Der Mäusetöter - Mario Adorf - E-Book

Der Mäusetöter E-Book

Mario Adorf

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Beschreibung

Der Mäusetöter – Mario Adorfs Debüt als Schriftsteller Sofort nach dem Erscheinen seines ersten Buches waren sich Leser wie Kritiker einig: Mario Adorf ist nicht nur einer der ganz großen Schauspieler unserer Zeit, sondern auch ein höchst talentierter Schriftsteller. Dabei ist Der Mäusetöter nicht nur eine Sammlung äußerst unterhaltsamer Geschichten, sondern Mario Adorfs persönlichstes Buch – voller autobiographischer Episoden und Erinnerungen an seine Eifel-Kindheit während der NS-Zeit, seine Jugend- und Studententage nach dem Krieg und seine Anfänge als Schauspieler. Dass der Erzähler selbst in vielen seiner Geschichten am Ende oft gerade nicht als glänzender Sieger dasteht, dem es zu gratulieren gilt, macht nicht nur den Charme dieser Erzählungen aus, sondern hat dem Buch auch seinen Untertitel eingetragen: Unrühmliche Geschichten.

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Seitenzahl: 145

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Mario Adorf

Der Mäusetöter

Unrühmliche Geschichten

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Mario Adorf

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungVorwortZugvögelBlick aus dem FensterDas BlumenmusterBonbons und TränenDas beste StückDer SehfehlerDer KreisparteitagDie Angst des MaulwurfsMein KampfFaustrechtDer MäusetöterKumpelDie PfeifeDie italienische ReiseHypnoseLampenfieberDie SelbstmörderinKüchengeräuscheDer böse BlickDer ChargenspielerAvanti! Adelante!Sir Alecs schlechte LauneHestons ProblemSatanDer TagtraumDer MenschenfreundBarábbaSchreieKuawalalúRequiem für einen Schauspieler
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Für meine Mutter

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Vorwort

Wie man weiß, werden Schauspieler, und nicht nur Schauspieler, mit sechzig kein bisschen weise; sie werden eher unvorsichtig und schreiben Bücher: Memoiren, Erinnerungen oder eine Autobiografie. Genau das möchte ich aber nicht!

Im Juli dieses Jahres ließ ich mich anlässlich der 700-Jahr-Feier meiner Heimatstadt Mayen in der Eifel zu einem Auftritt überreden. Zu diesem Zweck hatte ich mich aus Furcht vor einem Steckenbleiben beim freien Vortrag zum ersten Mal gezwungen, oft Erzähltes oder frisch Erinnertes aufzuschreiben. Danach wurde ich verschiedentlich ermuntert oder gar gedrängt, die dort gelesenen Geschichten in Buchform zu bringen. Ich sträubte mich lange.

Eines Tages lernte ich einen großen Kollegen kennen. Er hatte schon vor Jahren seine Lebenserinnerungen veröffentlicht und riet mir, mein Buch doch zu schreiben. Das sei schon insofern praktisch, als man dann von Freunden und Kollegen nicht immer wieder gedrängt werde, seine Geschichten zum Besten zu geben. Er schenkte mir sein Buch, und obwohl ich im Allgemeinen vor Schauspielermemoiren, ich gebe es zu, einen besonderen Horror habe, las ich es und fand, es war ein gescheites, ungewöhnlich uneitles Buch. Doch schon an den folgenden Abenden sollte ich seine ganzen Geschichten immer wieder von ihm hören. So werde auch ich dem Leser nicht garantieren können, in Zukunft vor meinen Erzählungen gefeit zu sein, sollte ich ihm über den Weg laufen.

