Mit den Waffen der Liebe - Barbara Cartland - E-Book

Mit den Waffen der Liebe E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Christine Dillon, Tochter von Reverend William Dillon, ist als sehr junges Mädchen mit dem Frauenschwarm und um ein paar Jahre älteren Schauspieler Harry Hunter von zu Hause weggelaufen, um mit ihm zu leben. Er war jedoch verheiratet, was Christine natürlich noch mehr ins Gerede in ihrem Heimatort Green Ends brachte, und ihre konservative Familie wandte sich von ihr ab. Christine verdiente sich als Schauspielerin ihren Unterhalt - als sie jedoch älter wurde und Harry sie verließ hatte sie weniger Erfolg in ihrem Beruf. Als ihr Bruder Arthur stirbt, versuchen seine Anwälte Christine zu finden, da er ihr die Vormundschaft seiner drei Kinder übertragen hat. Christine zieht in ihr Elternaus Four Willows zurück und hat mit den Vorurteilen einiger Gemeindemitglieder zu kämpfen. Wird sie die Herzen der Kinder für sich erobern können und zwischen wen wird sie sich entscheiden – ihrer ersten Liebe Harry Hunter oder dem neuen anfangs missmutigen Nachbarn Michael Farley, der das malerische Herrenhaus Marston Manor geerbt hat?

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Mit den Waffen der Liebe

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2023

Copyright Cartland Promotions 1945

 

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1. Kapitel

»Ist Mr. Pitman zu sprechen?«

Das Mädchen löste sich zögernd von dem Kriminalroman, den es gerade las, und blickte auf. »Ich glaube, er ist beschäftigt. Wen soll ich melden?«

»Christine Crystal. Ich dachte, er hätte vielleicht eine Rolle für mich.«

»Was spielen Sie?«

»Oh, Erste Liebhaberinnen - normalerweise.«

Das Mädchen stand langsam auf, schlurfte zur Tür des inneren Büros, klopfte an und trat ein, wobei es die Tür einen Spalt breit offenließ. Fast unbewusst ging Christine auf und ab. Sie konnte hören, was gesprochen wurde.

»Was wollen Sie jetzt schon wieder?«

Sie erkannte Joseph Pitmans Stimme. Sie hatte ihn früher schon öfters gesehen einen korpulenten, vulgären Mann, der die Schauspieler und Schauspielerinnen tyrannisierte und vor den Direktoren katzbuckelte.

»Christine Crystal ist vorbeigekommen. Sie sagt, sie spiele Erste Liebhaberinnen.«

»Erste was? Mein Gott, sagt denn niemand diesen Frauen die Wahrheit? Teilen Sie Christine Crystal mit meinen besten Empfehlungen mit, dass die britische Öffentlichkeit nicht blind, nicht taub und nicht stumm ist. Und sagen Sie ihr, ich habe nichts für sie und werde wahrscheinlich nie etwas für sie haben... Und machen Sie die Tür hinter sich zu, wenn Sie hinausgehen, verdammt nochmal!«

Christine trat von der Tür zurück.

Sie starrte durch die schmutzigen, vom Regen nassen Scheiben des Bürofensters, als das Mädchen wiederkam.

»Tut mir leid, heute nichts«, sagte es lakonisch.

Christine bemühte sich zu lächeln.

»Vielen Dank. Ich dachte nur, ich schaue einfach herein, weil ich gerade vorbeikam.«

»Wollen Sie Ihre Adresse dalassen?«

Christine hatte sich schon zu sehr bemüht, den Schein zu wahren. Ihre Hand zitterte, als sie nach der Türklinke griff.

»Nein, danke.«

Sie lief die Treppe hinab und hinaus auf die Straße. Als sie ohne ein bestimmtes Ziel wegging, brannten ihre Wangen, und sie spürte, wie ihr Herz hämmerte.

Es spielt keine Rolle, versuchte sie sich einzureden. Es gibt noch andere Agenten - und höflichere dazu.

Ihr Herz schlug so heftig, dass sie plötzlich atemlos wurde, stehenblieb und, ohne etwas zu sehen, in ein Schaufenster starrte.

Es liegt nur daran, dass ich nicht genügend gegessen habe, dachte sie. Schon zum zweiten Mal ist mir heute so übel.

Ihr wurde unwohl bei dem Gedanken daran, was ihr an diesem Morgen widerfahren war - die Stimme ihrer Wirtin war laut und grob gewesen und hatte im Treppenhaus widergehallt. Andere Mieter hatten vermutlich zugehört. Nicht, als ob sie darüber erstaunt gewesen wären - sie waren an solche Auftritte zu sehr gewöhnt.

»Was glauben Sie wohl, wer ich bin? Das möchte ich gern wissen. Eine philanthropische Gesellschaft? Ein Wohltätigkeitsverein? Ich behalte Leute nicht endlos in meinem Haus, wenn sie die Miete nicht bezahlen. Sie haben mich ganz hübsch hereingelegt, Miss, obwohl ich natürlich selbst so dumm war und es zugelassen habe.«

»Ich verspreche Ihnen, nächste Woche werde ich sie bezahlen. Haben Sie Vertrauen, Mrs. Hobson. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«

»Ehrenwort! Wenn ich auf all die affektierten Schauspielerinnen gehört hätte, die mir alles Mögliche auf ihr Ehrenwort hin versprochen haben, säße ich jetzt im Arbeitshaus. Ja, dort säße ich! Und wenn Recht Recht wäre, dann sollten Sie jetzt dort sein oder im Knast, weil Sie einer arbeitenden Frau das ehrlich verdiente Brot vom Mund wegstehlen, Wovon, glauben Sie wohl, bezahle ich die Miete, die Raten, die Pflege dieses Hauses? Von Versprechungen? Scheren Sie sich davon..., und zwar rasch!«

Christine hatte die Tirade über sich ergehen lassen, bei der es ihr so vorkam, als stürze sie in einen Abgrund. Verzweifelt hatte sie gedacht:

Warum kann ich es ihr nicht ebenso zurückgeben?

Aber sie hatte keine Antwort darauf gewusst. Sie hatte an ihre Handtasche gedacht, in der nur ein paar Shillinge waren, an ihre Garderobe, die nur aus dem Nötigsten bestand.

Sie hatte nichts sagen, nichts tun können, als schweigend und mit klopfendem Herzen dazustehen, während ihr das Blut langsam in die Wangen stieg und dann wieder zurückwich, so dass sie totenbleich geworden war und gezittert hatte.

Ich werde alt, hatte sie gedacht. Ich kann so etwas nicht mehr ertragen.

Sie erinnerte sich daran, wie sie vor Jahren über solche Begebenheiten gelacht hatte. Damals hatte sie sich gewehrt und im gleichen Tonfall geantwortet - wie es ihr gerade in den Sinn kam. Jetzt fühlte sie sich elend, und was noch schlimmer war, sie fürchtete sich.

