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Lieben Sie Italien? Lieben Sie spannende, verblüffende Geschichten? Dann sind die Geschichten aus Italien von Mario Adorf, dem großen deutschen Schauspieler, die richtige Lektüre für Sie. Niemand kann so hinreißend über dieses verrückte, so liebenswerte und reizvolle Land erzählen, über römische Gauner und Carabinieri, über mafiose Filmregisseure oder schlitzöhrige Photographen, über das Leben in kleinen Badeorten oder in der eleganten Toskana-Metropole Florenz. Mario Adorf lebt seit über 30 Jahren in Italien. In 15 Geschichten stellt er Ihnen sein ganz persönliches Italien vor.
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Seitenzahl: 149
Mario Adorf
Der Dieb von Trastevere
Geschichten aus Italien
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Für Pina
Eine Einleitung
Während der Berliner Filmfestspiele 1961 bekam ich einen Anruf aus Rom. In etwas gebrochenem Deutsch meldete sich der Regisseur Luigi Comencini, bekannt geworden durch den Film BROT, LIEBE UND FANTASIE und in Italien damals schärfster Konkurrent von Mario Monicelli, dem Regisseur von DIEBE HABEN’S SCHWER. Comencini lud mich nach Rom ein, um über eine Mitwirkung in seinem nächsten Film, DER RITT AUF DEM TIGER, zu sprechen. Ich sagte zu, und zwei Tage später flog ich zum ersten Male nach Rom.
Meine früheren Besuche in der Ewigen Stadt hatten unter dem armseligen Stern des Studentendaseins gestanden: Eisenbahn dritter Klasse, Straßenbahn zur Via Savoia 15, wo damals die Jugendherberge war. Um elf Uhr abends wurde das Tor geschlossen, um Mitternacht ging das Licht aus. Übernachtungspreis 200 Lire, das waren damals, Anfang der Fünfzigerjahre, etwa zwei DM, die ich übrigens bei meinem letzten Besuch schuldig blieb, um die Straßenbahn zum Bahnhof Termini bezahlen zu können. Damals hatte ich Rom kennengelernt, wie eben nur ein Student es kennenlernt: zu Fuß. Und es gibt keinen besseren und gründlicheren Weg.
Die frühen Fünfzigerjahre in Italien waren, anders als die Jahre des deutschen Wirtschaftswunders, noch harte Nachkriegszeit, die sich filmisch im »Neoverismo« ausdrückte: in kleinen, oft mit wenig Geld gedrehten Schwarz-Weiß-Filmen wie ROMA, CITTÀ APERTA oder PAISÀ und den ersten De-Sica-Filmen und vor allen RISO AMARO, im Deutschen mit BITTERER REIS übersetzt. Die Doppelbedeutung des Titels ging übrigens in der deutschen Übersetzung leider verloren, denn riso amaro heißt auch bitteres Lachen, und diese zweite Bedeutung sagt sehr viel aus über jene Zeit, jene bittere Zeit, in der dennoch gelacht wurde.
Nun traf ich auf ein ganz anderes Rom. Die Ewige Stadt war wieder einmal aus ihrem Dolce-far-niente-Schlaf aufgewacht, war wieder einmal Mittelpunkt der Welt, zur Abwechslung diesmal auf dem Sektor des Films. Über 250 Spielfilme wurden in jener Zeit pro Jahr gedreht, darunter amerikanische Großproduktionen wie BEN HUR oder CLEOPATRA, aber auch der Film, der den Sechzigerjahren ihren Namen aufdrückte: Fellinis LA DOLCE VITA. Das bittere Lachen war vergessen. Nach den Jahren der Not wollte man das Leben wieder genießen. Es war in der Tat eine aufregende und sorglose Zeit, in der das Vergnügen als das einzig Wichtige erschien. Und im Rom jener Jahre zu filmen, hieß, dazuzugehören, hieß, so etwas wie ein Auserwählter zu sein.
Als Comencini mich sah, rief er aus: »O Dio mio! Ich habe Sie mit Gert Fröbe verwechselt.« Ich konterte: »Das macht nichts, Signor Monicelli!« »Touché!«, lachte er und stellte mich dann meinem zukünftigen Mitspieler Nino Manfredi, danach den Drehbuchautoren Age & Scarpelli vor, die besten Komödienschreiber des italienischen Films. Ich sprach damals so gut wie kein Italienisch, tat aber so, als verstünde ich jedes Wort, sodass Comencini dachte, ich könnte die Rolle bis zum Drehbeginn leicht auf Italienisch einstudieren, man würde sie dann durch einen Italiener nachsynchronisieren lassen. Mir war alles recht.
