Mit den Augen der Liebe - Barbara Cartland - E-Book

Mit den Augen der Liebe E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Susanna, die jüngste, unscheinbare und pummelige Tochter der wunderschönen Lady Lavenham, die ein Vermögen von ihrer Patin geerbt hat, will unter keinen Umständen in eine unglückliche gezwungene Heirat mit dem mittellosen Herzog Hugh Southampton gedrängt werden. Sie findet unter falschem Namen eine Anstellung als Vorleserin bei dem durch einen Unfall erblindeten Amerikaner Fyfe Falcon und reist mit ihm und seinen Angestellten nach Florenz, um ihm zur Genesung in einem wärmeren Klima zu verhelfen. Schafft es Susanna, Fyfe von den trüben Gedanken des Unfalls abzulenken und aus seinen Depressionen zu reißen. Schafft es ihre musikalische Stimme, Intelligenz und Diskussionsfähigkeit in vielen Themen ihn zu beeindrucken, ihn, den sie heimlich Lorenzo il Magnifico nennt? Wird er in ihr Botticellis Venus sehen? Und wie kann sie Ihren Vater Lord Lavenham davon überzeugen, dass er sie nicht wieder zu ihrem unglücklichen Leben nach London mitnimmt? ...

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Erstes Kapitel ~ 1907

Susanna ging über die Hintertreppe für das Personal nach unten. Sie durchschritt einen Korridor und einen wenig benutzten Wohnraum, um zum Salon zu gelangen. Wenn sie über die Haupttreppe gekommen wäre, dann würde der Butler Hibbert darauf bestanden haben, sie im Salon anzumelden.

Es machte Susanna jedesmal verlegen, wenn sie den Salon betreten mußte, während Freundinnen ihrer Mutter am Teetisch saßen und plauderten. Wenn der Butler ihren Namen ausrief, verstummte das Gespräch, und alle sahen sie neugierig an.

Susanna wußte nur zu gut, wie unvorteilhaft sie aussah. Sie war viel zu dick und wirkte selbst in ihrem neuen Kleid plump. Susanna besaß nicht die Spur von jener schmalen, eleganten Taille, für die ihre schöne Mutter berühmt war.

Lady Lavenham gehörte zu jenen bekannten Schönheiten, die jeder bewunderte. Im Park stiegen die Leute sogar auf Bänke und Stühle, um sie vorbeifahren zu sehen. In der Presse wurde sie als eine der schönsten Frauen Englands gerühmt. Genauer gesagt gehörte sie zu den Schönheiten im engeren Kreis um den König und wurde deshalb von der Gesellschaft glühend beneidet.

Susanna wußte, wie schwer ihre Mutter darunter litt, daß ihre jüngere Tochter, gelinde gesagt, unansehnlich war. Susanna besah sich häufig im Spiegel, wußte aber auch keinen Rat, wenn sie darin ein rundliches, pausbäckiges Gesicht erblickte. Augen, Nase und Mund wirkten tatsächlich auffällig klein.

Das blonde Haar ihrer Mutter hatte einen goldenen Schimmer, Und ihr Vater besaß schönes, dunkles Haar. Ihr dagegen hatte die Natur eine langweilige Mischung zwischen hellen und dunklen Tönen beschert. Nachdem Susanna ihr Abbild gründlich in sich aufgenommen hatte, öffnete sie wie immer die Schublade, in der sie eine Pralinenschachtel aufbewahrte. Dann aß und aß sie solange, bis sie sich durch den Genuß der Süßigkeiten erleichtert fühlte.

Überhaupt gewährte ihr nur das Essen etwas Trost für die Strenge, mit der ihre Mutter ihr begegnete, und für die Enttäuschung, die sie ihrem Vater bereitete.

Wie anders war ihre Schwester May! Schon lange, ehe sie als Debütantin in die Gesellschaft eingeführt worden war, hatte sie eine schlanke, reizende Figur gehabt.

„May ist so hübsch, wie du es warst, als ich dich kennenlernte“, pflegte ihr Vater zu ihrer Mutter zu sagen. Nur Susanna bemerkte dann die kleine Falte auf der Stirn ihrer Mutter, denn Lady Lavenham wünschte nicht einmal ihre eigene Tochter als Rivalin zu haben. Was Susanna betraf, so konnte davon überhaupt nicht die Rede sein.

