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Mit sich selbst befreundet zu sein, davon sprach schon Aristoteles. Daran anknüpfend, erzählt der Philosoph und Erfolgsautor Wilhelm Schmid, wie man den Umgang mit sich selbst lernen kann. Seine Überlegungen zur Lebenskunst versuchen auf die Herausforderungen unserer Zeit zu antworten.
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Seitenzahl: 690
Mit sich selbst befreundet zu sein, davon sprach schon Aristoteles. An diese Tradition knüpft Wilhelm Schmid an und erzählt davon, wie man den Umgang mit sich selbst in moderner Zeit erlernen kann.
»Schmid ›lehrt‹ mit eleganter Tiefgründigkeit und einer geradezu griechischen Leichtigkeit und Weite im Denken, dass zunächst jeder Mensch nichts Wertvolleres auf der Welt hat als sich selbst.« Neues Deutschland
»Die intelligente Alternative zum Ramsch der Seelentrösterei ist die Lebenskunst. ... Das Buch, reich an Wissen und Originalität, ist weit mehr als eine aus der Antike übernommene Anleitung zum Selbstaneignungs-Training. Es wird seinem Anspruch gerecht, ›einen Blick auf die gesamte Landschaft des Lebens unter der Perspektive der Lebenskunst‹ zu tun.« Tages-Anzeiger
Wilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Viele Jahre lang war er als Gastdozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien sowie als »philosophischer Seelsorger« am Spital Affoltern am Albis bei Zürich tätig. Jüngste Buchpublikationen: Liebe. Warum sie so schwierig ist und wie sie dennoch gelingt (2011), Die Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen (2010), Ökologische Lebenskunst. Was jeder Einzelne für das Leben auf dem Planeten tun kann (st 4034) und Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist (2007).
Homepage: www.lebenskunstphilosophie.de
Wilhelm Schmid
Mit sich selbst befreundet sein
Von der Lebenskunstim Umgang mit sich selbst
Suhrkamp
Umschlagabbildung:
Henri Matisse. Verve IV (Maquette de couverture).
© Succession H. Matisse/VG Bild-Kunst, Bonn 2007
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil desWerkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-79630-6
www.suhrkamp.de
Einleitung
Von Ängsten und von Künsten. Über den Anfang der Lebenskunst
Am Anfang ist die Angst
Mit der Angst beginnt die Lebenskunst
Schwach sein können, versagen dürfen
Lebenshilfe? Was es heißt, »eine Philosophie zu haben«
Hilfestellung des Intellekts: Kynische, nicht zynische Lebenskunst
Die Kunst in der Lebenskunst
Ist das Leben ein Spiel?
Von der Sorge für sich selbst
Beziehung zu sich selbst? Die Fremdheit des Ich im Umgang mit sich
Selbstaufmerksamkeit, Selbstbesinnung, Selbstgespräch
Erkenne dich selbst! Aber was heißt das?
Selbstkenntnis und Hermeneutik des Selbst
Arbeit an innerer Festigkeit: Selbstgestaltung, Selbstmächtigkeit
Selbstvertrauen, Selbstfreundschaft, Selbstliebe
Sorge um Freiheit: Ist eine Selbstbestimmung wirklich möglich?
Sorge um Wahrheit: Was ist das »wahre Sein«?
Sorge um Schönheit: Plädoyer für eine ästhetische Ethik
Sorge um Gerechtigkeit: Von der Gerechtigkeit des Selbst gegen sich
Selbstmanagement in der Servicegesellschaft
Das elektronische Subjekt: E-Mail, E-Life, E-Government
Existenz und Subsistenz: Arbeit an sich selbst und Erwerbsarbeit
Unbesorgtheit, Selbstvergessenheit, Selbstverzicht
Von der körperlichen Sorge
Warum die Pflege des Körpers nicht des Teufels ist
Körper, Sport und Lebenskunst
Wellness? Wellness! Die Kunst der Berührung
Überströmende Fülle und der letzte Tropfen: Im Wasser leben
Schön sein, sich schmücken: Sinnlichkeit des Selbst
Ausarbeitung der Sinnlichkeit: Künste der fünf Sinne
Gerechtigkeit für Piriformis!
Boden gewinnen
Asketik des Atmens
Ethik der Ernährung, erneuerte Diätetik
Erfahrung des Fastens
Hausmedizin: Selbstvorsorge, Selbstmedikation
Lifestylepillen?
Die Bedeutung von Genom und Proteom für das Selbst
Sich genetisch selbst gestalten?
Von der seelischen Sorge
Mutmaßungen über die Gestalt der Seele
Gestaltung der Gefühle: Sind Gefühle erziehbar?
Gestaltung des Gesichts: Von der plastischen Kraft des Lebens
Gestaltung des Charakters: Welchen Sinn hat Tapferkeit?
Gibt es eine Kunst im Umgang mit Schmerz?
Singen lernen, Tanzen lernen
Das richtige Maß: Extreme meiden oder suchen?
Von der Bedeutung des Rausches für die Lebenskunst
Sucht und süchtig sein: Die ruinöse Lebensform
Vom Recht, mit sich allein zu sein. Einsamkeit als Lebenskunst
Kunst der Stille, Formen des Schweigens
Kunst des Lachens und des Lächelns
Kunst des Weinens und des Traurigseins
Kunst des Unglücklichseins: Sich befreunden mit der Melancholie
»Was mir gut tut«: Geschenke des Selbst für sich selbst
Von der geistigen Sorge
Denken und Existenz: Was Begriffe für den Lebensvollzug bedeuten
Fabricando fabricamur: Das Leben schreiben
Lesen als Lebenskunst
Dem Absurden begegnen. Von der Macht des Geistes
Kortex und Amygdala: Die Suche nach dem Sitz der Klugheit
Dummheit ist die List der Klugheit
Erfahrung und Besinnung, Ausarbeitung des Gespürs
Von der Herstellung des Gewissens
Kunst der Muße: Sich selbst keine Langeweile machen?
Urlaub, endlich!
Von der Kunst, heiter und gelassen zu leben
Vom Leben mit und ohne Illusionen. Resignation als Lebensform
Lebensmüdigkeit, Lebensüberdruss, Lebensekel
Sinn oder Sinnlosigkeit? Vom Sinn des Lebens
Glück ist erfülltes Leben
Vom Kindsein und vom Älterwerden. Über Anfang und Ende der Lebenskunst
Lernen von der Lebenskunst der Kinder
Heranwachsen: Von den Mühen der »Selbstfindung« in der Moderne
Warum junge Menschen nach Traumwelten suchen
Schule der Lebenskunst
Horizonte malen, dem Leben Raum geben
Alte Meister? Vom Glück und Ärgernis des Älterwerdens
»Euthanasie«? Sterben und Tod als Teil der Lebenskunst
Über sich hinaus: Gibt es ein Leben nach dem Tod?
»Wovon handelt denn Ihr Buch?«
»Von der Beziehung des Einzelnen zu sich selbst.«
»Ah, also vom Egoismus.«
»Ist Selbstbeziehung Egoismus?«
Was ist eine »Beziehung zu sich selbst«? Auf jeden Fall ein merkwürdiges Phänomen, so faszinierend wie beunruhigend: faszinierend, dass eine solche Beziehung überhaupt möglich ist; beunruhigend, dass sie den Beziehungen zu anderen vorgezogen werden kann. In der Sicht vieler Menschen gibt es Grund zur Beunruhigung über dieses Phänomen der Gegenwart: Verlust der Beziehungen zueinander, Fragmentierung, ja Auflösung von Gemeinschaft in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Wie lässt sich angesichts dessen die Betonung der Selbstbeziehung rechtfertigen? Aber es erscheint schwierig, anders anzusetzen, wenn doch in der Epoche, die man »die Moderne« nennt, Menschen in anderem Maße als jemals auf sich selbst verwiesen sind. Sie sehen sich vor die Aufgabe gestellt, selbst nach Orientierung zu suchen und ihr Leben selbst zu führen, ohne sich dafür gerüstet zu fühlen. Verschiedene theoretische und praktische Ansätze, auch die philosophische Lebenskunst, werden daran gemessen, ob sie in der Lage sind, Antworten auf die moderne Grundsituation zu finden. Sich damit zu befassen, soll nicht heißen, die Moderne für die einzige Kultur, ihre Probleme für die einzigen auf dem Planeten zu halten. Aber überall dort, wo Modernisierung Platz greift, werden wohl ähnliche Probleme zu erwarten sein, deren Lösung nicht anderen Kulturen zuzumuten ist, sondern der Kultur der Moderne selbst, erst recht in der Zeit der »Globalisierung«, die nichts anderes ist als eine globale Modernisierung.
