist immer noch wirksam.

Rajan sah mich sehr lieb an. Es kommt mir so vor, als wären wir Komplizen. Er drängt sich nie auf, sondern wartet immer, bis ich auf ihn zukomme. Wenn ich ihn nach einem Wort frage, an das er sich nicht erinnert, dreht er sein Händchen sehr graziös hin und her und schaut mich dabei fragend an. Es ist schade, dass ich mich bald nicht mehr um ihn kümmern kann. Hoffentlich bleibt er so heil, bis ich ihn wiedersehe.

1. 2. 1990

Gerade habe ich ein bisschen Lesen und Schreiben geübt mit Rajan. Er ist so aufnahmebereit und lieb. Als ich ihm Bananen und Orangen gab, zierte er sich nicht, legte sie aber gleich zur Seite. Man spürt kein Habenwollen und keine Gier bei ihm. Er zeigte mir eine kleine Hautabschürfung am Knie und machte die Bewegung von Fallen. Ich hatte ein Pflaster in der Tasche und klebte es ihm drauf. Wehleidig ist er überhaupt nicht.

Als ich gerade bei Rajan neben dem Eingang hockte, kam Debranjan vorbei und sah einen Moment zu, nicht besonders erfreut, wie mir schien, dass ich mich so viel mit dem Jungen beschäftige. Ich sagte: „Ich versuche, ihm ein wenig Schreiben und Lesen beizubringen, nur hier vorn sitze ich nicht gern. Könnte ich vielleicht hinten im Garten mit ihm lernen? Ich weiß, dass du es wegen der Großmutter nicht gern erlaubst. Wir könnten es ja tun, wenn sie es nicht merkt.“ Darauf sagte er ein kleines Ja, weil er schlecht anders konnte. Ich verstehe ihn natürlich auch. Er hat die Verantwortung für die Bibliothek. Die Besucher müssen ihre Taschen am Eingang abgeben. Der doorman passt darauf auf.

Das Erinnern der Worte fiel Rajan noch schwer, aber seine Handschrift war sehr akkurat. Er hielt den Stift geschickt. Tejinder kam gerade mit dem Fahrrad an, als ich neben Rajan hockte. Sie fragte, ob wir uns noch sehen. Als sie ihre Tasche an den Ständer hängen wollte, hörte ich ein Fallgeräusch und sah, wie sie gerade meine Tasche wieder einräumte. Hoffentlich hat sie meinen Schlüssel nicht vergessen. Sie stellte ihr Fahrrad im Garten der Bibliothek ab, was ich mir während zehn Jahren noch nie erlaubt habe, obwohl ich Debranjan jedes Jahr Geld für die Bibliothek gebe.

2. 2. 1990

Bevor ich die Bibliothek betrat, gab ich Rajan einen Umschlag zuerst in die Hand, und er reichte ihn der Großmutter weiter. Sie hatte schon ihre Hände danach ausgestreckt. Sie war sehr erleichtert und zufrieden. Darauf hatte sie wohl mit Ungeduld gewartet, nachdem ich ihr in den vergangenen Jahren zweimal Geld gegeben hatte. Ich gab ihr mit Zeichen zu verstehen, dass sie Rajan davon gut zu essen geben solle. Sie nickte eifrig. Ich hatte auch noch zwei Bananen, zwei Mandarinen, einen Apfel und eine Scheibe Brot mitgebracht, die ich ebenfalls in Rajans Hände legte. Er brachte die Sachen auch zur Großmutter. Die beiden sind sich scheinbar doch nah.

Sie muss ein hübsches Mädchen gewesen sein. Ihr Gesicht ist gut geschnitten, und sie hat ausdrucksvolle Augen. Rajan sieht ihr ähnlich. Ein Ashramit, der auch in der Bibliothek arbeitete, kam vorbei und sagte, dass sie seine Mutter wäre und dass Rajan in dieser Straße geboren wäre. Ich berichtigte ihn: „Nein, die Großmutter“. Doch er bestand auf Mutter. Egal, eine Tatsache ist es, dass man gegen ihren Willen wenig ausrichten kann, wie den Jungen zur Schule schicken.

Seit ich mich um Rajan kümmere, scheinen sich die Leute für ihn zu interessieren. Pankatsch blieb auch stehen, um ihn zu loben und zu sagen: „Die Großmutter will nicht, dass er etwas lernt.“ Ich darauf: „Sie braucht es ja kaum zu bemerken, wenn wir hier in der Bibliothek so im Vorbeigehen jedes Mal ein wenig mit ihm üben. Gibt es denn niemanden hier, der/die das ab und zu tun könnte? Ich bin ja nicht mehr lange da.“

Rajan zeigte mir heute ein schönes Bild, das er auf der Wundertafel gemalt hatte: ein Boot mit zwei Menschen auf den Wellen, eine Sonne mit Strahlen und ein großer Fisch im Wasser. Am Nachmittag übten wir wieder Lesen und Schreiben. Außerdem hatte er Plastikbuchstaben, die ihm jemand anderes gegeben hatte. Damit setzten wir Wörter zusammen. Ich machte meinen Namen, und er schrieb ihn in sein Heft ab. Rajan legte mehrere Buchstaben wahllos zusammen und deutete darauf, damit ich sie ihm vorlese. Es klang komisch, zungenbrecherisch, und er lachte lauthals.

Gestern Abend in der Bibliothek fragte ich Debranjan, ob ich mit Rajan im Garten lernen dürfe, nachdem alle Besucher gegangen waren. Er stimmte zu und zeigte auf die schönste Sitzgruppe. Wir ließen uns also nieder, Rajan wie ein Großer, obwohl er mit dem hohen Stuhl ein wenig Mühe hatte. Aber er schaffte es, seine Beine unter den Tisch zu quetschen und zu schreiben. Ich zeigte ihm meinen kleinen Taschenrechner. Er war fasziniert und drückte eifrig die Zahlen.

Ich denke an eine Kollegin, die zwei kleine Mädchen aus Pondicherry adoptiert hat. Sie hatte große Probleme mit ihnen, sodass sie die Kinder in ein Internat geben musste. Diese Frau wirkt auf mich allerdings recht verklemmt und hektisch. Ich meine, es ist besser, ein Kind in seiner vertrauten Umgebung zu belassen, vor allem wenn das Klima dort bekömmlicher ist. Rajan ist trotz seiner Armut fröhlich. Er schämt sich ihrer nicht und kann sich vielleicht freier entfalten, als wenn er in die Schule gehen müsste. Das Lernen wird ihm nicht durch Drill vergällt. Wahrscheinlich wird sein Lesen, Schreiben und Rechnen, dazu noch auf Englisch, mangelhaft bleiben, bis er erwachsen ist. Doch es gibt auch in Pondicherry Möglichkeiten, noch als Erwachsener das Versäumte nachzuholen. Wenn Rajan plötzlich allein dastehen sollte, die Großmutter stürbe, würde ich ihm eine Familie hier suchen und für ihn bezahlen, ihn gewissermaßen adoptieren, ohne Besitz von ihm zu ergreifen.

