Mit der Flut kommt der Tod - Kari Köster-Lösche - E-Book

Mit der Flut kommt der Tod E-Book

Kari Köster-Lösche

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Beschreibung

Husum 1894. Als der junge Wasserbauinspektor Sönke Hansen den Auftrag erhält, sich auf der Hallig Langeneß für die Errichtung eines Steindeiches samt Leuchtfeuer einzusetzen, ahnt er nicht, welchen Wirbel sein Besuch bei den liebenswert-störrischen Halligmenschen auslösen wird. Dann wird die Leiche eines Mannes gefunden, der Sönke wie aus dem Gesicht geschnitten ist, und er sieht sich unversehens in einen Fall verwickelt, der immer weitere Kreise zieht. Im sensiblen politischen Umfeld von Friesen, Dänen und Preußen und immer auf der Hut vor dem unberechenbaren Oberdeichgraf, macht sich Sönke an die Lösung seines ersten Falls …

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Kari Köster-Lösche

Mit der Flut kommt der Tod

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

AnmerkungKartenPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Die handelnden Personen in der Reihenfolge ihrer ErwähnungGlossar
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Jede vermeintliche Ähnlichkeit der Figuren dieses Buches mit lebenden Menschen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Prolog

Vom Ruder her schlug es vier Glasen, die große Glocke antwortete, und der Ausguck sang sein Lampen brennen!. Er konnte es trotz des Rauschens des Wassers hören, als er stehen blieb, um sich festzuhalten. Mehr als einmal war er bereits durch den Laderaum getorkelt und auf den Planken hingeschlagen.

Verdammtes Gieren! Dieser Kahn war wirklich ungewöhnlich unstabil!

In dem gottverlassenen kleinen Inselhafen hatte er sein Glück kaum fassen können, außer Fischerbooten die Silhouette eines großen Schiffes zu entdecken, das an der Außenmole vertäut war.

In der rabenschwarzen Nacht war weder im Dorf noch im Hafen jemand unterwegs gewesen. Trotzdem hatte er sich im noch schwärzeren Schatten von Kistenstapeln und Netzbergen, durch ölige Pfützen und Fischabfälle lautlos auf dem Kai vorgearbeitet, bis er an dem scharf geschnittenen Steven des Schiffes angelangt war. Es war eindeutig der eines Dampfers, und soweit er erkennen konnte, gab es an Bord nicht einmal Wachen.

Beim Gedanken daran lachte er in sich hinein. Fast war er in Versuchung gewesen, die regennasse Gangway hochzuspazieren, wie es ihm als Passagier eines Schnelldampfers zustand. Dann aber hatte die Vernunft gesiegt: Er war flink wie eine Ratte hochgehuscht und hatte sich im erstbesten Niedergang nach unten gestohlen.

In der Sicherheit der Schiffswände hatte er sich erst einmal mit allen Sinnen orientiert. Es war nichts zu hören gewesen. Entweder schlief die Mannschaft schon, oder es war kaum jemand an Bord.

In seiner Erleichterung, nun fast schon in Sicherheit zu sein, war ihm ein einziger Fehler unterlaufen. Das Schiff war kein Dampfer, wie er geglaubt hatte, sondern ein abgewirtschafteter Segler.

 

Das Schlingern war unerträglich. Kein Wunder! Diesem Seelenverkäufer war der Motor ausgebaut worden. Er schnaubte verächtlich, als ihm die alten Fundamente ins Auge fielen.

Ausgerechnet auf einem vom Dampfer zur Bark degradierten Schiff fuhr er jetzt ins Ungewisse! Wer wusste nicht, dass die Reeder ihre ausgedienten Dampfer zum Segelschiff umbauen ließen, wenn sie diese noch ein paar Jahre nutzen wollten! Kosten ließen sich auf diese Weise sparen – und Versicherungsgebühren kassieren, wenn der Seelenverkäufer endlich untergegangen war.

Wahrscheinlich fuhr der Kahn zu wenige Segel, wie manche seiner Art. Und wegen seiner scharfen Bauweise war er empfindlich gegen höhere Wellen und vermutlich notgedrungen öfter im Schutz vor schwerem Wetter als andere Schiffe. Schnell würde die Reise also nicht werden. Oder – die allerschlimmste Möglichkeit –, das Schiff war auf dem Weg zum Meeresgrund mit einem Kapitän, der bereit war, zusammen mit dem Reeder Versicherungsbetrug zu begehen. Vor allem die kaum nennenswerte Ladung sprach für diese Planung.

Gänsehaut überzog seinen Rücken.

 

Der einzige Lichtblick war, dass man ihn noch nicht entdeckt hatte, obwohl er bereits die vierte Nacht an Bord war. In der zweiten war der Segler nur wenige Stunden mit halbem Wind unterwegs gewesen, was er sich an der konstanten Schräglage leicht hatte ausrechnen können. Dann war er vor Anker gegangen.

Mitten in der Nacht und in fast vollkommener Lautlosigkeit. Nur ein leises Scharren und gelegentliches Rumpeln war zu vernehmen gewesen. Während er, verborgen hinter einem der Ballasttanks, mit geschärften Sinnen die Sterne durch das offene Luk betrachtet hatte, war ihm aufgegangen, dass mit diesem Schiff etwas nicht stimmte. Ganz offensichtlich war sein Kapitän kein Freund von Zollkuttern. Und dafür musste es Gründe geben.

Diese Erkenntnis hatte seine Laune beträchtlich gehoben. Illegale Geschäfte zogen ihn an, und für gewöhnlich fand er einen Weg, sich an ihnen zu beteiligen. Er musste nur erst einmal feststellen, um welches Geschäft es sich handelte.

 

Bisher hatte er nichts Bemerkenswertes entdecken können. Es war vielmehr das Fehlen von auffälliger Ladung, was ihn beunruhigte. Womöglich war in der Nacht gar keine Ladung an Bord gekommen, sondern Menschen? Oder die Ware war so beschaffen, dass sie in der Kapitänskajüte verwahrt werden musste? Es war ihm ein Rätsel.

Das Einzige, das er bisher sicher in Erfahrung gebracht hatte, war, dass das Schiff als Tiefwassersegler ausgerüstet war. Denn im vordersten Laderaum vor dem Kollisionsschott war Proviant in erstaunlicher Fülle gestaut. Außer Säcken mit Mehl, Reis, Bohnen und Kartoffeln hatte er mehrere Fässer mit Pökelfleisch entdeckt. Das war Vorrat für eine wochenlange Reise über offenes Wasser.

Dazu passte die umfangreiche Schiffsausrüstung. Die Ersatzteile füllten einen eigenen Raum. Mit Hilfe von Taurollen hatte er sich dort einen einigermaßen erträglichen und jetzt am Anfang der Reise auch ziemlich sicheren Schlafplatz geschaffen.

Zu einer weiten Reise passten jedoch nicht die verhältnismäßig wenigen Stückgutkisten im Laderaum am Heck. Überdies wusste er nicht einmal, ob sie schon dort gewesen waren, als er an Bord gekommen war.

Noch war allerdings der größte Laderaum leer. Vielleicht waren sie unterwegs in die Nordsee und sollten in England Kohle laden? Andererseits fehlten die Längsschotts und die von der See-Berufsgenossenschaft neuerdings vorgeschriebenen Ventilatoren. Überhaupt wirkten die Laderäume nicht, als hätte das Schiff jemals Massenprodukte wie Getreide, Salz oder Kohle befördert. Eher teure Güter. Kaffee und Rum kamen in Frage. Und auf dem oberen Deck Passagiere. Die Reihe von hölzernen Türen mit Messingbeschlägen, die er trotz seiner Eile wahrgenommen hatte, sprach für Kabinen gut zahlender Gäste.