Unter Lebenskunst ist hier nicht das leichte, unbekümmerte Leben zu verstehen, sondern die bewusste, überlegte Lebensführung. Sie ist, wenn sie gewählt wird, mühevoll und doch auch eine Quelle der Erfüllung ohnegleichen. Lange Zeit im Laufe der abendländischen Geschichte war sie in der Philosophie beheimatet, die diesen Begriff schon in antiker Zeit prägte: téchnē tou bíou, téchnē perì bíon im Griechischen, ars vitae, ars vivendi im Lateinischen. Erst die institutionelle Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts leistete Verzicht darauf, zugunsten einer Moderne, die mithilfe von Wissenschaft, Technik und freier Wirtschaft alle Lebensprobleme zu lösen versprach; auch in der Hoffnung auf »Systeme«, die eine individuelle Lebensführung überflüssig machen würden: Wozu also noch Lebenskunst! Die mit der Moderne gemachten Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass diese Zeit zwar einige Probleme gelöst, neue aber geschaffen hat, und dass wohl kein »System« einem Menschen Antworten auf seine Lebensfragen geben oder ihm gar die Lebensbewältigung abnehmen kann.
Keineswegs kann die Philosophie verbindlich sagen, wie das Leben zu leben sei, und doch kann sie Hilfestellung leisten beim Bemühen um eine bewusste Lebensführung: mit der Klärung und Aufklärung einer Lebenssituation, einer Angst etwa, einer Beunruhigung oder einer Enttäuschung. Als philosophisch gilt seit jeher, in jedem Fall seit Sokrates, die »Was ist«-Frage zu stellen, griechisch ti éstin, ti pot’éstin: Was ist das, was ist das eigentlich? Was ist Leben, was ist diese Zeit, was ist Leben in dieser Zeit, was könnte es noch sein, was ist schön, was ist klug, was ist richtig, was ist wichtig, was ist Glück, was ist der Sinn des Lebens? Von der Frage nach Sinn sind alle diese Fragen durchdrungen, und es gehört zu den Aufgaben der Philosophie, diese Frage aufzunehmen und ernst zu nehmen; ein zentrales Anliegen dieses Buches. Die Frage nach Sinn ist die Frage nach Zusammenhängen: Was liegt zugrunde, was steckt dahinter, wozu dient etwas, in welchen Beziehungen ist es zu sehen, welche Bedeutung haben die Worte, die gebraucht werden, welche Gründe lassen sich für ein Tun oder Lassen finden? Entscheidend sind Fragestellungen wie diese, nicht etwa definitive Antworten; schon die sokratischen Dialoge enden aus guten Gründen offen und stoßen dennoch wertvolle Klärungsprozesse an. Mit den Fragen sind Spielräume des Denkens und Lebens zu eröffnen und Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu gewinnen, nach denen die moderne Philosophie lange, allzu lange nicht fragte, gänzlich den Bedingungen menschlichen Wissens und der normativen Begründung menschlichen Handelns zugewandt, als verstünde sich damit das gelebte Leben schon von selbst.
Als grundlegend erscheint vor allem, dass das Leben an die Bedingungen und Möglichkeiten einer bestimmten Zeit und eines Kulturraumes gebunden ist. Die Lebenskunst, wie sie hier entfaltet wird, versucht (auch wenn sie einige Inspirationen aus der Tradition aufnimmt) auf die Herausforderungen der Zeit der Moderne zu antworten. Was aber ist Moderne, woher kommt sie, wohin geht sie? Sie erscheint als eine Denkweise, die die verschiedensten Erscheinungsweisen des Lebens durchzieht, nicht als Produkt eines Zufalls, sondern einer absichtsvollen Konzeption, modernen Menschen oft kaum mehr bewusst. Dynamisch bewegt wird die Moderne, wie sie von den Aufklärern, darunter vielen Philosophen, im 17. und 18. Jahrhundert konzipiert worden ist, um elenden Verhältnissen zu entkommen, vom Begriff der Freiheit. Freiheit wird dabei von vornherein und bis ins 21. Jahrhundert hinein im Wesentlichen als »Befreiung« verstanden und als Freiwerden von Gebundenheit erfahren. Nichts daran ist zurückzunehmen, die Tragik der Freiheit als Befreiung besteht jedoch darin, ein Individuum freizusetzen, das in seiner Bindungs- und Beziehungslosigkeit kaum zu leben vermag. Wie ein erratischer Block steht es in der Landschaft der Moderne, versteht sich selbst nicht mehr und weiß mit sich nicht umzugehen.
Die Freiheit als Befreiung macht eine eigene Lebensführung erst zur Notwendigkeit. Denn das ist die Situation des modernen Individuums: Frei zu sein von religiöser Bindung, denn es ist auf keine Religion mehr festgelegt, auf kein Jenseits mehr vertröstet – mit der Folge, auf kleine und große Lebens- und Sinnfragen nun selbst Antworten finden zu müssen. Frei zu sein von politischer Bindung, denn aufgrund der Befreiung von jedweder Bevormundung vermag es eigene Würde und Rechte gegen Fremdbestimmung geltend zu machen – mit der Konsequenz, dass die individuelle wie gesellschaftliche Selbstgesetzgebung (»Autonomie« im Wortsinne) zur ebenso mühsamen wie unumgänglichen Aufgabe wird. Frei zu sein von ökologischer Bindung, denn aufgrund technischer Befreiung von Vorgaben der Natur sind neue Lebensmöglichkeiten entstanden – mit der schmerzlichen Erfahrung, dabei die eigenen Lebensgrundlagen verletzen zu können und aus Eigeninteresse (sofern da noch eines ist, das so weit reicht) eine ökologische Haltung neu begründen zu müssen. Frei zu sein von ökonomischer Bindung, die zunächst noch darin bestand, die freigesetzte wirtschaftliche Tätigkeit einiger auf die Hebung des Wohlstands aller zu verpflichten – die Befreiung davon sorgt für soziale und ökologische Kosten, deren Bewältigung größte Mühe macht. Frei zu sein schließlich von sozialer Bindung: Das vor allem ist der Befreiungsprozess, der das moderne Individuum erst hervorgetrieben hat, losgelöst aus seinem Eingebundensein in Gemeinschaften, befreit (»emanzipiert«) von erzwungenen Rollenverteilungen, sexuell befreit von überkommenen Moralvorstellungen, befreit überhaupt von Moral und Werten, die als »überholt« angesehen werden. Anstelle von Gemeinschaft entsteht die Gesellschaft als Zusammenkunft freier Individuen. Alle Formen sozialer Gemeinschaft werden fragmentiert: Die Großfamilie schrumpft zur Kleinfamilie, deren Bruchstücke führen zur Patchworkfamilie und zum Singledasein, bis schließlich nicht nur der »Individualismus«, sondern auch die Selbsteliminierung des Individuums möglich ist und wirklich wird: die letzte »Befreiung«.
Moderne ist eine Auflösung von Zusammenhängen und somit von Sinn. Die Befreiung von inneren und äußeren Bindungen und Beziehungen führt zur Erfahrung des »Nihilismus«. Den zahllosen Diskursen, die bekennen, »auf der Suche« zu sein, ist Ratlosigkeit von den Lippen zu lesen. Aber die Bedeutsamkeit von Zusammenhängen ist in ihrer Abwesenheit am besten zu erkennen. Die Moderne im Übergang ist daher eine philosophische Zeit, eine Zeit der neuerlichen Frage nach dem Wesentlichen, das zu anderer Zeit im Selbstverständlichen verborgen lag. Da sich im Nichts nicht leben lässt, beginnt die Arbeit an einer Wiederherstellung von Zusammenhängen, wenn auch anfänglich noch naiv und unbeholfen. Es zeichnet sich eine Zwischenzeit ab, die, der auffälligen Häufung einer unscheinbaren Vorsilbe folgend, die Re-Zeit genannt werden kann: Retrospektiven, »Retros«, allerorten. Was zunächst Rezyklierung (Recycling) im ökologischen Kontext war, auch Renaturierung, etwa von Flüssen, Reduktion, etwa von Schadstoffen, oder Rekonstruktion, etwa von historischen Gebäuden, Renaissance von diesem und jenem, zuweilen auch nur ein »Remake«, führt schließlich zur Reorganisation und zu grundlegenden Reformen, vorausgesetzt, diese können refinanziert werden, denn ökonomisch droht die Rezession. Wellness sorgt währenddessen für eine Revitalisierung, Regeneration, Rekonvaleszenz des Menschen, um verloren gegangene Ressourcen wiederzugewinnen. Abgesehen von der Resignation, die sich bei manchen breit macht, erscheint die Re-Zeit jedoch auch als eine Zeit der Reflexion, des Innehaltens und Nachdenkens, der Besinnung etwa auf verloren gegangene Bindungen und Werte. Das philosophische Nachdenken über Lebenskunst selbst ist ein Versuch zur kritischen Rekonstruktion all dessen, was fürs Leben erforderlich zu sein scheint, eine vorsichtige Wiederherstellung aufgelöster Zusammenhänge, insofern eine Gegenbewegung zur Dekonstruktion, die noch mit dem Abtragen wirklicher und vermeintlicher Zusammenhänge beschäftigt ist. Die Re-Zeit ist Wiederherstellung, Wiedererinnerung, Wiederentdeckung; sie löst, für eine Weile, das Pro-Zeitalter ab, das nur die Vorwärtsbewegung kannte, nur Progress und Progression, Programme, Prognosen, Projekte, Prospekte, Prozesse, Profite, Produkte, Produzenten, Produktivität und Profanität: Zeit einer, rückblickend gesehen, naiven Moderne. Pro und Re: Die Moderne wird zur Schaukelbewegung zwischen zwei Vorsilben.