Pari (meine iranisch-englische Freundin) sagte zu mir: „Rajan will miss you, when you are gone.“ Ich darauf: „I’m afraid I’m getting too attached.“ Nachdem die Glocke zum Ende der Besuchszeit in der Bibliothek geläutet hatte, nahm ich ihn mit in den Garten, und wir ließen uns in den Korbsesseln nieder. Er war immer noch eifrig beim Lernen. Spaß machte ihm auch der Taschenrechner. Ich überlege, ob ich ihn ihm nicht als Abschiedsgeschenk überlasse. Es würde ihm sicher sehr helfen, sich im Laufe des Jahres im Rechnen zu vervollkommnen. Pari versprach mir, auch mit ihm zu lernen, wenn ich nicht mehr da sein werde.

9. 2. 1990

Abends und morgens hatte ich wieder erhöhte Temperatur. Ich ging nicht zur Bibliothek, weil ich mich schlecht fühlte. Rajan hat sicher auf mich gewartet. Am Abend zuvor hatten wir wieder eine schöne Zeit miteinander. Er versuchte, mir Tamil beizubringen. Wenn ich das Wort richtig wiederholte, sagte er schelmisch lobend: „Very good“, was ich auch immer zu ihm sage. Er brachte mir sogar Englisch bei. Ich erinnerte mich nicht mehr, was „nib“ bedeutet. Er lachte und zeigte auf die Spitze der Schreibfeder.

Als wir müde vom Lernen waren, zog ich den Fotoapparat heraus. Er war begeistert. Ich knipste ihn und er mich. Auf einem Foto wollte er meine Brille aufsetzen. Ich machte ihm Zeichen, sich mit gekreuzten Beinen ins Gras zu setzen. Das gefiel ihm aber nicht. Er stand lieber ganz gerade. Ich dachte, beim Sitzen fällt seine schlampige Kleidung nicht so auf. Ihm war das egal. Er hatte viel selbstbewusste, jungenhafte Würde. Manchmal, wenn er müde war, lehnte er sich im Sessel zurück, die Augen weit geöffnet, so als schaue er meditierend in eine andere Welt.

Als er Schluckauf bekam, dachte ich, er habe vielleicht Hunger, und sagte: „Eat?“ Er machte Zeichen, dass er nichts habe. Großmutter war nicht zu sehen, als wir auf die Straße kamen. Ich sagte: „Shop“ und zeigte in die Richtung auf den Laden, wo er mich schon gesehen hatte. Wir gingen zusammen hin. Ich zeigte auf verschiedene Päckchen, und er nickte, wenn ihm der Inhalt zusagte. Eis bot ich ihm auch an, doch das verschmähte er. Er war überhaupt nicht gierig. Nachdem ich ihm seinen Plastikbeutel mit den Sachen gegeben hatte, verabschiedete er sich. Er weiß immer, wann es Zeit zum Gehen ist und hängt sich nicht aufdringlich an.

Danach fuhr ich zur Buchhandlung, um noch einige Lehrbücher für Rajan zu erstehen. Eines war recht hübsch aufgemacht mit Häusern, Wohnungen, Schule. Zu Hause erst kam mir in den Sinn, dass er, wenn er all die schönen Dinge sähe, traurig und beschämt sein könnte, dass er ein solch armer Straßenjunge ist. Deshalb gab ich ihm das Buch noch nicht. Ein anderes war ein Tamil-Lehrbuch für Engländer mit lateinisch geschriebenem Tamil. Das gab ich ihm. Vielleicht würde er ab und zu jemanden finden, der ihm helfen könnte, darin zu lesen.

Danach fuhr ich auf der Uferpromenade in Richtung meines Gästehauses. Gleich zu Beginn kam mir Shaupon entgegen, zu Fuß. Ich blieb stehen. Wir freuten uns über den Zufall. Er fragte, was ich jetzt vorhabe, ob ich vielleicht zum Aristo essen gehe. Er hatte daran gedacht, mich im Park Guest House zu besuchen. Wir hatten eigentlich beide keinen Hunger. Trotzdem entschlossen wir uns, zum Aristo zu fahren und nur Säfte zu trinken. Ich sagte: „Das ist die letzte Gelegenheit, noch ein bisschen miteinander zu reden – oder auch nicht, wenn uns nichts einfällt.“ Er stimmte zu.

„Findest du, dass ich zu viel Zeit mit dem Jungen verbringe?“, wollte ich wissen. „Nein, wenn du es gern tust, ist es gut. Vielleicht könntest du ihn ja adoptieren.“ – „Wenn da keine Großmutter wäre, die ihn behalten will, könnte ich es mir vorstellen. Doch ihn mit nach Europa nehmen, wäre, denke ich, keine so gute Idee. In dem kalten, fremden Land käme er sich bestimmt entwurzelt und verloren vor. Es wäre auch schwierig, eine Schule zu finden, wo er doch noch kaum Englisch spricht. Hier in Indien könnte ich eine nette Familie für ihn finden, die ich bezahle, und er könnte zur Schule gehen.“

Ich dachte: Wenn ich den ganzen Tag in Luxemburg arbeite, hätte ich nur wenig Zeit, mich um ihn zu kümmern. Außerdem sitzt er gern beim doorman der Bibliothek, mit dem er ein liebevolles Verhältnis hat. Ich könnte ihn auch nach Auroville bringen, vielleicht nach Grace oder Agni. Sicher hätte ihn dort jeder gern, und er würde schnell Englisch lernen. Tamilen gibt es dort auch, sodass er seine eigene Sprache nicht vergäße. Auch seine Freiheit würde er nicht verlieren, weniger als in einer Regierungsschule, wo die Kinder sicher gedrillt werden und ihre natürliche Spontaneität verlieren.

Der doorman erzählte mir, dass Rajans Mutter tot sei und seine Großmutter für ihn sorge. Sein Vater und ein Bruder würden in einem Dorf leben. Die schienen sich aber nicht um ihn zu kümmern. Die Großmutter wird älter und schwächer. Vielleicht würde sie in eine Adoption einwilligen, wenn sie von mir versorgt würde. Sie kam mir ziemlich gestört vor, sprach oft vor sich hin. Rajan war schon weitgehend auf sich gestellt. Ab und zu sah ich ihn neben ihr sitzen und Reis essen, den sie wahrscheinlich für ihn kochte. Viel mehr wird sie ihm kaum geben können.

Am letzten Tag ließ ich ihm durch andere erklären, dass ich morgen mit dem Flugzeug nach Germany fliegen würde. Es machte ihm Eindruck. Ich wiederholte das Wort „aeroplane“ und machte entsprechende Bewegungen. Er sah mich ein bisschen traurig an und gab mir mit Zeichen zu verstehen, dass er mit mir fliegen möchte. Ich lächelte ihn tröstlich an; was konnte ich sonst auch tun oder sagen?