Eine starke Krängung[1] warf ihn unerwartet gegen einen der großen Ballasttanks. Er hielt sich an ihm fest, während er sich die schmerzenden Rippen rieb und sich Gedanken über die daumenstarken Gewinde an allen vier Ecken machte. Dann entdeckte er, dass er auf einer viereckigen Platte stand, durch die die dazugehörigen Bolzen geschraubt waren. Er klopfte mit einem Fingerknöchel an die Wand. Der Tank war leer.

Er wusste, dass Segler ohne Ballast, mit wenig Ladung und hohen Masten leicht kentern konnten. Sein Unbehagen ließ sich allmählich nicht mehr ignorieren. Was war mit diesem Schiff los?

Ein leises Klirren oder vielmehr Schaben von Metall hinter dem Ballasttank ließ ihn aufhorchen. Das Geräusch verschwand, als der Segler durch den Wind gegangen war und auf dem anderen Bug lag.

Kniend spähte er unter den Tank.

Dort war es stockfinster, er musste mit der Hand tasten. Außer auf unappetitlichen, feuchten Unrat stieß er endlich auf kaltes Metall, das er hervorzog und im Licht von oben betrachtete.

Vor Überraschung stieß er einen lauten Pfiff aus. Zwischen der Bordwand und dem Tank war ein eiserner Ring eingeklemmt gewesen, an dessen einer Seite eine Stange mit Haken befestigt war. Die gegenüberliegende fehlte. Aber er wusste ohnedies, wozu ein solcher Ring benutzt wurde. In seinem Gewerbe musste man auf allen Gebieten beschlagen sein.

Zufall, dass dieser Ring hier lag? Er grinste erwartungsvoll.

So unwahrscheinlich ihm diese sehr spezielle Form des Handels in heutiger Zeit vorkam: Jetzt musste er dringend in Erfahrung bringen, was die Kisten im hintersten Laderaum enthielten. Es war denkbar, dass ein Zusammenhang bestand.

Vorsichtig kroch er durch die Luke am Schott des Kajütdecks. Sein Blick wanderte für einen Augenblick nach oben. Auch hier war die Luke des Laderaums verkeilt, aber nicht geschlossen, und noch drang letztes Tageslicht bis nach unten, genug jedenfalls, um ihm einen Blick auf die Kisten zu erlauben.

Beschriftet waren sie nicht, aber einander ähnlich wie ein Ei dem anderen. Es gab zwei Typen, der eine war länglich und nur eine Armspanne breit, der andere hatte einen annähernd quadratischen Grundriss. Das Holz der Kisten roch frisch und harzig, die Bretter waren nur grob gesägt, aber jedes einzelne bestimmt zwei Zentimeter stark.

Waffen?

Er zitterte vor Aufregung. Wenn das stimmte, war er gerettet.

Ein vernünftiger Kapitän würde auch ohne handfeste Drohung zu einem Handel bereit sein. Vielleicht konnte er sogar in das lukrative Geschäft einsteigen.

Ohne zu zögern, stieß er den Marlspieker, den er im Schiffszubehör gefunden hatte, zwischen Deckel und Seitenwand und begann zu hebeln.

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Kapitel 1

God morgen, børn! I dag skal vi lære en dejlig dansk vise, guten Morgen, Kinder! Heute wollen wir ein schönes dänisches Lied lernen. So oder so ähnlich hatte Gerda gewiss den von den Preußen verbotenen Schulunterricht in dänischer Sprache begonnen, an dem Tag vor acht Wochen, an dessen Abend sie spurlos verschwand. Sönke Hansen, Wasserbauinspektor in Husum, starrte auf die Sonne, die soeben hinter dem Steinwall, der seinen Garten umschloss, aufging, bis ihm die Augen schmerzten.

Gerda!

Manchmal wollte er nicht wahrhaben, dass sie verschwunden war. Es war so schwer zu begreifen. Sie war ein so anständiger Mensch, aufrecht bis zur Selbstaufgabe, völlig furchtlos, und hatte der preußischen Obrigkeit stets die Stirn gezeigt, wo es notwendig war. Das hatte sie in ihrem Elternhaus bereits mit der Muttermilch eingesogen.

Und deshalb war sie verschwunden. Sie musste Anlass zur Befürchtung gehabt haben, an die preußische Obrigkeit verraten worden zu sein und als Kind eines missliebigen nordschleswiger Optanten für staatenlos erklärt zu werden. Als Staatenlose ohne Pass aber wäre ihr verboten, weiter als Lehrerin zu arbeiten; eine Aussicht, die für Gerda unerträglich wäre, das wusste Sönke Hansen.

Nicht begreifen aber konnte er, dass Gerda ihn im Ungewissen gelassen hatte. Er liebte sie und sie ihn, und im Herbst wollten sie heiraten. Sorge dich nicht, ich … An der Stelle war Gerdas einzige Nachricht für ihn auf einem Fetzen Papier abgerissen, als ob sie in größter Eile gewesen wäre.

Hansen nahm einen Schluck Kaffee und blickte aus dem Fenster. Inzwischen war die Sonne höher gestiegen und tauchte auf dem Steinwall eine einzelne Heckenrosenknospe, die ungewöhnlich früh im Jahr aufblühen wollte, in ein orangefarbenes Licht.

Vielleicht hatte Gerda ihn auch in ihre Pläne nicht eingeweiht, um ihn zu schützen, denn als Mitarbeiter der Wasserbauinspektion stand er letzten Endes im Dienst der Herren von Berlin.

Zuzutrauen war ihr das, dachte Hansen mit Stolz. Vor allem das. Die Karriere eines Friesen im Staatsdienst konnte schnell beendet sein, wenn er mit illegalen Aktivitäten der Dänen in Verbindung gebracht wurde.

Er verlor sich, wie so oft, in Erinnerungen.

»Herr Bauinspektor«, rief im Schlafzimmer seine Zugehfrau derart entsetzt, dass Hansen aus seinen Gedanken hochfuhr und Kaffee über die blütenweiße Tischdecke vergoss, »haben Sie denn gar nicht bemerkt, dass das Bild von Fräulein Gerda nicht an seinem Platz steht? Ich habe es hinter dem Nachttisch gefunden, stellen Sie sich das doch nur vor! Mit Ihrem Nachtschlaf muss es nicht gut bestellt sein, wenn Sie so um sich schlagen!«

»Nein. Ja«, gab Hansen wortkarg zu und verschwieg ihr, dass er das Porträt behutsam dort abgestellt hatte. Manchmal ertrug er Gerdas Blick einfach nicht. Das untätige Warten auf Nachricht fand er unerträglich, und oft machte er sich Vorwürfe, dass er selbst nicht mehr tun konnte.

Petrine Godbersen erschien in der Tür, eine ältere Frau mit mütterlichem Gesichtsausdruck, den sie sich nicht einzusetzen scheute, wenn sie ihn für angebracht hielt, die Hände über der Schürze gefaltet.

»Nun müssen Sie aber wirklich los, Herr Hansen«, mahnte sie mit mildem Vorwurf. »Sie vertrödeln sich. Die Deiche werden brechen, und Ihre Vorgesetzten werden mit Ihnen schimpfen müssen.«

Hansen musste lächeln. Er erhob sich zur vollen Länge seiner fast einsneunzig, zog automatisch den Kopf an genau der richtigen Stelle unter dem niedrigen Deckenbalken des alten Hauses ein, holte seine Jacke vom Haken im Flur und trat in den Garten.

Da Frau Godbersen ihm höchstwahrscheinlich nachblickte, schloss er die weiße Pforte im Wall sehr ordentlich hinter sich.

Die Jacke rückte er sich nur lose über den Schultern zurecht. Am liebsten hätte er sich des Binders unter dem gestärkten Kragen entledigt, aber ohne ihn konnte er nicht zum Dienst erscheinen. Trotzdem wanderte er an diesem überraschend warmen Frühlingstag des Jahres 1894 einigermaßen gelassen seiner Dienststelle entgegen.

 

Das Preußische Amt für Wasserbau war ein großes, streng gegliedertes Backsteingebäude mit hohen Fenstern.