Sie betrat jetzt die Bibliothek, die an den Salon angrenzte. Mehrere goldgerahmte Spiegel reflektierten ihr Bild, und wieder einmal stellte Susanna fest, daß sie wie ein Fettkloß aussah. Ja, das war die richtige Bezeichnung! Das gestand sie sich voller Selbstironie ein.

Ihre Taille war stark geschnürt, um sie schmaler erscheinen zu lassen, aber dadurch quoll das Fleisch oben und unten über. In ihrem Kreppkleid mit den seidenen Rüschen am Rocksaum würde May wie eine junge Göttin ausgesehen haben, aber an Susanna kam das Gewand überhaupt nicht zur Wirkung. „Nichts zu machen!“ sagte sie sich in einem Anflug von Trotz.

Doch plötzlich spürte sie ein heftiges Verlangen nach den vorzüglichen kleinen Meringuen aus Eiweiß und Zucker und dem rosa Halbgefrorenen auf dem Teetisch ihrer Mutter und ging schnell auf die Verbindungstür zu. Als sie schon den Türknopf in der Hand hielt, hörte sie, wie man drinnen ihren Namen nannte.

„Bei wem und zu welchem offiziellen Anlaß wirst du Susanna zuerst in die Gesellschaft einführen?“ fragte eine Stimme.

„Ach, bei nächster Gelegenheit“, entgegnete ihre Mutter. „Es ist eine langweilige und mühselige Angelegenheit, darum bin ich froh, wenn ich es so schnell wie möglich hinter mich bringe.“

„Was hast du denn später für sie geplant, Daisy?“ fragte eine andere Dame.

Lady Lavenham lachte in jener reizenden Art, die so oft bewundert wurde. „Natürlich Heirat, und zwar so schnell wie möglich.“

„Da hast du recht“, gab die erste Stimme zu. Susanna wußte jetzt, daß Lady Walsingham sprach. „Und wen hast du in Aussicht für sie? Wieder einen Herzog?“

Alle kicherten bei dieser Frage, aber Lady Lavenham sagte nur: „Natürlich.“

Susannas Finger, die sich um den Türknopf klammerten, wurden ganz steif.

Lady Walsingham fragte weiter: „Welchen Herzog meinst du, Daisy? Bitte, erzähle es uns doch.“

„Hoffentlich werdet ihr mich alle unterstützen. Ich will auch ganz ehrlich mit euch sein. Der einzige mögliche Heiratskandidat ist zur Zeit der Duke von Southampton.“

Auf die erste Minute des Schweigens nach dieser Mitteilung ging es wie ein Seufzen durch den Kreis der Damen. Dann sagte Lady Walsingham: „Aber Hugh Southampton ist völlig unbemittelt, liebste Daisy.“

„Das stimmt“, entgegnete Lady Lavenham, „und gerade deshalb wird er Susanna nur zu gern heiraten.“

Wieder schwieg die Runde, bis eine Stimme zögernd fragte: „Soll das heißen, daß Susanna vermögend ist?“

„Sicher. Ich dachte, ihr wüßtet, daß ihre Patin, übrigens eine ziemlich lästige Frau, ihr ein Vermögen hinterlassen hat.“

„Wie aufregend! Ich hatte ja keine Ahnung!“ gestand Lady Walsingham, und die anderen Damen am Teetisch schlossen sich ihr mit kleinen, erstaunten Ausrufen an.

„Die arme Susanna wird jeden Penny bitter nötig haben“, fuhr Lady Lavenham fort. „Wir alle wissen, daß Hugh Southampton eine reiche Frau braucht. Es paßt also ausgezeichnet.“

„Das stimmt“, begeisterte sich eine andere Dame. „Daisy, du bist einfach genial, aber du warst es immer.“

Ein wenig Neid klang dabei mit, denn Lady Lavenhams Stellung in den obersten Kreisen der Gesellschaft hatte ihr wie zu erwarten war, bittere Feindschaft eingebracht.