Rajan zeigte mir ein kleines Metallboot, das er mit Hilfe eines weißen Zeugs und Streichhölzern in Bewegung setzte auf dem Wasser des Fischbeckens im Garten der Bibliothek. Das machte ihm großen Spaß, und das Lernen kam ein bisschen zu kurz. Doch ich gönnte ihm die Freude. Nach meiner Abreise würde er es nicht mehr tun dürfen. Er erklärte mir mit Zeichen, dass Saudamini es nicht zulassen würde.

Sie hatte den tamilischen Arbeitern gegenüber ständig das Bedürfnis, ihre Autorität zu demonstrieren, so nett sie an sich war. Mit den „servants“ sprach sie in einem lauten Befehlston, als wären sie Sklaven. Pari fand das auch nicht passend und gab es ihr indirekt zu verstehen. Doch sie konnte sich wohl kaum ändern, weil sie dachte: Die brauchen das, um zum Arbeiten angetrieben zu werden. Wahrscheinlich trieb sie ihnen jedoch damit die Lust zur Arbeit aus. Der Ashram zahlte einen monatlichen Minilohn von 140 Rs, und die Ashramiten ließen sich dafür von hinten und vorn bedienen, wie mir schien.

Als ich mich von Debranjan und Saudamini verabschiedete, fragten sie, was ich wegen des Jungen unternommen hätte. Ich antwortete, dass ich der Großmutter wieder Geld gegeben und Pari eine Summe dagelassen habe, von der sie ihr regelmäßig jeden Monat etwas gebe. Die beiden sahen mich etwas missbilligend an und meinten, dass der Junge wahrscheinlich nichts davon bekommen würde. Meine Antwort war: „Dann wird die Frau wenigstens nicht mit ihm in eine andere Gegend ziehen.“ Die beiden mussten zustimmen.

Debranjan habe ich auch wieder 500 Rs für die Bibliothek überreicht. Das nimmt er immer sehr gern an. Ashramiten sind in Gelddingen ziemlich kleinlich, ja ängstlich. Ich versuchte Verständnis zu haben. Er schlug vor, Pari könnte doch Rajan direkt etwas geben. Doch was würde ihm das nützen? Schließlich musste ihm jemand das Essen kochen. Pari tat es sowieso nur mir zuliebe. Der Junge war ihr nicht so nah wie mir. Sie versprach, eine indische Bekannte, die in der gleichen Straße wohnte, darum zu bitten, das Geld zu verwalten während der drei Monate, die sie in England sein wird, und sie auch zu fragen, ob sie eventuell herausgewachsene Jungenkleidung zu verschenken hätte. Ich fand es sehr freundlich, dass sie das alles tun würde.

Andere haben sich nicht so kooperativ gezeigt in ihrer satten Selbstzufriedenheit. Ich fand, Rajan war ihnen geistig und gefühlsmäßig ebenbürtig bei einem Leben unter erschwerten Bedingungen. Und er hatte gute Manieren. Als er mir im Sessel gegenübersaß, bemerkte ich, wie seine Shorts und sein Hemd immer wieder auseinander rutschten, weil Knöpfe fehlten. Er stand auf, um sie zurechtzuziehen. Das tat er ganz dezent, indem er mir den Rücken zuwandte. Ich dachte, dass ich mich im nächsten Jahr etwas mehr um seine Anziehsachen kümmern würde.

Am letzten Abend steckte er den Taschenrechner behutsam in die Hülle und reichte ihn mir. Ich nahm ihn entgegen und gab ihn Rajan wieder zurück. Er reagierte überrascht, aber sehr verhalten. Nachdem ich mich verabschiedet hatte, verließen wir zusammen die Bibliothek. Er ging zu seiner Großmutter und zeigte ihr den Rechner. Hoffentlich verkauft sie ihn nicht, dachte ich. Es war ein umweltfreundliches Gerät mit Solarzelle. Batterien würde ich ihm nicht geben.

Im Rückblick auf meinen diesjährigen Aufenthalt in Pondicherry überlegte ich, ob er einen Sinn hatte. Besonders viel persönliches Vergnügen und körperliche Erholung erfuhr ich nicht. Es gibt sicher so viel angenehmere Orte mit besserem Klima und weniger Fieber. Die Kontakte mit den Freundinnen und Freunden waren nicht sonderlich tiefgehend. Nur die Begegnung mit Rajan war für uns beide bereichernd. Vielleicht ist unsere Beziehung noch nicht zu Ende, dachte ich, und sein Leben könnte durch mich eine bessere Wende nehmen. Vielleicht bin ich zu seinem Werkzeug ausersehen.

20. 1. 1991

Nach einigen Schwierigkeiten bin ich wieder gut in Pondicherry angekommen. Der Ausbruch des Krieges gegen den Irak stellte das zunächst infrage. Selbst im Ashram glaubte man zunächst nicht an mein pünktliches Eintreffen. Shaupon bestellte ein Taxi für mich. Nach langem Hin- und Hergrübeln bestellte er es wieder ab. Er fürchtete, es würde umsonst nach Madras fahren, und die Energie wäre verschwendet. Außerdem hätte ich im vergangenen Jahr ein Telegramm geschickt, dass ich dann und dann lande. Dieses Jahr schrieb ich nur einen Brief, den er mir brieflich bestätigte, wobei er auch schrieb, dass er ein Auto schicken würde. Also fand ich es nicht mehr für nötig, noch ein Telegramm zu senden.

Die ersten Tage verbrachte ich sehr gemächlich. Touristen würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, weil ich nicht jeden Tag einer so weiten Reise mit prallen Erlebnissen und sight-seeing anfülle. Mir ist egal, ob ich etwas erlebe oder nicht, und ich tue nur das, wozu ich Lust habe. Trotzdem habe ich noch jedes Mal in Indien genug erlebt und das Gefühl gehabt, der Aufenthalt war nicht umsonst.

Letztes Jahr habe ich mich mit einem Jungen von vielleicht 910 Jahren, der mit seiner Großmutter auf dem Bürgersteig bei der Sri Aurobindo Library lebt, angefreundet. Jeder liebt ihn, und er ist überhaupt nicht aufdringlich wie andere Straßenkinder oft. Ich habe englisch lesen und schreiben mit ihm geübt. Leider ist die Großmutter ohne Einsicht und schickt ihn nicht in die Schule, obwohl Freunde aus dem Sri Aurobindo Ashram schon alles arrangiert hatten. Diese Frau beschimpft sie, weil sie glaubt, wenn es dem Jungen später einmal besser gehen würde, kümmere er sich nicht mehr um sie oder man wolle ihn ihr wegnehmen. Man hat alles versucht, um dem Jungen bessere Chancen fürs Leben zu geben. Er ist intelligent und ein Engel.

Es ist schwierig in Indien, sich in auch noch so kümmerliche Familienverhältnisse wohlmeinend einzumischen. Da ich nur kurze Zeit hier bin, kann ich leider wenig tun. Zwischen uns ist ein wirklicher Kontakt entstanden. Wir können uns gut leiden, wenn auch eine sprachliche Verständigung nicht leicht ist. Heute habe ich wieder mit ihm gelernt, auf einer Steinbank am Meer sitzend. Gleich waren wir von Zuschauern umringt. Rajan ließ sich aber nicht stören, und zu meiner Freude konnte er sich an fast alles erinnern, obwohl er seit Monaten keine Bücher mehr hat. Sie wurden ihm gestohlen oder möglicherweise von der Großmutter verkauft. Ich gebe ihr Geld, doch ob der Junge etwas davon hat, weiß man nicht. Er selbst bettelt nicht um Geld. Mit anderen frechen Kindern lässt er sich nicht ein.