Hansen eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die breite Treppe in den ersten Stock hoch. War er erst einmal im Flur angelangt, an dessen Ende ihn sein Dienstzimmer erwartete, war die Gefahr, einem Mitglied der Kommission für Schleswig-Holsteinische Wasserbauangelegenheiten zu begegnen, die in diesen Tagen im Haus aus und ein ging und bei den eigentlichen Fachleuten für Deichbau für stete Beunruhigung sorgte, nicht mehr so groß.

Aber dieses Glück hatte er heute nicht. Als Hansen kurz vor dem Treppenabsatz aufsah, fiel ihm die glänzend polierte Schnalle einer braunen Aktentasche in die Augen. Unwillkürlich folgte er ihrem Pendeln, mit dem in den regelmäßigen Abständen eines Leuchtfeuers zwei röhrenförmige, fadenscheinig glänzend schwarze Hosenbeine freigegeben wurden.

Soweit Hansen festgestellt hatte, befand sich in dieser Tasche stets nur das Frühstücksbrot des Barons.

»Ach, auch schon da, Herr Inspektor?«, erkundigte sich in süffisantem Tonfall der Oberdeichgraf des 1. Schleswigschen Deichbandes. »Ihr üblicher Dienstbeginn? Angesichts dieses friesischen Schlendrians wird mal wieder deutlich, warum die Aufsicht über die einschlägigen Anstalten zum Schutz der Westküste in preußischer Hand am besten aufgehoben ist.«

»Die Aufsicht, wie Sie es nennen, Herr Baron«, entgegnete Hansen mit kaum verborgener Verachtung gegenüber diesen regelmäßigen Attacken, »unterschied sich in ihrer Zusammensetzung in dänischer Zeit nicht von der heutigen. Dagegen hat meines Wissens kein Däne je die Meinung vertreten, die nordfriesischen Halligen sollten ihrem Schicksal überlassen werden. Und den Deichbau haben die Friesen erfunden, nicht die Berliner …«

»Sie sind ein notorischer Querulant, Hansen! Die Besprechung ist für neun Uhr anberaumt. Sehen Sie zu, dass Sie wenigstens da pünktlich sind!« Baron von Holsten machte auf den Hacken kehrt, wobei die polierten Schuhe mit leisem Klacken aneinander stießen, und rauschte davon.

Sönke Hansen sah ihm verärgert nach. Schlechter konnte ein Arbeitstag kaum anfangen.

 

Die Wanduhr schlug zum zweiten Mal, als Hansen das Besprechungszimmer betrat, dessen einziger Wandschmuck ein Bild des Kaisers war. Dass dort einstmals eine Tafel gehangen hatte, auf der Nordfriesland als Vaterland und als freundlich leuchtender Punkt neben Deutschland und Dänemark bezeichnet worden war, wussten nur noch wenige.

Hansen, der mit zweiunddreißig Jahren der jüngste aller Mitarbeiter des Hauses war, hatte die Tafel nie gesehen, aber selbstverständlich von ihr gehört. Den Blick stur auf den hellen Fleck gerichtet, den sie zurückgelassen hatte, hängte er sein Jackett über die Stuhllehne, setzte sich und wartete ab.

Während die Kollegen aus dem Amt und die Mitglieder der Kommission für Wasserbauangelegenheiten allmählich eintrudelten, nahm Hansen sich vor, Gerdas Vater so bald wie möglich zu besuchen. Vielleicht hatte Lars inzwischen etwas von seiner Tochter gehört.

»Moin, Hansen«, raunte es neben ihm, »warum so trübsinnig an diesem schönen Morgen? Befürchtest du allen Ernstes, dass die Kommission das Todesurteil für deine geliebten Halligen aussprechen wird?«

Schmunzelnd sah Hansen auf und nickte dem Kollegen zu, der neben ihm Platz nahm, wie immer mit einem flotten Spruch auf den Lippen. Friedrich Ross war Wasser- und Deichbauer wie er selber und stammte aus Bremen. Ein netter Kerl. »Ich weiß nicht, ob sie es wagen werden. Gerade jetzt, wo die Nordfriesen die gute Zeit der dänischen Obrigkeit allmählich zu vergessen beginnen, wäre es unklug, sie gegen Preußen aufzubringen.«

»Nicht alle sprechen so gut von der dänischen Zeit wie du«, sagte Ross gedämpft.

Hansen zuckte mit den Schultern. Eine Antwort blieb ihm erspart, da in diesem Augenblick Baron von Holsten den Raum betrat und die Anwesenden sich zu seiner Begrüßung geräuschvoll erhoben.

»Guten Morgen, meine Herren.« Der Oberdeichgraf schien die versammelten Herren durchzuzählen, wobei sein Blick einen Moment beziehungsvoll auf Hansen liegen blieb, bevor er sich setzte. »Wir wollen unmittelbar zur Sache kommen. Es geht wieder einmal um die Halligen.«

 

Über die jetzt bereits zwanzig Jahre diskutiert wird, ohne dass ein Beschluss gefallen ist. Zwanzig verlorene Jahre, dachte Hansen, in denen Jahr für Jahr Land von den Halligen brach und in der Nordsee verschwand. Er drehte seinen Bleistift zwischen den Fingerspitzen beider Hände und versuchte, seinen Zorn über den Zeitverlust im Zaum zu halten.

»Jedoch werden wir trotz der inzwischen von Berlin angeordneten Eile dem Konterfei unseres geliebten Kaisers den Respekt erweisen, den dieser erwarten kann, als ob er selber anwesend wäre.«

Eine Art von Stille trat ein, die sich deutlich von der vorherigen abhob, die eher ein höfliches und erwartungsvolles Schweigen gewesen war.

Hansen sah auf. Er begegnete dem Blick des Vorsitzenden, der offenbar schon eine Weile unverwandt auf ihm ruhte. Ein Stoß traf ihn am Ellenbogen. Als er zu Ross blickte, deutete dieser mit den Augen zum Jackett, das noch über der Lehne hing.

Sönke Hansen spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, während er sich die Jacke anzog. Seine lockigen Haare waren nach Ansicht eines preußischen Barons vermutlich auch zu lang. Verstohlen strich er sie aus der Stirn.

»Sie alle kennen meine Meinung«, fuhr Baron von Holsten befriedigt fort, als ob er ein Scharmützel gewonnen hätte, »diese öden kleinen Eilande da draußen sind, wie die Geschichte bewiesen hat, dem Untergang geweiht. In früheren Zeiten konnte man dort Korn ernten, habe ich gehört; inzwischen gibt es nur noch dürftiges Gras, und die Ringelgänse haben die Herrschaft übernommen. Es wird kein Jahrhundert mehr vergehen, bis ausschließlich Möwenexkremente und Sand daran erinnern, dass da mal was war.«

Zwischen Hansens Fingern zerbrach der Bleistift. Eines der Bruchstücke flog wie ein Katapult in die Höhe und landete vor dem Platz des Vorsitzenden.

»Es scheint, unser junger Rebell vertritt eine andere Meinung als die sachverständige preußische Kommission«, merkte der Baron süffisant an. »Und nach Art der Dänen schießt er ohne Vorwarnung.«

Mit wohlwollend geneigtem Kopf bedankte er sich bei denjenigen Herren, die ihm mit leisem Gelächter Beifall zollten.

Sönke Hansen holte Luft und bezwang seine Verärgerung. »Ich entschuldige mich, Baron von Holsten. Es war keine Absicht. Der Bleistift war wohl zu zerbrechlich für die groben Hände eines Deichbauers.«

Der Vorsitzende strich sich bedächtig seinen Bart und nickte schließlich, als ob er die Entschuldigung gelten ließe. Währenddessen hatte der neben ihm sitzende Deichinspektor für das Herzogtum Schleswig, durch die Streifen auf seiner Uniform als Kapitänleutnant ausgewiesen, sich das Bleistiftende geangelt und mit dem Lorgnon vor dem Auge die Beschriftung betrachtet.

