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Mächtige Feinde und mutige Freunde ...
In die ruhige Spätsommerstimmung, die über Fiona O'Connors gemütlichem Bed & Breakfast liegt, platzt eine schreckliche Nachricht: Inspector Aidan Connolly, der Mann, in den sie sich trotz aller Hindernisse verliebt hat, wurde in Dublin wegen Mordes verhaftet. Doch Fiona zweifelt nicht eine Sekunde an seiner Unschuld. Dann stehen Aidans Vater und Aidans Tochter Ella vor Fionas Tür. Kann sie den beiden in Ballinwroe sicheren Unterschlupf bieten? Und wird es ihr gelingen, Aidan zu entlasten?
Fiona O'Connor ermittelt mit viel Herz und scharfem Verstand an der malerischen irischen Westküste.
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Seitenzahl: 231
Inspector Aidan Connolly hat hoch gepokert – und verloren. Verhaftet wegen des Mordes an einer Frau, den er nicht begangen hat. Und das alles nur, weil er Beweise gesammelt hat, um Verfehlungen in den eigenen Reihen aufzudecken. In der Untersuchungshaft ist er vollkommen isoliert, und die Zeit läuft gegen ihn. Aidan setzt all seine Hoffnungen auf seine Verbündeten und seine Freunde in Ballinwroe. Besonders auf Fiona, die er ins Vertrauen gezogen hat und die nun deshalb selbst in größter Gefahr ist. Kann sie seine Unschuld beweisen?
Molly Flanaghan, geboren 1978, reiste vor Jahren während der Semesterferien mit dem Rucksack durch Irland und verliebte sich Hals über Kopf in das Land. Während einer zweiten Reise lernte sie ihren späteren Ehemann kennen, mit dem sie inzwischen in Deutschland lebt. Irland ist ihr zur zweiten Heimat geworden.
Im Aufbau Verlag sind ihre Kriminalromane »Der Tag beginnt mit Mord«, »Der Tod bleibt über Nacht« und »Der Frühling bringt den Tod« erschienen.
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Molly Flanaghan
Mit dem Morgen kommt der Tod
Ein Krimi in Irland
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Motto
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Impressum
»For the great Gaels of Ireland Are the men that God made mad, For all their wars are merry, And all their songs are sad.«
G. K. Chesterton
»The Ballad of the White Horse«
Inspector Aidan Connolly spürte, wie das kalte Metall der Handschellen in seine Handgelenke schnitt. Die beiden Beamten, die ihn blutüberströmt in dem schäbigen Badezimmer des noch schäbigeren Hotels gefunden hatten, waren mittlerweile durch Beamte des NBCI, des National Bureau of Criminal Investigation der irischen Polizei, abgelöst worden. Von Kollegen. Seinen Kollegen. Aber keiner sprach auch nur ein Wort mit ihm. Er hatte das Badezimmer nicht verlassen dürfen. Die Beamten hatten das Fenster zum dunklen Innenhof weit geöffnet, um den Geruch von Blut und Erbrochenem loszuwerden. Die Techniker der Spurensicherung hatten ihn fotografiert, Proben des Blutes genommen, das in seinen Haaren und an seinen Händen klebte, und ihn aufgefordert, seine Kleidung auszuziehen und in die vorgesehenen Tüten zu stecken. Der dünne graue Trainingsanzug, den er von ihnen bekam, war zu klein und spannte an Schultern und Beinen. Aidan merkte, dass sein Körper unkontrolliert zu zittern begann. Vor Kälte, durch den Schock und wahrscheinlich auch ausgelöst durch die Drogen, die man ihm verabreicht haben musste. Denn er erinnerte sich weder an das Hotel, noch an das Zimmer, noch an die Frau, die mit durchschnittener Kehle nebenan ausgestreckt auf dem Bett lag.
Doch niemand hatte ihm Blut abgenommen – und mit jeder Sekunde, die sein Körper damit beschäftigt war, die Reste der Betäubungsmittel abzubauen, die Beweise dafür zu zersetzen, dass er in eine Falle gelockt worden war, schwand auch ein Stückchen seiner Hoffnung.