Unsere Zuschauer sahen seltsam aus. Zwei junge Soldaten mit langen Gewehren, die die Regierung von Pondicherry bewachen, kamen zutraulich nah. Trotz der bedrohlichen Waffen wirkten sie gar nicht gefährlich. Sie lächelten lieb, und einer fragte, ob ich ihm auch Englisch-Unterricht geben könne. Ich antwortete lachend: „First Rajan.“ Sie lachten auch und gingen langsam weg. Vielleicht hilft es, dass Rajan in seiner Umgebung aufgewertet wird, wenn sich eine fremde Frau um ihn kümmert.

Ein Eisverkäufer bot Rajan Eis an, doch Rajan lehnte ab. Der Mann gab nicht auf, und ich sah Rajan aufmunternd an. Doch es half nichts. Er ließ sich nichts aufdrängen und wurde richtig energisch. Eis scheint ihm nicht zu schmecken. Er ist überhaupt nicht gierig. Als ich ihm später zwei Bananen anbot, nahm er sie gern, doch nicht mehr. Er isst auch nicht in meiner Anwesenheit.

Ein älterer Mann mit einem sympathischen Gesicht setzte sich zu uns, fragte mich nach dem Krieg im Irak und erzählte, dass er in Malaysia war. Er zeigte gern, dass er Englisch lesen kann. Die anderen Leute betrachtete ich mir nicht so genau. Schließlich saß ich wegen Rajan da, und er sollte sich nicht überflüssig fühlen. Im vergangenen Jahr lernten wir immer ungestört im Garten der Sri-Aurobindo-Bibliothek. Doch da lässt man ihn wegen der krakeelenden Großmutter nicht mehr rein, was ich meinen Freunden ein wenig verüble. Mit solch kleinen Störungen müssten sie leben können. Sie zählen sich bei aller sonstigen Aufgeklärtheit immer noch zu einer besseren Kaste, und das Leben eines Straßenjungen interessiert sie wenig.

Januar 1991

Ich habe wieder begonnen, Englisch mit Rajan zu üben. Auf der Steinbank am Meer sind wir allerdings nicht ungestört. Dauernd mischen sich irgendwelche Leute ein. Gestern fragte ein in weiße, lappige Tücher gehüllter Franzose Rajan, ob er nicht auch Französisch lernen wolle. Doch Rajan verneinte auf Tamil und sagte, dass Englisch genüge. Der Mann sprach Tamil. Wenn ich doch nur jemand finden könnte, der gleichzeitig Englisch und Tamil spricht und Lust hat, Rajan Unterricht zu geben. Ich würde ihn ja bezahlen.

Nach dem Essen machte ich heute einen Umweg mit dem Rad durch Rajans Gegend, und als ich schon dachte, er wäre nicht da, überholte er mich plötzlich. Erst als ich anhielt und ihm zulächelte, blieb auch er stehen, jeden Moment bereit weiterzulaufen, wenn ich kein Interesse zeigen sollte. Ein solches Kind mit so viel Bewusstsein habe ich hier sonst nie getroffen. Er hat natürlichen Stolz und Würde. Ich zeigte auf unsere Bank und sagte: „Tonight.“ Er verstand, nickte und verschwand.

Gestern Nachmittag hielt ich nach Rajan Ausschau. Er war nicht zu sehen, auch die Großmutter nicht. Ich fürchte, es war ein Fehler, ihr schon am Anfang 100 Rs zu geben. Jetzt benutzt sie vielleicht das Geld, um mit Rajan in ihr Dorf zu fahren, und ich kann mich nicht mehr um ihn kümmern. Als ich später wieder an ihrem Platz vorbei fuhr, saß die Großmutter da, doch von Rajan keine Spur. Wenn sie ihn nur nicht wieder für längere Zeit ins Dorf gebracht hat. Hoffentlich irre ich mich. Sollte er mir gestern nachgelaufen sein, um sich zu verabschieden? Und ich war so kurz angebunden, weil ich dachte, ihn abends zu sehen. Ich bin mehrmals erfolglos um den Häuserblock gefahren.

Da ich genauso gut allein in ein Restaurant essen gehen kann, bin ich von den Launen anderer nicht abhängig. Alleinsein ist kein Problem für mich. Wenn mein diesjähriger Pondy-Aufenthalt mir zeigt, dass meine Gesellschaft niemandem fehlt, ich eventuell eher eine Verpflichtung und nur für gewisse Geschenke nützlich bin, werde ich in Zukunft nicht mehr jedes Jahr die beschwerliche Reise nach Indien auf mich nehmen. Da ich für Rajan am Ende doch nichts werde tun können, fällt dieser Grund schließlich ebenfalls weg. Abdallah wird es mir sicher nicht übelnehmen, wenn ich sein Grab nicht jedes Jahr besuche.

30. 1. 1991

Rajan ist wieder da. Er hantierte an seinem gewohnten Platz mit Farbtöpfen herum und sagte erklärend: „Paint“, als ich stehenblieb. Allmählich glaube ich, dass es sinnlos ist, mir immer etwas für ihn Unangenehmes vorzustellen. Möglicherweise ist er ganz zufrieden mit seinem Leben auf der Straße und wird sich wieviele andere irgendwie durchbeißen und die Oma mitschleppen, wenn sie schwächer wird. Vielleicht eignet er sich die englische Sprache mit der Zeit an und lernt nach und nach das, was bereits als Anlage in ihm steckt, und eine Schule ist gar nicht nötig. Dort würde er am Ende nur verbogen und von anderen Kindern gehänselt, weil er auf der Straße lebt. Ich werde mir also keine Gedanken mehr machen und nur noch den Augenblick nutzen, um etwas für ihn zu tun.

1. 2. 1991

Rajans und mein Weg kreuzten sich heute vor dem dining room, als ich vom Essen kam. Er trug ein buntes Einkaufstäschchen und ein wenig Geld in einer Hand. Wir blieben überrascht stehen, uns so unerwartet zu treffen. Ich fragte, ob er einkaufen gehe, und er antwortete: „Sugar.“ Ich sagte „tonight“ und zeigte in Richtung Bank am Meer. Er antwortete ein wenig traurig: „No, tomorrow.“ Ich sagte noch: „You work much“, und er nickte zustimmend.

Es berührte mich sehr, mit welchem Verantwortungsbewusstsein und Ernst dieser kleine, an sich noch verspielte Junge seine Pflichten erfüllt. Nun war ich wieder unsicher, ob ich nächstes Jahr wirklich nicht mehr kommen werde. Ich empfand es wie eine Art Untreue. Vielleicht ist Rajan enttäuscht, wenn ich in einem Jahr nicht mehr erscheine. Es kann aber auch sein, dass er dann längst nicht mehr an mich denkt, wenn der Ernst des Arbeitslebens ihn frühzeitig erwachsen werden lässt. Ich hoffe, dass er auch später noch Schreiben und Lesen sowie Englisch lernen kann.