Das Resultat der Re-Zeit kann eine Modifikation der Moderne sein, und die Lebenskunst kann sich als Teil der Arbeit daran verstehen. Sie begibt sich auf die Suche nach dem »richtigen Leben im falschen«, und sie ist ein antinihilistisches Projekt – vorausgesetzt, es erscheint erstrebenswert, sich nicht im Nihilismus einzurichten. Einiges an der Ausrichtung des modernen Lebens könnte grundsätzlich »falsch« sein: Falsch könnte es sein, religiöse Fragen für erledigt zu betrachten, politische Rechte ein für alle Mal für gesichert zu halten, ökologische Zusammenhänge in desaströsem Ausmaß zu vernachlässigen, der ökonomischen Rationalität eine unangemessene Bedeutung zuzumessen, soziale Zusammenhänge so weitgehend aufzulösen, dass jedes gesellschaftliche Zusammenleben unterminiert wird, zugunsten eines »Glücks«, das regelmäßig ins Unglück führt. Eine Veränderung moderner Denk- und Lebensweisen kann jedoch nicht »von oben herab« verordnet werden, sondern nur »von unten herauf« wachsen, realisiert von einzelnen Individuen, die Inseln des Anderen bilden und »gleichsam durch die Form der eigenen Existenz«, wie es in einer Vorlesung zur Moralphilosophie (1957) von Theodor W. Adorno heißt, »mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das nach sich zieht, versuchen, die Existenzform vorwegzunehmen, die die eigentlich richtige wäre«.
Die Arbeit an einer anderen Moderne rückt auf andere Weise das Individuum ins Zentrum, nicht mehr nur als sich befreiendes, sondern auch als Freiheitsformen schaffendes: zweifellos ein nietzscheanisches Projekt. Erhalten bleibt der Zentralbegriff der Freiheit, verstanden jedoch nicht mehr nur als negative Freiheit der Befreiung, des Freiseins von, sondern auch als positive Freiheit des Freiseins zu Bindungen, Beziehungen, Begrenzungen, die vom Individuum selbst gewählt und festgehalten werden. Alle Arbeit an der Formgebung der Freiheit wurde in der Moderne sehr stark auf das Recht konzentriert, das mit dem Umfang der Aufgabe jedoch überfordert ist. In allen genannten Hinsichten: religiös, politisch, ökologisch, ökonomisch, sozial, sind daher Formen der Freiheit auszuarbeiten, um den Zustand des bloßen Befreitseins zu überwinden. Nicht zuletzt auch, weil dieser Zustand, wie sich zeigt, antimoderne Kräfte auf sich zieht, die die Spielräume der Freiheit bedrohen, getrieben von tödlicher Angst vor der Moderne und ihren Befreiungen. Eine andere, kritische, reflektierte Moderne wird sich eher darauf verstehen, Brücken zu anderen Kulturen zu bauen, statt diese mit kultureller Arroganz als »überholt« abzuweisen. Sie verzichtet dabei nicht auf zentrale Errungenschaften der Moderne wie Menschenwürde und Menschenrechte. Erhalten bleibt das moderne Engagement für Veränderungen und Verbesserungen, alles andere würde das blinde Sichfügen in beliebige Verhältnisse bedeuten. Aber »Neues« ist nicht länger eine Norm, möglich ist auch das Festhalten an »Altem«, das sich bewährt. Das Engagement bedarf nicht mehr der Annahme, jede Beschädigung des Lebens sei heilbar oder vermeidbar; nicht mehr der Utopie einer idealen Welt, in der sämtliche Probleme gelöst wären; keines Traumes einer »Erlösung«. Das Bemühen um Lebenskunst ist nicht darauf angewiesen, erst die Realisierung großer Ideen abwarten zu müssen oder gar eine Weltrevolution, um mit dem Leben »beginnen« zu können. Auch müssen nicht erst andere zum Handeln oder Lassen bewogen werden, vielmehr verfügt das Individuum selbst über sich, unmittelbar und ohne Verzug.
Mit aller Vorsicht angesichts der Ungewissheit dessen, was das »eigentlich« Richtige wäre, ermöglicht dies ein eigenes Bemühen um das Leben und Andersleben. Lebenskunst hat von Grund auf diese individuelle Dimension: Nicht anonyme Institutionen und Gemeinschaften, nicht Strukturen oder gar »Systeme« sind es, die Ideen haben und diese umsetzen, sondern immer einzelne Individuen, auch wenn sie häufig im Verborgenen bleiben. Und doch kann in moderner Zeit selbst das Individuum nicht mehr einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Ein Schlüsselproblem der Moderne scheint darin zu liegen, dass das Individuum, das von ihr freigesetzt worden ist, keine Selbstbeziehung gewinnt oder sie immer aufs Neue verfehlt, und dies nach zwei Seiten hin: als Selbstverlust, der keine gewählte, souveräne Selbstlosigkeit ist; als Selbstsucht, die keine gewählte, souveräne Selbstbeziehung ist. Daher geht es in der Lebenskunst zuallererst um die Beziehung des Individuums zu sich selbst, deren Verfehlung zur Folge hat, dass auch die Beziehungen zu anderen nicht mehr zustande kommen. Lebenskunst ist die Sorge um ein maßvolles Selbstverhältnis, das in der Lage ist, das Selbst zu festigen und zu anderen hin zu öffnen.
Als grundlegende Aufgabe der Selbstbeziehung erscheint die Begründung eines »Wir« – zunächst jedoch nicht in der Beziehung zu anderen, sondern innerhalb des Individuums selbst. Denn ein »Ungeteiltes«, wie das Wort glauben macht, ist das Individuum längst nicht mehr, daher die Arbeit am Wir im Selbst. Insofern das Ich selbst bereits eine Vielheit ist, finden sich in ihm alle Fragen und Probleme einer Gemeinschaft und Gesellschaft, die der Integration in einer Art von Wir bedürfen, um das Leben und Zusammenleben zu ermöglichen. Die kunstvolle Gestaltung des Selbst und seiner Existenz setzt daher mit der Gestaltung der inneren Bindungen und Beziehungen ein, und das ist das eigentliche Thema dieses Buches. Damit gibt das Selbst sich selbst Struktur und Form und macht sich und sein Leben zum Kunstwerk. Mit dem Zustandekommen des inneren wird die Arbeit an einem äußeren Wir neu begründet. Erst auf der Grundlage einer Einsicht in seine Bedeutung wächst die Bereitschaft zu seiner Herstellung und Pflege. Zwar lässt sich weiterhin behaupten, der Mensch sei nun mal »von Natur aus« ein soziales Wesen, aber dies kann in moderner Zeit negiert, ignoriert und destruiert werden, alle Beschwörungen ändern daran nichts. Zwar hat die Moderne neben Freiheit auch Gleichheit und Brüderlichkeit, mithin Gemeinsinn und Gemeinschaft proklamiert, aber der Anspruch der Freiheit, die als Befreiung verstanden wird, vermag dies von Grund auf zu unterlaufen. Das Zerbrechen von Gemeinschaft geschieht überall dort, wo Individuen Gründe dafür sehen, sich aktiv von Bindungen und Beziehungen befreien zu sollen oder sie passiv durch mangelnde Pflege schwinden zu lassen.