Wie oft hatte sie in den vergangenen Wochen die Szene mit Mrs. Hobson vorausgesehen. Sie hatte gewusst, dass es dazu kommen würde. Trotz einer leisen Hoffnung hatte sie geahnt, dass sich so etwas ereignen würde, dass der Augenblick bevorstand, in dem sie Lindcot Road Nr. 82 würde verlassen müssen.

Es war im Grunde lächerlich, dass sie nicht erleichtert darüber war, ein solches Haus und eine solche Nachbarschaft verlassen zu können. Schmutzige, feuchte Wände, an denen sich die Tapete in den Ecken löste, ein hartes, eisernes Bettgestell mit grauen, geflickten Leintüchern konnte selbst mit der üppigsten Fantasie nicht dem entsprechen, was man sich unter einem Heim verstellte.

Und doch war es während der letzten drei Monate genau das für Christine gewesen - ein Ort, an dem sie allein sein konnte, wo sie schlafen, ausruhen und wohin sie abends zurückkehren konnte.

Manchmal hatte sie gedacht, sie müsse verrückt sein, wenn sie rascher ging, sobald sie in Lindcot Road einbog. Und doch war sie oft so müde gewesen, so verzweifelt, dass das schäbige, unattraktive Haus Nr. 82 sie durch seine bloße Vertrautheit willkommen zu heißen schien.

Als sie es zum ersten Mal betreten hatte, war sie gerade von einer Truppenbetreuungs-Tournee zurückgekommen, die außergewöhnlich anstrengend gewesen war. Die Verhältnisse in den Zügen waren unbeschreiblich gewesen, und Christine hatte das Gefühl gehabt, selbst genügend Schlaf könnte diese Strapazen nicht wieder ausgleichen. Deshalb hatte Lindcot Road Nr. 82 für sie Ruhe bedeutet, Frieden, und was noch wichtiger war als alles andere - Alleinsein.

Sie hatte auch gehofft, in London eine Rolle zu bekommen. Welche Schauspielerin träumte nicht ständig davon, im West End aufzutreten? Ein Engagement von sechs Monaten - wie wunderbar wäre das gewesen. Die Freude zu wissen, wo man am nächsten Tag sein würde und welche Pläne man für die nächste und die übernächste Woche machen könnte.

Allmählich wurde sich Christine ihrer eigenen Lage bewusst. Sie war immer eine schlechte Schauspielerin gewesen und hatte sich niemals mehr eingebildet.

Vor Jahren hatte sie wegen ihres guten Aussehens Rollen erhalten. Wenn sie jetzt ihre früheren Kritiken las, konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass diese dieselbe Frau betrafen, die sie nun aus dem Spiegel anblickte, mit müden Augen, glanzlosem Haar und einer ängstlichen Miene, die sie, wie sie wusste, nun ständig zur Schau trug.

»Christine Crystal sah als Lady Marion bezaubernd aus, ein Traum aus Rosenknospen und blauem Band.«

»Christine Crystals Lieblichkeit war atemberaubend.«

»Und da war Christine Crystal sie kam herein wie ein Frühlingshauch. Ich spürte, wie das Publikum den Atem anhielt.«

Damals war es nicht von Bedeutung gewesen, dass sie nicht schauspielern konnte. Ihr goldblondes Haar, ihre blauen Augen, ihr reiner Teint alles war so vollkommen gewesen und hatte das Publikum auf hypnotische Weise glauben lassen, sie sei eine gute Schauspielerin.

Sie musste daran denken, wie Harry ihr einmal wegen einer bestimmten Szene, die sie miteinander spielten, sagte:

»Mein Gott, Christine, begreifst du nicht, dass du das fühlen sollst? Du kannst nicht einfach so dastehen...«

Plötzlich hatte er innegehalten.

»Das spielt keine Rolle, vergiss es. Das Publikum sieht dein Gesicht. Alles andere ist ihnen egal.«

Er hatte sich zu ihr heruntergebeugt, sie geküsst, und sie hatte an nichts anderes gedacht und sich an ihn geschmiegt.

Das war ihre Welt gewesen, ihre eigene Welt, viel wirklicher, viel lebendiger als alles, was auf der Bühne geschah. Die Bühne hatte ihr im Grunde nie etwas bedeutet. Das wusste sie jetzt. Obwohl sie sich, nachdem sie Harry verloren hatte, einzureden versucht hatte, dass sie Karriere gemacht hatte. Damals hatte sie Luftschlösser gebaut.

Ich werde Erfolg haben. Mein Name wird in den Schlagzeilen stehen, größer als seiner. Ich werde ihm zeigen, was ich kann.

Aber was hatte sie ohne Harry ausrichten können? Nichts!

Sie hatte jährlich einige Wochen im Dezember in der Weihnachtsrevue mitgespielt - natürlich nicht als Prinzessin, dafür war ihre Stimme nicht gut genug -, sondern nur als Zofe der Prinzessin. Dann war sie auf Tournee gegangen mit einer drittklassigen Truppe, und sie hatten in drittklassigen Theatern gespielt. Montag Abend war der Saal halb leer; Samstag war er voller Betrunkener, die schliefen oder während der Vorstellung krakeelten.

Nein, aus der Karriere, die sie sich vorgestellt hatte, war nichts geworden. Stattdessen war sie mit jedem Engagement nur immer tiefer gesunken - Showgirl - in den ‚ZigZag-Frivolities‘, wo der Manager erwartete, dass die Mädchen ohne Gage auskamen, weil die Kostüme so knapp waren; zweite Besetzung in einem Stück, das auf einer Schlafzimmerszene beruhte, um jenes Publikum anzuziehen, das einen obszönen Humor besaß.

Einmal war sie in einem muffigen, stickigen, kleinen Nachtklub in der Nähe der Tottenham Court Road aufgetreten. Sie hatte sich einzureden versucht, sie sei zäh, aber sie hatte es nicht durchgehalten. Sie war noch während des Abends gegangen, aber erst, nachdem sie dem Direktor ihre Meinung gesagt hatte.

Nun hatte sie nicht einmal mehr den Mut oder die Kraft, das zu tun. Sie steckte Demütigungen ein, nahm sie ängstlich hin, weil der letzte Rest Hoffnung auf etwas Besseres sie verlassen hatte. Und sie musste essen...

Christine riss sich zusammen. Sie konnte nicht für immer vor dem Schaufenster stehen.

Die Schuhe hinter der Glasscheibe, sauber ausgezeichnet oder mit verlockenden Preisschildern versehen, erinnerten sie an die Tatsache, dass ihre eigenen abgetragen und ihre Strümpfe feucht waren.

Sie drehte sich um und ging langsam weiter. Der Augenblick war gekommen. Sie musste zum Arbeitsamt gehen. Sie hatte es befürchtet und war während der letzten zwei Monate vor dem Gedanken zurückgeschreckt.

Christine sagte sich, dass sie ebenso fähig wäre wie jeder andere, in einer Fabrik Schrauben anzuziehen, und doch fürchtete sie sich - sie fürchtete sich davor, an einen Ort geschickt zu werden, den sie nicht kannte. Sie fürchtete sich davor, inkompetent zu sein. Sie fürchtete sich vor der Arbeit und den endlosen Stunden, vor den Menschen, mit denen sie würde zusammenarbeiten müssen.