Doch stellen diese Geschichten keine Autobiografie dar. Denn es geht hier kaum um die »wichtigen« Ereignisse meines Lebens, meine Karriere, meine Theater- und Filmarbeit, sondern eher um meist kleine Episoden, Ereignisse und Begegnungen am Rande, die mir aber etwas bedeuten. Auch ist es mir weniger wichtig, die Wahrheit zu bedienen, als den Leser zu unterhalten. Ich wär’s auch zufrieden, wenn er dächte:

»Se non è vero è ben trovato.«

 

Rom, November 1991

Mario Adorf

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Zugvögel

In meiner Familiengeschichte findet sich kein wanderlustiger Müller, geschweige denn ein legendärer Kreuzritter, der den seltsamen Wandertrieb, der die letzten drei Generationen meiner Familie beherrscht, erklären könnte. Jedenfalls in der urkundlich belegten Vergangenheit, seit dem Urururgroßvater Jacob Adorf, Dorfschullehrer in Kürrenberg bei Mayen in der Eifel, nur biedere Sesshaftigkeit, bis zu meinem Großvater Kaspar Adorf, 1865 in Mayen geboren. Zwanzig Jahre später, nach zwei Jahren Militärdienst bei den Ulanen, schnürt er als Sattlergeselle sein Ränzel und begibt sich auf die Walz. In den Neunzigerjahren finden wir ihn in Zürich als Besitzer einer gut gehenden Sattlerei mit vierzehn Gesellen und Lehrlingen in der Kasernenstraße. Der dazugehörige Laden wird geführt von seiner Frau, einer geborenen Katharina Kiefer aus dem elsässischen Zabern. Man hat eine schöne Sechszimmerwohnung im dritten Stock gleich nebenan, mit der Zeit kommen vier Kinder: der Franz, die Elsy, die Alice, und da war noch irgendwo die herzige Fanny, die jedoch vierjährig stirbt.

Abgesehen davon geht es uns gut. Wir beliefern die Kavallerie der Schweizer Miliz, und vor dem Ersten Weltkrieg wird dem Kaspar Adorf sogar, damit der größte Lieferant von Sätteln und andern Reitutensilien kein Dütscher sei, die schweizerische Staatsangehörigkeit angeboten, was dieser jedoch mit dem klassischen Satz ablehnt: Das kann ich meinem Kaiser nicht antun! Wir schreiben schließlich das Jahr 1914, das wäre ja beinahe Desertion! Wären wir nicht schon zu alt, wir würden selbst noch zu den Waffen eilen, um dem Wilhelm zu helfen gegen den Franzmann: Siegreich wollen wir Frankreich schlagen, sterben als ein tapferer He-e-e-eld … Als sein Sohn Franz, der ein unernster Bengel ist und den so manche Prügel mit der Lederpeitsche nicht zu bessern vermochten, achtzehn wird, bringt ihn der Kaspar eigenhändig an die deutsche Grenze und übergibt ihn den Behörden, damit wenigstens der dem Kaiser Wilhelm gegen den Franzosen hilft. Nun fehlt der Franz im Geschäft, auch die Frau ist krank, hat’s mit dem Herzen, und hat sich schon ein Jahr später, erst 41-jährig, totgearbeitet. Und da jetzt die Schweizer Armee nicht mehr beim deutschen Adorf arbeiten lässt, geht’s bergab. Die kleine Alice wird, neunjährig, zu Verwandten nach Mayen geschickt, nach Deutschland, wo Krieg herrscht, wo es den Leuten schlecht geht, wo man schon von Hungersnot spricht. Aber das kann man sich in der Schweiz nicht vorstellen, zumal als Deutscher und Kaisertreuer nicht. Den Krieg wird der Kaiser schon gewinnen, und nach dem Krieg, wenn das Alice groß ist, wird man es wieder zurückholen ins Geschäft, falls die Frau, die man jetzt bald heiraten wird, man ist ja erst fünfzig, nichts dagegen hat.