Er merkte, wie ihm erneut schlecht wurde. Die beiden Männer, die nun neben ihm standen und auf die Freigabe der Techniker warteten, Aidan aufs Revier abführen zu können, blickten ihn nicht an. Er kannte sie, Hogan und O’Sullivan, sie arbeiteten Tür an Tür, und Aidan erinnerte sich, wie O’Sullivan auf dem Sommerfest des Reviers hinter dem Grill gestanden und sich fröhlich mit ihm über das letzte Spiel der irischen Rugby-Nationalmannschaft unterhalten hatte.
Aidan versuchte es noch einmal:
»Ich wurde unter Drogen gesetzt. Man muss mir Blut abnehmen. Jetzt!«
Keiner der beiden drehte sich zu ihm herum. Keiner reagierte auf seine Worte.
»Ihr macht einen Fehler!«
Wieder keine Reaktion. Aidan schloss die Augen. Was hatte man Hogan und O’Sullivan wohl erzählt? Wie hatte man die beiden Männer dazu gebracht, sich so zu verhalten? Gegen alles zu verstoßen, was sie über Jahre gelernt und gelebt hatten? Sogar wenn Aidan schuldig wäre, war es die Aufgabe eines jeden Polizisten, Beweise zu sichern. Ohne Ansehen der Person. Fair und gerecht. Die beiden waren doch wie er Mitglieder der Garda. Der Garda Síochána na hÉireann, der »Hüter des Friedens von Irland«. Ein stolzer Name für eine stolze Truppe.
Aber Aidan hatte die letzten Monate damit verbracht, in den eigenen Reihen gegen eine einflussreiche Gruppe ranghoher Beamter zu ermitteln: Eine Gruppe, die von Korruption zersetzt und von Angst und Machtgier angetrieben Verbrechen begangen hatte und nicht einmal vor Mord zurückgeschreckt war. Er war ihnen so dicht auf den Fersen wie nie zuvor, er hatte Beweise gefunden und suchte nur noch nach den letzten Puzzleteilen, um zusammen mit seinen Mitstreitern Anklage zu erheben und dem Unheil endlich ein Ende zu bereiten. Aber irgendwie hatten sie von seiner Mission erfahren, hatten nach einem Weg gesucht, ihn außer Gefecht zu setzen – und schlussendlich dafür gesorgt, dass er vor wenigen Stunden blutüberströmt und ohne Erinnerung neben der Leiche einer Frau aufgewacht war.
»Ich bin hereingelegt worden. Ihr müsst mir zuhören! Sie haben mich betäubt und …«
Bevor er zu Ende sprechen konnte, drehte sich Hogan zu ihm um und sah ihn an. In den Augen des Garda lag so viel Angst, dass Aidan verstummte.
»Los.«
Sie griffen nach seinen Armen, und er wurde aus dem Badezimmer geführt. Aidan wusste, er sollte sich das Hotelzimmer noch einmal ansehen, sich alles einprägen, nach Hinweisen suchen. Aber er konnte es nicht. Konnte es nicht ertragen, noch einmal die Frau zu sehen, die seinetwegen getötet worden war. Er sah zu Boden. Die beiden Polizisten führten ihn aus dem Raum, über einen Flur mit einem ausgetretenen und mit Flecken übersäten Teppich in ein dunkles Treppenhaus, das nach Urin und billigem Parfüm stank. Er wurde in die dunkle Eingangshalle des Hotels geführt. Draußen konnte Aidan Menschen sehen. Schaulustige. Vielleicht auch Reporter. Ein Einsatz wie dieser sprach sich schnell herum.
Hogan wollten ihn weiter zur Tür führen. Aber Aidan blieb stehen.
»Mein Gesicht. Bitte. Könnt ihr mein Gesicht bedecken?«
Hogan schüttelte den Kopf. Aidan sah zu O’Sullivan. Wenn er sich richtig erinnerte, war der Mann auch Vater.
»Meine Tochter.«
Aidan merkte, wie seine Stimme brach.
»Bitte. Sie soll mich nicht so sehen müssen.«
Die beiden Männer wechselten einen Blick, dann trat O’Sullivan auf ihn zu, zog mit einem Ruck den Pullover hoch über Aidans Gesicht und führte ihn durch die Tür in die kalte Nachtluft hinaus. Durch den dünnen Stoff konnte Aidan das Blitzlicht der Kameras sehen. Dann wurde er unsanft auf die Rückbank eines Streifenwagens gedrückt. Inspector Aidan Connolly. Verhaftet wegen des brutalen Mordes an einer Frau.