„Es ist wirklich nicht gerecht“, hatte man oft geklagt. „Sie ist nicht nur schön und hat den reizenden Charles Lavenham geheiratet, der als fabelhafter Schütze einen großen Namen in der Welt des Sports hat, sondern sie ist obendrein auch so amüsant, daß sich der König für sie interessiert. Ihre älteste Tochter hat sie mit dem Marquis von Fladbury verheiratet, der nach dem Tod seines Vaters Herzog von Haven sein wird.“

Allerdings war die jüngere Tochter der lieben Daisy so dick und unscheinbar, daß sie einen weiteren Aufstieg ihrer Mutter zum Gipfel des gesellschaftlichen Olymp bremsen würde. Die neueste Nachricht, das häßliche Entlein sei eine reiche Erbin, klang schier unglaublich.

Im Stillen dachten sich natürlich die meisten Damen, daß der Herzog von Southampton nur zu gern eine reiche Engländerin heiraten würde, die auf seinen Titel scharf wäre. Sonst konnte er nämlich seinen Stammsitz nicht halten, denn er hatte überall Schulden.

Auch wußten alle, daß er bereits die eine oder andere amerikanische Erbin in Betracht gezogen hatte, die den Ozean auf der Suche nach einem adeligen Ehegatten überquerte. Aber die Frauen, die überhaupt in Frage kamen, hatten sich selbst schon nach Herzogen höheren Rangs umgesehen, oder ihre Mütter hatten das für sie besorgt.

Im ungeschriebenen Kodex der Gesellschaft zur Zeit Edwards VII. war nämlich vermerkt, daß eine Mutter ihre Tochter möglichst gleich nach dem Abschluß der Schule verheiraten und dabei nach dem höchsten gesellschaftlichen Rang streben sollte, der erreichbar war. Auf die Gefühle der Tochter kam es dabei überhaupt nicht an.

Während Susanna an der Tür horchte, mußte sie an ihre Schwester May denken, die vor ihrer Hochzeit schluchzend Abend für Abend erklärt hatte: „Ich kann meinen Verlobten nicht heiraten, Susanna. Ich hasse ihn. Wenn er mich nur anrührt, wird mir ganz schlecht.“

Außer der Schwester wollte das niemand hören. Als Brautjungfer war Susanna später hinter ihr zum Altar der St. Georges Kirche am Hanover Square geschritten und hatte miterlebt, wie May das Ehegelöbnis leise und fast unter Tränen stammelte.

Susanna hatte ihren Schwager von Anfang an nicht gemocht. Der Wein aus Bordeaux, dem er immer reichlich zusprach, hatte seinen Teint gerötet. Das hinderte aber niemand, nicht einmal ihren Vater, ihn als ausgezeichneten Sportler zu rühmen, der beim Schießen stets ins Ziel traf. Und keiner wäre auch nur auf die Idee gekommen, daß May sich einen anderen Gatten als den Marquis gewünscht hätte, oder ihn etwa gar widerlich finden könnte.

Blaß und mit erloschenem Blick war May nach den Flitterwochen heimgekehrt. Zum erstenmal blieb sie der jüngeren Schwester gegenüber wortkarg.

Damals hatte sich Susanna geschworen, daß sie sich nie im Leben zu einer Ehe mit einem Mann zwingen lassen würde.

Aber als sie jetzt hörte, was hinter der Tür ausgehandelt wurde, erkannte sie, wie schwierig das für sie werden könnte.

Tatsache war, daß Lady Lavenham ihren Mann und ihre Kinder in eiserner Zucht hielt. Im übrigen interessierte sie sich wenig für ihre Töchter, fand sie lästig, als sie klein waren, und linkisch und anstrengend, als sie älter wurden. Als sie seinerzeit nach diesen unerwünschten Mädchen ihrem Mann endlich einen Sohn und Erben schenken konnte, war sie glücklich. Mehr Kinder wollte sie auf keinen Fall haben.

Ihr Sohn Henry war nun in Eton. Er war ein hübscher Junge und sah seinem Vater sehr ähnlich. Wenn er in den Ferien zu Hause war, fuhr seine Mutter häufig mit ihm nach Rotten Row, der Promenade für Spaziergänger, Reiter und Kutschwagen. Das galt als Zeichen besonderer Verwöhnung, mit der sie gelegentlich auch May bedachte, aber niemals Susanna.

Und Susanna kannte auch den Grund. Ihre Mutter fand ihre jüngere Tochter nämlich in keiner Weise anziehend und würde nie zugeben, daß ein so unvollkommenes Wesen zu ihr gehörte. Das ging sogar so weit, daß sie sich für Susannas Existenz schämte und das Kind noch mehr versteckte, als sie es mit May gemacht hatte.