4. 2. 1991

Morgens

Ich bin froh. Endlich scheint sich etwas zu bewegen, um Rajans Zukunft eine günstige Wende zu geben. Gestern Abend kamen Hans (ein Schweizer Freund) und Durai (ein Tamile) mit dem Motorrad aus Auroville. Ich wartete um halb fünf in der Bibliothek auf sie. Wir spazierten um den Block auf der Suche nach Rajan. Vor dem Regierungsgebäude stand er plaudernd bei den Wachsoldaten. Alle scheinen ihn zu mögen. Durai rief seinen Namen, und er kam gelaufen.

Wir setzten uns auf eine Steinbank an der Uferpromenade. Durai begann ihm Fragen zu stellen. Er tat es auf eine gute Art, liebevoll, doch nicht zu weich. Rajan antwortete ein wenig scheu. Von Zeit zu Zeit lächelte ich ihn an, um ihm Mut zu machen. Die beiden sprachen ein sehr schönes Tamil miteinander. Durai erkundigte sich nach seiner Familie, und Rajan erzählte, dass er seit dem Tod seiner Mutter mit der Großmutter zusammen auf der Straße lebe. Sie sei alt, und er wolle ihr helfen. Deswegen müsse er arbeiten. Er wäre auch kurz zur Schule gegangen, doch als er eine Zeit lang fehlte, hätten sie ihn nicht mehr genommen, als er zurückkam.

Doch egal, wie es auch gewesen ist, jetzt im Alter von ungefähr zehn Jahren wäre vielleicht die letzte Gelegenheit, ihn noch in einer Schule unterzubringen. Er müsste ja sicher ganz von vorn mit den Kleinen anfangen, obwohl er doch schon ein recht selbständiger, ernsthafter Junge ist. Durai sagte zu ihm: „Jetzt denkst du vielleicht noch, es ist nicht so wichtig, in die Schule zu gehen, doch wenn du groß bist, wirst du es vielleicht bereuen.“ Rajan hörte still und aufmerksam zu. Durai fuhr fort: „Ursula möchte dir helfen und das Geld dazu geben. Wenn du willst, kannst du mit in mein Dorf zu meiner Familie kommen, dort leben und zur Schule gehen. Am Wochenende kannst du nach Pondy fahren und deine Großmutter besuchen.“ Durai sagte das von seiner Familie, ohne dass ich ihn darum gebeten hätte.

Rajan klärte uns auf, dass seine Großmutter nicht wolle, dass er in dem Tee-Shop arbeite, wo ich ihn manchmal sah. Ich hatte angenommen, sie schicke ihn dorthin. Er kenne einen Schneider und habe vor, nähen zu lernen, weil er mit seinen Händen arbeiten könne, auch ohne zur Schule zu gehen. Ich dachte: Er hat wirklich geschickte Hände, und ein Handwerk wäre nicht das Schlechteste. Aber dort würde man diesen kleinen Jungen doch wahrscheinlich ausbeuten, indem er von früh bis spät in einer engen, heißen Bude gebeugt sitzen müsste, sodass sein zarter Körper sich nicht frei entwickeln könnte.

Durai fragte ihn mehrmals, ob er Lust habe, mit in sein Dorf zu gehen, und Rajan antwortete, indem er seinen Kopf hin und her wiegte, was bei uns nein bedeutet, in Indien jedoch ja. Beide zupften an ihren Fingern und bogen sie in alle Richtungen, was Inder immer tun, wenn sie ein bisschen aufgeregt oder verlegen sind. Ich fragte Hans, der still neben mir saß, ob er Durais Familie kenne und glaube, dass es ein Platz für Rajan sein könnte. Er sagte, dass die Mutter nett und kinderlieb sei, doch der Vater wäre ein Trinker, aber nicht gewalttätig. Wahrscheinlich regelt die Mutter alles. Durais jüngerer Bruder und die Schwestern wären schon verheiratet.

Durai arbeitet bei Aurelec, der Computerfabrik in Auroville, wo auch Pournas Sohn Kalia eine leitende Stelle bekleidet und mit seiner Familie lebt. Durai lernte ich bereits 1980 kennen, als ich zum ersten Mal in New Community (Auroville) wohnte. Er sah mit ca. 14 Jahren noch wie ein Kind aus. Er war immer sehr fleißig, angenehm und freundlich. Ich wusste, dass er und ein anderer Junge im heftigsten Monsunregen auf vollgepackten Rädern sich durch den roten Schlamm kämpfend die Lebensmittel für uns seltsame Europäer nach New Community schafften, die sie im Nachbardorf einkauften.

Vor etwas mehr als vier Jahren begann er in Aurelec zu arbeiten. Bei Ellen (eine deutsche Aurovillianerin) in New Community hielt er es nicht mehr aus. In Aurelec müsse er allerdings viel arbeiten und oft Überstunden ohne mehr Geld machen. Er verdient nur 750 Rs, weniger als die anderen Kollegen, weil er keine Schulzeugnisse hat. Er musste auch seine Familie ernähren und konnte deshalb nicht lange zur Schule gehen. Darüber wäre er jetzt unglücklich. Er denke oft darüber nach, Aurelec zu verlassen, aber etwas Besseres würde er wahrscheinlich ohne Ausbildung nicht finden.

Nun, da Rajan unserem Vorschlag zustimmte, war die nächste Hürde zu nehmen: Großmutter. Mir war ein wenig bange, sie könnte ein großes Geschrei und Gejammer beginnen. Also schritten wir vier in Richtung der Straße, wo sie ihr armseliges Lager haben. Zuerst ließen wir Durai und Rajan zu ihr hingehen. Hans und ich hielten uns abwartend im Hintergrund. Ich beobachtete dezent die Szene und war überrascht, mit welcher Würde die alte Frau Durai auf ihrem Bürgersteig empfing. Er sprach sehr achtungsvoll, freundlich und selbstsicher mit ihr. Rajan stand daneben und legte seine Hand auf den Arm der Großmutter. Ich sagte zu Hans: „Er liebt sie.“ – „Ja, weil er nur mit ihr gelebt hat.“

Schließlich, nach längerer Besprechung, kam Durai auf uns zu und sagte: „Sie ist einverstanden.“ Ich war überrascht und staunte ob ihrer Einsicht. Natürlich hatte ich ihr durch Durai Geld für sie selbst versprochen, wenn sie Rajan zur Schule gehen lasse. Nun näherten auch Hans und ich uns ihr. Sie sah mich überglücklich und dankbar an. Sie erzählte Durai, dass ich ihr schon Geld gegeben habe und fragte, ob ich, bevor Rajan von ihr weggehe, noch ein Foto von ihnen beiden zusammen machen könnte. Sie wollte vorher einen sauberen Sari anziehen und sich mit Rajan vor das Regierungsgebäude stellen. Am Bau des Gebäudes hatte sie mitgearbeitet und früher dort unter den Arkaden schlafen können, jetzt lasse man sie aber nicht mehr dort hinein. Ich fragte mich, wo Rajan und Oma jetzt während der Regenzeit schlafen.