Wie oft hatte sie nachts gedacht: Ich kann es nicht ertragen, es hat keinen Zweck, ich kann es nicht ertragen.

Jetzt stand der Augenblick bevor, und sie musste ihren Widerwillen überwinden.

An diesem Abend konnte sie nirgendwo hingehen. Vage stellte sie sich vor, vielleicht in einer Herberge oder etwas Ähnlichem anzufragen. Sie blieb stehen und öffnete ihre Handtasche. Sie wusste, was in ihrer Börse war ein Zweishillingstück, drei Pennies und ein ,glückbringendes‘ Dreipennystück. Nun, sie würde zuerst etwas essen und dann zur nächsten Arbeitsvermittlungsstelle gehen.

Sie betrat eine große Cafeteria. Das Lokal war größtenteils von Frauen, die ebenso müde und erschöpft aussahen wie sie selbst, besetzt, Frauen mit Einkaufstaschen; Frauen mit Kindern in den Armen oder Kindern, die ständig in der Menge verlorengingen, weil sie noch sehr klein waren.

»Komm her, Gladys! Trödele nicht, sonst verliere ich dich, und wie soll ich dich dann wiederfinden?«

Auch ein paar Männer waren da größtenteils amerikanische Soldaten und Büroangestellte in Regenmänteln und mit Brillen; ein Pilot der Royal Air Force, der offene sichtlich Ausgang hatte und an dessen Arm ein strahlendes Mädchen hing, ohne Hut und mit roten Lippen.

Christine bahnte sich den Weg die Treppe hinauf, wobei sie rücksichtslos ihre Ellenbogen benützte und die Frauen anrempelte wie jemand, der daran gewöhnt ist, das zu erreichen, was er sich vorgenommen hat.

Es war noch früh am Tag. Nur wenige Tische waren frei. Sie fand einen in der äußersten Ecke und setzte sich. Plötzlich bemerkte sie, wie hungrig sie war. Sie hatte seit Tagen nicht mehr anständig gegessen. Bei jedem Bissen hatte Christine das Gefühl, Mrs. Hobson zu betrügen.

Mehr als einmal, wenn sie im Begriff gewesen war, ein belegtes Brötchen oder eine Tasse Kaffee zu sich zu nehmen, hatte ihr der Gedanke an ihre Wirtin mit ihrem roten Gesicht und ihrer derben Stimme, die im ganzen Haus zu hören war, wenn sie mit jemandem sprach, ihr Einhalt geboten.

Sie hatte sich gefürchtet. Gefürchtet vor dem Lärm, dem Streit und der Grobheit; ebenso wie sie sich davor gefürchtet hatte, in den Spiegel zu sehen und feststellen zu müssen, wie die Jahre allmählich ihr Aussehen beeinträchtigten, das doch ihr Kapital gewesen war.

Neununddreißig, dachte Christine. Es ist zwecklos, so zu tun, als ob ich jünger bin. Ich sehe müde und welk aus, leblos. Daran liegt es, ich habe keinen Elan mehr.

Sie dachte an eine Schauspielerin, die sie erst vor zwei Tagen getroffen hatte, eine Frau, mit der sie einmal auf Tournee gewesen war. Sie war älter, mindestens acht Jahre älter als sie selbst, und doch musste sich Christine eingestehen, dass sie, wenn sie zusammen vor einem vorurteilslosen Kritiker gestanden hätten, sie nicht nur als die ältere von beiden, sondern auch als die laschere bezeichnet worden wäre.

Es lag nicht nur an den teuren Kleidern der anderen Frau, nicht nur an deren gepflegter Frisur, den lackierten Fingernägeln und dem Make-up - es war etwas anderes, nämlich ihre Vitalität, ihre Tatkraft, die sie ausstrahlte. Sie hatte Christine zuerst nicht erkannt, hatte nur lächelnd genickt und ihren Gruß erwidert. Doch dann hatte sie sich umgedreht und mit ausgestreckten Händen Christine begrüßt, wobei sie ihre Überraschung nicht hatte verbergen können.

»Christine, meine Liebe, bitte, verzeih mir. Ich dachte gerade an etwas anderes, deshalb wäre ich fast an dir vorbeigegangen. Wie geht es dir?«

Sie war freundlich gewesen, aber Christine hatte gewusst, dass ihren Blicken nichts entgangen war die abgetragene Kleidung, die alten Handschuhe, die Strümpfe, die vom gestrigen Regen noch beschmutzt waren.

Plötzlich schämte sie sich, nicht wegen ihres Äußeren, sondern wegen ihrer Trägheit, ihrer Mutlosigkeit, ihres Mangels an Energie, der sie daran hinderte, die Welt zu zwingen, ihr das zu geben, was sie sich wünschte.

Aber hatte sie es sich stark genug gewünscht? War dies der Grund, weshalb sie versagt hatte? Hatte es ihr jemals wirklich etwas bedeutet oder sie gekümmert - ihre Karriere, die Schauspielkunst?

Sie hatte natürlich erfolgreich sein wollen. Wer wollte das nicht? Sie hatte sich Geld gewünscht, Geld, um bequem zu leben, um sich gut zu kleiden, um sich kaufen zu können, was sie wollte. Sie war mit ihrem Geld immer großzügig umgegangen.

Wenn sie ein Engagement gehabt hatte, dann war sie diejenige gewesen, die Feste gegeben und die Leute ausgeführt hatte und die die Mädchen, die eine Garderobe mit ihr geteilt hatten, zu einem besonderen Abendessen oder einer Matinee eingeladen hatte.

Das Geld war ihr durch die Finger geronnen. Sie hatte einfach freundlich und glücklich sein wollen und sich gewünscht, dass andere Menschen ihr Glück mit ihr teilten.

Und doch war es merkwürdig, wie wenige Freunde sie nun besaß, nachdem sie in Not geraten war. Wo waren all die Menschen, die sich auf ihre Kosten hatten unterhalten lassen in den Jahren, in denen sie Rollen gehabt hatte; in denen es leicht gewesen war, einen Theaterdirektor aufzusuchen; in denen die Agenten nur zu erfreut gewesen waren, wenn sie ihren Namen in ihre Bücher schreiben konnten? Nun waren ihre Freunde fort - verschwunden, ebenso wie ihre Hoffnungen verloren gegangen waren.

Sie war allein, und Einsamkeit war etwas, was sie immer gefürchtet hatte. Sie hatte sie gefürchtet, als Harry sie verließ. Sie hatte sie Jahr für Jahr ein wenig mehr gefürchtet, nachdem sie immer seltener Rollen bekam und die Ruhepausen immer länger wurden.

Möblierte Zimmer! Sie könnte ein Buch darüber schreiben: der gleiche Geruch nach Kohl in den Treppenhäusern; die dunklen Korridore, wo man sich den Weg ertasten musste; die Stiegen zu den oberen Zimmern, die immer stickig zu sein schienen; die Badeöfen, die rochen und selten richtig funktionierten; die harten, durchgelegenen Matratzen; die dünnen Decken.

