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Man weiß viel über Mario Adorf, über seine zahlreichen Filmrollen und Theaterauftritte, über die Preise, die er für seine Arbeit erhielt, und über sein Leben in Rom, Paris oder St. Tropez. Nur wenig dagegen hat Mario Adorf in seinen Büchern oder in Interviews über sein privates Leben verraten, das viele Jahrzehnte lang einen geheimen Mittelpunkt hatte: seine Mutter. Dieser ungewöhnlichen Frau hat Mario Adorf nun ein berührendes Denkmal gesetzt und ein ergreifendes Buch geschrieben. Es ist die Geschichte eines entbehrungsreichen und abenteuerlichen Lebens, die Geschichte einer alleinstehenden Frau und Mutter, die sich zäh und entschlossen gegen alle Widrigkeiten des Schicksals durchgesetzt hat: geboren in Zürich, als Kind abgeschoben nach Mayen in der Eifel, als junge Frau geflohen nach Süditalien. Als Schwangere zurückgekehrt in die Schweiz, von dort abgeschoben zurück in die deutsche Provinz. Die Leiden der Kriegs- und Nachkriegszeit, die Armut und die harte Arbeit als Schneiderin. Dieses Leben einer Außenseiterin in drei verschiedenen europäischen Ländern erzählt der Schriftsteller Mario Adorf vor dem Hintergrund eines Jahrhunderts, das geprägt war von Katastrophen, sozialem Elend und Intoleranz. Ein Buch als später Dank eines Sohnes an seine Mutter.
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Seitenzahl: 153
Mario Adorf
Mit einer Nadel bloß
Über meine Mutter
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»… Denn wer ertrüg’ der Zeiten Spott und Geißel,
Des Mächt’gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,
Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
Den Übermut der Ämter, und die Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,
Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte
Mit einer Nadel bloß! …«
William Shakespeare, Hamlet III,1
Nach dem Tod meiner Mutter im Februar 1998 stand ich vor der Aufgabe, ihr Haus in München-Grünwald zu verkaufen und den Haushalt aufzulösen. Eine traurige Beschäftigung, die Entscheidungen verlangt: Wegwerfen oder aufbewahren, verschenken oder entsorgen – entsorgen! Auch eines dieser schrecklichen modischen Wörter. Nicht dass es unzutreffend wäre, im Gegenteil, es ist von einer grausamen Genauigkeit: sich einer Sorge zu entledigen könnte mit einem Wort nicht zutreffender ausgedrückt werden. Aber es ist mehr als eine Sorge, die bei der Auflösung eines Haushalts waltet, vor allem, wenn es sich um die ganz intimen Gegenstände handelt, die sich im langen Leben eines vertrauten Menschen angesammelt haben.
Da ich diese Arbeit nicht allein bewältigen konnte, sondern auf Hilfe angewiesen war, erledigte sich ein Teil der Aufgabe von selbst. Viele Dinge verschwanden einfach, und ich stellte erst später fest, dass sie fehlten, kleine, an sich eher wertlose Überbleibsel, von denen der Helfende nicht wissen konnte, dass sie eine persönliche Bedeutung hatten.
Das Einfachste dabei war das Beseitigen, das Wegwerfen des ganz offensichtlich Nutzlosen, Abgenützten, wie alte Sitzmöbel, fleckige Matratzen, ausgetretene Schuhe oder verfallene Medikamente.
Dann gab es viele Dinge, die man nicht wegwerfen oder weggeben kann. Gegenstände, die nur einem selbst wichtig sind: Fotos, alte Pässe, Briefe, Postkarten, Adressen, Todesanzeigen lieber Menschen, Eintrittskarten zu unvergesslichen Theaterabenden …
Die geretteten Erinnerungsstücke füllen ein paar Kartons, werden mitgenommen, in einem Keller oder auf einem Speicher gelagert, vielleicht sogar irgendwann geordnet und eine Zeit lang in Ehren gehalten, und dann werden sie eines Tages, wenn die Auflösung einen selbst betreffen wird, von anderen weggeworfen oder, wer weiß, aufbewahrt werden.