Kinder sollten sich ihrer Ansicht nach so verhalten, daß man sie weder sah noch hörte. Nanny, die Kinderfrau, brachte die Kleinen um fünf Uhr nachmittags nach unten in den Salon, wo sie genau eine halbe Stunde bleiben durften, um von den Gästen ihrer Mutter gehätschelt zu werden und Kuchen zu bekommen. Danach mußten sie still in einer Ecke sitzen und darauf warten, daß Nanny sie wieder abholte und nach oben in das Kinderzimmer brachte..

Wenn Susanna daran zurückdachte, kam es ihr wie ein Alptraum vor. Darum hatte sie sich sehr erleichtert gefühlt, als sie immer dicker und häßlicher wurde und deshalb oben bleiben dufte. Ihre Mutter beschloß, nur noch May in den Salon kommen zu lassen.

May protestierte heftig, wenn Nanny sie zwang, ihr feinstes Kleid anzuziehen. „Es ist ungerecht! Ich muß nach unten, und Susanna darf hier oben bleiben“, war ihr Kommentar.

„Du weißt genau, was ich dazu zu sagen habe“, pflegte Nanny streng darauf zu erwidern. „Du mußt deiner Mutter gehorchen, damit sie mit dir zufrieden ist!“

„Ich will aber nicht! Ich wäre froh, wenn sie mich nicht mehr haben will“, trotzte May, aber es half alles nichts.

Susanna freute sich, daß sie oben bleiben durfte. Dadurch fühlte sie sich ebenso unbeschwert wie auf dem Landsitz Lavenham Park in Hampshire. Auf dem Lande, weit weg vom Zwang des Londoner Lebens, waren die Kinder auch am glücklichsten.

Dort durften sie auf den Ponys reiten, im Park Versteck spielen, und aus dem Küchengarten konnten sie Pfirsiche stibitzen. Von den großen Gesellschaften, die ihre Mutter gab, merkten sie fast gar nichts. Höchstens, daß sie einmal über das Treppengeländer spähten, wenn der König kam.

Einmal waren sogar drei Könige zugleich im Haus gewesen. Obgleich die patriotische Pflicht ihnen gebot, König Edward zu bewundern, gefiel ihnen doch der hübsche, dunkelhaarige König von Spanien am besten, was nur allzu verständlich war.

Obgleich die Kinder im dritten Stock des Westflügels untergebracht waren, bekamen sie doch jedesmal etwas von der Aufregung mit, die der Ankunft des Königs als privatem Gast voranging. Zuerst trafen in großen Mengen die Dinge ein, die er besonders liebte, unter anderem eine besondere Sorte von Auberginen, Ingwer-Keks aus Biarritz, Badesalz und Zigarren. Ein besonderer Raum im Haus wurde in ein privates Post- und Telegraphenbüro verwandelt. Die Leitungen dafür wurden über zehn Meilen hin nach Lavenham Park verlegt.

Das Gefolge des Königs bestand aus Stallmeistern, Kammerdienern, seinem Sekretär und Stallburschen. In der Jagdsaison kamen obendrein Büchsenspanner, Pferde und Hunde mit.

Aber ob nun drei Könige auf einmal zu Gast waren oder nicht, das machte für Susanna keinen Unterschied. Wenn sie beobachtete, wie die Gäste ihrer Mutter zur Tafel schritten, dann kam ihr das immer wie eine höfische Zeremonie vor.

Ihre Mutter, die schöne Dame mit der überschlanken Taille und dem Dekolleté aus Tüll, blitzte und funkelte über und über von Brillanten. Auf dem sorgfältig gewellten Haar trug sie eine Tiara aus Brillanten, und sogar ihre Schuhe aus Satin waren mit Brillantschnallen verziert. Die Damen, die hinter ihr zum Speisesaal schritten, waren ebenso prächtig gekleidet, wenn auch nicht ganz so schön wie Lady Lavenham.

Wie jeder männliche Gast seinen Kammerdiener mitbrachte, ließ sich auch jede Dame von ihrer Kammerzofe begleiten. Die Zofen trugen einen großen ledernen Schmuckkasten in der Hand, auf dem das Krönchen der hochadeligen Besitzerin als Ornament zu sehen war.