»Preußische Bleistiftfabrik Potsdam«, entzifferte Marius von Frechen.

Auch das noch! Sönke Hansen hatte keine Ahnung gehabt, wer die Bleistifte des Wasserbauamtes herstellte. »Ich würde gerne darauf hinweisen«, warf er hastig ein, »dass die Halligen keineswegs so unwirtlich sind, wie sie manchem aus der Ferne erscheinen mögen. Es sind besonders liebenswerte Menschen, die da draußen leben. Mit geduldiger und genügsamer Bewirtschaftung ihres Landes erhalten sie die Halligen. Und diese haben die Funktion großer natürlicher Wellenbrecher vor der Küste, so dass ihre Bewohner letztlich zum Schutz des Festlandes beitragen, auch der Stadt Husum …«

»Belehrungen dieser schülerhaften Art sind, bei Gott, unnötig, Hansen«, unterbrach ihn der Vorsitzende verärgert. »Glauben Sie wirklich, mir sei nicht bekannt, dass auf diesen Inseln hauptsächlich Rindvieh und Schafe herumlaufen?«

»Nicht Inseln, Herr von Holsten«, verbesserte Hansen hartnäckig. »Halligen. Das ist etwas anderes, erdgeschichtlich gesehen.«

»Sehen Sie es, wie Sie mögen, Hansen! Für den preußischen Staat sind die Halligen die kleinsten Inseln vor der Küste der Nordsee, und uns kommt die Aufgabe zu, aus sachlicher Sicht zu entscheiden, ob sich ihre Erhaltung lohnt oder ob es vernünftiger wäre, sie aufzugeben und die Bewohner umzusiedeln. Genau genommen ginge nicht einmal Land verloren, wenn wir uns zu Letzterem entschlössen, denn die abgetragene Halligerde wird schließlich am Festland wieder angelagert.«

»Aus verteidigungsstrategischer Sicht sind die Halligen nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich, indem ihre Verteidigung im Kriegsfall unsere Flotte aufsplittern würde«, warf der Kapitänleutnant ein. »Insofern ist Nordmarsch-Langeness entbehrlich. Allerdings hörte ich schon gelegentlich äußern, dass die Großschifffahrt nach einem Leuchtfeuer an der Westspitze dieser Hallig verlangt. Nicht alle Kapitäne von Frachtern sind des Lesens von Seekarten mächtig. Besonders, wenn die Reeder sich unerfahrene junge Leute nehmen, um Kosten zu sparen …« Er gluckerte vor Lachen in sich hinein.

»Ich«, fiel der gewichtige Bauinspektor Lorenzen, Kreisbaumeister in Tondern, ihm ins Wort, »stehe der Erhaltung der Halligen prinzipiell immer noch positiv gegenüber. Sie sind nicht unrecht, die Leute da draußen, kenne selbst ein paar … Aber im Umgang mit Steinen sind die Männer unerfahren, einen Steindeich können sie nicht ordentlich bauen. Da müssen Fachleute her. Ich mache mich erbietig, Handwerker aus meinem Bereich auszuleihen …«

»Ein Steindeich wird zu teuer, darüber waren wir uns doch schon einig«, unterbrach ihn der Oberbaudirektor, der aus Schleswig stammte, erregt.

Baron von Holsten hieb mit der flachen Hand und erboster Miene auf den Tisch, worauf das allgemeine Reden, das drauf und dran war, in hitzige Privatgespräche zu zerfallen, wieder verstummte. »Bemühen Sie sich um Disziplin, meine Herren«, verlangte er. »Das ist wohl das Mindeste, das man von uns erwarten kann. Für Gott und Kaiser!«

Du liebe Zeit, dachte Hansen. Sein Ahn in der Leibwache des dänischen Königs Waldemar hatte zwar sicherlich für Gott und König gerufen, aber dasselbe gemeint wie der Baron. Seit tausend Jahren traten sie auf der Stelle. Statt endlich einmal für die Menschen! zu rufen und zu handeln.

»Jede weitere Diskussion ist im Augenblick müßig«, setzte der Vorsitzende griesgrämig fort. »Berlin mahnt zur Eile, wie ich schon sagte, wobei mir rätselhaft ist, wer sich da unter Umgehung der preußischen Regierung zu Gunsten der Inseln eingeschaltet hat.«

»Man könnte mutmaßen …«, warf der kleinwüchsige Kapitänleutnant eifrig ein, jedoch wurde er durch eine Handbewegung des Barons zum Schweigen gebracht.

»Berlin droht Fakten zu schaffen, auch ohne abschließendes Urteil der Kommission für Wasserbauangelegenheiten. Aber Berlin kann nicht ohne uns … Und wir werden wie bisher weiterarbeiten.«

Also noch mal zwanzig Jahre, schoss Hansen durch den Kopf, während er Dankbarkeit für die Intervention durch Berlin empfand.

»Die künftigen Projekte – für welche wir auch immer votieren – sollen nunmehr vorbereitet werden. Mit anderen Worten: Man muss mit den Halligleuten reden, um zu erfahren, was sie darüber denken. Wenn sie überhaupt denken …«

Nur der Kapitänleutnant stimmte zu diesem flachen Witz ein Gelächter an.

»Im Gegensatz zu Herrn Hansens übertrieben positiver Meinung, was diese Menschen angeht, habe ich gehört, dass sie nicht einfach sein sollen, sondern störrisch und zuweilen sogar feindselig.«

Der Oberdeichgraf machte eine Pause, worauf sich erneut leises Gerede erhob.

Sönke Hansen verzichtete auf Widerspruch sowie auf Mutmaßungen, wer auf die Hallig reisen würde. Am besten von Holsten selbst, dachte er verdrossen. Zwei Tage am Ort und die Halligleute würden blindlings alles ablehnen, was mit dem Baron auch nur im Entferntesten zu tun hatte. Und das wollte er doch. Dann würde der Regierung nur die Umsiedlung der Bewohner bleiben.

»Berlin macht zur Bedingung, dass diese Vorbereitung zukünftiger Maßnahmen durch die Wasserbauinspektion Husum wahrgenommen wird«, sagte von Holsten, jetzt sichtlich vergrätzt. »Die Kommission ist übergangen worden.«

»Kann man Einspruch dagegen einlegen?«, erkundigte sich der Kapitän beflissen.

Der Baron schüttelte kurz den ergrauten Kopf. »Ich habe deshalb entschieden, dass Herr Hansen fahren wird. Er kann jetzt zeigen, ob er zu mehr als deutschfeindlichem Gerede taugt.«

Hansen zuckte zusammen und sah in die Runde. Das spöttische Grinsen der Kommissionsmitglieder bestätigte ihm, was ihm spontan durch den Kopf schoss. Baron von Holsten schickte ihn in der Hoffnung zu den Halligen, dass er scheitern würde. Vielleicht sogar in genau der Erwartung.

Damit war die Versammlung beendet.

»Mach kein solches Gesicht«, raunte ihm nach dem Ende der Besprechung Friedrich Ross auf dem Flur zu. »Das schaffst du.«

Immerhin einer, der an ihn glaubte. Hansen lächelte Ross flüchtig zu. Die Situation war so verfahren, dass es diplomatischen Geschickes bedurfte, um sich bei den Halligbewohnern Vertrauen zu erwerben. Er wusste nicht, ob er genug davon besaß.

 

Aber so eilig die Übereinkunft mit den Halligleuten auch sein mochte, Gerda war noch wichtiger. Hansen drängte es, mit Gerdas Vater zu sprechen, bevor er sich für einen unbestimmten Zeitraum auf die Hallig begab. Vielleicht wusste der inzwischen etwas über ihren Verbleib.

Wie üblich fand er seinen Vorgesetzten an seinem Schreibtisch vor, in der einen Hand ein Butterbrot, die andere in den Papieren wühlend, auf hektischer Suche nach irgendetwas Wichtigem.