Seit nunmehr sieben Jahren steht ein etwas mehr Raum beanspruchender Gegenstand in meinem Keller, der einen besseren Platz durchaus verdient hätte, obgleich mir einige Male geraten wurde, das alte Ding doch wegzuwerfen. Ich spreche von der alten Nähmaschine meiner Mutter, die gewiss nutzlos geworden ist und die ich dennoch nicht »entsorgen« könnte. Es käme mir vor, als würde man ein altes, verdientes Pferd stracks dem Schinder überlassen, anstatt ihm sein Gnadenbrot zu gönnen.
Denn für meine Mutter war diese Nähmaschine das Werkzeug ihres Lebens, sie schien mir über Jahrzehnte fast wie ein Teil ihres Körpers. Sie war der Gaul, der uns über die ganzen Jahre am Leben erhielt, von den geschundenen Beinen meiner Mutter angetrieben und mit ihren geschickten Händen gelenkt. Nie hatte sie später die Anschaffung einer elektrisch angetriebenen Maschine auch nur in Erwägung gezogen, die ihr zu mechanisch gewesen wäre, zu unsensibel, keiner vorsichtigen Stichführung fähig.
Ich erinnere mich jenes Weihnachtsfests 1939, sehe meine Mutter, wie sie mir die Nähmaschine zum ersten Mal zeigt. Versenkbar, das erschien ihr damals als das Besondere, und sie zeigte mir auch, wie man die Maschine in dem dunkel gebeizten Gehäuse aus Eichenholz zum sich Ausruhen verschwinden lässt. Aber seit damals bis zu ihrem Tod, also fast 60 Jahre lang, habe ich sie niemals wieder versenkt gesehen, und längst fehlt das schmale Brett, das die hinuntergeklappte Maschine verdecken soll, und lässt eine hässliche Lücke, durch die man in dem Gehäuse die gekippte Maschine auf der Seite liegen sieht wie eine tote Katze.
Wie alt, zerkratzt und stumm erscheint sie mir nun. Aber dann, auf einmal, sehe ich wieder die wippenden Füße meiner Mutter auf dem Pedal, höre das Schnurren oder das schnellere Rattern, das Langsamwerden, das Anhalten, das Schnippen der Schere, die die Fäden trennt, dann das leise Ächzen meiner Mutter, wenn sie sich kurz aufrichtet, durchatmet, wieder den Hebel löst, der den stählernen Pressfuß auf den Stoff senkt, und wie sie mit der rechten Hand die Maschine durch ein leichtes Anwerfen des Schwungrades wieder in Gang bringt. Und mir scheint, als würde mir die Nähmaschine mit jedem Wippen des Pedals, mit jedem Stich, mit jedem Abspulen der langen bunten Fäden die Geschichte meiner Mutter erzählen – und auch die Geschichte meines Lebens mit ihr …
Caspar Adorf, der Vater meiner Mutter, war 1865 in Mayen in der Eifel geboren worden, hatte als preußischer Soldat bei den Ulanen gedient, ging danach als Sattlergeselle auf die Walz und kam Ende der 80er-Jahre des vorletzten Jahrhunderts in die Schweiz, machte sich als Sattlermeister in Zürich selbständig, heiratete die acht Jahre jüngere Elsässerin Catharina Kieffer aus dem damaligen Zabern, dem heutigen Saverne, und besaß Mitte der 90er-Jahre ein gut gehendes Sattlergeschäft samt einer großen Werkstatt im Hinterhof in der Zürcher Kasernenstraße, die entlang der Sihl verläuft, einem Flüsschen, das hinter dem Landesmuseum in die Limmat mündet. Caspar wurde durch die unmittelbare Nähe der Kaserne bald ein wichtiger Lieferant der Kavallerie der Schweizer Armee, die er mit allem möglichen Lederzeug ausrüstete: mit Reitsätteln, Pferdegeschirr und Zaumzeug, Stiefeln und Peitschen, Satteltaschen, Pferdedecken und Futteralen für Pistolen und Feldstecher, auch stellte er für die zivile Kundschaft Koffer, Akten- und Reisetaschen, Schreibmappen, Portefeuilles und Portemonnaies, Schuhe und Gamaschen, Gürtel und Hosenträger her.