Ich sagte Comencini zu und nahm mir sofort eine riesige, luxuriöse Mietwohnung im oberen, eleganteren Teil von Trastevere mit zwei Terrassen und drei Bädern.
Natürlich brauchte ich einen Wagen, möglichst einen offenen Sportwagen. Alain Delon rauschte in einem silbernen Ferrari mit einem Wahnsinnstempo durch die engen Gassen, eine glücklich lachende Romy Schneider neben sich. Vor den Nachtklubs standen unzählige offene Flitzer, Ferraris, Maseratis, Lamborghinis, Bizzarrinis, Alfa Romeos, MGs, Jaguars, Austin Healeys, Morgans … Ich lernte einen jungen Deutschen kennen, der wie viele Starlets und Schönlinge nach Rom gekommen war, um hier entdeckt zu werden und die ganz große Karriere zu machen. Bei ihm hatte es wohl nicht so ganz geklappt. Er hatte beschlossen, sein Glück in Hollywood zu versuchen, brauchte dringend einen Käufer für seinen schwarzen Austin Healey 3000 mit roten Ledersitzen und deutschem Nummernschild, um mit dem Erlös sein Flugticket nach Amerika zu bezahlen. Für 1500 Mark könnte ich der neue Besitzer sein, warb er. Sein Angebot interessierte mich. Doch wochenlang hörte ich nichts mehr von ihm und entschloss mich irgendwann zum Kauf eines roten Alfa Romeo Spider. Schon am nächsten Tag traf ich meinen deutschen Austin-Healey-Besitzer auf der Via Veneto. »Da bist du ja, Mario, ich suche dich die ganze Zeit. Morgen geht mein Flieger nach L.A., und ich brauche das Geld für mein Ticket.« Ich zeigte auf meinen frisch gekauften Alfa und sagte: »Tut mir leid, aber wie du siehst …« Er wurde blass und stammelte: »Mario, das kannst du mir nicht antun. Ich habe in drei Tagen eine Verabredung mit Elia Kazan für die Hauptrolle in seinem nächsten Film! Du hast es mir versprochen … Ich habe mich auf dich verlassen …!«
So kam es, dass ich innerhalb weniger Tage der Besitzer zweier Sportwagen wurde. Ich gewöhnte mich schnell daran. Wenn ich morgens, in jeder Hand einen Wagenschlüssel, auf den Parkplatz vor dem Haus kam, entschied ich mich ganz nach Laune für Rot oder Schwarz. Langsam kristallisierte sich jedoch eine Vorliebe für den Austin Healey heraus. Er war zwar alt und neigte zu abrupter Befehlsverweigerung, aber ich liebte einfach das tiefe, vibrierende Brummen seines Motors. Frauen nannten es sexy.
Zum Drehbeginn des Films hielt ich es für den richtigen Einstand, ein Fest zu veranstalten. Damals jagte eine Party die andere, manchmal zwei, drei an einem Abend. Man brauchte gar nicht groß eingeladen zu sein. Man musste nur Charley kennen: Charles Fawcett war ein Amerikaner, ohne Beruf, von dem man munkelte, dass er bei der CIA gewesen wäre, und er genoss es, wenn man ihn »The King of Rome« nannte. Er kannte Gott und die Welt, war äußerst großzügig und daher ständig pleite. Da ich noch nicht viele Leute in Rom kannte, lud ich Charley zu meiner Party ein und fügte hinzu, er könne ruhig noch ein paar Freunde mitbringen. Ich ließ Essen und Trinken durch den schicken Partyservice Bernasconi am Largo della Torre Argentina organisieren und lud, mit den römischen Gewohnheiten nicht vertraut, für 20 Uhr ein. Fünf Kellner waren gegen sechs Uhr mit Tischen, Geschirr und einer Tonne feinster Speisen angerückt, hatten alles aufgebaut, die Badewannen in den Bädern waren mit Champagner, der in dicken Eisbrocken schwamm, angefüllt. Jetzt standen die Kellner däumchendrehend herum, es wurde neun, es wurde zehn Uhr, und kein Mensch erschien, außer ein paar guten Freunden, die für Schallplatten und Lautsprecher gesorgt und mir geholfen hatten, die Wohnung und die Terrassen mit Kerzen, Lampions und Fackeln zu dekorieren. Allmählich verzweifelte ich. Hatte man meine Party vergessen? »Snobbte« man mich, den unbekannten deutschen Schauspieler? – Gegen Mitternacht hatten sich einige zwanzig Leutchen eingefunden, als plötzlich Charley mit seinen Freunden vor dem Haus eintraf. Fünfzig, sechzig Autos drängten sich unter lautem Gehupe in den Hof und die enge Via dell’Ongaro. Beim ersten Transport nach oben streikte der Lift. Hilferufe. Die Leute im Haus meuterten, wer Humor hatte, durfte mitfeiern. Schließlich waren 150 Gäste in der Wohnung verteilt, und Bernasconi musste Nachschub herankarren. Die Party dauerte bis sechs Uhr früh, ein Rekord. Ich hatte die Probe bestanden. Am nächsten Tag war ich im Rom des Dolce Vita berühmt; wenn auch nicht als Schauspieler, sondern als Partyschmeißer. Immerhin.