Jedes Zimmer war ein unfreundlicher, nichtssagender Ort gewesen, in dem es kaum etwas zu ändern gab, gleichgültig, wie lange sie dort blieb, gleichgültig, wie sehr sie versuchte, so zu tun, als wäre sie darin zu Hause. Fotografien, Blumen, sogar der spanische Schal, mit dem sie ihr Bett drapierte, machten diese Zimmer nicht wohnlicher. Sie waren einander immer ähnlich gewesen und hatten ihr niemals wirklich gehört.

Christine nahm einen großen Schluck Kaffee und spürte, wie die Wärme sie besänftigte und stärkte. Plötzlich wurde sie ruhiger und gelassener.

Das kommt daher, dass ich einen Entschluss gefasst habe, dachte sie. Ich werde zur Arbeitsvermittlung gehen, und sie werden mir etwas geben. Es war meine Entschlusslosigkeit, die mich so heruntergebracht und in einen so beklemmenden Zustand versetzt hat.

Jetzt konnte sie über ihre eigenen Ängste beinahe lächeln. Ihre Karriere als Schauspielerin war beendet.

Ich glaube, es ist gut, wenn ich wieder meinen richtigen Namen annehme, dachte sie Christine Dillon.

Es war so lange her, dass sie ihn benutzt hatte. Es schien ihr, als gehörte er einer Fremden. Harry hatte damals vorgeschlagen, dass sie sich ‚Christine Crystal‘ nennen sollte.

»Wir müssen uns etwas Romantisches, wirklich Schönes für dich ausdenken«, hatte er gesagt.

»Ich möchte meinen Vornamen nicht ändern. Ich bin Christine und bleibe Christine.«

Wie wichtig war ihr das damals erschienen. Jetzt konnte sie sich im Geiste sehen, wie sie zu ihm aufblickte, ihm ihre Liebe, ihre Bewunderung entgegenbrachte. War es verwunderlich, dass die Leute stehengeblieben waren und ihnen nachgesehen hatten?

Manchmal, wenn sie auf Tournee gewesen waren, verursachten sie eine regelrechte Sensation auf dem Bahnsteig. Das war nicht weiter erstaunlich, denn sie war außergewöhnlich hübsch gewesen und Harry in jeder Hinsicht stattlich. Er hätte nicht den Maßstäben zur Zeit König Edwards genügt. Er war auch nicht der Typ des blonden, gutaussehenden englischen Gentleman, der ein Offizier der Wachbrigade hätte sein können. Harry hatte nichts dergleichen an sich.

Er war der Typ, den Hollywood in den dreißiger Jahren bevorzugte, und der die Herzen aller jungen Mädchen schneller schlagen ließ: groß, dunkel, schlaksig, ein Teufelskerl, dem keine Frau widerstehen konnte, mit einem Lächeln, das die Zeitungsreporter ,schief’ nannten. Aber es verdrehte jeder Frau den Kopf und ließ ihr Herz reagieren.

Christine schloss die Augen und konnte ihn allzu lebhaft vor sich sehen: Ein maßgeschneiderter Anzug; eine Nelke im Knopfloch; eine Zigarre und ein Spazierstock mit einem Elfenbeinknauf; das dunkle Haar glatt zurückgekämmt und die kantige, ein wenig zu niedrige Stirn.

Harry Hunter! Welches Mädchen auf der Galerie hätte ihn damals nicht gekannt? Und welches Mädchen hatte Christine nicht mit jeder Faser ihres Herzens beneidet?

Wenn sie im Schlussakt im Rampenlicht standen und Harrys Arme sie umschlungen hatten, sie ihren Kopf zurückbeugte, um seinen leidenschaftlichen, besitzergreifenden Kuss zu empfangen, da wusste sie, dass die Hälfte der Frauen im Theater ihre Seelen dafür hergegeben hätten, wenn sie an ihrer Stelle hätten sein dürfen.

Diese Küsse waren zuerst echt gewesen und hatten auch hinter der Bühne niemals ihre Leidenschaft verloren. Harry hatte sie dann noch fester an sich gepresst, und ihre Gedanken waren ausgelöscht gewesen, und in einer Art Ekstase hatte sie gedacht: Er ist mein, er ist mein!

Wenn der Applaus das Haus füllte, trennten sie sich zögernd voneinander, während der Rest der Truppe auf die Bühne kam und sich vor dem letzten Vorhang verbeugte.

Blickte sie jetzt zurück, so konnte sie sich merkwürdigerweise an keinen anderen erinnern, der mit ihr zusammen gespielt hatte.

Es war nur Harry. Harry, auf den es ankam, Harry an den sie dachte. Sie war glücklich gewesen, ekstatisch glücklich..., glücklich... über alles hinaus, wovon sie jemals geträumt oder was sie sich ersehnt hatte.

»Dies ist das Leben«, hatte sie sich damals gesagt.

Was hatte sie, Christine Dillon, bis dahin von der Liebe oder vom Leben gewusst? Sie war in einem Landpfarrhaus aufgewachsen und dazu erzogen worden, sich wegen ihres außergewöhnlich guten Aussehens fast zu schämen.

Harry war der erste Mann gewesen, der ihr gesagt hatte, dass sie schön war; Harry war der erste gewesen, der sie geliebt hatte; Harry war es gewesen, der sie lieben gelehrt hatte.

Sie hatte dies niemals bereut, nicht einmal, als er ihr seine Liebe entzogen hatte, nicht einmal in jenen verzweifelten Wochen, in denen sie Nacht für Nacht schlaflos und allein in einem fremden Logierhaus gelegen hatte.

Christine war zu betäubt in ihrem Elend gewesen, um zu weinen. Sie hatte sich schmerzlich gesehnt - gesehnt mit einem verzweifelten, alles vernichtenden physischen Verlangen nach Harry.

Manchmal fragte sie sich, ob ihre Erinnerungen immer noch die Macht hatten, ihr weh zu tun, oder ob es nur der Gedanke an ihren anhaltenden Schmerz war - das Leiden eines Kindes, das nicht verstand, weshalb es verletzt worden war. Die Seelenqual eines Mädchens, das alles gegeben und wenig zurückerhalten hatte.

Jetzt war sie eine Frau. Jetzt sah und verstand sie viele Dinge, die ihr damals unverständlich gewesen waren.

Christine griff nach der Speisekarte. Sie hatte einen Shilling und zehn Cent ausgegeben, aber sie war immer noch hungrig. Nun, sie konnte sich noch ein Sandwich leisten.

Als sie aufstand, um es zu holen, bemerkte sie, dass ein Mann am Nachbartisch sie aufmerksam betrachtete. Instinktiv drückte sie die Schultern durch und ging mit bewusster Grazie zur Theke. Als sie zurückkam, sah er sie immer noch an. Er war ein Mann mittleren Alters mit Hornbrille und einem Adamsapfel, der über seinem Kragen auf und ab tanzte.