Er hatte hoch gepokert – und verloren.
»Die Sache Connolly ist erledigt?«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang ruhig, sachlich. Sergeant Thomas Scott atmete langsam aus, bemüht, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
»Ja. Er ist neben der Leiche verhaftet worden und sitzt jetzt in einer Zelle.«
»Gut. Haben Ihre Leute etwas gefunden?«
»Nein. Noch nicht. Seine Rechner sind sauber – die Experten aus der IT sind sich sehr sicher.«
»Connolly ist nicht der Typ, der wichtige Dinge einem Computer anvertraut, oder?«
»Ja, das dachten wir auch. Daher haben wir sein Büro und sein Privathaus durchsucht. Nichts.«
»Was ist mit seiner Familie? Könnte er die Beweise jemand anderem zugesteckt haben?«
»Wir haben ihn die letzten Monate ja rund um die Uhr überwacht. Da war nichts. Sein Vater und seine Tochter sind an der Küste im Süden – er hat keinen Kontakt zu ihnen gehabt. Es gab ein Treffen mit einer seiner Protegés, Gemma O’Neill. Aber die ist zurzeit in Brüssel – und nach allem, was wir gesehen haben, ist das letzte Treffen zwischen ihnen auch nicht gerade friedlich abgelaufen.«
Thomas Scott hoffte, dass sich sein Gesprächspartner damit zufriedengeben würde. Aber er wurde enttäuscht.
»Vielleicht sollten wir Connollys Tochter einen Besuch abstatten. Ich denke, wenn er mitbekommt, dass wir wissen, wo die Kleine steckt, wird er, egal was er weiß, schweigen.«
Scott fluchte innerlich, versuchte aber, seine Stimme so ruhig wie möglich zu halten.
»Ich erledige das selbst. Connollys Vater war ja seinerzeit auch Polizist, wir müssen also vorsichtig sein.«
Er wartete bang auf eine Zustimmung.
»Ich denke, für Sie haben wir eine andere Aufgabe. Für Connollys Tochter sollte jemand mit einer Kamera und einem guten Objektiv genügen. Kein direkter Kontakt. Das Foto kann dann einer der Wärter zu ihm in die Zelle bringen. Das sollte Warnung genug sein.«
Scott wartete angespannt, was noch kommen würde.
»Ich habe Ihre Berichte zu Connolly gelesen – es gab da eine Frau. An der Westküste? Der Fall Paddy the Saint.«
»Ah, ja.«
Scott erinnerte sich nur zu gut. Er war Aidan Connolly erst wenige Wochen als Sergeant zugeteilt gewesen, als sie zu einem Mordfall in ein kleines Dorf unweit der Cliffs oft Moher gerufen worden waren.
Scott hatte die Klippen schon als Kind besucht, wie wahrscheinlich fast jeder Ire. Ein wilder Ort, ein Ort, der ihm Angst gemacht hatte. Die Aillte an Mhothair, wie die Klippen auf Gälisch hießen, hatten sich tief in seine Erinnerungen eingegraben. Denn da, wo alle seine Mitschüler fröhlich lachend am Rand der Klippen entlanggerannt waren, hatte er bleich und schwer atmend neben seinem Lehrer gestanden, unfähig, auch nur einen Schritt weiter in Richtung Abbruchkante zu gehen. Höhenangst, die ihn bis heute begleitete. Aber Scott erinnerte sich auch an die junge Pensionswirtin und die Spannung, die zwischen ihr und seinem damaligen Chef in der Luft gelegen hatte. Inspector Aidan Connolly, aufstrebender Stern der irischen Kriminalpolizei, Vorzeigepolizist der Garda. Aidan Connolly, der vor nicht einmal zehn Stunden zugedröhnt und blutüberströmt neben der Leiche einer jungen Frau in einem schäbigen Hotelzimmer verhaftet worden war. Wer hoch fliegt, fällt tief. Und Scott sprach gerade mit dem Menschen, der für Connollys Absturz verantwortlich war. Die Stimme, kalt, seltsam unmodelliert, holte ihn aus den Erinnerungen an das kleine Dorf und seinen Vorgesetzten zurück in die Gegenwart.