So kommt »et Alice« an einem kalten Wintertag des Jahres 1915 zum ersten Mal nach Mayen. Sie wohnt bei Verwandten in der Polcherstraße und führt dort ein rechtes Aschenputtelleben. Gleich wird sie eingespannt und verrichtet von Tag zu Tag schwerere Arbeit im Lebensmittelgeschäft ihrer Verwandten. Sie geht zwar in die Schule, kommt aber nie auf die Straße, um mit anderen Mädchen zu spielen. In die Kirche darf sie gehen, das schon. Der Krieg geht zu Ende, und der Kaiser ist in Holland. Auf der Straße singen die Burschen: Siegreich wollen wir – wir dürfen es nicht sagen, weil es verboten i-i-i-ist … In Zürich ist der Kaspar bei Kriegsende vor Enttäuschung und an Magengeschwüren gestorben … Sohn Franz hat zwar den Krieg überlebt, darf aber als Deutscher nicht in die Schweiz einreisen und bleibt vorerst verschollen, man munkelt, dass er zur Fremdenlegion gegangen sei … Jahre später treffen wir ihn in Berlin wieder, wo er als Polstermeister in einer Automobilfabrik arbeitet. Die Elsy, die die Schweiz nie verlassen hatte, konnte Röntgenassistentin werden und ist nach Neapel gegangen, um dort bei einem Professor zu arbeiten, dessen langjährige Geliebte sie wird, wobei sie sich nicht scheut, sich mit »Frau Professor« anreden zu lassen.

»Et Alice«, inzwischen ein sechzehnjähriges Aschenputtel, hat eines Tages die Nase voll und geht, nun wohin schon? In die Schweiz. Bei ihren Verwandten hatte sie ja nichts Richtiges gelernt außer Schuften und Saubermachen, und so finden wir sie als Kinder- oder Dienstmädchen in ein paar Schweizer Herrschaftshäusern. Man behandelt sie gut, sie lernt dort viele Dinge, aber schließlich will man nicht ewig Dienstmagd bleiben, denn in der Schweiz ist ihr keine Berufsausbildung erlaubt.

Also folgt sie ihrer Schwester Elsy nach Neapel, findet dort Arbeit als Sprechstundenhilfe bei einem Zahnarzt, später bei einem Arzt. Sie ist fleißig und zuverlässig und spricht bald fließend Italienisch. An der Universitätsklinik wird sie zur Röntgenassistentin ausgebildet. Bin ich zu indiskret, wenn ich erzähle, dass sie in Neapel Lino Cattolico begegnet, dem Sohn eines wohlhabenden Lebensmittelhändlers, der Rudolfo Valentino ähnlich gesehen haben soll? Aber für Schwester Elsy war er der Sohn eines Metzgers, und das konnte sie als Frau Professor nicht zulassen! Hatte sie ihre Hände im Spiel, als Alices Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert wurde? Alice wurde nach Berlin geschickt, um bei der Agfa die fürs Röntgen wichtige Fototechnik zu erlernen. Von jener Zeit im Berlin der Zwanzigerjahre gibt es einige Fotos und sicher an die hundert Postkarten aus Neapel von eben jenem Lino Valentino. Alice kehrt wieder nach Italien zurück, nicht nach Neapel, da sei Schwester Elsy vor. Die vermittelt ihr eine Stelle als Röntgenassistentin im tiefen Süden Italiens, in Catanzaro. Dort ist sie unglücklich und einsam. Ein freundlicher Arzt vermittelt ihr eine verantwortungsvollere Arbeit in einer Privatklinik an der ionischen Küste, in Siderno Marina. Casa di Cura, Kurhaus, nennt sich das ländliche Krankenhaus. Der Besitzer dieser Klinik ist ein Dr. Matteo Menniti, 31 Jahre jung, verheiratet, Vater von drei Töchtern, und gut zwei Jahr später mein Vater, von dem ich kaum mehr berichten kann, als dass er aus einer wohlhabenden Notarsfamilie von Badolato bei Catanzaro stammt, dass er in Neapel Medizin studierte und schon während seiner Studienzeit Bürgermeister seines Heimatortes wurde. Seine erste Tat als solcher soll gewesen sein, dass er die Schweine, die üblicherweise in den Wohnhäusern untergebracht waren, in Gemeindestallungen außerhalb des Ortes verbannte.