Mit der Schauspielerei hingegen ging es bei Weitem nicht so schnell. Luigi Comencinis Film DER RITT AUF DEM TIGER wurde trotz der glänzenden Besetzung mit Nino Manfredi und Gian Maria Volonté, dem guten Drehbuch und der bissig-humorvollen Regie kein Erfolg. Der Schwarz-Weiß-Film ist heute noch ansehnlich, aber er war wohl durch die ungewohnte Mischung von Komik und Dramatik seiner Zeit voraus. Ich hatte im italienischen Film Blut geleckt, musste aber, wollte ich nicht reumütig und ruhmlos zum weniger als mittelmäßigen deutschen Film zurückkehren, kleine Brötchen backen. Ich spielte in zwei sehr guten Filmen Antonio Pietrangelis die winzigen, wenn auch profilierten Rollen eines Dorftrottels und eines Preisboxers. Als jedoch endlich das Angebot einer großen Rolle in dem Buñuel-Film TAGEBUCH EINER KAMMERZOFE mit Jeanne Moreau auf mich zukam, wurde mir erklärt, dass ich die Rolle nur spielen könne, wenn ich die italienische Staatsbürgerschaft besäße. Mein italienischer Agent und ich berieten, was zu machen wäre. Seine Idee: Mit meinem italienischen Vater sollte es doch möglich sein, die italienische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Es gelang uns auch, sofort einen Termin für das entsprechende Gespräch mit einem hohen Beamten des zuständigen Ministeriums zu bekommen. Mein Agent erklärte unser Anliegen, der Beamte hörte ihn geduldig an, fragte, was für eine Nationalität ich denn besäße, und als ich sagte: »Die deutsche«, faltete er seine Hände wie im Gebet und wedelte sie vor seinem Gesicht in einer sehr italienischen Geste: »Warum? Warum in aller Welt wünschen Sie sich die italienische Staatsangehörigkeit, wenn Sie die DEUTSCHE haben? – Sind Sie verheiratet?« Ich verneinte. »Wissen Sie, was es bedeutet, Italiener zu sein, wenn Sie heiraten?« Er presste die Handgelenke zusammen, um eine Fesselung zu demonstrieren. »Sie sind ein Sklave!«, rief er, »ein Leben lang an eine ungeliebte Frau gefesselt. In Italien gibt es keine Scheidung!«, schrie er. »Es gibt nur die Ungültigkeitserklärung durch die päpstliche Sacra Rota, die bekommen Sie aber nur, wenn Sie sehr reich, adelig oder impotent sind! Gehören Sie zu einer dieser privilegierten Gruppen?« Ich musste verneinen. »Na also!«, triumphierte er, »ich könnte Ihnen noch Dutzende anderer Gründe nennen, die es nicht ratsam erscheinen lassen, Italiener zu werden und eine so bevorzugte Nationalität wie die GERMANISCHE aufzugeben.« Wir, mein Agent und ich, sahen uns an. Fast gleichzeitig erhoben wir uns von unseren Stühlen und verabschiedeten uns von unserem temperamentvollen Ratgeber. Wir gaben unser Vorhaben auf, und ich habe folglich jene Filmrolle nicht bekommen, buk noch für einige Jahre kleine Brötchen, bis der Regisseur Renato Castellani mir eine große Rolle neben Sophia Loren und Vittorio Gassman in DIE ÜBERSINNLICHE nach einem Theaterstück von Eduardo de Filippo anbot. Nach diesem Film gehörte ich dazu – diesmal auch als Schauspieler.