»Connolly ist später noch einmal in dem Dorf gewesen, ein weiterer Fall. So wie es aussieht, gab es eine Verbindung zu der Eigentümerin der dortigen Pension. Einer gewissen Fiona O’Connor?«
»Da war ich schon nicht mehr an seiner Seite, Sir.«
»Ich weiß – aber ich will wissen, ob es vielleicht noch Verbindungen gibt. Wir sind zu weit gekommen, um jetzt noch ein Risiko einzugehen.«
»Ich werde dem nachgehen.«
»Gut. Sorgen Sie dafür, dass niemand Sie bemerkt.«
Die Leitung war tot. Scott wusste, dass der Anruf von einem nicht registrierten Prepaidhandy gekommen war, so wie alle Anrufe zuvor. Sorgfältig schaltete er das Aufnahmegerät ab, speicherte die Datei und schickte sie über eine gesicherte Verbindung weiter. Dann stand er auf, holte seinen schon zuvor gepackten Rucksack aus dem Schrank und kontrollierte ein letztes Mal das gut versteckte Fach im Rückenpolster, in dem seine Waffe steckte.
Er zog einen abgetragenen Kapuzenpullover mit dem Aufdruck einer amerikanischen Universität über sein Hemd, setzte eine Baseballkappe auf, tauschte sein dünnes Brillengestell aus Metall gegen ein breites aus schwarzem Plastik und zog grobe Wanderschuhe an.
So war er nicht mehr zu unterscheiden von dem Großteil der amerikanischen Rucksacktouristen, die im Sommer Irlands Küsten erwanderten. Er machte sich auf den Weg, um zu tun, was zu tun war.
Durch die Kirchenfenster der Kirche Ballinwroes fiel das letzte Licht der abendlichen Septembersonne und warf bunte Flecken auf die alten Bodenplatten. Fiona O’Connor saß auf der vordersten Bank im Kirchenschiff und lauschte dem Chor, der noch ungeübt und etwas wackelig die letzten Töne des »Halleluja« sang. Im Altarraum hinter dem Chor konnte sie die Umrisse der frisch restaurierten alten Wandbilder erahnen. In einigen Tagen würde die Studentengruppe um die erfahrene Restauratorin Dr. Agens Hales den Abschnitt beendet und das Gerüst abgebaut haben. Die fünf jungen Leute hatten in den letzten Wochen Leben in die Kirche und vor allem in das Pfarrhaus von Pater Michael Moran gebracht, der eifrig mitgeholfen hatte, sein Wandgemälde in neuem altem Glanz erscheinen zu lassen. Fiona freute sich für die Kirche und das Dorf, aber den Anblick des Paters würde sie vermissen. Der hatte schon Monate zuvor, ausgerüstet mit Schaber und Pinsel, in jeder freien Minute selbst auf dem Gerüst gesessen und dabei immer zufrieden, vielleicht sogar glücklich ausgesehen. Im Sommer dann hatte eine große anonyme Spende den Weg geebnet, die Restaurierung unter professioneller Leitung voranzubringen und die Arbeit an den wichtigsten Bildelementen abzuschließen. Die Wandmalereien, die um 1920 von einem durchziehenden Handwerker wohl als Dank für ein Winterquartier angefertigt worden waren, zeigten ein Dorf mit einem Fluss, kleine Häuser und weite Felder, die bis zu den großen Klippen am Rande des Atlantiks reichten. Im Fluss selbst ragte eine große Figur auf, die auf der Schulter ein kleines Kind mit einem viel zu erwachsenen Gesichtsausdruck trug. Der Legende nach hatte Christophorus sein Geld verdient, indem er Menschen über den Fluss trug, stark wie ein Bär. Aber als eines Tages Jesus vor ihm gestanden und ihn um seine Dienste gebeten hatte, war er fast unter dem Gewicht des Kindes zusammengebrochen. Viele Darstellungen, die Fiona kannte und die Pater Moran ihr gezeigt hatte, zeigten Christophorus mit leidender Miene: die Last der Welt auf seinen Schultern. Aber der unbekannte Maler hatte es