Als er jedoch nach der Machtergreifung der Faschisten wieder abgesetzt wurde, kehrten die Schweine in die Wohnhäuser zurück. Während seines Medizinstudiums in Neapel soll er, wohl durch eine Beziehung mit einer Schauspielerin, das Studium sehr vernachlässigt haben, um selbst eine Zeit lang Theater zu spielen. Er soll von der skandalisierten Familie nur mit Enterbungsdrohungen und schließlich dem Geschenk eines Reitpferdes, der zweiten Passion des Matteo Menniti, wieder auf den Pfad der Tugend und der Medizin zurückgeleitet worden sein. So wurde er Arzt, Chirurg, wohl sogar ein guter, und aus Dankbarkeit stellte ihm die Familie eine nagelneue Privatklinik hin.

Er soll es übrigens schärfstens abgelehnt haben, jungen gefallenen Mädchen der besseren Gesellschaft operativ zu neuer Jungfernschaft zu verhelfen, womit sich in jenen Jahren viele Chirurgen in Süditalien eine goldene Nase verdienten. Auch lehnte er es grundsätzlich ab, Abtreibungen vorzunehmen, das hat mich immer beruhigt, denn sonst wäre ich vielleicht den Weg so manchen Fleisches gegangen.

In der Klinik muss es wohl an der richtigen Ordnung gemangelt haben, so krempelt Alice die Ärmel hoch und die Klinik um und wird in kurzer Zeit unentbehrlich, offenbar auch dem Dr. Menniti. Dessen privatem Drängen widersetzt sich Alice übrigens lange und standhaft. Erst in Rom, im Hotel Excelsior, wohin der Chef die Unentbehrliche unter einem Vorwand gelockt hatte, fällt die Bastion, und so muss wohl Rom als der Ort meiner Zeugung gelten.

Bis weit in den achten Monat hinein gelang es meiner Mutter – das war sie ja nun im Begriff zu werden, und ich nenne sie von jetzt ab so – dank der damaligen weiten Mode, ihren Zustand in der Klinik geheim zu halten. Mein Vater hatte, wie gesagt, aus seiner Ehe drei Töchter und soll sich angeblich immer einen Sohn gewünscht haben. Das konnte nur ein unehelicher sein, denn damals gab es in Italien keine Scheidung. Allerdings hätte niemand von dem Kind wissen dürfen, das war klar. Der Junge würde auf dem Land, bei einer verschwiegenen Amme aufgezogen werden, an nichts würde es ihm fehlen, später würde man ihn in ein gutes Internat schicken, er würde studieren, Medizin natürlich, und irgendwann, wenn einmal Gras über die Geschichte gewachsen wäre, könnte man ihn adoptieren, eines Tages könnte er vielleicht sogar die Klinik übernehmen … So plante mein Vater drauflos. Mir ist, als hörte ich meine Mutter erschrocken denken: Und wenn es ein Mädchen ist? – Wie auch immer: Ein Leben, ohne mein Kind bei mir zu haben, es fast nie zu sehen, ein Leben voller Heimlichtun und Sichverstecken? Nein! Nie und nimmer! – Am nächsten Morgen geht sie, ohne Abschied, wohin? Erst einmal nach Neapel, zur Schwester. Die würde, müsste ihr in dieser Situation doch helfen. Aber als sie ihr dann vor ihrer Wohnungstür gegenübersteht, heißt es: »Ja, du lieber Gott! So ein Skandal! Gardini darf dich auf keinen Fall so sehen, du darfst auch nicht eine Minute hierbleiben …!« Noch am gleichen Abend sitzt meine Mutter wieder im Zug. Wohin soll sie nun gehen? Wohin kann sie gehen? Ihre einzige Freundin ist in Zürich, die Wally. Sie wird nach Zürich fahren, in ihre Geburtsstadt. Dort, das wird ihr während der endlosen Fahrt in der Eisenbahn klar, werde ich mein Kind zur Welt bringen, meinen Sohn, es wird ein Junge sein, alle sollen es wissen, nicht bei fremden Leuten versteckt oder in einem Internat, wo er nie mir gehören würde … Nein, dort, in einem sauberen, schönen Land, wo es keine Vorurteile gibt. Wo man von Kind auf fremde Sprachen lernt, wo mein Sohn studieren kann, wie ich es nie gekonnt, wo man jede Woche einmal ins Theater gehen kann, oder in die Oper … So höre ich meine Mutter denken, während sie im überhitzten Bahncoupé zwischen schlafenden Menschen auf meine ungeduldigen Lebenszeichen in ihrem Bauch horcht, in dem ich darauf warte, in dieses Leben hineingeboren zu werden. Dies geschieht an einem Montagnachmittag, dem 8. September 1930, um 15 Uhr 10, nachdem man sich über 24 Stunden gequält hat: Da, endlich! Ja, es ist ein Junge, MEIN Sohn!