Nur das Individuum selbst kann die Wahl treffen, ob es sich überhaupt, und in welchem Maße, der Arbeit an einem äußeren Wir widmen will, und das ist nicht zu bedauern, denn Wir-Formen sind fern davon, unschuldige Größen zu sein: Regelmäßig werfen sie Probleme der Unterdrückung auf, denn das einzelne Ich kann unter einem gemeinsamen Wir zurückgedrängt und zum Verschwinden gebracht werden; auch Probleme der Unterstellung, denn hinter der Rede vom Wir kann sich ein einzelnes Ich verbergen, das für sich das Ganze beansprucht und andere zu diesem Zweck nur vereinnahmt. Das sind nicht zwangsläufig Argumente gegen ein Wir, aber Argumente für eine gewisse Vorsicht im Umgang damit. Dazu dient die Ausbildung einer Individualität, die nicht blind in Gemeinschaft aufgeht, sie aber auch nicht einfach nur abtut, sondern aus freien Stücken neu begründet. Die doppelte Arbeit am Wir ist letztlich eine Herstellung von Sinn, nämlich von Zusammenhängen im Inneren des Selbst wie außerhalb. Denn wenn es zutrifft, dass Sinn dort ist, wo Zusammenhänge erfahrbar und nachvollziehbar sind, muss der Verlust des inneren und äußeren Wir ein Grund für die Erfahrung von Sinnlosigkeit sein. Die Arbeit am inneren und äußeren Wir begründet umgekehrt eine starke Erfahrung von Sinn: So wie innere Zusammenhänge dafür sorgen, dass im Selbst verschiedene Stimmen sprechen können, so äußere dafür, dass es nach außen hin vielfältig vernetzt sein kann.
Mag die Selbstbeziehung gewöhnlich parallel zu den Beziehungen zu anderen entstehen, so ist in Zeiten der Auflösung von Gewöhnlichkeit doch beim Selbst der Anfang zu machen. Nicht über andere, nur über sich kann das Individuum selbst im Zweifelsfall verfügen. Ein »systemisches«, auf das System der Beziehungen aufmerksames Verständnis des Selbst wäre daher um die Beziehung, die ein Selbst zu sich selbst unterhält und in wachsendem Maße erst selbst begründen muss, zu ergänzen. Aus guten Gründen galt in der antiken Philosophie das Erlernen des Umgangs mit sich selbst als Grundlage für den Umgang mit anderen: Denn nur der, der den Umgang mit sich selbst zu gestalten weiß, ist fähig zur Gestaltung des Umgangs mit anderen. Die Ethik des Umgangs mit sich sollte daher kunstvoll, das heißt durchdacht und gestaltet, nicht kunstlos, also unüberlegt und zufällig sein. Seit Aspasia, Sokrates, Platon steht hierfür der Begriff der Selbstsorge, epiméleia heautoũ. Daran lässt sich anknüpfen, um darüber nachzudenken, was unter Bedingungen der Moderne und im Hinblick auf eine andere Moderne daraus werden kann. Denn moderne Ethiken haben weitgehend darauf verzichtet – als würde sich der Umgang mit sich von selbst verstehen; als könnte nur der Umgang mit anderen ein seriöser Gegenstand von Ethik sein. Dass daran schon im Ansatz etwas falsch sein muss, erweist die ungehinderte Evolution des Egoismus, der dieser Ethik Hohn lacht.
Daher nun der Versuch, die endlose moralische und immerzu fruchtlose Aufforderung zur Überwindung des Ich gerade durch dessen Bestärkung zu überwinden, es in seinem Ego selbst dazu zu befähigen, von sich absehen zu können, und dies nicht aus moralischen Gründen, sondern aus dem Eigeninteresse des Selbst heraus: Aus Egoismus zu dessen Milderung und zur gelegentlichen Abkehr von ihm, um der Klugheit willen, die aus eigenem Interesse die Zuwendung zu anderen sucht; um der Freiheit willen, die über alle Befreiung hinaus der Freiheit Formen gibt; um der Schönheit willen, die die Begegnung mit anderen grundsätzlich als bejahenswert wahrnimmt. Dieser Ansatzpunkt soll hier erprobt werden: vom Wir zurück zum Ich und zu seiner Sorge für sich selbst, um auf andere Weise vom Ich zum Wir und zur Sorge für andere zu kommen. Durchaus ist in dieser Sicht das Ich zuallererst für sich da. Aber gerade dann, wenn es das Dasein für sich in ausreichendem Maße realisiert, macht es die Erfahrung, dass es allein für sich kaum leben kann, inneren Reichtum nicht so sehr aus sich gewinnt und anderer auch noch aus anderem Grund bedarf: Nur im Umgang mit anderen sind neue Ressourcen für den Umgang mit sich selbst zu erschließen. Daher die Sorge für andere und die Herstellung von Gemeinsamkeit mit ihnen: aufgrund der Sorge für sich selbst. Dass eine sinnvolle Selbstbeziehung entsteht, ist die Grundlage für die Beziehung zu anderen, der Nukleus aller denkbaren Weiterungen des »Wir«: Paar, Familie, Freundeskreis, Haus, soziale Gruppierung, Institution, Firma, Gemeinde, Stadt, Gesellschaft, Nation, Generation, Kulturzugehörigkeit, Menschheit, Wesenheit. Im selben Maße, in dem ein Selbst die Beziehung zu sich gestaltet, wird es fähig zur freien Gestaltung der Beziehung zu anderen, und darum geht es bei der Arbeit an sich selbst, soll sie nicht bloßer Selbstzweck bleiben. Man sollte sich davon lösen, dies für unverantwortlichen Egoismus zu halten.
Bei dieser Arbeit kann ein »Handbuch der Lebenskunst« behilflich sein: nicht als definitive, sondern als provisorische Handreichung für das moderne und andersmoderne Leben. Seine Absicht ist keine normative, richtiges Leben festlegende, wie einst in der Antike in Epiktets Handbüchlein (Encheirídion), sondern eine optative, Optionen eröffnende: etwas, das zur Hand ist, wenn Lebensfragen sich stellen; hermeneutischer Stoff, mit dessen Hilfe der je eigene Lebensvollzug durchdacht werden kann. Die Philosophie kann Vorschläge zum Verständnis und zur Gestaltung des Lebens machen, ausgehend von der zweifachen Frage, was als grundlegend für das Leben erscheint und welche Möglichkeiten des Umgangs damit es gibt. Das Selbst ginge fehl, begriffe es seine Situation als eine ausschließlich individuell bestimmte, während übergreifende Strukturen und Denkweisen seine Verfassung, sein Leben und Denken beeinflussen – das wiederum muss nicht zu der Annahme führen, dass diese auch sein Leben leben. So wird das Handbuch zu einem Kompendium der Bedingungen, mit denen das individuelle Leben wohl zurechtkommen muss, sowie der Möglichkeiten, mit deren Hilfe es dennoch zu gestalten ist. Sein Anliegen ist dabei nicht so sehr, »Neues« zu bieten, sondern explizit zu machen, was implizit ohnehin gewusst wird, und eine Synopse zu unternehmen, eine Zusammenschau all dessen, was für die bewusste Lebensführung von Bedeutung sein kann. Ein Panorama lässt sich auf diese Weise entwerfen, eine integrale Sicht des Selbst, ein Blick auf die gesamte Landschaft des Lebens unter der Perspektive der Lebenskunst. Vom Selbst ausgehend und es in konzentrischen Kreisen letztlich doch weit überschreitend, sollen möglichst viele Aspekte von Selbst und Welt im Hinblick darauf erschlossen werden: pragmatische und wissenschaftliche, geschichtliche und zeitgeschichtliche, kulturelle und gesellschaftliche, psychologische und anthropologische, terminologische und epistemologische.
Die Vorgehensweise ist eine phänomenologische im Sinne des Wortes: das Phänomen (phainómenon) des Lebens, wie es erscheint, so genau wie möglich wahrzunehmen und aufmerksam zu erfassen, um ihm auf logische Weise Rechnung zu tragen: nämlich seine Strukturen zu erschließen (lógos im strukturellen Sinne) und auf schlüssige Begriffe zu bringen (lógos im verbalen Sinne). Ausgangspunkt ist jeweils die empirisch gesättigte Beschreibung: Die Nähe zum Phänomen, wie es im Lebensvollzug erfahrbar ist, wird zum Maßstab der Begriffsbildung; mit der begrifflichen Formulierung gewinnt das diffuse Phänomen Form, mit der Form wird es gedanklich fassbarer und handwerklich handhabbarer; die Begrifflichkeit gehört daher zum Handwerkszeug der Lebenskunst. Mit dem steten Hin- und Hergehen zwischen der Nähe zum Phänomen, die sehr persönlich sein kann, und dem Blick darauf von außen, der auf Distanz bedacht ist, entsteht ein Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis: Im Bewusstsein lässt sich das Sein durchdenken, um es besser zu verstehen und gegebenenfalls zu verändern. Die phänomenologische Vorgehensweise wird dabei um eine hermeneutische ergänzt, Hermeneutik verstanden als Kunst der Deutung und Interpretation, um deutlich zu machen, dass nicht »die Wahrheit des Lebens schlechthin« zur Debatte steht. Die Frage nach Sinn, nach Zusammenhängen, nach Bedeutsamkeit, Gewichtigkeit, Unverzichtbarkeit für das Selbst und sein Leben deutend anzugehen, lässt andere Möglichkeiten der Deutung von Grund auf offen. In der Begegnung mit den Phänomenen des Lebens und im deutenden Umgang damit, im deutenden Umgang auch mit sich selbst, lassen sich die Mühen bewältigen und die Lüste bestärken, die beide das Glück der Fülle eines schönen Lebens ausmachen, abseits allzu simpler Konzepte der Lebensverschönerung, von denen der Begriff ebenfalls in Beschlag genommen wird.