Cornelius Petersen blickte nicht einmal auf. »Na, Hansen?«, fragte er lediglich.

»Es geht immerhin vorwärts«, meinte Hansen. »Ich bin ausgeguckt worden als derjenige, der mit den Halligleuten reden soll. Aber vorher möchte ich um zwei Tage Urlaub einkommen.«

»Vater oder Mutter gestorben?«

»Nein, aber trotzdem sehr wichtig.«

»Baron von Holsten drängt auf Ergebnisse, Hansen.«

»Nicht auf Ergebnisse, auf Eile«, entschlüpfte es Hansen.

Oberbaudirektor Petersen begann bedächtig seinen ergrauten Kopf zu schütteln, was alles Mögliche zwischen Tadel und Ablehnung des Gesuches bedeuten konnte.

»Anderthalb Tage«, warf Hansen hastig ein. Hinter seinem Rücken verkrampften sich seine Hände von selbst zu Fäusten. Dabei war nicht Cornelius Petersen sein Gegner.

»Ich bin kein Unmensch. Also gut: ein Tag«, gestattete der Oberbaudirektor mit einem Seufzer.

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Kapitel 2

Tondern, wo die Eltern von Gerda lebten, lag nicht auf der direkten Route von Husum zur Hallig. Eine Schiffsverbindung zu den Halligen gab es sowieso nicht.

Von Tondern aus würde Hansen jedoch mit Eisenbahn und Dampfer nach Wyk auf Föhr gelangen, wohin die Halligleute regelmäßig segelten, um Butter und Eier zu verkaufen. Bei Bedarf nahmen sie auch Gäste mit zurück. Hansen packte deshalb ein, was er für schätzungsweise zehn Tage benötigte. Einschließlich eines Strohhutes, den er seiner Meinung nach nicht benötigte.

Dieses alberne Kleidungsstück hatte er Petrine Godbersen zu verdanken.

»Nehmen Sie Ihren Strohhut mit, Herr Inspektor«, hatte sie ihm geraten.

»Auf die Hallig?«

»Man muss auf alles vorbereitet sein.« Frau Godbersens frommer Blick zum Himmel hatte alle Einwände überflüssig gemacht.

Hansen war sich trotzdem sicher, dass er diesem Ding nie Einlass in seinen Sarg gewähren würde. Überhaupt: was für eine Idee! Eine Hallig war doch kein Kriegsschauplatz!

 

Die Marschenbahn nach Norden spuckte Sönke Hansen dreieinhalb Stunden später in Tondern aus. Ein Pferdefuhrwerk, das nach Hojer bestimmt war, nahm ihn längs der alten Wallanlage, die sich um den alten Stadtkern hinzog, mit, so dass er überraschend schnell beim Haus seiner künftigen Schwiegereltern anlangte.

Verdutzt starrte er auf den rotweißen Danebrog, der an der Fahnenstange flatterte, während er an die Tür klopfte, hinter der es hoch herzugehen schien.

Lars Rasmussen öffnete selber, und in diesem Augenblick fiel Hansen ein, dass Gerdas Vater an diesem Tag ja Geburtstag hatte.

»Schön, dass du mich nicht vergessen hast«, sagte Lars aufgeräumt und keineswegs erstaunt, ihn zu sehen. »Komm rein, Sönke.«

»Gern. Aber ich muss gestehen, dass ich gar nicht wegen deines Geburtstages gekommen bin«, bekannte Hansen verlegen. »Es ist wegen Gerda.«

»Du bist wie immer willkommen. Und rechtzeitig zum Kaffee da.«

An einem langen Tisch, der mit Torten und Kuchen, mit schinken- und käsebelegten Brötchen, Kaffeetassen und Schnapsgläsern beladen war, saßen eine Menge Gäste. Für einen Augenblick gab es verwundertes Schweigen, als sie begriffen, dass der Neuankömmling im Hause des Journalisten Rasmussen, einem der führenden Köpfe der dänischen Bewegung von Schleswig, ausgerechnet ein Deutscher war.

»Komm, Sönke, setz dich zu mir. Hier ist Platz«, rief einer der Männer ein wenig schnapsselig und rückte beiseite, um einen freien Stuhl zwischen sich und den benachbarten zu zwängen.

»Versteht er uns überhaupt?«, erkundigte sich jemand beim Hausherrn.

Die Runde unterhielt sich auf Sönderjysk, von manchen Deutschen des Grenzgebietes etwas verächtlich Kartoffeldänisch genannt. Hansen ließ sich nicht provozieren. Er nickte nur knapp und setzte sich, während Rasmussen breit grinste.

»Ja, das hätte ich auch nicht gedacht, Ebbe, dass ausgerechnet meine Gerda sich als künftigen Ehemann einen deutschen Beamten aussucht. Die leisten sich ja gemeinhin nicht mehr, als die Hacken zusammenzuschlagen.«

»Nein, Lars«, protestierte Hansen auf Hochdänisch. »Du tust ihnen Unrecht, wenn du alle über einen Kamm scherst.«

»Ich habe hauptsächlich diese Sorte kennengelernt«, erwiderte Rasmussen ernst. »Aber ich gebe dir Recht. Es gibt sicher auch andere. Nur scheinen sich leider immer die Opportunisten als Erste auf die Diskriminierten zu stürzen – wenn erst einmal festgelegt wurde, wer die jeweiligen Opfer sein werden. Wenn der Wagen umzukippen droht, helfen alle nach, ist eines unserer treffendsten Sprichwörter.«

Hansen nickte bedächtig. Solche Leute tummelten sich überall, er kannte genug Beispiele.

»Diese Leute gebärden sich dann als die schlimmsten, wechseln aber auch am schnellsten die Meinung«, fuhr der Hausherr fort. »In zehn Jahren sind vielleicht nicht mehr die Dänen von Schleswig die Staatsfeinde, sondern die Franzosen im Elsass, und sie gehen auf die los …«

»Wir werden immer Staatsfeinde der Deutschen bleiben, Lars«, fiel ihm ein junger Mann ins Wort und versuchte, Hansen mit blitzenden blauen Augen zwischen die Dielenbretter zu stampfen.

Hansen hob sein inzwischen gefülltes Schnapsglas und prostete dem Hitzkopf zu. »Skol«, sagte er. »Danskerne og Friserne skal leve, Dänen und Friesen sollen leben.«

»Danke. Dänen und Friesen waren immer Freunde«, gab der überrumpelte Jüngling zu und stürzte seinen eigenen Aquavit verlegen hinunter.

»Schon seit Waldemar Atterdags Zeiten«, fügte Hansen listig hinzu. »Seit tausend Jahren!«

Rasmussen blinzelte ihm zu. Wie zu erwarten, war damit die Luft raus und die deutsch-dänische Feindseligkeit für diesen Tag beendet.

 

Später am Abend saßen Rasmussen und Hansen vor dem Kaminfeuer beisammen, während Gerdas Mutter sich zusammen mit einer Freundin in der Küche um die Beseitigung des Chaos kümmerte. Lars drehte sich eine Zigarette, die nicht besonders rund ausfiel, und zündete sie an.

»Ich kann dir nichts sagen«, beteuerte er nach dem ersten Zug. »Ich weiß selber immer noch nichts. Gerda wurde in Abwesenheit für staatenlos erklärt, das habe ich dir ja schon erzählt. Als Wanderlehrerin, die heimlich in dänischer Sprache unterrichtet, was jemanden zu einer anonymen Anzeige veranlasste, und mit mir als Vater musste es irgendwann so kommen.«

Hansen nickte stumm.