Einige Häuser von seiner Werkstatt entfernt hatte er in der gleichen Straße im zweiten Stock eines Eckhauses eine große Wohnung bezogen, die mit dunklen Schränken, Tischen und Stühlen und schweren ledernen Sesseln möbliert war. Draußen, vor dem Wohnzimmer, thronte an der Ecke ein mit einem üppigen Gitter verzierter Balkon.
Als 1912/13 das preußische Deutschland in seinen Hegemoniebestrebungen in Europa immer deutlicheres Säbelrasseln hören ließ, dachten Zürcher Stadtobere und Milizionäre darüber nach, dass es nicht gut sei, wenn ein Deutscher, ein »Schwoob«, die Schweizer Armee belieferte und dass man ihm daher die eidgenössische Staatsbürgerschaft anbieten sollte, die Caspar aber – er fühlte sich wie viele Rheinländer preußischer als ein Preuße – mit dem überlieferten Satz ablehnte: »Das kann ich meinem Kaiser nicht antun!«
Seine Frau Catharina hatte unter ihrem herrischen Caspar kein leichtes Leben. Sie hatte ihm vier Kinder geschenkt: 1897 den Sohn Franz, 1900 die älteste Tochter Elsy, dazwischen irgendwann die »herzige« Fanny, die kaum vierjährig starb, und schließlich kam als letztes Kind Alice am 27.12.1905 zur Welt.
Auf einem der wenigen Familienfotos sehen wir Caspar Adorf als einen stattlichen, streng dreinblickenden Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart und militärisch kurz geschnittenen, frühzeitig ergrauten Haaren. Seine Frau Catharina, die wohl in ihrer Jugend eine hübsche, lebenslustige junge Frau war, ist auf der Fotografie mit ihren vierzig Jahren eine ausladende Matrone. Rechts neben ihr auf der Jugendstilbank des Fotografenateliers sitzt zierlich und aus den Augenwinkeln den Betrachter scheu anblickend die achtjährige Alice. Hinter den Eltern stehen die mit ihren fünfzehn Jahren frühreif wirkende, nach der vollbusigen Mutter geratene Tochter Elsy mit einem trotzigen Zug um die Mundwinkel und neben ihr, mit verschränkten Armen und einem spöttischen Lächeln, der siebzehnjährige Franz. Die Erinnerung meiner Mutter an ihren Vater war eher liebevoll.
Ich ging gern mit ihm in die Sattlerwerkstatt. Ich liebte den Ledergeruch, den mein Vater, auch wenn er nicht in Arbeitskleidung war, nie ganz los wurde. Ich erinnere mich an meinen Schulranzen, den er selbst für mich gemacht hat, obwohl er über ein Dutzend Gesellen und Lehrlinge beschäftigte und kaum Zeit hatte, selbst Hand anzulegen. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Sänger, er nahm mich oft zu den Proben seines Sängerquartetts mit, wo er mich auch schon mal auf einen Stuhl stellte und mich ein Lied singen ließ. Nur wenn er meinen großen Bruder Franz verprügelte, den er als ungehorsam und aufmüpfig bezeichnete, machte er mir Angst. Ich sehe meinen Vater noch, wie er breitbeinig auf dem Eckbalkon der Wohnung stand, wenn Franz, sein Ältester, unten auf dem Pferd durch die Kasernenstraße galoppierte, was er ihm streng verboten hatte. Dann stieß er einen kurzen, grellen Pfiff aus, während er mit der Reitpeitsche ungeduldig und drohend an den Schaft seiner glänzenden braunen Ledergamaschen schlug. Wenn Franz dann auftauchte, stand Caspar wartend im Flur und verschwand mit Franz in dessen Zimmer. Ich hörte die Peitschenhiebe und die unterdrückten Schreie meines Bruders. Dann rannte ich weinend in die Küche zur Mutter, wo wir die Schläge gemeinsam mitleidend zählten. Auch die Mutter hatte Angst und wagte nicht einzuschreiten.