Und doch kann ein Unbehagen an der Selbstbeziehung entstehen, wenn sie dermaßen ins Zentrum gerückt wird; und dies aus mehreren Gründen: Jede Konzentration auf den Umgang mit sich birgt die Gefahr einer Vereinsamung des Selbst in sich. Auch wenn die Beziehungen zu anderen stets im Blick behalten werden, so ist doch unentwegt vom Selbst die Rede – der bisweilen eisige Eindruck, den dies hervorruft, ist ein deutliches Indiz dafür, wie wenig das Selbst nur für sich selbst da sein kann: Nur in der Beziehung zu anderen wird es sich seiner eigenen Existenz gewiss. Und die Rede vom Umgang mit sich riskiert den Vorwurf einer Vereinfachung des Selbst und seines Lebens noch aus anderen Gründen: Ist denn das Selbst etwa theoretisch zu entschlüsseln und das Leben theoretisch zu erlernen? Aber es kann nicht darum gehen, eine Theorie zu entwerfen, deren Ableitung das praktische Leben nur wäre. Zweifellos gilt der Grundsatz, dass das Leben nur durch Leben zu erlernen ist; allerdings auch, dass ein gelegentliches Innehalten und Nachdenken zur Orientierung hierbei sinnvoll erscheint: erst das Leben, dann das Philosophieren, primum vivere, deinde philosophari. Zum endlosen Grübeln muss das Nachdenken nicht werden, denn das Leben kann nicht aufgeschoben werden, bis definitive Klärungen erfolgt sind, und alle Versuche zur Klärung der im Lebensvollzug auftauchenden Fragen und Probleme können die Totalität des Lebens letztlich nicht einholen. So unverzichtbar der Prozess der Klärung und Aufklärung ist, so unerreichbar erscheint eine letzte Wahrheit, und dies keineswegs nur, weil das Leben dafür zu kurz ist, sondern auch, weil sie nicht wirklich wünschbar sein kann: Was wäre ein Leben, das gänzlich transparent erschiene? Einige Spannung bezieht es daraus, immer wieder anders auszufallen als vom Denken gedacht.
Bleibt noch die Frage, ob nicht eine Verkünstlichung des Selbst droht, wenn auf allzu technische Weise von ihm die Rede ist. Von »Techniken« im Umgang mit sich selbst zu sprechen, lässt sich aber nicht vermeiden, da sie es sind, die auf den Verlust des »natürlich« erscheinenden Selbstbezugs antworten können. Zur Kunst wird die Selbstbeziehung erst dann, wenn sie nichts Künstliches mehr an sich hat, sondern zur »zweiten Natur« geworden ist und zu einer neuen Fülle führt, die sich entfalten kann, da das Selbst sich mit sich selbst befreundet. Denn wie mit einem wahren Freund kann der Umgang mit sich selbst gestaltet werden: freimütig und offen, reichhaltig und vielfältig, nicht langweilig und zuweilen rätselhaft; zuweilen geht es darum, sich zu schonen und zu pflegen, denn ohne Erholung wird keine Mühe zu bewältigen sein; zuweilen sich zu mühen und sich herauszufordern, denn im Genuss allein wird das Glück nicht zu finden sein. Immer wieder versucht das Selbst, Distanz zu sich zu gewinnen, um wie von außen auf sich zu blicken, nicht nur in sich zu ruhen, sondern auch aus sich herauszugehen, asketisch und ekstatisch, liebevoll und ernst, leidenschaftlich und selbstironisch, ängstlich und mutig, nachsichtig und unnachsichtig, emotional und reflektiert, überlegt und manchmal unüberlegt, ohne Scheu vor einer Dummheit, denn Klugheit entsteht auf diese Weise.
Der Inspiration auf dem Weg dazu dient dieses Buch, das von der Begründung und Gestaltung einer Beziehung zu sich handelt. Den wirklichen Umgang mit sich festzulegen, liegt dann in der Hand jedes Einzelnen. Das Unbehagen an der Selbstbeziehung aber hat seinen Grund nicht zuletzt in einer Konfrontation mit der Abgründigkeit des Selbst, die im Umgang mit sich früher oder später fühlbar und als beängstigend erfahrbar wird; ja, mit der Erfahrung der Angst beginnt der Umgang mit sich selbst überhaupt. Den entscheidenden Anstoß zur Klärung der Beziehung zu sich und zur Begründung von Lebenskunst gibt, wenn sonst nichts, dieses Phänomen.
Reines Vergnügen hoch oben auf dem Riesenrad, gemeinsam mit anderen in einer Gondel, schwebend über aller Welt, ein wenig schaukelnd im Wind. Das Rad steht still, unten steigen Leute ein und aus. Da packt mich plötzlich, ohne Vorwarnung, ohne jeden Grund, die nackte Angst. Binnen eines Moments schlägt die übermütige Freude um in die entsetzliche Erkenntnis, dass ich mich hinunterstürzen werde, dass ich zerschmettert da unten liegen werde, dass nichts mich davon abhalten wird. »Mich«? Welcher Dämon hat mich gepackt? Was ist es, das mitten in mir Besitz von mir ergreift? Ich weiß es nicht, ich kenne »es« nicht, bin ihm noch nie begegnet, spüre nur mit grausamer Gewissheit, dass es übermächtig ist. Todesangst durchzuckt mich, lässt meinen Puls rasen, treibt kalten Schweiß auf meine Stirn; meine Hände versuchen, sich in die Bank zu krallen, auf der ich sitze, vergebens. Selbst wenn es gelänge: »Es« würde sie lösen, »ich« würde mich hinunterstürzen, und den Zurückbleibenden würde es für immer ein Rätsel bleiben, warum er, warum dort, und warum überhaupt…
Warum kein Wort zu irgend jemandem, kein Hilfeschrei? Weil das Leben sich nur noch von Sekundenbruchteil zu Sekundenbruchteil weiter quälen kann; weil ein Quäntchen Kraft übrig sein müsste, um sich auch nur zu rühren – genau dies aber würde der Augenblick der Unaufmerksamkeit sein, auf den der Dämon lauert, ein tödlicher Moment, in dem das Diabolische in mir obsiegt hätte. Alle Lebenskunst reduziert sich jetzt darauf, den nächsten Moment noch zu überleben. Auf nichts sonst konzentriere ich mich, nur für diese Winzigkeit reicht noch die Kraft. Die erschrocken prüfenden Augen der anderen helfen mir nicht beim Kampf mit diesem Anderen in mir, das gleichfalls das Selbst für sich beansprucht. Ich selbst muss, wenn ich dazu noch fähig bin, diesen Moment überstehen, und vielleicht den darauf folgenden… Warum nur dauert es so qualvoll lange, bis das Riesenrad auch nur ruckt, dieses Rad des Entsetzens? So muss im Mittelalter gefoltert worden sein, langsam, grausam, jede Faser des Selbst einzeln zerstörend. Dann, plötzlich, ist es vorbei, ich betrete den Boden wieder, den ich vor Freude küssen möchte. Die Knie zittern, und ich muss zusehen, wie damit nun zu leben ist. Ich entscheide, die Erfahrung zunächst auf sich beruhen zu lassen, sie in mir zu bewahren als mein Eigentum, nicht ihr nachzugehen, sie nicht zu analysieren, mit niemandem darüber zu reden. Stattdessen die Einrichtung des Lebens für wichtiger zu halten als die Frage nach dem Grund, der Lebenskunst den Vorzug zu geben, ein Gegengewicht zu schaffen, Gewohnheiten zu pflegen, Schönes zu suchen, um die Angst auszubalancieren. Dann wird gelegentlich die Zeit und Sicherheit da sein zu klären, was geschehen ist – wenn überhaupt.