Durai, Hans und ich beratschlagten auch, in welche Schule man Rajan schicken könnte. Hans hielt nicht viel von den Dorfschulen. Sie würden nicht einmal Englisch lehren heutzutage. Es gab eine zweite Möglichkeit: eine Schule in Auroville. Sie lag etwa 100 m vom Dorf entfernt. Wir wollten es also dort versuchen.

Durai versprach mir, diese Woche alles zu klären und mit seiner Mutter zu sprechen. Sie hätte Zeit und liebe Kinder. Ich würde natürlich auch der Mutter und Durai ihre Mühe und Arbeit bezahlen, zusätzlich zu dem Betrag für Rajans Unterhalt. Alles in allem mit dem Geld für Großmutter werden wohl 100 DM im Monat ausreichen, nachdem ich gehört habe, dass ganze Familien mit weniger leben.

Ich fragte Durai, ob es vielleicht auch möglich wäre, eine Hütte für Großmutter im Dorf zu finden oder zu bauen, was er nicht ausschloss. „Zuerst wollen wir einmal warten, wie es mit Rajan und der Schule geht, und dann werden wir weitersehen“, fand Durai.

Nachmittags

Ein kleines bisschen mulmig war mir jetzt, als ich daran dachte, welche Verantwortung ich übernehme, indem ich in das Leben von Rajan und seiner Großmutter eingreife. Er wird vielleicht Heimweh nach Pondy und seiner Straße haben. Aber mit seiner Freiheit wäre es ja sowieso vorbei, wenn er bei einem Schneider arbeiten müsste. Hoffentlich idealisiere ich ihn nicht zu viel und bin am Ende enttäuscht, wenn er nur ein ganz durchschnittlicher junger und schließlich erwachsener Mann sein wird, dachte ich.

Ich überlegte, wieviel Geld ich jedem geben werde: 200 Rs für die Großmutter, 200 Rs für Durai, 200 Rs für dessen Mutter und den Rest für Rajan. Durai sollte das Geld verwalten. Wenn ich ihm jetzt genug für ein Jahr gebe, wäre es am besten, wenn er ein Konto hätte, dachte ich. Oder ich werde fragen, ob mein Konto bei meiner Bank noch besteht und gebe ihm Vollmacht.

Um das Geld für Großmutter aufzubewahren und monatlich zu übergeben, werde ich Agnidan fragen. Sie hat auch schon versucht, etwas für Rajan zu tun, und ich habe ihr vor Jahren einen Gefallen getan, indem ich einem ihrer früheren Deutschschüler regelmäßig Deutschunterricht gab. Sie ist Deutsche und lebt seit langem im Sri-Aurobindo-Ashram. Zuerst dachte ich an Pari. Doch sie tut sich schwer mit der Großmutter. Das Geld, das ich letztes Jahr hier gelassen hatte, übergab sie ihr nicht, sondern gab es mir zurück.

Nachdem wir alles besprochen hatten und uns verabschiedeten, standen Oma und Enkel Arm in Arm vor uns und machten für uns glücklich das indische Grußzeichen, indem sie die Hände vor dem Gesicht gegeneinander legten. Ich war gerührt und fürchtete, dass ich meinen Entschluss, nächstes Jahr nicht nach Indien zu fliegen, revidieren muss, ob ich nun Lust habe oder nicht. Ich kann doch schlecht nach einem Jahr sagen: Nun seht zu, wie ihr zurechtkommt, nachdem ich sie aus ihren, wenn auch noch so armseligen Gewohnheiten gerissen habe.

Ganz sicher war ich mir allerdings nicht, ob es das Beste für beide ist. Durai sagte, die Großmutter habe ganz normal mit ihm gesprochen und nicht den Eindruck gemacht, verrückt zu sein. Sie fragte, ob ich, bevor Rajan fortgeht, noch ein Foto von beiden zusammen machen könnte. Dazu werde ich noch einen Film kaufen müssen. Mein Film wurde nämlich aus der kleinen Seitentasche des aufgegebenen Handgepäcks gestohlen. Außerdem werde ich noch Kleidungsstücke für Rajan einkaufen: Sandalen, eine Tasche für die Schule, evtl. eine Tasche für seine Anziehsachen und sonstiges. Durai versprach mir, Bescheid zu geben, wenn er sich informiert hat.

Dann werde ich mit Rajan im Taxi zu dem Dorf fahren, damit er sich alles ansehen kann und wieder mit ihm zurück nach Pondy kommen, um seiner Oma zu erzählen, wie es da ist und ihm noch etwas Zeit zum Überlegen zu lassen. Wenn er sich ganz sicher ist, werde ich ihn endgültig hinbringen. Natürlich bleibt er frei, nach Pondy zurückzukehren, falls er sich nicht wohlfühlen sollte. Vom Dorf, wo er schlafen wird, ist es nicht weit nach Agni, zu dem Garten, wo Siegfried, Hans und Durai wohnen. Dort wird Rajan sicher gern seine Freizeit verbringen zwischen den vielen Pflanzen und Bäumen.

5. 2. 1991

Am Morgen habe ich erst nach 11 Uhr mein Zimmer verlassen, weil ich vorher noch in der „Sauna“ auf meinem Balkon war. Von außen sieht mich keiner, wenn ich flach auf dem Boden liege. Also kann ich mich ausziehen. Es tut gut, eine halbe Stunde in der Sonne zu liegen. Ich übertreibe es nicht, sonst trocknet die Haut zu sehr aus.

Vor der Außenmauer der Bibliothek warteten Rajan und Oma auf mich. Als sie mich sahen, standen sie auf und kamen mir ein paar Schritte entgegen. Ich merkte, dass Rajan mir etwas zeigen wollte. Deshalb ging ich näher heran. Auf den Boden gegen die Mauer hatte er eine kleine Götterfigur gestellt und ein Muster aus Blütenblättern davor geformt. Es sah sehr hübsch und harmonisch aus. Rajan hat einen Sinn für Schönheit. Ich holte meinen Fotoapparat hervor, und Rajan setzte sich mit großen strahlenden Augen neben sein Kunstwerk. Vorher war ich noch in der Stadt gewesen, um ihm neue Shorts, ein T-Shirt und eine elegante, strapazierfähige kurze Jeans-Hose zu kaufen.