mit schlichten, fast kindlichen Pinselstrichen geschafft, dem großen Mann mit seinem zerfurchten Gesicht einen liebevollen, mitfühlenden Ausdruck zu geben. Er sah das Jesuskind auf seinen Schultern mit Tränen in den Augen an und hatte tröstend eine seiner großen Hände über dessen zarte Hand gelegt. Die Direktheit und Naivität der Malerei rührte Fiona – und sie war froh, dass sie wieder wie neu erstrahlte. Die Bewohner des Dorfes allerdings hatten sich vor allem darüber gefreut, dass das Flusstal mit den Häusern eindeutig ihren Heimatort Ballinwroe zeigte. Und einige der Figuren, die Wege bevölkerten oder aus Fenstern schauten, wurden eifrig mit alten Fotos von Großeltern und Urgroßeltern verglichen. Denn der Maler hatte den Menschen die Gesichter der Dorfbewohner gegeben. Sogar ein kleines Sägewerk schmiegte sich in eine Biegung des Flusses. Ebendas Sägewerk, das über Jahrzehnte hinweg das Dorf mit Arbeitsplätzen versorgt hatte und in dem auch Fionas Vater viele Jahre lang gearbeitet hatte.
Einer der Studenten hatte zu ihrer Freude beschlossen, seine Abschlussarbeit über die Wandmalerei und den unbekannten Künstler zu schreiben. Er hatte jede Geschichte und jeden Pinselstrich genaustens dokumentiert. Als die Restaurierung des Bildes in den letzten Zügen gelegen hatte, war Evan Gallagher, der Wirt des Pubs und so etwas wie der inoffizielle Patron des Dorfes, mit einer Idee an Pater Michael herangetreten. Was sich daraus ergeben hatte, hörte sie nun.
Fiona fragte sich wieder einmal, wie Evan es geschafft hatte, den Chor in so kurzer Zeit auf die Beine zu stellen. Es lag wahrscheinlich an seiner Persönlichkeit und daran, dass mehr als die Hälfte des Dorfes ihm etwas schuldete. Kein Geld, zumindest glaubte Fiona das nicht, sondern Zeit.
Denn Evan war grundsätzlich dabei, wenn es darum ging, zu helfen, sei es der Transport eines Möbelstückes, die Renovierung einer Wohnung oder auch das Verfassen wichtiger Briefe. Evan hatte sein Jurastudium in Dublin abgebrochen, um den Pub von seinem verstorbenen Vater zu übernehmen, und er kannte sich aus mit Worten. Seine Frau Anna tat noch mehr Gutes, sie hatte insbesondere den günstigen Mittagstisch und das Essen auf Rädern für die älteren Dorfbewohner auf die Beine gestellt. So war es vielen Menschen ein Anliegen, Evan auch einmal zu Hilfe zu kommen. Deshalb standen sie nun hier und probten zögerlich die ersten Lieder für Evans neues Projekt: die Teilnahme Ballinwroes bei »Irland singt«.
Fiona lächelte. Seit sie denken konnte, saßen ihre Eltern und ein großer Teil der Bevölkerung der Insel am ersten Wochenende im Dezember vor dem Radio oder dem Fernseher. Sie wusste, dass die Zuschauerzahlen in Amerika und Australien und überall sonst auf der Welt, wo sich die Iren eine neue Heimat geschaffen hatten, ebenfalls hoch war. Bei »Irland singt« traten Dörfer aus dem ganzen Land in einen musikalischen Wettstreit, der seit den fünfziger Jahren regelmäßig alle zwei Jahre veranstaltet wurde und nach wie vor für traumhafte Einschaltquoten sorgte. Vor Jahren hatte einer der Moderatoren einmal gesagt, die beste Gelegenheit, unbemerkt ein Verbrechen zu begehen, wäre am Tag der Ausstrahlung. Fiona bezweifelte das, denn wahrscheinlich säßen auch sämtliche Verbrecher Irlands begeistert vor dem Fernseher. Jedenfalls hatte die New Yorker Polizei, zumindest der irischstämmige Teil, der wohl nicht unerheblich war, ihre liebe Mühe, die Dienstpläne für diesen Tag zu besetzen.