So verliert die große, entsetzliche Angst ihre Kraft, aber klein und alltäglich kehrt sie immer wieder. Mitten auf dem Gehsteig überfällt sie mich, irgendwelche Angst, Lebensangst, Weltangst; ich weiß nicht recht, wie mir geschieht. Sie ist diffus wie ein Nebel. Ein Loch tut sich in mir auf, die Welt um mich herum versinkt zum tristen Nichts. Wenn ich jemandem davon erzähle, reicht es zu einem verständnisvollen Nicken, andere nehmen gleich Reißaus, denn die Angst ist »negativ«, sie »zieht herunter«. Angst macht einsam. Und doch unternehme ich nichts gegen sie, lasse sie gewähren, gebe mich ihr hin, wenigstens für einige Zeit, genügen ihr ein paar Tage? Ich will sie nicht überspielen, nicht betäuben, sondern in mich aufnehmen und durchstehen. Die Angst erscheint mir schließlich sogar wertvoll, ich kann ihr und mir Fragen stellen: Was ist es, das Angst macht; welche Zusammenhänge in mir selbst und in der Welt, in der ich lebe, treiben sie hervor? Gibt es ein Leben ganz ohne Angst? Was ist Angst, was ist Leben? Die Angst ist ein Anlass, nachdenklich zu werden, ein philosophischer Moment per se, ein Blick in Gründe und Abgründe.
Gewöhnlich wird das Leben an der Oberfläche der Alltäglichkeit gelebt, aber unterhalb der Oberfläche tun Abgründe sich auf: Abgründe an Verzweiflung und Sinnlosigkeit, an Unglück und Tragik, an Bösem und »Unmenschlichem«, Abgründe an Banalität. Die Erfahrung des Abgründigen durchbricht das Gewöhnliche und die Gewohnheiten, in denen das alltägliche Leben wohnt. Im gewöhnlichen Alltagstrott, seiner Unreflektiertheit, seiner Eintönigkeit und Langeweile, kann es vorkommen, dass dieses Durchbrechen herbeigesehnt wird. Dies kehrt sich jedoch ins Gegenteil um, sobald das Abgründige wirklich aufbricht: In der Erfahrung des Abgründigen wird die Oberfläche des Gewöhnlichen erneut herbeigesehnt, Indiz für eine wechselseitige Bedingtheit. Die abgründige Erfahrung aber, die jede und jeder kennt, ist die Angst. Angst ist kein Privileg. Zur Angst sind alle Menschen fähig, sie kommt zu jedem auch ganz ungefragt, und sie scheint erstaunlich gerecht verteilt zu sein, erfasst Mächtige wie Ohnmächtige, Arme wie Reiche, und gerade diejenigen besonders nachhaltig, die sich abgesichert gegen alles glauben. Von Ängsten weiß jede und jeder zu berichten, von Kind auf prägen sie das menschliche Leben, und die zugehörige Erfahrung wird schon im Lateinischen mit angustía bezeichnet: Enge, Engpass, Bedrängnis, Beschränktheit, missliche Lage; weiter zurückgehend auf das griechische Verb áncho: Ich werde eingeschnürt, gewürgt, gequält. Die Weite der Möglichkeiten reduziert sich auf eine einzige, in ihrer Enge bedrohlichen Wirklichkeit, von der sich nicht immer mit Gewissheit sagen lässt, ob es sich »wirklich« so verhält, aber für das Verständnis der Angst ist dies wohl auch nicht von Belang: Das Selbst fühlt sich in jedem Fall beengt, und dies in lebensbedrohlichem Maße, da ihm die Luft zu atmen wirklich abgeschnürt wird.
Angst ist erfahrbar als ein Gefühl, das von einer Bedrohung, von etwas, das unheimlich erscheint, ausgelöst wird; ein Gefühl, bei dem das Selbst sich als außerordentlich schwach und ausgeliefert erfährt, wozu es sich nicht gerne bekennt. Im inneren Machtspiel des Selbst ist Angst im Zweifelsfall stärker als das denkende Ich; entwicklungsgeschichtlich macht sie das ältere Recht geltend, die Auslösung des lebensrettenden Fluchtimpulses, und ihr Machtinstrument besteht darin, das denkende Ich keinen klaren Gedanken mehr fassen zu lassen und »Panik zu machen«. Um das Unfassbare fassbarer zu machen, werden diffuse Ängste auf einen konkreten Anlass reduziert, der vielleicht nichtig ist; sie werden in ein Problem projiziert, das inexistent sein kann. Im sozialen Gefüge müssen seit jeher ausgegrenzte »Andere« für diese Funktion der Simplifikation und Projektion herhalten: Einzelne Subjekte und ganze Kulturen versuchen ihren Stolz zu wahren, indem sie ihr Gefühl der Angst anderen zuschreiben, die als »schwächlich« gebrandmarkt werden. Im äußeren Machtspiel zwischen Menschen wird die Angst der einen zum Ansatzpunkt der Ausübung von Macht durch andere. Daher tut das denkende Ich bisweilen gut daran, das Aufsteigen der Angst in sich abzublocken, ihr im Einzelfall Rechtfertigung abzuverlangen, die nüchterne Analyse der beängstigenden Situation durchzusetzen, die wütende Angst wie einen Hofhund an die Kette zu legen, um ihre Fähigkeit zur Witterung bedrohlicher Situationen zu nutzen, ihre Impulse jedoch nicht so weit gehen zu lassen, das gesamte Selbst zu verbellen.
Auch wenn Angst jeden Menschen früher oder später einholt, so doch die der Angst entwöhnten Menschen der Moderne in besonderer Weise. Das ist misslich, denn gerade die Moderne sollte die bedrängenden Ängste endlich besiegen, um auf weltliche Weise zu realisieren, was ursprünglich ein christliches Anliegen gewesen war: In der erlösten Welt sollten die Menschen von Bedrängnis befreit sein. Vielleicht fällt der Aufstand der Angst in moderner Zeit umso empörter aus, je mehr in ihr versucht wird, Emotionen wie diese auszuschalten. Da die gewohnte Geborgenheit in Zusammenhängen der Tradition, Konvention, Religion und Natur verloren gegangen ist, werden abseits alter Ängste auch noch neue wach. Im Unterschied zu den vormodernen, voraufklärerischen vor Geistern, Gespenstern, Teufeln, einem strafenden Gott, Fegefeuer und Hölle richten sie sich nun auf die soziale Vereinsamung, die technische Entwicklung, die politischen und ökonomischen »Systeme«, die ökologische Zerstörung, die metaphysische Sinnlosigkeit. Der moderne Traum der rationalen Kontrolle und Beherrschung von allem generiert die neue Angst vor ihrem Verlust.
Beängstigend ist vor allem die moderne Freiheit selbst, denn sie ermöglicht auf neue Weise, das Leben zu verfehlen, sich in den von Befreiung eröffneten Möglichkeiten zu verlieren und die Verantwortung dafür sich selbst zumessen zu müssen. Ausgerechnet in der Moderne, die vormoderne materielle Existenzängste zurückgedrängt hat, macht sich ideelle Lebensangst breit, die Angst, ein Leben ohne Sinn zu leben. Herkömmliche Zusammenhänge und der Sinn, den sie vermitteln, sind fragwürdig geworden; Bindungen und Beziehungen, die diese Zusammenhänge konstituierten, haben sich aufgelöst, und Zusammenhänge selbst wieder herzustellen, wird noch nicht als Aufgabe begriffen. Selbst die »positive« Erfahrung von Wohlgefühl und Wohlstand kann sich noch ins »Negative« kehren und Phänomene der Ängstlichkeit und Sinnleere hervortreiben, da das Selbst »das Leben nicht mehr spürt«, nämlich dessen Spannung in aller Polarität. Wer das Leben zu einseitig auf »das Positive« festlegt, ängstigt sich im Übermaß, es zu verlieren oder gar nicht erst zu gewinnen; er ängstigt sich erst recht vor der Angst. Mitte des 20. Jahrhunderts konnte daher davon die Rede sein, die »Aufdringlichkeit des Angstphänomens« habe einen bisher nicht gekannten Grad erreicht.