Alice ging in Zürich zur Grundschule. Als »Dütsche« erfuhr sie zum ersten Mal ihr Anderssein. Sie senkte den Kopf, wenn die Zürcher Schulkinder sangen: »Gönd usse, ihr Schwoob!« Deutsche raus!
Caspar hingegen empfand sich nach den vielen Jahren in Zürich immer noch als unerschütterlicher, kaisertreuer Deutscher, und so brachte er 1915, im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs, seinen Sohn Franz, obwohl er ihn als Sattlergesellen im Geschäft gut hätte brauchen können, an dessen achtzehntem Geburtstag eigenhändig über die deutsche Grenze nach München und lieferte ihn dort in der Kaserne der Schweren Reiter ab, damit er eingezogen werde, um seinem Kaiser Willem dabei zu helfen, den Franzmann, wie er die Franzosen verächtlich nannte, zu schlagen. Franz kam zur Westfront, wurde durch einen Schuss in den Unterkiefer verwundet, danach leistete er Dienst in einem Offiziersheim.
Catharina, die Mutter, sorgte nicht nur zu Hause für ihren Mann und die drei Kinder, sondern kochte auch, wie es damals üblich war, das Mittagessen für die Belegschaft der Sattlerei. Dazu machte sie die Buchführung des kleinen Betriebs. Die Arbeit zu Hause und im Geschäft nahm überhand, und sie starb im Jahre 1915 mit nur einundvierzig Jahren an einem Herzschlag, wie man damals sagte, als die kleine Alice noch keine zehn Jahre alt war.
Caspar ging nur wenig später wieder auf Freiersfüßen und brachte die damals noch sehr zart gebaute Alice 1916 – nun, wohin? – nach Deutschland, wo Krieg herrschte, den man, glaubte Caspar, so sicher wie ’70/’71 gewinnen würde. Er gab das Töchterchen zu Verwandten in Mayen, das er, Caspar, dreißig Jahre vorher verlassen hatte. 1918 starb er an Magengeschwüren und aus Kummer über die sich abzeichnende schmachvolle deutsche Niederlage. In seiner zweiten Ehe hatte er noch ein Kind gezeugt: Hanny, die 4½ Monate alt war, als Caspar starb, und die demnach ihren Vater nie kennengelernt hat.
Caspars Mayener Familie nahm Alice auf wie eine arme, unerwünschte Verwandte, die froh sein konnte, dass man sie in dieser schweren Kriegszeit überhaupt durchfütterte. Erst Jahrzehnte später erfuhr Alice zufällig bei einem lautstarken Streit unter den alten, keifenden Verwandten des Vaters, dass Caspar gutes Geld für den Unterhalt der kleinen Tochter gezahlt hatte.
In Mayen besuchte Alice die Mädchenschule, und dort war sie nun wiederum mit ihrem Schweizer Akzent die Zielscheibe des Spotts ihrer Klassenkameradinnen. Aber schnell lernte sie den Dialekt ihrer Vaterstadt, das Mayener Platt.
Wenn es zu Kaisers Geburtstag in der Schule das begehrte Gebäck, den Kaiserwecken, gab und die Hymne »Heil Dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, Heil Kaiser Dir …« gesungen wurde, biss ich wie die anderen voreilig hinein und sang mit, wenn aus »Herrscher des Vaterlands« »… wär meine Weck noch janz« wurde.
Mit vierzehn hat Alice die Volksschule abgeschlossen. Ihre Verwandten haben ihr aber keine Lehre für einen Beruf erlaubt, sondern ließen sie ohne Lohn und Taschengeld weiter in ihrem Lebensmittelgeschäft schuften, wobei sie genau kontrollierten, was sie heimlich essen, stehlen und in ihre Kammer mitnehmen könnte. Alles wurde gezählt und gewogen. Gegen den Hunger griff sie tatsächlich heimlich in den Zuckersack und hat sich dadurch die Zähne frühzeitig verdorben. Mit sechzehn wurde Alice das Leben bei ihren Verwandten unerträglich.