Die Beliebtheit der Show war sicherlich darauf zurückzuführen, dass die meisten Iren mit ihr groß geworden waren. Sie gehörte einfach dazu und war fester Bestandteil der Weihnachtsvorfreude. Auch für Fiona.
Der Wettbewerb begann mit der Vorauswahl, dann gab es einen Vorentscheid, der innerhalb der einzelnen Countys die besten Beiträge ermittelte, und schließlich als Höhepunkt den live im Fernsehen ausgestrahlten Wettbewerb. Zu diesem Anlass wurde zeitgleich in jedes teilnehmende Dorf ein Kamerateam geschickt, um die Sänger und Musiker vorzustellen und deren Tag zu dokumentieren. Folglich saß so ziemlich jeder Ire vierundzwanzig Stunden lang vor dem Fernseher, mit Ausnahme der Teilnehmer selbst.
Der Charme der Sendung bestand vor allem darin, dass die teilnehmenden Chöre und Musikgruppen nicht aus professionellen Sängern und Musikern bestanden, und auch nicht bestehen durften, sondern aus einem Querschnitt der Bewohner eines Dorfes, die sich zusammentaten, um Musik zu machen. Es ging nicht darum, immer den richtigen Ton zu treffen – etwas, was Ballinwroe nur zugutekommen konnte, wie Fiona bei der heutigen Probe schon mehrfach gedacht und gehofft hatte. Vielmehr ging es darum, Gemeinschaft zu zeigen und mit einem gut zusammengestellten Programm Millionen von Menschen zu berühren.
Und Evan hatte beschlossen, dass sein Ballinwroe, sein kleines Dorf unweit der Klippen von Moher, dieses Mal dabei sein sollte.
Fiona hatte aus Freundschaft und zugegebenermaßen auch aus eigennützigen Gründen ihre Mitarbeit zugesichert. Würde Ballinwroe über die Vorrunde hinauskommen, wäre der Ort über Nacht bekannt, oder zumindest bekannter als zuvor. Und da sie die Besitzerin eines edlen Bed & Breakfast war, das Landurlaub mit regionaler Küche anbot, war Bekanntheit ein nicht zu unterschätzender wirtschaftlicher Vorteil.
Die Stimmen im Altarraum waren verstummt. Fiona richtete sich auf und griff nach der Geige, die neben ihr lag. Sie stellte sich seitlich neben den Chor, aus dessen Reihen nun zwei Menschen hervorgetreten waren.
Rose Brennan, gebeugt und vom Alter gezeichnet, an der Hand ihre zwölfjährigen Enkelin Gwen. Evan gab das Zeichen, und die beiden begannen, die ersten Worte des nun folgenden Liedes anzustimmen. Roses Stimme, alt und brüchig, hatte fast alles von ihrer früheren Schönheit verloren, strahlte aber eine Würde und eine Erfahrung aus, die eine junge Stimme niemals erreichen konnte. Und Gwens Stimme, noch fast kindlich, ungeübt, mit mehr Begeisterung als Treffsicherheit, hüpfte daneben wie ein Ball auf und ab. Fiona lächelte die beiden an und stimmte dann nach den ersten Sekunden mit ihrer Geige in die altvertraute Ballade ein.
Evan gab dem Chor das Zeichen, in die letzte Strophe mit einzustimmen. Was dieser auch tat. Mit Inbrunst. Und Lautstärke. Fiona spielte tapfer weiter. Immerhin konnte niemand behaupten, die Menschen aus Ballinwroe seinen schüchtern.
Die letzten Töne verklangen, Fiona ließ ihre Geige sinken und blickte in den unbeleuchteten Kirchenraum. Eine Bewegung an der Tür ließ sie innehalten. Jemand stand im Dunkel des Türbogens und hatte ihnen zugehört. Kurz spürte Fiona einen freudigen Stich, als sie unter einer dunklen Mütze breite Schultern und einen dunklen Pullover ausmachte. War Aidan etwa zurückgekehrt? Sie hatte ihn seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen und …
Sie trat einen Schritt vor, wurde aber von Evan abgelenkt, der plötzlich neben ihr laut in die Hände klatschte. Als sie wieder versuchte, den Schatten auszumachen, war er verschwunden. Sicherlich einer der Restaurationsstudenten, der seiner Neugierde nachgegeben hatte. Sie schaute zum Chor, dann wieder zurück in das Kirchenschiff. Aber da, wo sie den Mann gesehen hatte, war jetzt nur noch Dunkelheit.