Wenn König Edward zu Gast war, dann schienen diese Damen wie gepanzert im erdrückenden Schmuck ihrer Diamanten, Tiaren, Halsketten, Broschen, Ohrringe und Armbänder.

Alle im Haus, bis hinauf zum Kinderzimmer, wußten, daß der König schmuckglitzernde Frauen liebte. Als die Herzogin von Marlborough einmal zur Abendtafel ohne die Tiara, dafür nur mit einem halbmondförmigen Schmuck im Haar erschienen war, hatte der König ihr einen strengen Tadel erteilt. Das war allen nur zu gut in Erinnerung geblieben.

Susanna dachte wieder an ihre Schwester May, als diese bald nach ihrer Hochzeit zusammen mit ihrem Mann ins Elternhaus kam. Zur Tiara mit Smaragden und Brillanten, die fast so groß wie eine Krone war, trug May ein Halsband und eine riesige Brosche in Form einer Schleife, die sie an ihre Corsage steckte.

„Du siehst wie die Königin von Saba aus!“ hatte Susanna damals bewundernd ausgerufen, aber dann hatte sie das unglückliche Gesicht ihrer Schwester gesehen. In diesem Augenblick wußte sie, daß auch die allerschönsten Juwelen keine Entschädigung für das bieten könnten, was sie durch die Ehe mit dem Marquis erduldete.

„Bist du sehr unglücklich, May?“ hatte Susanna geflüstert.

Darauf hatte May nichts erwidert, sondern nur in den Spiegel gestarrt, so als ob sie im Glas nicht nur ihr Abbild, sondern ihre ganze Zukunft erblickte.

Würde sie ihr überhaupt antworten? Schließlich hatte die Schwester mit müder Stimme gesagt: „Ich kann darüber nicht sprechen, Susanna. Es gibt darüber auch nichts zu sagen. Ich kann’s nicht ändern. Also frag mich bitte nicht wieder.“

Nach diesem Gespräch hatte Susanna den Eindruck gehabt, daß May ihr auswich, bis sie schließlich mit dem Marquis in dessen elegantem Reisewagen abfuhr. Zum Abschied hatte sie Susanna geküßt und sich dabei so an die Schwester geklammert, als könne sie es nicht ertragen, sich von ihr zu trennen. Keiner sprach es aus, aber Susanna wußte, wie entsetzlich May darunter litt, sich nun endgültig von ihrem Heim zu lösen und mit dem verhaßten Mann fortgehen zu müssen, zu dem sie jetzt gehörte.

Damals hatte Susanna sich geschworen, daß ihr nie so etwas passieren würde. Daran dachte sie, als sie an der Tür zum Salon stand und horchte. Drinnen wurde über sie bestimmt, und nun schlug das Schicksal zu.

Sachte, ganz sachte schlich sie sich davon und stieg wieder über die Hintertreppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer im dritten Stock, das neben dem Schulzimmer lag. In London war das Kinderzimmer in Schulzimmer umgetauft worden, nachdem eine Gouvernante Nannys Platz eingenommen hatte.

Während Nanny standhaft ihren Posten behauptet hatte, wechselten die Gouvernanten ständig. Entweder mochten sie Lady Lavenham nicht, oder diese fand die Erzieherinnen untauglich und sagte ihnen das ins Gesicht. Susanna hatte gehört, was eine der Gouvernanten darauf erwiderte. „Ich kann Ihnen versichern, Mylady, daß die Gräfin von Bressington während meiner zehnjährigen Tätigkeit in ihrem Haus sehr zufrieden mit mir war.“

Sie entschwand, und ihr folgten zwei andere nach. Aber dann geschah ein Wunder, jedenfalls für Susanna. Denn Miss Harding war eine Lehrerin, die es in taktvoller Weise verstand, Lady Lavenham zu beschwichtigen und ihre Schülerin für den Lehrstoff zu interessieren und sie zum Nachdenken anzuregen.

May genoß leider nur ein Jahr Miss Hardings Unterricht, bevor sie heiratete, aber Susanna war mehr als zwei Jahre ihre Schülerin, Für sie war Miss Harding so etwas wie eine Offenbarung gewesen. Sie wußte nicht nur auf alle Fragen eine Antwort, sondern verstand es, Susannas Überlegungen so zu lenken, daß das junge Mädchen selbst die Antworten fand.