Nun lebe ich seit über dreißig Jahren in Italien und schmeichle mir, Land und Leute recht gut zu kennen. In dieser langen Zeit haben sich eine Menge Geschichten in meinem Kopf angesammelt, erlebte, gehörte, erfundene, Geschichten, die ich, auch wenn sie nicht nur die Sonnenseite des italienischen Lebens beschreiben, immer als ausgesprochen menschlich empfunden habe. Wenn ich hier nun einige davon aufgeschrieben habe, so deshalb, weil mich eben diese Vorzüge und Schwächen der Italiener interessiert, amüsiert, manchmal auch geärgert und oft gerührt haben.
Wenn man vom Markusplatz kommend über den hölzernen Ponte dell’ Accademia den Canale Grande überquert, sich links hält und durch eine lange, schmale Gasse auf den Campo San Polo zugeht, übersieht man leicht einen winzigen Fotoladen auf der rechten Straßenseite. In dem kleinen Schaufenster sind einige Fotos ausgestellt, ein paar alte Fotoapparate und mehrere Venedigbroschüren. Eine davon zeigt auf dem Titelblatt eine alte Fotografie, auf der der würdige Campanile von San Marco ganz unwürdig verzerrt, aufgerissen, im Einsturz begriffen dargestellt ist. Neugierig geworden, trat ich eines Tages in den Laden, um jene Broschüre zu erstehen.
So erfuhr ich denn, dass der Campanile, auf den die Venezianer seit über tausend Jahren stolz sind und den sie liebevoll »El parón de casa« nennen, was so viel wie »Herr des Hauses« heißt, und dessen unerschütterliche Festigkeit sie jahrhundertelang als Garanten für alle möglichen Versprechen oder gar Verträge benützten, dass also dieser schöne, stolze Turm am 15. Juli 1902, um 9 Uhr 47, eingestürzt war. Ich wunderte mich, dass diese Tatsache so wenig bekannt war. Ich konnte mich nicht erinnern, dass einer der herkömmlichen Touristenführer den Einsturz, der ja doch ein außerordentliches Ereignis in der Geschichte Venedigs gewesen sein musste, überhaupt erwähnt hätte. Und nicht nur das erschien mir merkwürdig. Ich fragte mich, wie es denn möglich war, dass ein Fotograf zu jener Zeit, in der die Fotografie noch in den Kinderschuhen steckte, ein solches Sensationsfoto machen konnte. Ich begab mich auf den Markusplatz und versuchte, den Punkt ausfindig zu machen, von dem aus der begabte Fotograf jene Aufnahme gemacht haben konnte. Bald stellte ich fest, dass es diesen Punkt nicht gab, nicht geben konnte. Keine Fotolinse der damaligen Zeit hätte den Campanile aus dieser Nähe von der Basis bis zur Turmspitze auf die Platte bringen können. Ich war einer Fälschung auf der Spur.
Wenig später saß ich an einem Tisch vor dem Café Florian, trank einen Cappuccino und zeichnete auf der Fotografie die Linien ein, die die verschiedenen Teile der »Fotomontage«, um die es sich handeln musste, hätten sein können. Da hörte ich dicht hinter mir ein freundlich-spöttisches Lachen, und eine Stimme sagte: »Sieh an, sieh an! Wieder einer der Touristen, die jedes Jahr dieses Foto als Fälschung erkennen!« Ich drehte mich um und sah einen sehr alten Mann im weißen Leinenanzug und mit einem breitrandigen Panamahut auf dem faltigen Charakterkopf. Sehr helle, blaue Augen blickten mich freundlich an. »Sie werden sich sicher fragen, warum es nie öffentlich als Fälschung angeprangert wurde«, fuhr er fort, »und warum man in Venedig überhaupt so wenig über den Einsturz des Campanile spricht. Wenn es Sie interessiert, ich kann Ihnen diese Fragen beantworten. – Entschuldigen Sie bitte meine Aufdringlichkeit!«, unterbrach er sich, aber er hatte mich schon am Haken. Ich stellte mich vor und erfuhr, dass ich mit einem wahrhaftigen Geschichtsprofessor sprach, seit langen Jahren emeritiert. Der »Professore« lud mich ein, zu ihm hinaufzukommen, er wohne nur »a due passi«, zwei Schritte, von hier.
Wir saßen lange in seiner Bibliothek. Bis auf die Fenster waren alle Wände bis an die kostbar kassettierte Decke mit Regalen voller Bücher bedeckt. Er bot mir ein Gläschen Marsala an, einen süßen bräunlichen Wein, der etwas an Portwein erinnert, und er begann zu erzählen.
Es ist Sonntag, der 13. Juli 1902.