Christine setzte sich und wandte ihm halb den Rücken zu, aber die ganze Zeit spürte sie seinen Blick. Müde dachte sie:

Ich glaube, das ist der einzige Typ, der mich noch sieht.

Sie dachte an die Blumen und Briefe, die sie vor langer Zeit erhalten hatte. Wie froh wäre sie, wenn sie jetzt ein paar davon bekommen hätte. Damals hatten sie ihr nichts bedeutet. Einladungen zum Essen hatte sie ungeöffnet in den Papierkorb geworfen.

»Es tut mir leid, Miss Christine Crystal ist schon verabredet.«

Das war die gleichbleibende Antwort, die an der Bühnentür oder am Telefon ausdauernden Bewunderern gegeben wurde. Teure Wagen, deren Besitzer in der Hoffnung warteten, dass sie zu einer Abendgesellschaft mitkommen würde, fuhren unverrichteter Dinge davon.

»Miss Christine Crystal ist verabredet.«

Natürlich war sie verabredet mit Harry: Sie war mit ihm jeden Augenblick des Tages und der Nacht verabredet.

Wie oft dachte sie noch an ihre gemeinsamen Abendessen - Harry hatte gesprochen, während sie zugehört hatte. So hatte sie es sich gewünscht. Das hatte sie glücklich gemacht.

Sie dachte wieder an den Mann am Nachbartisch. Er störte sie, er unterbrach ihre Gedanken. Falls er es wagen würde, sie anzusprechen, wollte sie unfreundlich zu ihm sein. Sie verabscheute Männer, die Frauen belästigten, obwohl es weiß Gott kaum einen Grund gab, warum sie jemand jetzt ansprechen sollte.

Ihr Haar sah schrecklich aus... Sie hatte versucht, es selbst zu richten, aber irgendwie war ihr neuerdings ihr Äußeres völlig gleichgültig. Sie war müde, so entsetzlich müde. Ihr fehlte Nahrung, ihr fehlten Butter und Milch.

Merkwürdig, wie der bloße Gedanke an Butter sie in die Tage ihrer Kindheit zurückversetzte große gelbe Butterstücke auf dem Frühstückstisch und ein silberner Ständer mit gekochten Eiern auf der Anrichte. Sie konnte hören, wie ihr Vater fragte:

»Warum isst du nicht richtig, Christine? Das ist schon der zweite Morgen, an dem du nichts zu dir genommen hast außer einer Tasse Tee.«

»Ich bin nicht hungrig, Vater.«

»Unsinn! Du wirst krank, wenn du nicht anständig isst. Was ist los mit dir, bist du verliebt?«

Er hatte die Frage völlig unerwartet gestellt. Christine war erschrocken und hatte gewusst, dass ihre roten Wangen sie verrieten.

Ja, sie war verliebt gewesen…irrsinnig verliebt, Hals über Kopf verliebt, schon fast einen Monat lang, ehe ihr Vater es bemerkte. Sie war verliebt gewesen in Harry und er in sie.

Nein, sie hatte in jenen Tagen weder Butter noch Eier noch Milch gewollt. Aber jetzt hätte sie dies alles sehr wohl brauchen können.

Der Mann am Nachbartisch stand auf. Er zögerte, und plötzlich wusste sie, dass er zu ihr herüberkommen und sie ansprechen würde.

Ich kann es nicht ertragen, dachte Christine. Warum lässt er mich nicht in Ruhe?

Sie spürte eine plötzliche Schwäche, und Tränen traten ihr in die Augen. Erschrocken über sich selbst nahm sie aus ihrer Handtasche ein Taschentuch. Dann hörte sie die Stimme des Mannes, der zögernd und fast entschuldigend fragte:

»Bitte verzeihen Sie..., aber... sind Sie nicht..., sind Sie nicht Miss Christine Crystal?«

»Und wie, wenn ich es wäre?«

Sie war überrascht, dass er ihren Namen kannte. War er ein Autogrammjäger? Sie sah ihn an, sein Adamsapfel bewegte sich rasch auf und ab.

»Ich wusste doch, dass ich mich nicht irre. Ich habe Ihre Fotos gesehen. Wir haben sie in ganz England verschickt, weil wir Sie finden wollten.«

»Sie wollten mich finden?«

»Ja, Miss Crystal, wir versuchen schon sehr lange, mit Ihnen in Verbindung zu kommen.«

»Wer ist ,wir‘...? Ich meine..., wer sind Sie?«

Sie bemerkte, dass er erfreut und sehr zufrieden mit sich war.

»Dies ist wirklich ein Glück, Miss Crystal. Wie das Leben so spielt. Zu denken, dass wir an viele Orte in ganz England geschrieben haben, um Sie ausfindig zu machen, und nun treffe ich Sie zufällig während meiner Mittagspause.«

»Wer sind Sie?« fragte Christine. »Warum wollten Sie mich finden?«

Der kleine Mann war entzückt. Er lächelte wie über einen großartigen Scherz.

»Mein Name ist Denvers, Miss Crystal. Ich bin Prokurist bei Messrs. Westbury, Waterbury und Thomas, Anwälte, und wenn Sie mit mir in unser Büro kommen, kann ich Ihnen etwas berichten, das für Sie sehr vorteilhaft ist.«

Christine sah ihn einen Augenblick lang an. Sie spürte ein seltsames Summen im Kopf, und ihre Beine fühlten sich an, als gehörten sie nicht ihr.

»In diesem Fall«, sagte sie leise, und ihre Stimme schien einer Fremden zu gehören, »glauben Sie, dass ich noch eine Tasse Kaffee trinken kann?«

2. Kapitel

Christine sah zum hundertsten Mal auf ihre Armbanduhr. Noch zwanzig Minuten, und sie würde zu Hause sein.

Der Zug fuhr langsam. Hier auf der Nebenlinie hatte sie ein Abteil für sich ganz anders als in dem überfüllten Zug, mit dem sie von London abgereist war.

Noch zwanzig Minuten..., sie konnte kaum glauben, dass es kein Traum war, dass sie tatsächlich nach achtzehn Jahren Abwesenheit nach Hause fuhr.

Und doch, würde es noch ihr Zuhause sein? Würde sie noch irgendwelche vertrauten Gesichter, irgendwelche Wahrzeichen, die zu ihrer Kindheit gehört und ihr etwas bedeutet hatten, wiederfinden?

Fast panikartig öffnete sie ihre Handtasche und nahm Arthurs Brief heraus. Er war zerknittert und an den Ecken umgeknickt, weil sie ihn so oft gelesen hatte. Sie hatte ihn immer und immer wieder gelesen, sie hatte ihn in der vergangenen Nacht neben ihrem Bett liegen gehabt, und nach dem Aufwachen hatte sie ihn sofort noch einmal gelesen.

So, als müsse sie sich vergewissern, las sie ihn wieder.

Meine liebe Christine,

falls die Detektive, die seit einiger Zeit nach Dir suchen, Dich nicht in den nächsten Tagen finden, werde ich tot sein, wenn Du diesen Brief erhältst. Sogar die Ärzte geben sich nicht mehr hoffnungsvoll, wenn sie mich besuchen, und ich weiß, dass das Ende sehr nahe ist.