Rasmussen starrte in die flackernden Flammen, ohne etwas zu sehen. »Ich bin überzeugt, dass Gerda uns mit ihrem Schweigen zu schützen versucht. Ich wurde von der Polizei vorgeladen und verhört. Sie haben mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich wegen Mittäterschaft ins Gefängnis wandere, wenn sie je herausbekommen, dass ich Gerdas Aufenthaltsort kenne und ihn verschweige. Du weißt ja, dass ich sowieso schon immer auf einem schmalen Grat wandere.«

Hansen nickte wieder. Die Journalisten waren nicht nur von Berufs wegen am besten informiert, sondern besaßen obendrein die Möglichkeit, bei den dänischen Lesern Stimmung zu machen. Sie wurden deshalb von der preußischen Obrigkeit mit Argusaugen beobachtet.

»Unserer Generation gaben die Preußen wenigstens die Möglichkeit, für die dänische Staatsangehörigkeit zu optieren. Für einige Zeit glaubten wir auf diese Weise, ein Stück politischer Freiheit erhalten zu haben. Und eine für uns unerwartete Gerechtigkeit der Preußen zu entdecken.«

»Ich weiß.«

»Bis wir feststellten«, fuhr Rasmussen traurig fort, »dass sie uns in Wahrheit an unseren Kindern bestraften. Unsere Kinder bei Missfallen für staatenlos zu erklären entzog nicht nur ihnen den Boden unter den Füßen, sondern vor allem uns Optanten. Es ist die tückischste Art der Bestrafung, die sich eine Regierung überhaupt ausdenken kann …«

»Ja«, brachte Hansen mit einem dicken Kloß im Hals heraus. »Gerda hat es mir erklärt. Wir haben oft darüber gesprochen. Und du befürchtest nicht, dass ihr etwas passiert sein könnte? Dass sie längst inhaftiert ist? Mich beruhigt ihre verstümmelte Nachricht nicht sonderlich.«

Lars Rasmussen presste die Lippen zusammen und wiegte den Kopf.

»Ich glaube nicht«, sagte er schließlich, ohne es zu begründen. »Sie weiß, was sie tut.«

Hansens Unbehagen war nicht gemildert. Wo war Gerda? Er konnte nur hoffen, dass Lars es heimlich doch wusste, aber sich zu diesem Thema zum Schutz der dänischen Minderheit absolute Schweigsamkeit auferlegt hatte.

 

Kurz vor dem Schlafengehen zog Ella, Gerdas Mutter, Sönke Hansen beiseite. »Ich habe schreckliche Angst um Gerda«, flüsterte sie ihm zu. »Gerda weiß das, und sie würde mich nicht im Ungewissen lassen, wenn sie in der Lage wäre, sich zu melden.«

»Könnte sie sich denn irgendwo versteckt halten?«, flüsterte Hansen zurück.

»Ich vermute, dass sie es tat. Darüber machte Lars mal Andeutungen … Aber in den letzten Tagen verliert er kein Wort mehr über seine Tochter. Ich fürchte, dass er sie aus den Augen verloren hat, mich aber nicht noch mehr beunruhigen möchte. Im schlimmsten Fall versucht sie, zu ihrem Onkel auf die Westindischen Inseln zu gelangen. Wenigstens hat sie ihren Pass, aber sie hat kein Geld … Hoffentlich ist sie nicht überhaupt tot!«

Ein Geräusch an der Haustür kündigte Rasmussens Rückkehr aus dem Garten an.

Ella stellte sich auf die Zehenspitzen und zog Hansens Kopf zu sich herab. »Frag in Flensburg in Nielsens Rum-Kontor nach«, hauchte sie ihm mit tränennassen Wangen ins Ohr. »Die nehmen manchmal Passagiere mit …« Abrupt ließ sie ihn los und eilte in die Küche.

Sönke Hansen sah ihr entsetzt nach. Gerda tot? Oder in Dänisch-Westindien? Dass Lars jede Auskunft verweigerte, erfüllte ihn mit tiefer Besorgnis.

 

Hansen war aber auch empört, weil Lars kein Wort fand, um seine Frau zu beruhigen. Lars Rasmussen konnte in seinem politischen Kampf für die dänische Minderheit knochenhart sein, gegen sich selbst und gegen andere, und wenn er ihn als gefährdet ansah, würde er schweigen wie ein Grab.

Aber Hansen war kein Däne. Zurück auf dem Bahnhof, beschloss er zu seiner und Ellas Beruhigung, sofort nach Flensburg zu fahren und sich im Rum-Kontor nach Gerda zu erkundigen. Dem Zug nach Dagebüll, der dampfend und prustend den Bahnhof verließ, sah er ohne Bedauern nach. Sein schlechtes Gewissen wegen unerlaubten Entfernens vom Dienst verflüchtigte sich mit dem Rauch, der sich über dem flachen schwarzen Dach des Bahnhofsgebäudes auflöste.

In einer Rum-Destille war er noch nie gewesen. Natürlich gehörte es nicht zu ihren staatlich anerkannten Aufgaben, flüchtige Kinder von Optanten auszuschleusen. Wie also brachte man solche Leute dazu, eine illegale Tätigkeit zuzugeben?

Dann kam der Zug. Als Hansen auf der Plattform stand, hatte er bereits eine Idee.

 

Nielsens Rum-Kontor entdeckte Hansen an der Schiffbrücke hinter dem Zollpackhaus und schon fast am Nordertor; die Kontore der bekannteren Marken wie Balle und Sonnberg, deren Namenszüge von weitem zu lesen waren, befanden sich in vornehmerer Gegend stadteinwärts.

Die Pier vor dem Kontor war leer und unbelebt, abgesehen von einer Katze, die um eine Taurolle herumstrich und missvergnügt an Fischabfällen schnupperte. Einer der beiden Torflügel des Handelshauses stand offen, und im Durchgang zum Hof fand er die Tür, die zu den Kontorräumen führte.

Jenseits eines Vorraums mit Vitrinen, denen Hansen keine Beachtung schenkte, öffnete sich ein Gang zu einem großen Raum mit einem halbhohen Tresen, hinter dem jemand saß. »Hoppla«, sagte Hansen und stoppte einen jungen Mann, der ihm von dort rückwärts entgegenkam, bevor er ihm auf die Füße treten konnte.

Dem in Grau gekleideten Laufburschen blieb das exaltierte Lachen, das dem Mann hinter dem Tresen galt, in der Kehle stecken. »Verzeihung, der Herr«, sagte er verlegen.

»Kann ich behilflich sein?« Hinter dem Tresen tauchte ein weiterer Angestellter auf, mit weißem Kragen und wichtigtuerischer Miene.

Hansen erkundigte sich, ob Herr Nielsen zu sprechen sei.

»Herr Nielsen weilt auf Seeland, aber ich werde feststellen, ob einer der anderen Herren zu sprechen ist. Ich nehme an, es geht um die Bestellung einer kleinen Partie Rum? Welcher Qualität, wenn ich fragen darf?«

Aha, dachte Hansen ein wenig erstaunt, nach einer großen Partie sehe ich offenbar nicht aus. Aber man ist höflich genug, um mir nicht zu unterstellen, dass ich den billigsten Verschnitt haben will. »Es geht mehr um die Befrachtung Ihrer Schiffe«, antwortete er ausweichend. »Ich bin Deichbauinspektor im Wasserbauamt von Husum.«

»Oh, darum also. Ich weiß, dass unsere Firma schon zweimal eine Eingabe wegen der mangelhaften Befeuerung an der Westküste eingereicht hat.« Der Angestellte, der merklich höflicher geworden war, schnellte in die Höhe und eilte am Tresen vorbei in den Gang, von dem zwei Türen abgingen. Er verschwand hinter der einen, und Hansen hörte ein Murmeln.

 

Während er wartete, schlenderte Hansen in den vorderen Raum zurück. Mit den Händen auf dem Rücken, begann er zwischen den Vitrinen umherzuwandern, in denen Ausstellungsstücke die Vergangenheit des Kontors ins rechte Licht setzten. Sie musste voller Glanz und Luxus gewesen sein, denn alles in diesem Raum atmete Stolz auf eine Welt, die Hansen völlig unbekannt war.