Lady Lavenham interessierte sich überhaupt nicht für die Erziehung ihrer Tochter. Ihr kam es nur darauf an, daß sie lernte, fließend Französisch und Italienisch zu sprechen. Lord, Lavenham fand es dagegen recht mühsam, während der Mahlzeiten in Sandringham gezwungen zu sein, abwechselnd Französisch und Englisch zu sprechen, unter Umständen sogar beide Sprachen zusammen.

Lady Lavenham hatte mit der ihr eigenen Energie beschlossen, daß ihre Töchter Sprachen beherrschten, wenn sie auch sonst nichts anderes im Kopf hatten. Im übrigen war es ihr ganz gleichgültig, ob die Mädchen etwas lernten oder nicht. Sie sollten nur etwas von der Führung eines Haushalts verstehen, Rechnungen prüfen und einen Scheck ausschreiben können.

Sie selbst tat das nie und hatte es auch nicht nötig, da sie eine sehr tüchtige Sekretärin beschäftigte. Zu ihren Töchtern sagte sie: „Wenn ihr nicht wollt, daß unfähige oder allzu schlaue Angestellte euch betrügen, dann müßt ihr selbst etwas von Geld verstehen.“ Darin unterschied sich Lady Lavenham von vielen Frauen ihrer Epoche, die es nur verstanden, Geld auszugeben und diese Tätigkeit mit großem Erfolg ausübten.

Susanna hatte gegen einen Unterricht rebelliert, der ihr nichts anderes bot als Rechenaufgaben und französische und italienische Verben. Zunächst hatte sie sich für Geschichte interessiert, dann war sie völlig von guter Literatur gefesselt, die mehr bot als die zur Zeit gängigen Romane oder die törichten Erzählungen in Damenzeitschriften.

Wenn sie in ihre Lektüre vertieft war, konnte sie alles um sich herum vergessen, ja selbst die Enttäuschung, die sie ihren Eltern bereitete, und ihr unvorteilhaftes Spiegelbild.

Miss Harding weckte ihr Kunstverständnis für die Gemälde, die in ihrem Elternhaus hingen, und für die Sammlungen in der Nationalgalerie. Früher war es Susanna nie aufgefallen, wie wenig ihre Mutter von Kunst verstand. Lady Lavenham interessierte sich mehr für die Pflanzen und Blumen in ihren Treibhäusern, mit denen ihr Salon geschmückt wurde, als für die Kunstschätze, die die Vorfahren in Lavenham gesammelt hatten.

Für Susanna tat sich eine neue Welt auf. Zusammen mit Miss Harding stöberte sie in den Buchläden auf der Suche nach illustrierten Bänden über die großen Galerien Europas wie der Louvre in Paris oder die Uffizien in Florenz. Immer wenn sie auf ein Bild stieß, das ihr besonders gefiel, hatte sie das Gefühl, einen Schatz entdeckt zu haben. Worin dieser neue Besitz bestand, hätte sie nicht in Worte fassen können. Sie wußte nur, wie viel es ihr bedeutete.

Völlig überraschend erklärte Lady Lavenham bei Jahresbeginn, daß Miss Harding entlassen sei. Ohne eine Erklärung ihrer Erzieherin abzuwarten, war Susanna die Treppe hinuntergerannt und so rücksichtslos wie noch nie in das Boudoir ihrer Mutter gestürzt.

„Ich höre, daß du Miss Harding entlassen hast, Mama. Warum? Warum muß sie gehen? Ich kann nicht auf sie verzichten!“

Lady Lavenham lag auf der Chaiselongue und trug ein durchsichtiges Chiffon-Gewand, das sich eng dem Körper anschmiegte. Zu jener Zeit schrieb die Mode den Damen dieses Nachmittagskleid vor. Angeblich sollte es der Trägerin vergönnt sein, einmal auf das einengende Korsett zu verzichten.

Die harmlose Susanna war zu unschuldig, um zu wissen, daß diese Teagowns für einen ganz anderen Zweck erfunden worden waren. Allerdings war ihr aufgefallen, daß ihre Mutter im Londoner Haus unter keinen Umständen gestört werden durfte, wenn gelegentlich der König oder auch andere Herren für ein vertrauliches Stündchen vorbeikamen.