Moderner Sicht liegt es nahe, Angst als Krankheit oder Störung, als pathologisch oder dysfunktional zu verstehen. Aber sie könnte wohlbegründet sein und »Sinn machen«: als Ahnung der Grundlosigkeit, der Fragwürdigkeit und Brüchigkeit von allem. Wenn eine grundlegende Polarität des Lebens diejenige zwischen Oberfläche und Abgründigkeit ist, dann gehört die Angst, in welcher Form und zu welcher Zeit auch immer, von Grund auf dem Leben zu; aussichtslos, jemals mit ihr fertig werden zu wollen: Diese tragische Auffassung der Angst widerspricht der funktionalen, aus deren Sicht nur eine »Dysfunktion« zu beheben wäre (vgl. Fritz Riemann, Grundformen der Angst, 1961). Wo das pathologische Verständnis der Angst an seine Grenzen stößt, gewinnt die tragische Auffassung an Plausibilität: Angst ist für sie der profunde Einblick in den Aufbau und die Zusammensetzung von Wirklichkeit und Welt, in das untergründige Sein, das gegenüber allem vordergründigen Schein faszinierend und erschütternd in seiner Nacktheit ist. Alles wird zu nichts in der Angst: das Selbst, seine Beziehungen zu anderen, die Welt als Ganzes – aber gerade dadurch tritt hervor, was unter Sinn verstanden werden kann. Die Angst lehrt, was Leben ist und was wesentlich ist – dadurch, dass es bitter entbehrt wird. Es ist merkwürdig, dass ausgerechnet die Erfahrung von Tiefen und Untiefen das Selbst zu befähigen scheint, zu anderer Zeit die Höhen des Lebens zu erklimmen. Aber nur wer »tief unten« ist, sammelt die Kräfte für den Weg »nach oben«. Am Anfang von so vielem ist die Angst.
Während sie in der antiken Philosophie noch als Charakteristikum eines »abhängigen Gemüts« (Seneca im fünften seiner Briefe an Lucilius über Ethik) verworfen worden war, zeigten sich Philosophen in moderner Zeit bereit, ihr Sinn zuzugestehen und sie anthropologisch, als Grundbedingung des Menschseins zu verstehen. Sören Kierkegaard (Der Begriff Angst, 1844) beobachtete, dass eine neue Form von Angst in der Moderne entsteht, da alle sozialen Bindungen und metaphysischen Bezüge sich auflösen. Die Erfahrung der Angst sei der »Schwindel der Freiheit« im entstehenden Nichts. Und doch gewinne der Mensch gerade in dieser Erfahrung ein nachhaltiges Verhältnis zu seiner Freiheit, sich selbst bestimmen zu können; daher sei die Angst die bestmögliche Lehrerin des Lebens. Martin Heidegger (Sein und Zeit, 1927) hielt sie aus ähnlichen Gründen für unverzichtbar, denn dadurch, dass der Einzelne sich auf sich selbst zurückgeworfen erfahre, »solus ipse«, erschließe sich ihm erst, was Existenz sei. Das mögliche Entgleiten des Seins mache das Sein als solches erst bewusst, sodass die Angst eine »ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins« sei. Und schließlich affirmierte auch Karl Jaspers (Philosophie, Band II: Existenzerhellung, 1932) die Angst als Grunderfahrung, die den Menschen in seinem Kern anspricht: Die Erfahrung der großen Verletzlichkeit der Existenz führe dazu, dass eine vordergründige Geborgenheit zusammenbricht und die Möglichkeit des eigentlichen Selbstseinkönnens zu entdecken ist. Auch Jaspers geht vom spezifisch Modernen der Angst aus, das aus der Auflösung des Halts des Einzelnen in sozialen und traditionellen Bindungen resultiert: »Eine so noch nie gewesene Lebensangst ist der unheimliche Begleiter des modernen Menschen« (Die geistige Situation der Zeit, 1931). Das Gefühl des Verlorenseins, »wie ein verlorener Punkt im leeren Raum zu versinken«, kann ihm zufolge sogar eine Flucht in Krankheit bewirken, um wenigstens noch negativen Halt zu erfahren. Dermaßen kann das Ausmaß der Angst anwachsen, dass ihre Lebbarkeit fraglich wird. Was kann da noch Lebenskunst sein?
Die Erfahrung der Angst ist unverfügbar, verfügbar ist lediglich die Haltung, die zu ihr eingenommen wird. Statt die Angst abzuweisen, kann die Haltung darin bestehen, sie aufzunehmen, um sich auf das Leben zu besinnen und es neu zu orientieren. Wird diese Haltung zugrunde gelegt, beginnt Lebenskunst nicht erst auf der intellektuellen Ebene des Bewusstseins, sondern auf der existenziellen Ebene der Angst, wie sie jederzeit von jedem Menschen erfahren werden kann. Eine zwingende Notwendigkeit, den Stachel der Angst aufzunehmen, gibt es nicht; grundsätzlich auch keine Möglichkeit für andere, ein Selbst darauf zu verpflichten. Jedes einzelne Selbst hat selbst seine Wahl zu treffen und kann lediglich in der Vorbereitung hierauf die Hermeneutik der Angst zuhilfe nehmen, um über ihre Zusammenhänge und mögliche Bedeutsamkeit, ihren »Sinn« nachzudenken: womöglich Element der Polarität des Lebens und Moment seiner Orientierung zu sein, und dies gerade dadurch, dass sie das Leben in Frage stellt; im Selbst die Sensibilität entstehen zu lassen, die die Voraussetzung für das Entstehen von Klugheit ist; es herauszufordern, von der Gleichgültigkeit gegenüber seinem Leben abzulassen und die Sorge für sich wahrzunehmen.
Auf der Basis der Hermeneutik kann das Selbst seine Haltung zur Angst festlegen: Soll ihr Rechnung getragen werden? Soll sie eliminiert (besiegt) oder einfach nur akzeptiert (hingenommen) werden? Soll sie utilisiert (genutzt) werden, etwa für die Motivation, ein bestimmtes Ziel zu erreichen? Oder soll sie transformiert (umgewandelt) werden, etwa in eine »objektbezogene« Furcht, um ihr das Unheimliche zu nehmen und sie greifbarer zu machen? Die verbreitete Norm, sie überwinden zu müssen, ist in Wahrheit nur eine Option, allerdings eine, die in Bezug auf eine Einzelangst »Sinn macht«, nicht in Bezug auf die Angst überhaupt: Wer die Angst schlechthin besiegen will, bestärkt sie nur; schon das kleinste, alltäglichste Ängstigen gerät fortan zur großen Störung. Gelänge der »Endsieg«, erwüchse daraus ein Problem, da ein entscheidendes Korrektiv fürs Leben damit verloren ginge: Das Selbst, das keine Angst zu empfinden vermag, ist auf Schritt und Tritt bedroht, da es nicht in der Lage ist, Gefahren wahrzunehmen. Die Schwäche der Ängstlichkeit begründet auch ihre Stärke.
Mit seiner Haltung zur Angst entscheidet das Selbst zugleich über seine Haltung zum Leben. Denn die Angst wirft die Frage nach dem Leben als Ganzes auf; alle Angst ist im Grunde Lebensangst: Angst um das Leben, das eigene wie das anderer, an denen dem Selbst sehr viel liegt; und Angst vor dem Leben, seinen Ungewissheiten und Herausforderungen, Verletzungen und Enttäuschungen. Angst ist die »negative«, schmerzliche, missliche, schlimme Erfahrung schlechthin, die Fragen an das Leben aufwirft: Was ist eigentlich Leben? Was ist mein Leben? Gibt es etwas darin, das Angst macht? Ist es die Einrichtung des Lebens, die Angst hervortreibt? Lässt sich daran etwas ändern? Das Leben selbst sorgt für die Fragen, und so beginnt die Suche nach Antworten; es sei denn, das Selbst versucht, um jeden Preis weiter so dahinzuleben – dann droht über den Zweifel hinaus die Verzweiflung, der Verlust jeglichen Vertrauens auf das Leben, und die Gründe dafür lassen sich nicht einfach abtun.
Die ängstliche Sorge aber, die ernst genommen wird, aktiviert das Eigeninteresse des Selbst und sorgt für eine erste Selbstaneignung, die darin besteht, sich nicht mehr nur der Bestimmung durch andere und äußere Verhältnisse zu überlassen. Aus der ängstlichen Sorge um sich selbst wird die kluge Sorge für sich selbst, mit Rücksicht, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht. Der Übergang zur klugen Sorge ist dadurch charakterisiert, dass das Selbst Distanz zu sich und zur eigenen Situation zu gewinnen vermag; dass es somit zur Reflexion seiner selbst und der Verhältnisse, in denen es lebt, in der Lage ist. Das Selbst begibt sich auf den Weg zur Bewusstwerdung, zur bewussten Lebensführung, zur Lebenskunst, vorausgesetzt, dass es die Momente der Bewusstheit, die sich ergeben, auch festhält, und sie nicht so rasch wie möglich wieder zu zerstreuen sucht. Das Leid wird zum Gedanken, der Gedanke aber führt zur Kunst des Lebens, zuallererst zu einer Kunst des Umgangs mit Angst.