Der Reichtum der Nielsens war offensichtlich dem Firmengründer zu verdanken, der von einem großen Ölgemälde auf ihn herabblickte. Seine altmodische Kleidung verwies ebenso wie der kleine Negerjunge, der ihm mit einem Federfächer Frischluft zuwedelte, auf das vergangene Jahrhundert. Unbändiger Stolz auf diese Vergangenheit schlug Hansen entgegen.

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er selbst den entgegengesetzten Stolz nährte: Dänemark, mit dem er sich so sehr verbunden fühlte, hatte als erste Nation die Sklaverei verboten, und jetzt wurde ihm klar, was dies bedeutete. Porträts von weißen Plantagenbesitzern mit ihren schwarzen Sklaven würde es nie mehr geben.

Als er einen Schritt zurücktrat, stieß er gegen einen gläsernen Kasten, in dem sich eine demolierte Glocke befand. Das Schildchen besagte, dass Carl Heinrich Nielsen höchstpersönlich das herrische Knallen mit Peitschen, mit dem die Sklaven zur Arbeit gerufen wurden, durch den milden Klang der christlichen Glocke hatte ablösen lassen. Daneben lag das im Namen des Königs ausgestellte Privileg zur Eröffnung von Nielsens Societät für Sklavenhandel, verbunden mit einer Zuckerraffinerie in Flensburg.

Sönke Hansen, der beides nicht sonderlich bewundernswert fand, wanderte zu einer Vitrine mit einem auffallend scharf geschnittenen Segelschiff weiter, das ihn mehr interessierte. Sechs Rahsegel an hohen Masten, ein typischer Schnellsegler für alle Weltmeere. Die berühmten Teeklipper waren ähnlich gebaut, galten aber heutzutage als überholt.

Als modern galten jetzt Segler aus Stahl, deren Unterwasserschiff völliger war, die aber aufgrund ihrer größeren Länge genauso schnell waren. Sie fassten mehr Ladung und fuhren mit geringerer Mannschaft, aber Hansen bezweifelte insgeheim, dass diese Neuerung gut war.

Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen, und Hansen drehte sich um.

Ein Herr, dessen krauser Bart den altmodischen Stehkragen fast verdeckte, stand vor ihm. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wirkte er drahtig und hellwach. Seine blauen Augen musterten Hansen kühl.

 

»Ich bin Nils Christiansen, Prokurator des Rum-Kontors Nielsen«, stellte er sich vor und deutete kaum sichtbar eine Verneigung an. »Sie wollten mit uns wegen der Befeuerung der nordfriesischen Inseln sprechen? Zu viel Ehre für unser unbedeutendes Kontor. Außerdem kommt das Wasserbauamt leider ein halbes Jahrhundert zu spät.«

Aber der Firmeninhaber hat zwei Eingaben deswegen gemacht, sagte sich Hansen in Gedanken verblüfft und nahm dankbar die Gelegenheit wahr, sein Anliegen noch hinauszuschieben. Der Prokurator war eindeutig Däne und machte den Eindruck, stockkonservativ und äußerst national gesonnen zu sein. Besondere Behutsamkeit war hier geboten.

Hansen zeigte auf eine Vitrine, in der ein Dampfschiff stand. »Das Kontor ist doch offenbar sogar im Besitz von Dampfschiffen«, widersprach er auf Dänisch und ging in die Knie, um den Schiffsnamen zu lesen. »Olivia, ein schönes Schiff. Die Passagiere, die die Olivia mitnimmt, haben ein Anrecht auf eine glückliche Ankunft. Ich bin ganz dafür, dass Sie auf größere Sicherheit wenigstens an unseren eigenen Küsten bestehen, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe nicht zu verantworten, was vor fünfzig Jahren vernachlässigt wurde, und besser jetzt als nie!«

Christiansen sah ihn prüfend und mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dann verzog er plötzlich die Lippen zu etwas, das man andeutungsweise als Lächeln verstehen konnte. »Zur dänischen Zeit war die Rede von einem Leuchtfeuer auf der Hallig Nordmarsch, aber es wurde nie etwas daraus. Und die Olivia, das einzige Dampfschiff, welches jemals im Besitz des Kontors war, ist verkauft und zur Bark umgebaut worden.«

Hansen biss sich auf die Lippen und stemmte sich am Kasten in die Höhe. Es wurde Zeit, dass er den wahren Grund seines Kommens offenbarte. »Ihr Interesse an der Befeuerung scheint also nicht mehr aktuell zu sein. Und ich muss gestehen, dass mich hauptsächlich ein privater Grund zu Ihnen führt. Ich hoffte, Sie könnten mir Auskunft geben über eine junge Frau, die verschwunden ist. Eine Dänin, die sich möglicherweise nach St. Thomas, St. Jan oder St. Croix auf die Flucht begeben hat. Die Tochter eines Optanten, die vor kurzem für staatenlos erklärt wurde. Ein schneller Dampfer eines Rum-Kontors wäre ideal für ihre Zwecke gewesen …«

Er hatte sich jetzt sehr weit vorgewagt. Christiansen schwieg mit solch spürbarer Gefühlskälte, dass Hansen erschrak. »Sie ist blond und groß, eine sehr selbständige junge Frau. Und ihr Lachen …«, stotterte er verunsichert. »Wer sie einmal hat lachen hören, vergisst sie nicht. Können Sie mir sagen, ob sie bei Ihnen eine Passage gebucht hat?« Trotz seiner beginnenden Verzweiflung bemerkte er das Flackern in den Augen des Prokurators. Ellas Hinweis schien richtig gewesen zu sein. »Ich bin kein Spion«, beteuerte er hastig. »Sie ist meine Verlobte.«

Nils Christiansen ließ ihn ausreden. Nachdem Hansens unglücklicher Appell versiegt war, sah der Prokurator ihn mit regungsloser Miene an, stieß dann seinen Gehstock nachdrücklich auf die Dielen, als handele es sich um einen Schlusspunkt im Gespräch, drehte sich um und ging rasch in den Flur zurück.

»Haben Sie denn in letzter Zeit ein anderes Schiff nach Westindien abgefertigt?«, rief ihm Hansen in bittendem Ton hinterher. »Ein Segelschiff vielleicht?«

»Nein, Herr Hansen. Sie verschwenden meine Zeit. Mojn, mojn.«

Die Tür zu seinem Arbeitszimmer fiel hinter dem Prokurator ins Schloss. Mit zusammengebissenen Zähnen holte Sönke Hansen Luft. Etwas kam ihm merkwürdig vor, ohne dass er sofort den Finger hätte drauflegen können.

Sein Zögern veranlasste den mit Papieren raschelnden Angestellten aufzuschauen, hinter seinem Tresen hervorzuschießen und ihm die Außentür unmissverständlich zu öffnen.

In grimmigem Schweigen verließ Sönke Hansen das Rum-Kontor.

 

Ein aus dem Kopfsteinpflaster herausragender Stein brachte Sönke Hansen vor dem Kontorhaus ins Stolpern und riss ihn aus seinen Gedanken heraus. Er registrierte, dass jetzt ein Mann in Arbeitskleidung dabei war, den Abfall mit bedächtigen Bewegungen vom Kai ins Hafenbecken zu fegen, und die Katze sich auf die Taurolle gesetzt hatte und ihn beobachtete.

Hansen schob die Hände in die Hosentasche und schlenderte hinüber. »Moin«, grüßte er.

»Moin«, antwortete der Mann entgegenkommend, ließ den Besen ruhen und schob seine Schirmmütze in den Nacken.