Der Krieg war vorbei, doch es gab keine Freude oder Erleichterung. Sie durfte nicht wie ihre Altersgenossinnen tanzen lernen. Nur am Sonntag durfte sie mit den Verwandten zur Messe gehen. Junge Burschen, Gymnasiasten mit farbigen Pennälermützen, schauten ihr nach. Sie pfiffen unter ihrem Fenster, damit sie sich zeigen sollte, bis sie aufgaben und singend weiterzogen. Alice saß allein in ihrer Kammer. Sie weinte nicht, sie hatte einen Plan. Um sich Fahrgeld und etwas zum Überleben zu besorgen, griff sie ohne Gewissensbisse in die Kasse des Ladens, brannte durch und fuhr – wohin schon? – nach Zürich, ihrer Geburtsstadt.
Als Ausländerin war Alice nur Arbeit als Hausangestellte, Dienstmädchen oder Putzfrau erlaubt. In Winterthur fand sie eine Stelle als Kindermädchen. Sie litt aber unter dem herrischen Gehabe ihrer Arbeitgeber und verließ, ohne zu kündigen, die Stellung und den ihr verhassten Ort.
Der erste Sonnenstrahl in Alices bisher tristem Leben war der Glücksfall, an eine Wohltäterin, an – wenn ich den Namen richtig erinnere – Frau Haeberlin zu gelangen. In der prächtigen Villa am Zürichberg war sie zuerst als Hausmädchen angestellt, dann nahm sich die verwitwete Hausherrin ihrer an, entdeckte und förderte Alices Begabung für Handarbeit. Alice musste nun keine Arbeiten als Dienstmädchen mehr tun, sie wurde »Gesellschaftsdame«, las der kranken Frau vor, lernte von ihr die wunderbarsten Handarbeiten – Hohlsaum- und Petit-Point-Stickerei, Häkeln, Stricken, Klöppeln – und erwarb damit die Grundfähigkeiten für ihren späteren Beruf, den einer Schneiderin. Meine Mutter hat mir erzählt, dass Frau Haeberlin es war, die ihr Dinge erklärte, von denen sie wenig oder nichts wusste, sie war mit siebzehn noch nicht aufgeklärt.
Ich weiß auch sehr wenig über den Mann, der vielleicht ihr Schwarm, ihre erste Liebe gar war. Sie hatte ihn im Haus der Frau Haeberlin kennengelernt. Ich erinnere mich einer Spazierfahrt vor Jahren in das waldreiche Umland im Süden Münchens, wie ich sie häufig bei meinen Besuchen in ihrem Haus in Grünwald mit ihr unternahm. Ich hatte mich immer darüber gewundert, dass meine Mutter Stimmen und Namen der Vögel erkannte und diese manchmal auf Schweizerdeutsch, dem Dialekt ihrer Kindheit, benannte. Erst auf mein wiederholtes Nachfragen sprach sie dann zum ersten Mal von dem geheimnisvollen Mann, der ein gern gesehener Gast oder Verwandter im Haus ihrer Zürcher Gönnerin war, der wohl aus dem schweizerischen Tessin stammte, eigentlich Ettore hieß, aber von allen liebevoll spöttisch San Francesco genannt wurde, weil er behauptete, wie der heilige Franziskus die Sprache der Vögel zu verstehen.
Sie erzählte mir von den Spaziergängen mit San Francesco an ihren freien Tagen, in den Wäldern hinter dem Zürichberg, wo er sogar auf Bäume kletterte, Vogelnester fand, an den Eiern die Vogelart erkannte, wie er wunderbar Vogelstimmen nachahmen konnte und die ernste Alice zum Lachen brachte.
Nach den ausgedehnten Spaziergängen führte er sie zum Kaffeetrinken und Kuchenessen ins feine Dolderhotel. Einmal machten sie einen Ausflug auf den Ütliberg auf der anderen Seite des Sees. Was mochte der Ornithologe an der einfachen Hausangestellten gefunden haben? Sicher, sie war ein hübsches, wenn nicht sogar schönes Mädchen in jenen Jahren. Hat es eine heimliche Liebesbeziehung gegeben? War San Francesco ein ernsthafter Forscher, ein fröhlicher Spinner oder ein behutsamer Liebhaber?