6. 2. 1991

Zufällig begegnete mir Agnidan an einem Ort, wo wir beide vorher noch nie waren: im Fahrradkeller des Park Guest House. Ich rief: „Das ist ja nett, dass du kommst!“ Sie schaute mich verständnislos an, bis ich ihr alles erklärt hatte. Doch sie reagierte sehr pessimistisch, was Rajans Großmutter angeht. Sie konnte nicht glauben, dass die Geschichte gut gehen wird. Der Junge würde sich wahrscheinlich freuen, aber die Großmutter könnte nicht ohne das Kind leben. „Er ist ihr Lebensinhalt, und sie ist zu dumm, um einzusehen, dass er nicht weiter bei ihr auf der Straße vegetieren kann.“ – „Aber sie schien sehr glücklich über das Angebot des jungen Tamilen zu sein“, warf ich ein. „Ja, aber die ist unberechenbar. Wenn der Junge wirklich weg ist, dreht sie durch. Das kannst du ihr nicht antun.“

Ich fragte mich, ob die Zukunft eines jungen hoffnungsvollen Menschen nicht wichtiger ist als die Unvernunft der Großmutter. „Ich werde sie ebenfalls unterstützen, weil sie mir leidtut.“ – „Das hält die nicht aus“, meinte Agnidan. Ich antwortete: „Warten wir einmal ab, was meine Freunde im Dorf und in Auroville erreichen.“ Allmählich ging mir Agnidan auf die Nerven, und ich bereute schon, sie überhaupt gefragt zu haben. Mir schien, dass sie selbst eine problematische, verkrampfte Frau war. Ich kannte sie eigentlich nur wenig.

Als ich am Tag darauf durch Pondy fuhr, rief plötzlich hinter mir jemand meinen Namen. Es war Agnidan. Sie wollte mir nur erklären, dass sie an das Gelingen meines Planes nicht glaube und dass sie da nicht mit hineingezogen werden wolle. Gut, dachte ich, falls doch was draus wird, werde ich jemand anderen finden, der/die nicht so feige ist. Außerdem war es ja ursprünglich gar nicht mein Plan. Ich wollte nur, dass Durai mit Rajan spricht, als er ihm plötzlich ohne mein Dazutun vorschlug, mit in sein Dorf zu kommen. In dem Moment blieb mir keine andere Wahl mehr als mitzumachen. Vorher war ich ja eigentlich schon recht unlustig gewesen und hatte fast gehofft, die Großmutter würde sofort nein sagen. Dann hätte ich nächstes Jahr nicht nach Indien zu fliegen brauchen. Jetzt blieb mir nur noch abzuwarten, wie sich alles entwickeln würde.

Interessant ist, wie verschieden die Reaktionen der Menschen sind. Morgens ging ich zu Saudamini in die Bibliothek, wo sie auch beschäftigt war. Außerdem war sie Debranjans Freundin. Wegen Streiks blieb die Bibliothek geschlossen, und ich ging gleich die Außentreppe zu Debranjans Wohnung hinauf, wo sich Saudamini meist aufhält. Nur abends geht sie zum Schlafen in ihr Zimmer in einem anderen Haus. Sie bat mich herein. Ich erzählte ihr von der Entwicklung Rajan betreffend. Sie war recht angetan von dem Plan und fand ihn gar nicht so unmöglich. Sie dachte, dass auch die Großmutter mitgehen könnte, wenn ich für den Unterhalt und eine Hütte sorgen würde. Sie schlug vor: „Am besten fährst du selbst zur Schule in Auroville, um ihnen zu sagen, dass du das Finanzielle übernimmst.“ – „Wenn Siegfried oder Hans morgen zu mir nach Pondy kommen werden, um mir das Neueste zu berichten, werde ich gleich per Taxi nach Auroville fahren, um mich um die Schule zu kümmern“, sagte ich.

Auf der Straße traf ich zufällig Rabindra Kanah, ein alter Ashramit und Lehrer von Shaupon. Ich kannte ihn als einen sehr herzlichen, demütigen Mann, der die Literatur liebte. Er hatte mich gern und erkannte mich sofort auf meinem Fahrrad trotz der großen Sonnenbrille. Wir unterhielten uns kurz, und er lud mich ein, ihn zu besuchen, wenn ich Lust dazu hätte. Das tat ich also. Ich erzählte ihm unter anderem auch von Rajan, dem Straßenjungen. Rabindra hörte aufmerksam zu und fand, wenn es das Schicksal des Jungen sein sollte, dass er nach Auroville in die Schule geht, wird der Plan gelingen.

Als ich ihm von der Skepsis fast aller Freunde erzählte und dass die Großmutter vorher immer gegen alles war, sagte er mit ungefähr diesen Worten: „Die „Mutter“ hat gesagt, dass man einen Menschen nicht danach beurteilen soll, was er gestern getan hat, sondern man solle ohne Vorurteile und Vorbehalte auf ihn zugehen. Wenn man nämlich selbst glaube, ein bestimmter Plan gelinge ja doch nicht, werde es wohl so kommen. Jeder Mensch habe Stimmungen, und aus diesen Stimmungen heraus reagiere er. Wenn er aber merkt, dass ein anderer ihm völlig offen ohne vorgefasste Meinung wohlwollend entgegentritt, werde er meist ganz anders reagieren als vielleicht noch am Tag zuvor.

Diese Antwort von Ravindra gefiel mir. So empfinde ich es nämlich auch. Ausschlaggebend war das Schicksal des Jungen. Ich fühlte mich nur als Werkzeug. Ich wollte nichts und ließ mich nur vom Augenblick leiten. Alles, was die anderen mir vorher über die Großmutter erzählt hatten, war mir egal. Zu mir war sie immer freundlich. „Ja, weil du ihr Geld gibst“, sagen die anderen. Ich dachte: Na und, wenn ich ohne alles auf der Straße läge, würde ich mich auch über Geld freuen und mehr Vertrauen zu der Person haben, die es mir gibt. Besonders willkommen wäre es, wenn es mir ohne Herablassung gegeben würde. Nur dann wäre ich auch bereit, ihr mein Liebstes anzuvertrauen, zum Beispiel mein Enkelkind, dem ich nichts bieten könnte als die Straße.

Ab und zu fuhr ich mit dem Fahrrad durch Rajans Straße, auch wenn ich nicht in die Bibliothek ging, um ihm das Gefühl zu geben, dass ich ihn nicht vergessen hatte. Entweder winkte ich ihm zu oder gab ihm Bananen und sonstiges. Wenn er sie annahm, sagte er mit deutlicher Stimme: „Thank you.“ Ob ihm jemand gesagt hatte, dass man sich für ein Geschenk bedankt, fragte ich mich. Für Tamilen ist das nämlich nicht selbstverständlich. Abends sah ich ihn bei der Teebude die Tische und Töpfe säubern. Er hockte auf der Theke und wischte um sich herum. Wenn er davor steht, wäre er noch zu klein, um alle Ecken und Kanten zu erreichen.

Pari erzählte mir, dass eine Frau aus dem Ashram „Udavi“ die Schule im Dorf bei Auroville, besonders für indische Kinder, deren Eltern in der dazugehörigen Räucherstäbchenfabrik arbeiten, gegründet habe. Sie wäre nett, und ich könne sicher persönlich mit ihr reden über das, was ich vorhabe mit Rajan. Sie fand es viel besser, Rajan dorthin zu geben, als in die Schule für europäische Kinder in Auroville. Diese wären zu verwöhnt, manchmal sogar verdorben und frech. Ein Straßenjunge würde wahrscheinlich von ihnen verachtet.