Glaube nicht, dass es mir etwas ausmacht zu gehen. Wenn die Kinder nicht wären, würde ich diese Erde gern verlassen, zuversichtlich in dem Glauben, dass ich mit Denise zusammen sein werde. Ich war sehr einsam, seitdem sie mich verlassen hat. Ich wünschte, Du hättest sie gekannt, damit Du meine Gefühle verstehen kannst.

Ich fühle mich Dir gegenüber schuldig, Christine, so sehr, dass ich diesen letzten Versuch eine Wiedergutmachung unternehme, in der Hoffnung, dass Du mir mein Verhalten während dieser letzten Jahre verzeihst.

Überrascht es Dich zu erfahren, dass ich immer versucht habe, Deinen Weg, Deine Karriere im Auge zu behalten? Vielleicht wirst Du lächeln, wenn Du unter all den Dingen in meinem Schreibtisch ein kleines Buch mit Zeitungsausschnitten versteckt findest. Es sind Kritiken über Dich, Christine. Ich hatte eine Agentur damit beauftragt. Sie sagten mir, dass Du viele Jahre lang erfolgreich gewesen bist, aber dann schickten sie immer weniger und nicht mehr so überschwängliche Kritiken.

Schon damals hätte ich versuchen sollen das sehe ich jetzt - Dich wiederzufinden, aber ich habe es unterlassen. Ich nehme an, aus keinem anderen Grund als dem, dass ich zu verlegen war und fürchtete, mich zum Narren zu machen. Ich habe mich Dir gegenüber immer wie ein selbstgefälliger Spießbürger verhalten, nachdem Du von zu Hause weggelaufen bist.

Ich möchte mein selbstgefälliges Verhalten damit entschuldigen, dass ich damals jung und wegen meines geistlichen Amtes zu sehr auf meinen Ruf bedacht gewesen war. Außerdem war ich zum ersten Mal verliebt. Ich hatte Denise gerade kennengelernt, als Du weggingst, und ich glaubte - wie es so viele junge Männer tun -, dass alles, was den Ruf der Frau schädigen könne, für Denise eine Beleidigung sein musste.

Ja, ich war ein selbstgefälliger Spießbürger von der schlimmsten, heuchlerischsten Sorte, das gebe ich freimütig zu. Am schlimmsten erscheint es mir, dass ich dafür nicht bestraft worden bin. Ich bin mein ganzes Leben lang glücklich gewesen. Selbst als Denise starb, fiel es mir schwer, um sie zu trauern, weil ich absolut sicher war, dass sie mich nicht verlassen hatte, und nur die Schwäche meiner irdischen Augen mich daran hinderte, sie zusehen.

Nun, da ich weiß, dass meine Tage gezählt sind, werde ich bestraft wegen meines Verhaltens Dir gegenüber, weil ich vielleicht sterbe, ohne sicher zu sein, dass Du gefunden wirst, und ich um die Zukunft meiner Kinder fürchte:

Dies klingt alles ein wenig verworren, deshalb will ich versuchen, Dir in wenigen Worten zu erklären, was ich Dir sagen will, solange ich noch fähig bin, Dir zu schreiben.

Ich möchte, dass Du, Christine, meine eigene Schwester, meine Kinder aufziehst. Es wird viele Leute überraschen - ich will das gar nicht verheimlichen -, denn hier ist eine Legende um Dich entstanden, was Deine Lebensfreude, Deine Schönheit und Deinen Mut anbetrifft:

Aber irgendwie scheinen mir in diesem Augenblick all diese Dinge nebensächlich und unwichtig zu sein. Ich bin von der Überzeugung durchdrungen, dass Du im Herzen dieselbe Christine geblieben bist, die ich während der ersten dreiundzwanzig Jahre meines Lebens so sehr geliebt habe; dieselbe Christine mit ihrer Großzügigkeit, ihrem Verständnis und ihrem Mitgefühl, mit ihrer Lebensfreude.

Wenn ich auf unsere Kindheit zurückblicke und die Art und Weise, wie wir erzogen wurden, sehe ich ganz deutlich, weshalb Du Dich so verhalten hast, wie Du es tatest. Meine Kinder dürfen niemals die Schrecken der Unterdrückung und der Beklemmung erleiden. Sie dürfen niemals dazu veranlasst werden, von dem Ort davonzulaufen, den sie ihr Heim nennen.

Und weil ich so sehr wünsche, dass sie glücklich werden, bitte ich Dich, zurückzukommen und für sie zu sorgen.

Für den Fall, dass Du nicht kommen willst - oder nicht kannst -, hinterlasse ich meinen Anwälten andere Anweisungen. Aber ich kann Dich nur bitten zurückzukommen.

Elizabeth ist Dir sehr ähnlich - sie ist impulsiv, aufgeschlossen und begierig, nichts vom Leben zu versäumen. Ich glaube, Du wirst ihr besser helfen können, als ich es jemals vermocht habe.

Donald ist ein komplizierterer Charakter, seine Gefühle sind tief, und er ist sehr zurückhaltend. Ich habe ihn oft nicht verstanden, und ich kann nur darum beten, dass Du Erfolg haben wirst, wo ich versagt habe.

Peter ist ein Schatz. Ich glaube, seine Mutter und ich liebten ihn so sehr, weil er immer ein kränkliches Kind war. Er hat diese Anfälligkeit jetzt überwunden, aber es war seine Schwäche und die Schwere seiner Geburt, die letzten Endes an Denises Tod schuld waren.

Ich verübelte es ihm niemals und liebe ihn umso mehr, weil seine Mutter glaubte, dass er jeden Augenblick des Leidens wert war, das er ihr zugefügt hatte.

Dies ist meine Familie, Christine, und ich weiß - und ich sage es ohne Selbstgefälligkeit -, dass sie mich vermissen werden, wenn ich nicht mehr da bin. Ich bitte Dich, ihnen Vater und Mutter zu sein. Es wird keine leichte Aufgabe sein.

 Aber etwas in meinem Inneren - etwas Stärkeres als mein eigener kleiner beschränkter Geist - sagt mir, dass Du alles erreichen wirst, worum ich Dich bitte, und dass Du Erfolg haben wirst.

Mir war während der letzten Monate so, als ob auch Denise mich drängte, mit Dir in Verbindung zu treten vielleicht weiß und sieht sie viel mehr, als ich es vermag.

Ich habe mein Geld für die Kinder einem Treuhänder zur Verwaltung gegeben, aber ein Teil davon gehört ohne Vorbehalt Dir für die Zeit Deines Lebens. Ich habe Dir auch das Haus überschrieben, bis Donald volljährig ist.