Und sie? Sie muss sich damals als unerfahren und ungebildet empfunden haben. Denn das war das Handicap ihrer Jugend, ja, ihres ganzen Lebens, in Mayen eine so magere Bildung genossen zu haben. Sie litt darunter, dass sie weder die deutsche noch die italienische Orthografie fehlerlos beherrschte, und scheute sich ihr Leben lang, Briefe zu schreiben aus Angst, Schreibfehler zu machen. Erst als alte Frau wurde sie eine leidenschaftliche Rätselraterin, und ich staunte, wie problemlos sie selbst die schwierigsten Kreuzworträtsel löste.
Irgendwann muss sie damals die deutlich ältere Idy kennengelernt haben, die später einen deutschen Goldschmied, Willy Wallinger, heiratete und ihr bis zu ihrem Tod eine gute Freundin war.
Als dann Frau Haeberlin, ihre Wohltäterin, starb, war Alice wieder allein auf sich gestellt. In der Schweiz, wo sie nur wieder als Dienstmädchen hätte arbeiten dürfen, wollte sie nicht bleiben. Ihre Schwester Elsy hatte nach der Schulzeit als Krankenschwester gearbeitet, hätte aber so gerne Medizin studiert, was nach dem Tod ihres Vaters illusorisch war. Mit ihrer Freundin Hedy Huwyler, die Verwandte in Italien hatte, war sie nach dem Krieg nach Neapel gezogen, hatte Arbeit als Sprechstundenhilfe bei einem Arzt, einem Professor Carlo Guarini, gefunden und war bald die Geliebte des verheirateten Arztes, der von seiner Frau getrennt lebte, geworden.
Ich bezweifle, dass Elsy ihre fünf Jahre jüngere Schwester einlud, nach Neapel zu kommen. Hat Alice sie darum gebeten? War es vielleicht Elsys Freundin Hedy, die sie ermutigte, oder fuhr sie einfach hin, konfrontierte die Schwester mit ihrer Ankunft? Es hätte zu ihr gepasst.
Im November 1924, nicht einmal 19-jährig, kam Alice in Neapel an. Sie fand bald Arbeit als Sprechstundenhilfe bei einem Zahnarzt. Von ihrer Schwester wurde sie nicht einmal eingeladen, Weihnachten bei ihr zu verbringen. War Elsy eifersüchtig, oder wollte sie ihre unbedarfte Schwester ihrem Geliebten, dem Professore, nicht zumuten? So verbrachte Alice die Festtage allein in ihrer winzigen Kammer über der Zahnarztpraxis mit einem Fenster in den lärmenden Innenhof der Galleria Umberto I.
Sie lernte schnell Italienisch, vielmehr den melodiösen Dialekt der Neapolitaner, und wenn sie über den Markt lief, um etwas zum Essen einzukaufen, klang ihr das »Alici fre’«, mit dem die Fischhändler ihre frischen Sardellen anpriesen, bald so vertraut, als riefen sie ihren eigenen Namen: Alítsche!
Dann traf sie Nino Cattolico, von vielen Rudy genannt, da er Rudolfo Valentino, dem italo-amerikanischen Stummfilmidol jener Jahre, ähnlich sah. Sein Vater besaß mehrere Delikatessenläden auf dem Vómero im oberen, populären Teil Neapels. Nino half zwar ab und zu in den Geschäften aus, genoss jedoch lieber seine Freiheit, legte viel Wert auf elegante Kleidung, liebte Autos und Frauen, man würde ihn heute einen Playboy nennen, aber die Beziehung zu Alice schien er ernst zu nehmen. Gemeinsam unternahmen sie Ausflüge in die Umgebung von Neapel. Vergilbte Fotos zeigen die beiden in Sorrent, auf Capri, im Schlosspark von Caserta und vor den römischen Tempeln von Paestum.