Seine Gestalt war drahtig, fast ausgemergelt. Hansen erkannte jetzt erst, dass er viel älter war, als er aus der Ferne gewirkt hatte. »Heiß heute.«

»Sehr heiß«, stimmte der Mann zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich würde Sie gerne zu einem Klönschnack einladen«, bot Hansen zögernd an, »ich möchte mit jemandem sprechen, der tagtäglich hier im Hafen zu tun hat, gut Bescheid weiß und nicht auf den Kopf gefallen ist. Aber ich weiß nicht so recht – können Sie Ihre Arbeit unterbrechen? Ich will Sie keinesfalls in Schwierigkeiten bringen.«

»Sie haben Ihren Mann«, antwortete der Arbeiter entschlossen, »ich bin hier für heute fertig. Auf Nielsens miesen Deputatverschnitt verzichte ich gerne.«

»Umso besser. Gehen wir.« Hansen fand es nicht ungünstig, dass der Mann einen heimlichen Groll auf das Rum-Kontor zu haben schien. »Wohin?«

»Zur Rumboddel.« Er zeigte auf ein schmales Haus neben dem Zollpackhaus, über dessen Tür sachte ein verwittertes Fässchen hin und her schwang.

Hansen, dem eine Kneipe so recht war wie die andere, folgte ihm.

 

Der Schankraum strotzte von Erinnerungen an die gute alte Seefahrerzeit. Afrikanische Speere, ausgestopfte Krokodile, fremdartige Paddel und eine weibliche Galionsfigur mit üppigem golden bemaltem Busen hingen an den Wänden, eine Reihe gefüllter Rumflaschen von der Decke, und Hansen musste sich unter einem aufgeblasenen stacheligen Kugelfisch ducken, um das Tischchen in einer abgelegenen Ecke zu erreichen, auf das sein Begleiter zusteuerte.

Als sie einige Minuten später vor ihrem Bier saßen, wischte sich der Mann vom Hafen mit einem erleichterten Stoßseufzer den Schaum von den Lippen. »Es gibt nichts Besseres als das Lagerbier der Actienbrauerei. Die ist gleich hier um die Ecke. Die verschicken ihr berühmtes Bier bis nach Japan und Westindien. Was wollen Sie wissen, Herr …?«

Hansen verstand den Wink.

Der Mann war kein Zuträger und Spion, der jedem Dahergelaufenen gegen Entlohnung Auskunft geben würde. Er neigte leicht den Kopf. »Sönke Hansen, Deichbauer aus Husum.«

»Oh. Erfreulich«, sagte sein Gegenüber und streckte ihm die Hand entgegen. »Dann ernährt uns beide ja die See. Ich bin Peter Müller, Schauermann, Wächter am Hafen, sehe überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit nach dem Rechten, mache alles, was gerade gefragt ist und entlohnt wird. Habe Frau und zwei Gören zu ernähren.«

Bestens, da war Hansen auf die richtige Quelle gestoßen. »Sind in jüngster Zeit Schiffe aus Westindien mit Zucker oder Rum für das Rum-Kontor von Nielsen eingetroffen? Oder dorthin abgefahren?«, fragte er hoffnungsvoll.

Müller schüttelte mit der spöttischen Miene des Kenners den Kopf. »Rum? Der kommt erst im Herbst. Zu dieser Jahreszeit nicht. Jetzt ernten sie das Zuckerrohr.«

»Dann fahren jetzt gar keine Schiffe dorthin?« Hansen war enttäuscht. Dann konnte Gerda ja gar nicht auf diesem Weg geflohen sein. »Aber was ist mit dem Bier der Actiengesellschaft? Nehmen die Zuckerschiffe vielleicht Bier als Rückfracht mit? Und nur im Herbst?«

Sein Gesprächspartner lächelte überlegen und leerte seinen Krug. Der Wirt, der wohl erkannt hatte, dass sich hier ein Geschäft machen ließ, blickte fragend zu Hansen herüber, der ihm bestätigend zunickte.

»Nein, nein, Hansen, das läuft anders«, bemerkte Peter Müller zufrieden. »Die armen Menschen auf ihren Plantagen müssen ja auch irgendwie mit allem versorgt werden, was sie gewohnt sind. Und es leben dort ja auch noch ein paar Weiße. Die brauchen Möbel, Kerzen, Wein, Mehl. Gelegentlich segeln auch jetzt Schiffe mit solchen Versorgungsgütern. Aber sehr unregelmäßig.«

»Ach so.« Hansen schöpfte wieder Hoffnung. »Hat denn Nielsen in den letzten Wochen einen Segler mit solchen Versorgungsgütern auf die Reise geschickt?«

Müller schüttelte wieder den Kopf, inzwischen offenbar mit dunklen Vorahnungen. »Sie haben ganz falsche Vorstellungen. Zur dänischen Zeit hätten Sie solche Fragen stellen können. Da war es anders, da hatten die Rumhersteller ihre eigenen Plantagen in Dänisch-Westindien, und der Hafen wimmelte von Schiffen. Stets war mindestens eines zu den Inseln bestimmt. Aber das ist lange her …«

Hansen brummte unzufrieden. Eine Sackgasse. Zumindest jetzt im Frühling konnte Gerda das Land auf diese Weise nicht verlassen haben.

»Nur der Dampfer«, ergänzte Müller nachdenklich. »Der hat Flensburg verlassen. Die Olivia.«

 

»Die Olivia?«, erkundigte sich Hansen irritiert. »Hat Nielsen denn einen Dampfer?« Er hütete sich zu erwähnen, dass er mit dem Prokurator gesprochen hatte.

»Die Olivia«, bestätigte Müller. »Die ist zwar zur Bark umgerüstet worden, aber sie wird immer noch der Dampfer genannt. Alte Gewohnheit von uns Älteren, die wir die Olivia früher als schönsten Dampfer von Flensburg beladen haben. Sehr vornehm. Nahm damals auch Passagiere mit für Reichstaler, die wir beide im ganzen Jahr nicht verdienen.« Er stieß Hansen kumpelhaft mit dem Ellenbogen an und lachte verhalten.

Sönke Hansen grinste automatisch, während seine Gedanken zum Gespräch mit Christiansen zurückgingen. Hatte er ihn falsch verstanden? Nein, der hatte eindeutig gesagt, dass die Olivia verkauft sei. »Und die fährt immer noch für Nielsen?«

»Aber sicher doch! Regelmäßig. Nur dieses Mal war irgendetwas an ihr anders«, fuhr Müller fort. »Am Ballastufer war sie nicht, Ladung hatte sie auch nicht aufgenommen, und sie schwamm ungewöhnlich hoch auf. Ohne Ballast und ohne Ladung ist sie sehr rank, wissen Sie, und dann ist jede Fahrt gefährlich. Die wollte nicht nach Dänisch-Westindien oder Jamaika! Ich bin so gut wie sicher, dass sie keine weite Reise hatte.«

»Wo könnte sie dann hingefahren sein?«

»Ins Dock, denke ich«, antwortete Müller überzeugt. »Zur Reparatur.«

»Ach so, ja natürlich«, stimmte Sönke Hansen zu und verlor jedes Interesse an der Olivia. »Wie viele Rumfabrikanten gibt es eigentlich?«

»So um die fünfundzwanzig. Größere und kleinere. Die meisten haben keine eigenen Schiffe.« Müller trank sein mittlerweile drittes Bier aus und setzte den Krug mit Nachdruck auf die vielmals gescheuerte, fleckige Tischplatte.

»Und andere Reeder, die von Flensburg ihre Schiffe um die Welt schicken?« Hansen war sich sicher, dass nur der Eigner das Risiko auf sich nehmen konnte, Flüchtlinge auszuschleusen. Wenn Nielsen kein Schiff besaß, musste Ella sich irren.

Müller schüttelte stumm den Kopf.

»Tja, dann danke ich«, sagte Hansen zögernd. »Wenn mir noch etwas einfällt …«

»Jederzeit«, versicherte Peter Müller und winkte den Wirt heran.

Sönke Hansen bezahlte und trat hinter Müller ins Freie. Er stellte fest, dass es schon Nachmittag war und er die Hallig ganz bestimmt nicht mehr an diesem Tag erreichen würde. Darüber hinaus hatte sich sein Umweg nach Flensburg als Schlag ins Wasser herausgestellt, und er war so weit wie zuvor.