8. 2. 1991

Letzte Nacht habe ich nicht so gut geschlafen wie sonst. Ich denke, die Ungewissheit, ob alles gut gehen wird für Rajan, machte mich ein wenig nervös. Ich hatte gehofft, Siegfried oder Hans käme am Morgen zu mir. Deshalb verließ ich mein Zimmer erst nach elf Uhr. Ich hatte vor, am Nachmittag nach Auroville zu fahren, war mir aber nicht sicher, ob es Sinn haben würde. Vielleicht hatte Durai noch keine Gelegenheit gehabt, alles zu regeln mit seiner Mutter und der Schule. Nun wollte ich vielleicht versuchen, zuerst die Frau zu finden, die für die Schule zuständig ist. Es blieben mir nur noch fünf Tage bis zu meiner Abreise. Zur Bank musste ich ja auch noch gehen.

Nachdem die Bibliothek geschlossen hatte, traf ich Rajan, und wir saßen lange auf einer Bank am Meer und lernten. Er zeichnete auch mit Farbstiften und hatte viel Ausdauer und Spaß dabei. Als er genug davon hatte, spazierten wir zusammen auf der Uferpromenade. Ich schob mein Rad, und er erklärte mir, wie die verschiedenen Teile des Rades auf Tamil heißen. Auch die englischen Bezeichnungen kannte er alle. Als ich ihn fragte, ob er nun zur Amma (Großmutter) gehen würde, wehrte er ab. Ich ließ ihn auf dem Gepäckträger des Rades sitzen und fuhr zuerst wackelnd mit ihm um den Block.

Am „Standard Store“ (Laden für alles Mögliche) hielt ich an und fragte, ob er etwas essen wolle. „No eat, car“, antwortete er. Gleich neben dem Eingang hingen verführerische kleine Automodelle im Packkarton. Sicher träumte er schon länger davon. Für indische Verhältnisse sind sie sehr teuer: 35 Rs. Ich sagte zu ihm: „Much money“ und zeigte ihm den Preis. Trotzdem machte ich ihm die Freude und kaufte ein Auto-Modell für ihn, nahm mir aber vor, ihn in Zukunft nicht allzu viel zu verwöhnen.

Man hört oft Erzählungen, wie katastrophal sich arme indische Kinder manchmal entwickeln, wenn sie plötzlich mit Luxus überhäuft werden. Sie verlieren alle Maßstäbe und werden leicht kriminell oder drogenabhängig. Ein Junge aus Auroville, den ich 1981 kennengelernt hatte, wäre eine Art Gangster geworden, erzählten mir Siegfried und Hans. Besonders Herbert hatte sich intensiv um ihn gekümmert. Herbert hat Agni inzwischen verlassen und ist nach Österreich zurückgekehrt. Ich muss sagen, dass dieser Junge auf mich nie einen guten Eindruck gemacht hat. Ich sah etwas raffiniert Berechnendes in ihm. Er gab sich charmant, um etwas zu erreichen.

Ich nahm mir vor aufzupassen, dass sich Rajan nicht nur mir allein anschließt und mich vermisst, wenn ich in Europa bin. Er sollte in der ihm gemäßen Umgebung mit Kindern und Erwachsenen seines Kulturkreises frei heranwachsen und nicht durch zu viel europäischen Einfluss für das Leben in Indien verdorben werden. Die englische Sprache ist natürlich nützlich, weil er in Auroville und Pondicherry viele Europäer trifft. Diese werden ihm natürlich nichts schenken. Arbeiten muss er später in jedem Fall. An Durais Beispiel sah ich aber, wie wichtig auch in Indien Zeugnisse und Diplome sind, um genug zu verdienen. Durais Handicap ist, dass er keine Zeugnisse hat, obwohl er intelligent und recht gebildet ist.

10. 2. 1991

Gerade bin ich aus Auroville zurückgekommen, wo ich heute mit Rajan war, um ihm alles zu zeigen und ihn seiner neuen „Familie“ vorzustellen. Am Morgen schickte mir Pourna eine Nachricht, dass sie gern mitfahren möchte, um ihre Familie zu besuchen. Zuerst holte ich Rajan ab. Er war bereit, sauber gewaschen und angezogen. Großmutter stand auf ihrem Bürgersteig und wäre am liebsten auch ins Auto gestiegen. Ich gab ihr den neuen Sari für 162 Rs und dachte, so ist sie abgelenkt und mit sich beschäftigt. Sofort nahm sie ihr ziemlich großes Bündel auf den Kopf und verschwand hinter dem Chief Secretariat. Ihre Sachen musste sie scheinbar immer mitschleppen, weil sie sonst gestohlen werden können.

Zusammen mit Rajan fuhr ich also zu Pournas Haus. Das Dienstmädchen kam zur Tür und sagte: „Madam is not in.“ Ich war ein bisschen ärgerlich, weil Durai mit dem Essen auf uns wartete. Rajan stieg aus, während ich wartete und lief in die Richtung, in die Oma verschwunden war. Er sagte zu mir: „Come!“ Ich folgte ein paar Schritte und sah sie eilig in ihrem neuen Sari auf uns zukommen. Sie ging mit zum Auto vor Pournas Haus. Da standen wir, durch einen Baum getrennt, und warteten. Ich dachte: hoffentlich macht sie kein Theater, wenn wir heute ohne sie wegfahren.

Dann erschien Pourna. Sie war doch zu Hause. Das Dienstmädchen hatte Papier und Bleistift dabei und ließ mich meinen Namen aufschreiben. Kurz darauf kam Pourna. So hielt sie sich lästige Besucher vom Hals. Wir stiegen ein und fuhren los. Großmutter schickte sich an, ebenfalls einzusteigen. Ich machte ihr jedoch verständlich, dass ich sie erst am nächsten Tag mitnehmen würde. Sie schien zu verstehen und gab auf. Rajan saß vorn und sah mit großen Augen aus dem Fenster. Das war wahrscheinlich seine erste Autofahrt und ein großes Abenteuer. Nachdem Pourna in Aurelec ausgestiegen war, fuhren wir weiter nach Agni.

Alle kamen zum Tor, um uns zu empfangen. Rajan und ich aßen, was Durai für uns gekocht hatte. Reis und Gemüse waren sehr gut. Man schmeckte, dass Durai ein feinfühlender Mann ist. Ich habe großes Vertrauen in ihn. Er hat ein gutes Herz und ist zuverlässig. Nach dem Essen saßen wir alle um den großen Tisch in der Küchenhütte. Rajan holte sein kleines Auto hervor, und wir schoben es uns gegenseitig zu. Rajan war am geschicktesten. Er zeigte uns auch, wie man ein Geldstück tanzen lässt. Er hat äußerst bewegliche Finger. Alle waren von ihm angetan. Auroculture, die zu Besuch von Pondicherry gekommen war, sagte: „Da hast du einen Schatz gefunden.“ Sie fand, dass er sehr intelligent aussehe und schon ziemlich erwachsen, nicht wie andere Kinder in seinem Alter. Agni mit den vielen Bäumen und Blüten gefiel ihm. Viele Pflanzen erkannte er wieder und sagte: „Also Library“.