Ich glaube, Du hast Four Willows immer geliebt, vielleicht sogar noch mehr als ich. Ich erinnere mich noch daran, wie Du an einem Frühlingsmorgen im Garten standest und das Gesicht in den blauen Himmel hobst und immer wieder sagtest:

»Oh, es ist herrlich, herrlich, herrlich!«

Und ich habe noch eine andere Erinnerung an Dich. Du warst damals noch sehr jung. Du hattest etwas angestellt, ich weiß nicht mehr was. Aber Vater kam herauf ins Kinderzimmer und schimpfte mit Dir in seiner strengen Art. Ich erinnere mich noch, wie er mit seiner tiefen Stimme sagte:

»Was, glaubst du, wohl, Christine, hält Gott von deiner Verworfenheit?«

Du sahst Vater trotzig an - Du warst immer tapferer als ich - und hast gesagt:

»Gott? Er wird mir natürlich verzeihen, wozu sonst ist Er da?«

Deine Worte kamen mir in den letzten Jahren oft in den Sinn. Du warst der Vergebung sicher, also kann ich vielleicht auch Deiner Vergebung sicher sein trotz meines Mangels an Verständnis für Dich während der vergangenen Jahre.

Vergib mir, Christine, und nimm meine drei Kinder an Dein Herz, die ich Deiner Güte empfehle.

Gott segne Dich, meine Liebe.

Dein Dich innigst liebender Bruder,

Arthur

Die Unterschrift am Ende dieses langen Briefes war schwach, als hätte der Schreiber seine ganze Kraft verbraucht und im letzten Augenblick die Kontrolle verloren.

Obwohl Christine den Brief so oft gelesen hatte, traten ihr wieder Tränen in die Augen. Der gute Arthur! Sie sah ihn lebhaft vor sich, seinen ernsten Gesichtsausdruck, die Art, wie er sich mit seinen langen Fingern durch das Haar fuhr, während er nach Worten suchte. Sie spürte, dass Arthur sich im Laufe der Jahre wenig verändert hatte. Er war immer seinem Alter vorausgewesen.

Manchmal hatte sie ihn wegen seiner Bedachtsamkeit verspottet und gesagt, er sei langweilig und würde niemals Spaß im Leben haben. Ihre Prophezeiung war richtig gewesen, denn noch ehe Arthur zehn Jahre alt war, hatte er seine Absicht verkündet, in den Kirchendienst einzutreten. Mit zweiundzwanzig war er ein fleißiger, ernster junger Mann gewesen. Er nannte sich selbst einen ‚selbstgefälligen Philister‘. Ja, vielleicht stimmte das auch.

Man hatte kaum erwarten können, dass er sich anders verhielt, als sie von zu Hause davongelaufen war.

Arthur hatte seinen Vater immer gefürchtet und war in allen Dingen von ihm abhängig gewesen. Reverend William Dillon war kein Mann, dem man leicht trotzte.

Christine erinnerte sich jetzt an die Angst, die sie empfunden hatte, als sie in der Morgendämmerung die Treppe hinabgeschlichen war, um mit Harry davonzulaufen - eine Angst, die in ihrer Stärke fast unnatürlich gewesen war -, eine Angst, wie sie ein Mensch empfinden mochte, der seinem Gott trotzte, aber nicht die Angst eines Kindes vor einem strengen Vater.

Reverend William Dillon hatte seinen Haushalt im psychischen Griff gehalten, der schlimmer war als jede physische Gewalt. Ihr Vater war ein guter Mann gewesen, daran bestand kein Zweifel - aufrichtig und beseelt von einem starken Glauben. Aber ihm fehlte die Einfühlsamkeit, ihm fehlte das Mitleid und das Verständnis für die menschlichen Schwächen, obwohl dies die herausragenden Eigenschaften von Christus und seiner Lehre waren.

Für Reverend William Dillon gab es nur die Farben schwarz und weiß, es gab keine Zwischentöne, wo Freundlichkeit den Hass mäßigte oder wo Verzeihen und Vergebung die Strenge des Gesetzes linderten.

Er liebte seine Kinder sehr - und besonders Christine. Er war männlich genug, um eine Tochter anziehender zu finden als einen Sohn. Er war stolz auf Arthur, stolz auf dessen Leistungen in der Schule, auf sein ruhiges, tadelloses Benehmen und darauf, dass er sich so früh im Leben entschlossen hatte, sich der Kirche zu weihen. Und doch hatte irgendetwas in William Dillon die Heidin, die er in seiner Tochter sah, bewundert, obwohl er dieses Gefühl sein ganzes Leben lang unterdrückte.

Christines natürliche Fröhlichkeit, ihre Schönheit, ihre Liebe zu allem, was heiter und beschwingt war, machten es ihm schwer, sie nicht zu verwöhnen, ihr nicht nachzugeben und dabei seine eigenen Maßstäbe herunterzuschrauben.

Beharrlich hatte er gegen seine Schwäche angekämpft. Manchmal war er Christine gegenüber streng bis zur Ungerechtigkeit gewesen, und die Kinder hatten nicht verstehen können, warum er nicht nur sie, sondern auch sich selbst damit bestrafte.

Arthur hatte seinen Vater gefürchtet, Christine hatte ihm öfter getrotzt. Arthur hatte über Lektionen und Bestrafungen gebrütet, während Christine sie sofort vergessen konnte, sobald sie erteilt worden waren. Es war ihr unmöglich gewesen, nicht glücklich zu sein. Und es war ihr unmöglich gewesen, nicht zu lachen und fröhlich zu sein, wenn die Sonne schien und die Vögel zwitscherten. Wie sie mit ihrem Temperament die Tochter von Reverend William und Sarah Dillon sein konnte, war ein Geheimnis, das nur die Natur kannte.

Sarah war eine stille, farblose Frau gewesen, deren Leben selbst auf diejenigen wenig Eindruck gemacht hatte, denen sie am engsten verbunden war. Wenn ihr Gatte sie liebte, dann zeigte er wenig davon. Er war höflich, aber sie ging durch sein Haus wie ein Schatten.

Selbst als die Kinder klein waren, hatte sie wenig Einfluss auf sie. Christine hatte ihre Mutter nicht sehr geliebt.

Wenn sie auf ihre Kindheit zurückblickte, sah sie, dass es Arthur gewesen war, den sie geliebt hatte. Ihren Vater hatte sie geachtet, vermischt mit Ausbrüchen von heftigem Hass.

Dies waren die großen Gefühle in ihrem Leben gewesen, bis sie Harry kennenlernte.

War es ein Wunder, dass sie ihn vom ersten Augenblick an, als sie ihn sah, geliebt hatte?

Er hatte sich an das Holztor gelehnt, das zum Friedhof führte.

»Ist das hier Green End?« hatte er gefragt.

Mit der ungezwungenen Höflichkeit der Pfarrerstochter, die es gewohnt war, mit jedermann zu sprechen, hatte sie geantwortet:

»Ja, das ist richtig. Aber manche Leute glauben, es ist das Ende der Welt.«

»Sie haben mir die Worte aus dem Mund genommen. Darf ich hereinkommen?«

»Aber natürlich«, hatte Christine geantwortet. »Der Friedhof steht allen offen.«

Er hatte so getan, als fürchtete er sich, und sie hatten beide gelacht.