Da die Kündigung der Gouvernante im Landhaus erfolgte, war Lady Lavenham zum Glück allein. Eine große Gesellschaft sollte erst am nächsten Tag stattfinden.

„Bitte, fall nicht einfach so über mich her“, sagte Lady Lavenham so eisig, daß ihre Tochter unter anderen Umständen gezittert hätte. Sie war jedoch viel zu empört, um darauf zu achten.

„Warum schickst du Miss Harding weg, Mama?“ fragte Susanna noch einmal.

„Du stellst dich wirklich noch dümmer an als gewöhnlich“, entgegnete Lady Lavenham. „Im übrigen ist dein Haar zerzaust, und du hast einen Tintenfleck auf deinem Kleid.“

„Ich habe dich etwas gefragt, Mama.“

„Dann muß ich es dir wohl kurz und bündig erklären. Du hast deinen achtzehnten Geburtstag hinter dir und bist schon fast zu alt, um als Debütantin in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Nur die Trauer, die wir in der vergangenen Saison beachten mußten, hat deine Einführung verzögert, aber jetzt ist es soweit.“

Susanna starrte sie an. „Und darum muß Miss Harding gehen?“

„Natürlich. Du brauchst doch keine Gouvernante mehr, wenn du eingeführt bist. Ich werde dich auf allen gesellschaftlichen Veranstaltungen begleiten, obgleich das ziemlich lästig für mich ist.“

Man hörte ihrem Tonfall an, wie wenig sie sich darauf freute. Noch ehe Susanna etwas sagen konnte, fügte sie ungeduldig hinzu: „Nun geh in Gottes Namen nach oben und ziehe dich anständig an. Weiß der Himmel, wie ich dich an den Mann bringen soll, wenn du so aussiehst wie jetzt.“

Einen Augenblick lang stand Susanna regungslos vor ihrer Mutter. Als sie fühlte, daß ihr das Blut zu Kopf stieg, verließ sie eilig das Boudoir. Oben lief sie in ihr Schlafzimmer und setzte sich auf das Bett. Sie hatte das Gefühl, als sei eine Welt in ihr zusammengebrochen.

Sie hatte total vergessen, daß sie in die Gesellschaft eingeführt werden sollte. Wie früher May, würde man sie von einem Ball zum anderen, von Empfang zu Empfang schleppen. Es würde fürchterlich werden! Sie war völlig hilflos in dem Bewußtsein, daß ihre Mutter sich ihrer schämte und bestimmt kein Mann mit ihr tanzen würde, außer wenn er sich dazu gezwungen sah. Natürlich hätte sie auch bedenken müssen, daß Miss Harding in dem Augenblick überflüssig würde, in dem Susanna ihr Debüt in der Gesellschaft machte.

In den beiden vergangenen Jahren war sie glücklicher als je zuvor in ihrem Leben gewesen. Jetzt wurde ihr klar, sie hatte in einer schönen Traumwelt gelebt, denn eigentlich hätte sie schon im vergangenen Sommer debütieren müssen, was durch den Tod ihrer Großmutter aufgeschoben wurde. Die Familie hatte tiefe Trauer getragen, und ihre Mutter sah in ihrer schwarzen Umhüllung entzückend aus. Susanna selbst wirkte dagegen wie eine fette Krähe.

Jetzt war sie achtzehneinhalb Jahre alt und reif für die Gesellschaft. Sie war einsichtig genug sich zu sagen, dieser Schritt würde sowohl aus der Sicht ihrer Mutter als auch aus ihrer eigenen zu einer Katastrophe führen. Dieser Gedanke war so schrecklich, daß Susanna sich nur mit Süßigkeiten trösten konnte, die sie stets im Dorfladen kaufte. Sie stopfte sich damit wieder einmal den Mund voll.

Ich werde fürchterlich aussehen und mich noch fürchterlicher fühlen, dachte sie. Wenn Miss Harding weg ist, dann kann ich mit niemandem mehr sprechen. Keiner wird sich für meine Probleme interessieren oder mit mir reden wollen.

So mühelos und schnell wie die modernen Expreßzüge durch das Land glitten, kam dann die Angelegenheit ins Rollen. Das Haus in London sollte wieder eröffnet werden, und der Landaufenthalt war zu Ende. Der Abschied von Miss Harding stand bevor. Am letzten Abend hatte Susanna so geweint, daß sie beinahe keine Tränen mehr hatte.