Seit vier Tagen schiebt der Fotograf Antonio Baghetto im Morgengrauen sein Wägelchen zum Markusplatz, an die Schmalseite des Platzes gegenüber der Basilika. Er schnallt das Stativ ab, stellt es auf, befestigt seine schwere Görtz-Anschütz auf dem Stativ, hängt das schwarze Tuch über Apparat und Kopf und richtet das Objektiv wie jeden Morgen dieser letzten Tage auf den Campanile. Der Platz ist noch menschenleer, nur die ersten Tauben segeln von ihren Dächern und Firsten auf das Pflaster hinunter und picken die letzten Körner vom Vortag auf.
Seit vier Tagen sind die Gerüchte über den schlechten Zustand des Campanile Gegenstand handfester Streitartikel in der Gazzetta di Venezia und anderen Zeitungen. Für die einen ist der Gedanke, dass der tausend Jahre alte Glockenturm gefährdet sein könnte, eine reine Unmöglichkeit: Für einen echten Venezianer ist nichts so fest, nichts so ewig wie der Campanile. Und jetzt soll er krank sein, hinfällig, baufällig gar?! Nur wegen der paar Risse im Gemäuer? Von denen wurde schon zu Marco Polos Zeiten berichtet. Gibt es doch kaum eine Kirche, einen Palast in Venedig, der nicht irgendwelche Risse aufweist. Doch andere Stimmen werden lauter, die von Statik, Materialermüdung und Senkung der Fundamente reden, wie Ingenieur Torri, der Leiter des Bauamtes, der jeden Tag eine lange Feuerwehrleiter anlegen lässt und selbst besteigt, um die Risse in Augenschein zu nehmen und mit dem Zollstock Veränderungen in der Breite zu messen. Der Stadtrat hat eine Kommission eingesetzt, die nun seit einer Woche ein tägliches Bulletin herausgibt, wie bei einem illustren Kranken. Immer noch stehen die skeptischen Venezianer dabei und machen spöttische Bemerkungen, wenn die Kommission sich wichtigtuerisch zur Besichtigung des »Patienten« begibt.
Antonio Baghetto ist einer der beiden Fotografen, die sich seit vielen Jahren das Fotografieren der Touristen auf dem Markusplatz teilen. Der andere, Rino Zago, Antonios Konkurrent, hält die Ostseite des Platzes besetzt, postiert seine Kunden auf Verabredung vor die Basilika oder die Loggietta oder mit dem Rücken gegen die Riva dei Schiavoni, sodass man als Hintergrund die beiden Säulen am alten Hafen und in der Mitte dahinter die Insel mit der Kirche San Giorgio Maggiore sieht.
Antonio Baghettos Hauptmotiv für seine Touristenfotos ist hingegen die Basilika mit den vielen Kuppeln und der Campanile. Touristen zu fotografieren, ist für ihn nur der alltägliche Broterwerb, denn er ist ein Künstler. Sein Vater und Großvater waren Glasbläser in Murano, er, Antonio, ist gelernter Linsenschleifer. Durch diesen Beruf ist er dann zu der neuen Kunst, der Fotografie, gekommen. In seiner Freizeit, und das sind die langen Wintermonate, wenn die Touristen und Hochzeitspärchen Venedig fernbleiben, zieht er seinen Wagen durch die Straßen und über die kleinen Brücken und sucht die alten Motive Canalettos. Keinen Maler bewundert Antonio so sehr wie diesen Giovanni Antonio Canal, den schon sein Vater so verehrte, dass er ihm, Antonio, dessen Taufnamen gab. Das Gerücht, dass Canaletto für die Aufrisse seiner in der Tat unglaublich genauen Perspektiven eine Art Camera obscura benutzt hätte, tut Antonios Bewunderung für diesen berühmten Venezianer keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil.
Antonio versucht sich auch, und das ist sein Hobby, im Fotografieren von Blumen, Vögeln und Insekten, doch ist dies noch brotlose Kunst, auch wenn er heute als ein Pionier der Pflanzen- und Tierfotografie gilt.
Doch der Gedanke, dass der Campanile von San Marco tatsächlich gefährdet sein könnte, hat Antonio Baghetto auf die Idee gebracht, dass er das Ereignis, sollte es eintreten, auf seine Platte bannen müsse. Daher also steht er seit vier Tagen beim ersten Hahnenschrei auf und betet insgeheim, dass, wenn der Einsturz geschähe, dieser nicht während der Nacht erfolgen möge, denn die Nacht war damals noch die Feindin der Fotografie.