»Ich hoffe, dass ich noch lange nicht hier um Unterkunft nachsuchen muss.« Sie hatten wieder gelacht, dieses Mal ein wenig länger und lauter, als es dem Scherz angemessen war. Aber etwas war in diesem Augenblick mit ihnen beiden geschehen. Christine hatte es fast spüren können. Da war eine Schwingung, etwas Erregendes und Zauberhaftes, das sie beide gefangen nahm.

Sie konnte die Bewunderung in den Augen des Fremden sehen. Und doch war er ein Fremder? In diesem Augenblick schien er ihr die Verkörperung jenes Helden zu sein, von dem sie geträumt oder über den sie in ihrer Kindheit gelesen hatte.

Sie hatten einander in der Kirche angesehen, und die kalte Düsternis des grauen Steingebäudes, ihre gedämpften Stimmen hatten eine Intimität hervorgerufen, die aufregender gewesen war als alles, was sie zuvor erlebt hatte. Sie waren wieder in den Sonnenschein hinausgetreten, und es war niemals heller gewesen.

»Wohnen Sie hier in der Nähe?« hatte Christine gefragt.

Sie war sich ihrer Neugierde bewusst gewesen, mit der sie diese Frage gestellt hatte. Würde sie ihn wiedersehen? Ging er für immer weg?

»Zufällig ja«, sagte er. »Ich war mir bis jetzt noch nicht sicher.«

Sie verstand die Bedeutung seiner Worte und spürte, wie sie plötzlich ein Schauer durchlief.

»Wie heißen Sie?« fragte er.

Es kam ihr eigenartig vor, dass er es nicht schon wusste.

»Christine Dillon. Mein Vater ist der Pfarrer von Green End.«

»Wohnen Sie immer hier?«

Ein Anflug von Erstaunen lag in seiner Stimme, als er auf das kleine Dorf mit seinen strohgedeckten Hütten und den blühenden Gärten blickte.

»Ja, dort ist unser Haus.«

Christine deutete über die Straße.

»Es heißt Four Willows und gehört schon lange unserer Familie. Das eigentliche Pfarrhaus steht dort drüben, neben der Schule.«

»Langweilen Sie sich hier nicht?«

Christine dachte einen Augenblick nach.

»Ich kenne nichts anderes. Weshalb sollte ich mich langweilen?«

Sie antwortete etwas trotzig. Sie wollte nicht, dass er kritisierte, dass er irgendetwas, das mit ihr zu tun hatte, abwertete.

Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte er:

»Sie sind vollkommen. Ich kann kaum glauben, dass nicht irgendein Haken daran ist.«

»Soweit ich weiß, gibt es keinen«, erwiderte Christine.

Die Kirchenuhr schlug viermal. Christine überlegte rasch. Konnte sie es wagen, ihn zum Tee einzuladen? Und unter was für einem Vorwand? Ja, sie würde es wagen, warum nicht? Was sollte sie davon abhalten? Unzählige Menschen kamen zum Tee, verdrießliche, langweilige und wohltätige. Weshalb sollte sie nicht einmal jemanden einladen, der anders war? Aber sollte sie es wirklich wagen?

Sie betrachtete Harrys maßgeschneiderten, makellos gebügelten grauen Flanellanzug, die rote Nelke in seinem Knopfloch und den weichen Hut, den er keck in die Stirn gezogen hatte.

Harry und ihr Vater..., sie hätte beinahe gelacht bei dem Gedanken daran, dass sie sich kennenlernen sollten. Und dann wagte sie den Sprung.

»Wollen Sie nicht hereinkommen und eine Tasse Tee mit uns trinken, Mister...?« Sie hielt inne.

»Hunter, Harry Hunter.«

Er sagte es mit einer Betonung wie jemand, der fast sicher war, dass ein Tusch erklingt. Dabei sah er sie erwartungsvoll an.

»Nun, kommen Sie?«

Sie sah an seiner Miene, dass er überrascht war. Was hatte er erwartet?

»Ich würde gern zum Tee zu Ihnen kommen. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Sind Sie ganz sicher, dass es Ihren Leuten nichts ausmacht?«

»Ich hoffe, sie werden nichts dagegen haben.«

Dieser Satz sagte ihm eine Menge. Er folgte ihr über die Straße und durch das Tor in den Garten von Four Willows.

Der Tee wurde auf dem Rasen serviert. Christine führte Harry zum Tisch und forderte ihn auf, sich auf einen der harten, grünen Gartenstühle zu setzen, die um den Tisch herumstanden.

»Wenn Sie bitte so freundlich wären, hier zu warten, ich gehe und hole meinen Vater«, erklärte sie.

»Müssen Sie das wirklich tun?« Er machte ein betrübtes Gesicht bei der Vorstellung, dass sie weggehen könnte.

»Ich fürchte, ja.«

»Bleiben Sie aber nicht zu lange weg... Und sagen Sie mir noch rasch, worüber unterhält man sich mit einem Pfarrer?«

In diesem Augenblick wurde ihr zum ersten Mal ein wenig unbehaglich zumute bei dem Gedanken daran, was sie getan hatte.

»Sie müssen mit ihm über Ihr Interesse an der Kirche sprechen«, sagte sie rasch. »Schließlich habe ich Ihnen etwas darüber erzählt.«

»Und ich habe überhaupt nicht zugehört. Ich habe nur Ihren Mund gesehen.«

Sie spürte, wie sie errötete, und dann wurde sie schüchtern.

»Ich hole meinen Vater.«

Sie hatte sich umgedreht und war gegangen, ehe er sie zurückhalten konnte.

»Also wirklich, Christine«, sagte Reverend Wiliam Dillon ein paar, Augenblicke später. »Ich kann mir nicht vorstellen, was du dir dabei gedacht hast, einen wildfremden Mann zum Tee einzuladen. Wenn wir jeden, der hier vorbeikommt und die Kirche besichtigt, sofort zum Tee einladen würden, könnten wir gleich ein Restaurant eröffnen.«

»Es tut mir leid, Vater, aber er war so interessiert und stellte so viele Fragen, dass ich dachte, ich bringe ihn am besten zu dir, weil ich nicht glaube, dass ich sie alle beantworten kann.«

Das war die richtige Antwort. William Dillon lächelte erfreut. Die Kirche von Green End, ursprünglich Saxon, war sein liebstes Hobby. In seinem innersten Herzen nannte er sie ‚meine Kirche‘. Er hatte auch eine beträchtliche Summe seines eigenen Geldes hineingesteckt, um ihre Schönheit zu erhalten, und er hatte ständig in den alten Archiven und Aufzeichnungen der Grafschaft geforscht. Eines Tages wollte er eine kurze und knappe Geschichte über St. Christopher's in Green End veröffentlichen. Aber das war sein Geheimnis, er hatte nicht einmal im engsten Familienkreis darüber gesprochen.

»Also gut, Christine«, sagte er und stand von seinem Schreibtisch auf. »Ich komme herunter und werde diesen Herrn kennenlernen. Wie sagtest du, ist sein Name?«

»Mr. Hunter.«