Pater Michael Moran betrat den Kirchenraum durch die Tür der Sakristei und blieb wie angewurzelt stehen.
Im Altarraum standen etwa vierzig Bewohner des Dorfes, was deutlich mehr Menschen waren, als sich normalerweise in seine Sonntagsmessen verirrten. Und das, obwohl er kurz nach seiner Ankunft in Ballinwroe einen Fahrdienst ins Leben gerufen hatte, der die älteren Gemeindemitglieder aus den umliegenden Dörfern abholte. Vor allem waren schon lange nicht mehr so viele junge Leute in der Kirche gewesen. Die Gruppe lauschte ganz versunken den beiden Stimmen, die sich im Kirchenschiff zu den Klängen einer einzelnen Geige erhoben.
Last night as I lay dreaming of pleasant days gone by
Me mind being bent on rambling, to Ireland I did fly
I stepped on board a vision, and I followed with a will
’Til next I came to anchor at the cross at Spancil Hill
It being on the 23rd of June, the day before the fair
When Ireland’s sons and daughters and friends assembled there
The young, the old, the brave and the bold came,
their duty to fulfill
At the parish church in Clooney, a mile from Spancil Hill
Spancil Hill – ein kleiner Ort nicht weit von Ennis. Die Ballade erzählte die Geschichte eines irischen Auswanderers, der sich zurückträumt in das kleine Dorf seiner Kindheit und dabei an seine erste große Liebe denkt. Iren auf der ganzen Welt kannten das Lied, dessen Text von den Landsleuten erzählt, die über die Jahrhunderte ihre Heimat verließen, um ihr Glück anderswo zu suchen. In Irland selbst lebten gerade einmal fünf Millionen Menschen, während weltweit mehr als vierzig Millionen Menschen beanspruchten, irische Wurzeln zu haben.
Pater Michael Moran kannte Rose Brennan und ihre Enkelin Gwen aus dem Dorf und war gerührt, die beiden unterschiedlichen Stimmen vereint zu hören. Die Geige, die die beiden sanft begleitete, gehörte Fiona O’Connor, der Besitzerin und Wirtin des B & B The Cottage, das auf einem Hügel oberhalb des Dorfes lag. Fiona war nur wenige Monate nach ihm nach Ballinwroe, ihr Heimatdorf, zurückgekehrt, und zwischen ihnen hatte sich eine Freundschaft entwickelt, die Michael lieb und teuer war.
Gemeinsam hatten sie eine Menge erlebt. Neben Aidan Connolly, dem wortkargen Inspector, der seinen Weg aus Dublin zu ihnen gefunden hatte, war Fiona diejenige, die am meisten von dem Menschen Michael wusste, der sich hinter den Talar versteckte.
In der letzten Strophe fielen die anderen Chormitglieder in den Gesang ein, und der Klang ihrer Stimmen erfüllte das Kirchenschiff. Michaels Rührung schlug in ein Lächeln um. Der Chor meinte es hörbar gut, aber mehr als eine der Stimmen lag deutlich daneben. Was als sentimentale, sehnsuchtsvolle Erinnerung leise begonnen hatte, verwandelte sich innerhalb von Sekunden in einen Kampfgesang, der besser in ein Fußballstadion gepasst hätte als in die Kirche. Schüchtern waren die Dorfbewohner Ballinwroes nicht. Wahrlich nicht. Aber vor Chorleiter Evan lag noch ein gutes Stück Arbeit.
Als die letzten Töne verklangen, sah Pater Moran aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung ganz hinten im Kirchenschiff, dann, wie die Tür sich einen Spalt öffnete und sofort wieder von einem geduckten Schatten mit Baseballkappe auf dem Kopf verdunkelt wurde. Ein heimlicher Zuschauer? Einer der Studenten, der neugierig einen Blick auf den Chor werfen wollte? Aber irgendetwas an der Körperhaltung des Mannes ließ Michael bezweifeln, dass er aus dem Dorf stammte.