„Was soll ich ohne Sie anfangen?“ schluchzte sie. „Sie sind die einzige Person, die es jemals gut mit mir gemeint hat und die mich wie einen richtigen Menschen behandelt hat. Wenn Sie weg sind, ist überhaupt niemand mehr da.“

„Ich möchte dir gern noch etwas beibringen, Susanna“, hatte Miss Harding in ihrer ruhigen Art erwidert.

Susanna war so überrascht, daß sie nicht mehr schluchzte, sondern ihre Lehrerin mit tränennassem Gesicht ansah.

„Ja, wirklich“, sagte Miss Harding. „Du solltest erkannt haben, daß du intelligent bist, viel zu intelligent für das Leben, das dir bevorsteht.“

„Aber ich werde es doch leben müssen“, stammelte Susanna.

„Ja, das fürchte ich auch“, seufzte Miss Harding. „Für ein Mädchen in deiner gesellschaftlichen Stellung gibt es keinen Ausweg. Aber das sollte dich nicht davon zurückhalten, weiter nachzudenken, zu lesen und dich weiterzuentwickeln.“

„Für wen denn?“ fragte Susanna verbittert.

„Für dich selbst.“

Miss Harding dachte nach, ehe sie weitersprach. „Viele Menschen sind völlig zufrieden mit ihrer Umgebung und finden die Vorstellung aufregend, daß ihre eigene Dinner Gesellschaft heute abend erfolgreicher werden könnte als das Dinner, zu dem sie gestern abend eingeladen waren. Aber ich glaube, du bist anders.“

„Das will ich hoffen“, erwiderte Susanna.

„Ganz bestimmt“, versicherte Miss Harding. „Darum solltest du versuchen, immer wieder deinen Horizont zu erweitern, Susanna. Wenn du dir im Augenblick das Erwünschte versagen mußt, erfülle es dir wenigstens in der Phantasie.“ Susanna war ganz verzweifelt. „Aber Sie werden nicht da sein, um mir zu helfen, Miss Harding.“

Wieder zögerte Miss Harding, ehe sie antwortete. „Ich war immer davon überzeugt, daß es für uns in kritischen Augenblicken eine Hilfe und Führung gibt. Ich meine das nicht im materiellen, sondern im geistigen Sinn. Wenn uns schon kein Mensch beisteht, dann tut es vielleicht ein Buch, Musik oder das Gebet. Wir sind nie ganz verlassen.“

Susanna schwieg. Dann sagte sie: „Ich verstehe, was Sie damit meinen, aber es wird sehr, sehr hart werden. Unter Mamas Freundinnen finde ich bestimmt keine, die mir hilft.“ Das vermutete auch Miss Harding, aber es wäre nicht loyal gewesen, es zu äußern. „Du solltest an dich selbst glauben, Susanna, deinen eigenen Weg gehen, dir deine Richtung wählen. Da ich dich so gut kenne, weiß ich auch, daß du dich selbst nicht enttäuschen wirst.“

„Und Sie auch nicht“, fügte Susanna leise hinzu.

„Ich werde an dich denken“, sagte Miss Harding. „Ich will dir auch gestehen, ich habe noch nie eine Schülerin so gern gehabt wie dich und keine, auf die ich so hohe Hoffnungen setzte.“

Wieder kamen Susanna die Tränen, aber diesmal nicht aus Verzweiflung, sondern aus Freude. Niemand hatte sie bisher so gelobt. Nachdem Miss Harding sich verabschiedet hatte, schluchzte Susanna noch einmal, weil sie zu unglücklich war. Sie hatte das Gefühl, in einen neuen, unbekannten Lebensabschnitt einzutreten.

Früher als sonst hatte Lady Lavetiham sie nach London mitgenommen, denn Susanna mußte mit Garderobe ausgestattet werden. Jeden Morgen fuhren sie nun Einkaufen und verbrachten endlose Stunden, weil sie Stoffe aussuchten und Kleider anprobierten. Sie kauften Schuhe, Handschuhe, Sonnenschirme, Hüte und Wäsche. Susanna kam es so vor, als würde, sie für eine unbekannte Expedition ausgerüstet, die zwanzig Jahre dauern könnte.