Die vielen schwarzen Haare, sogar auf den Öhrchen einige lange, seidige Härchen; neun Pfund schwer, ein schönes Kind, ein Prachtkind, sagen alle, wann wurde im Zürcher Bethanien-Krankenhaus ein schöneres geboren, wann war eine Mutter je stolzer? … Was ist das? Eine Vorladung der Fremdenpolizei? … Sie gehen keiner geregelten Arbeit nach … Wie kann ich das? Ich habe gerade ein Kind geboren! Kein Arbeitsnachweis, keine Aufenthaltsbewilligung. Sie werden die Schweiz verlassen müssen. – Ja, wo soll ich denn hin? Ich habe doch Geld … ja, von dem Vater des Kindes … Ja, Italiener, na und? Tut mir leid, liebes Fräulein … Warum betont der Kerl das Fräulein so? Wir sind hier in der Schweiz, mein Herr! Ich bin hier geboren!

Ich wäre Schweizerin, hätte mein Vater nicht …

Ja, das nützt alles nichts, mein Fräulein. Fahren Sie in Ihre Heimat, nach … wie heißt das? Mayen in der Eifel, Deutschland. Fahren Sie doch dahin! Dort haben Sie ja sicher Verwandte …

So sieht Alice Adorf, ein paar Tage vor Weihnachten, Mayen wieder. Den fassungslosen Verwandten erklärt sie lächelnd und stolz: »Mein Christkindchen hab ich mir selber gemacht und mitgebracht.« Eine Tante bekreuzigt sich: »Himmel und Erde fallet über mich!« Die Klatschmaschine der Kleinstadt kommt in Bewegung: »Haha, et Alice! Dat hat Humor, kommt nach all den Jahren wieder, kommt mit einem Bankert auf dem Arm und sagt, dat wär ihr Christkindchen, haha!«

Und eine Cousine schaut sich den – »Wie heißt der? Mario? Was ist denn das für ein Name?« – schaut sich also den Mario an und sagt:

»Dä hürt awa de Usterglocke nimmi läude …!«

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Blick aus dem Fenster

Ich krieche auf allen vieren auf dem Boden herum, neben mir dreht sich unermüdlich das Rad einer Nähmaschine, die Füße meiner Mutter auf dem Pedal treiben es an, ich sammle, um mich nützlich zu machen, mit einem mir magisch vorkommenden Hufeisen die heruntergefallenen Stecknadeln auf. Die Beine meiner Mutter sind rot entzündet und geschwollen durch Strahlenverbrennungen, die sie sich als Röntgenassistentin zugezogen hat – in jenen Jahren waren die Geräte nicht genügend geschützt. Sie hatte begonnen, als Näherin in die Häuser zu gehen, aber sie durfte mich oft nicht mitnehmen, so blieb ich tagsüber bei der Tante Lotzen. So nannte ich sie, obwohl sie nicht mit uns verwandt war. Ihr Mann, der Onkel Lotzen, war ein Steinhauer. Er nahm mich später oft mit aufs Basaltgrubenfeld, die Ley, und ich höre noch heute in meinen Ohren das wunderbare Geläute der unzähligen Hämmer, die den harten Basalt bearbeiteten, das Tuten des Signalhorns, das eine Sprengung ankündigte. Onkel Lotzen machte Pflastersteine, einer war haargenau so groß wie der andere, ohne dass er je einmal hätte nachmessen müssen. In den Erinnerungen an Tante Lotzen sehe ich mich oft auf dem Töpfchen sitzen, dem sogenannten Thron, manchmal kam Tante Traudel, ihre Tochter, zu Besuch. Von meinem Thron aus konnte ich genau zwischen ihre fetten Oberschenkel blicken. Die Seidenstrümpfe endeten eine Handbreit über dem Knie, darüber quoll rosiges Fleisch hervor, bis hinauf, wo der Spitzensaum des Schlüpfers mir den Einblick in etwas Dumpf-Geheimnisvolles verwehrte.

Später musste meine Mutter mich zeitweise im Marienhaus, dem sogenannten Spitälchen, unterbringen. Dieses düstere Basaltsteingebäude beherbergt ein Altersheim und ein Waisenhaus und wird von Ordensschwestern, Borromäerinnen, geführt. In meinen ersten Erinnerungen daran stellen sich, bevor ich Bilder sehe, erst einmal ferne Töne ein: Die klaren Stimmen des Nonnenchors in der Kapelle … MEIN HERZ OH MARIA BRENNT EWIG ZU DIR … ein Auszählreim der spielenden Mädchen im Hof:

ÖHNE DÖHNE MIKA

GALLERIKA ZIKA

USGERIKA GALLERIKA

ÖHNE DÖHNE MIKA USS

Obwohl die Fensterbank im Treppenhaus nicht sehr hoch ist, muss ich mich gewaltig recken, wenn ich hinausschauen will. Da unten ist der große Hof, mit spitzkantigem Kies bedeckt, das tut ganz schön weh, wenn man hinfällt. Rechts steht die große Schaukel, daneben das Turnreck, auf dem Karl, der größte und stärkste der Jungs, zehn Kniefelgen hintereinander drehen kann. Drüben, längs der Mauer, ist der Sandkasten mit grauschwarzem Sand. Links geht’s zur Waschküche und Heißmangel, daneben der Blumen- und Gemüsegarten. Ganz hinten in der Ecke ist das Leichenhaus wie eine kleine Kapelle. Da darf man nicht hin. Aber neulich nahmen mich die größeren Jungs mit hinein, ganz heimlich. Ich hatte Angst, aber das gab ich nicht zu. Es lag tatsächlich jemand darin, unter einem weißen Leintuch. Es roch stickig und süßlich, ich würde den Geruch heute noch unter hundert Gerüchen herauskennen. Der Karl schlug mutig das Leintuch zurück, darunter schlief eine alte Frau, die ich noch vor einigen Tagen über den Hof hatte hinken sehen.

»Guck sie dir an, guck sie dir doch an, die ist tot.«

Ich wurde ganz nah an die Bahre geschubst.

»Fass sie an, die ist ganz kalt!«

Dann nahm der Herbert den Palmwedel aus dem Weihwassergefäß und spritzte feixend ein Kreuzzeichen über die Tote. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen. Dominus, wo bist du!«, sagte Herbert und spritzte auch uns voll mit Weihwasser; da lachte Karl ganz laut, zog der Leiche das Laken wieder über den Kopf, und wir stürzten alle hinaus ins Freie.