Neugierig geworden, drehte er sich um, ging mit schnellen Schritten zurück zur Sakristei und verließ die Kirche durch eine schmale Seitentür.
Die langsam kälter werdende Nachtluft strich über sein Gesicht, als er um die Ecke bog und zum Kirchenportal blickte. Dort war niemand zu sehen. Auch der breite Weg, der den kleinen Hügel hinab zur Hauptstraße führte, war menschenleer. Wohin war der Mann verschwunden? Michael drehte sich suchend um. War da eine Bewegung zwischen den Grabsteinen gewesen?
Michael spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Warum versteckte sich der Besucher vor ihm? Evan hatte zwar darum gebeten, dass man die Proben nicht besuchte, aber ein neugieriger Blick war ja kein Verbrechen, die Tür zur Kirche stand jedem offen.
Michael war froh, dass er sich nach dem Abendessen entschieden hatte, sein T‑Shirt gegen einen dunklen Hoodie zu tauschen. Er zog sich die Kapuze über den Kopf und ging an der äußeren Mauer, die das Grundstück des Pfarrhauses vom alten Friedhof trennte, entlang. Wer den Friedhof nicht über den breiten Weg in Richtung Dorf verlassen wollte, hatte noch die Möglichkeit, durch ein schmales, etwas verstecktes Tor in der Mauer in Richtung Fluss zu gehen. Ein Fremder jedoch würde von dem Tor nichts wissen, es sei denn …
Michael wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als er kurz vor sich ein leises Knarzen hörte. Das Tor, das rostig in seinen alten Angeln hing. Nun dachte er nicht länger nach. Er wollte wissen, wer sich in seine Kirche, über seinen Friedhof, zu seinem Fluss schlich – und so eilte er der Person hinterher. Was ein großer Fehler war, denn als er durch die schmale Öffnung trat, spürte er neben sich eine Bewegung. Er konnte gerade noch den Mund öffnen, bevor sich ein Arm um seine Schulter legte und eine schwere Hand jedes Wort, das er hätte sagen wollen, im Keim erstickte.
Gemma O’Neill steuerte das von Alter und Wetter gezeichnete Auto mit sicherer Hand durch die Dämmerung. Sie hatte es für wenig Geld und noch weniger Fragen auf einem Autohof in der Nähe von Dublin gekauft.
Links und rechts der Straße senkte sich die Dunkelheit über das Land. Ein Schwarm Krähen flog auf und ließ sich wenige Meter weiter auf einem der Stoppelfelder nieder.
»Wie weit ist es noch?«
Sie sah zu dem großen grauhaarigen Mann hinüber, der seine Stimme zu einem leisen Flüstern gesenkt hatte.
»Nicht mehr weit, vielleicht noch eine halbe Stunde.«
Gemma blickte in den Rückspiegel. Ella schlief, oder tat so, als ob sie schliefe. Das Mädchen hatte seit Beginn der Fahrt kaum ein Wort gesprochen. In ihrer roten Leggins und dem grünen Kleid, dass sie darüber trug, sah Aidan Connollys Tochter aus wie eine kleine Elfe. Es fehlten nur noch spitze Ohren, die zwischen den langen Haaren hervorlugten, um das Bild perfekt zu machen. Gemma kannte Ella nun schon seit drei Jahren und wusste, dass die Tochter ihres Vorgesetzten wenig Elfenhaftes an sich hatte. Ella war ein selbstbewusstes Kind, das von ihrem Vater und dem Großvater abgöttisch geliebt wurde. Aber die letzten Monate waren auch an Ella nicht spurlos vorbeigegangen, und Gemma hatte bei ihrem Wiedersehen wehmütig erkannt, dass Ella ein Stück ihrer Unbeschwertheit verloren hatte. Nun schien sie zu schlafen, zusammengerollt zu einem kleinen Ball und zugedeckt mit der Jacke ihres Großvaters. Aber ganz sicher war sich Gemma da nicht, daher senkte auch sie ihre Stimme zu einem Flüstern.
»Ich hoffe, wir tun das Richtige.«
»Das hoffe ich auch.«