Grundelement dieser Kunst ist die Kultivierung der Angst, um ein lebbares Maß zwischen ihrem Zuviel und Zuwenig zu gewinnen. Das kleinere Problem ist das Zuwenig, aber sehr wohl gibt es dieses Zuwenig der Angst – es zeigt sich daran, dass die Anlässe zur Angst umso mehr gesucht werden, je mehr diese gemieden und »besiegt« werden soll. Sobald ein bestimmtes Quantum an Angst unterschritten wird, scheint das Leben unerträglich flach und spannungslos zu werden. So könnte es sein, dass die menschliche Existenz in jedem Fall der Angst bedarf, egal wovor. Dem lässt sich durch die Sicherstellung eines existenziellen Angstquantums begegnen, etwa dadurch, sich vorsätzlich in Situationen der Angst zu begeben – die sehr verbreitete Liebe zu Krimis und Gruselfilmen, zu Abenteuersport und Extremsituationen lässt sich auf diese Weise erklären. »Das Leben« selbst spürt den Mangel und bemüht sich gegenzusteuern. Hatte ich selbst einen zu großen Mangel an Angst?
Aber der, der Angst hat, hat sie oft im Übermaß, so sehr sogar, dass das Leben fraglich wird. Die weitaus größere Schwierigkeit der Kultivierung ist daher die Bewältigung des Zuviel. Die Kunst des Umgangs mit Angst kann hier zunächst eine pharmakologische sein, wenn auch mit größter Vorsicht und Zurückhaltung: Die Rolle von Psychopharmaka zumindest für die akute Verminderung extremer Ängste ist kaum zu negieren, und doch kann sie aufgrund der »Nebenwirkungen« keine dauerhafte Antwort sein. Zur weitaus wichtigeren Kunst wird somit die dialogische, die Kunst des Gesprächs, mit sich selbst, mit anderen, mit Freunden und »Experten«, mit denen ein solches Gespräch geführt werden kann. Das Gespräch gibt der Angst den Raum, in dem sie ernst genommen wird, ausgesprochen werden kann und sich selbst ausspricht. Die Äußerung sorgt für eine Distanzierung, somit für eine »Objektivierung«. Mit jeder Formulierung gewinnt die Angst im Gespräch Form und somit Fassbarkeit, und die Anwesenheit des anderen gibt dem ängstlichen Selbst Halt. Im Gespräch lässt sich den persönlichen Gründen für eine Angst nachspüren, ebenso ihrer möglichen Bedeutung für das eigene Leben, für menschliches Leben überhaupt. Gesprächsweise lässt sich das Phänomen in den Horizont der Zeit einbetten, um den unmittelbar Betroffenen davon zu entlasten: Gerade der moderne Ausschluss der Angst führt vielleicht dazu, dass sie im einzelnen Selbst, das sie stellvertretend für andere zu ertragen hat, exzessiv und scheinbar grundlos wiederkehrt.
Was die Angst zeitweilig heilen kann, ist der Genuss der Lüste der fünf Sinne, der Sinnlichkeit des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, insbesondere aber des Tastens. Der kunstvolle Umgang mit Angst bedarf daher einer Kunst der Berührung, die viele Worte erspart; vor allem der zärtlichen Berührung, die eine Angst vergessen macht. »Kann ich näher bei Dir liegen, dann habe ich nicht mehr so viel Angst«, hören Eltern von ihren Kindern, und das Bedürfnis nach solcher Nähe verliert sich offenkundig auch bei Erwachsenen nicht. Berührung besänftigt Angst, und dies gilt für die körperliche ebenso wie für die seelische, geistige und metaphysische Berührung; der Grund dafür dürfte auf allen Ebenen derselbe sein: Jede Berührung vermittelt eine Erfahrung von »Transzendenz«, einer Überschreitung der engen Grenzen des Ich. Das Selbst fühlt sich nicht mehr metaphysisch einsam, und dieses Gefühl entspricht offenbar einer Wirklichkeit, denn mit der Berührung eines anderen wächst das Selbst über sich hinaus. Daher gilt es, die Bindungen und Beziehungen zu suchen und zu pflegen, die Berührung möglich machen: Bindungen der Liebe und der Freundschaft, der geistigen Beziehung und vielleicht des Bezugs zu einer Dimension der Transzendenz im weiteren Sinne, in der die Angst Platz findet und nicht ein für alle Mal »besiegt« werden muss.
Zur Mäßigung der Angst trägt ferner die Gewöhnung bei: Gewöhnung an die Angst, an den Anlass oder den Ort der Angst; Gewöhnung auch im Sinne einer Wiederherstellung der Oberfläche des gewohnten und gewöhnlichen Lebens, dieser relativen Festigkeit und Zuverlässigkeit, auf deren Grund und Boden sich das Leben in einem begrenzten Raum für überschaubare Zeit wieder einrichten lässt. Kinder sind natürliche Meister hierin, von ihnen lässt sich dies lernen, um es bewusst zur Anwendung zu bringen. Das Gewöhnliche und Normale wird hergestellt durch die Pflege der Gewohnheiten, deren Bedeutung umso größer wird, je geringer sie geschätzt werden. Gewohnheit ist konstruierte Stabilität, die selbst eine Instabilität zu leben erlaubt. Zwar wächst mit jeder Stabilität die Gefahr der Leblosigkeit, aber mit jeder Instabilität auch die der Unlebbarkeit. Gewohnheiten sind es letztlich, die einer grassierenden Sinnlosigkeit Einhalt gebieten können, denn in aller Subjektivität sorgen sie für die Wiederherstellung von Zusammenhängen des Lebens und gründen so selbst Sinn, jedenfalls den alltäglichen Sinn, in dessen Rahmen sich das Leben wohnlich einrichten lässt, und sei es im Garten am Rande des Abgrunds, um aus dem kultivierten Raum heraus besser über die Brüchigkeit allen Sinns nachdenken zu können.
Keine Angst davor, unwichtigen Dingen vorsätzlich Wichtigkeit beizumessen, um sich daran festzuhalten, vive la bagatelle! Wichtig ist das vielleicht oberflächliche, triviale und banale Schöne eines Films, eines Musikstücks, eines Cafébesuchs, eines Plauderns. Es liegt viel Weisheit darin, an einer Oberfläche festzuhalten, vorsätzlich oberflächlich zu sein und sogar eine Kunst der Oberflächlichkeit zu pflegen, wenngleich im Sinne der bewussten Lebensführung nur unter der Voraussetzung, die Oberfläche als solche auch wahrzunehmen. Eine Kultivierung der Oberfläche propagierte bereits Nietzsche in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1887, aus eigener abgründiger Erfahrung und in antiker Tradition: »Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben. Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!«
Der Erfahrung der Angst liegt jedoch womöglich eine andere Erfahrung zugrunde: die der Schwäche; ohne Schwäche keine Ängstlichkeit. Selbst der »Anfang der Philosophie«, archē philosophías, geht vielleicht auf die Wahrnehmung der eigenen Schwäche und des Unvermögens zurück, wie Epiktet im 1./2. Jahrhundert n. Chr. in seinen Unterredungen meinte (Diatriben II, 11). Neben, nach oder noch vor dem ontologischen Staunen über das, was ist und wie es ist und dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, markiert die Erfahrung der anthropologischen Schwäche und des Versagens angesichts dessen, was eigentlich Not tut, somit den anderen Anfang der Philosophie, des Innehaltens und Nachdenkens. Aus diesem abgründigen Grund heraus entfaltet sich die philosophische Aufmerksamkeit und Wachsamkeit mit all ihren Fragen und Argumenten, Methoden und Disziplinen; sie folgt der Schwäche und den Ängsten und kümmert sich um sie. Kommt darin ein Verlangen nach Überwindung jeglicher Schwäche zum Vorschein, das stoische Programm einer Besserung des Selbst bis hin zu seiner Perfektionierung? Aber die stoische, ebenso die christliche Auffassung vom Menschen, die beide eine Überwindung seiner Schwäche fest im Blick haben, setzen diese immerhin noch als grundlegendes anthropologisches Phänomen der asthéneia voraus. In der Moderne hingegen wird ein Krankheitsbild daraus: die Asthenie, wohl mit guten Gründen, jedoch mit der fatalen Folge, jede Schwäche bereits für Krankheit zu halten und mit unterschiedlichen medizinischen Mitteln darauf zu reagieren. In der Moderne klafft ein Abgrund zwischen dem obligatorischen Streben nach Perfektion, das ihrer Dynamik innewohnt, und der notorischen menschlichen Erfahrung, in keiner Weise perfekt, vielmehr schwach zu sein und versagen zu können. Alle Perfektionierung von Wissenschaft und Technik, von der die Moderne umgetrieben wird, lässt all das am menschlichen Leben, was dahinter zurückbleibt, als heillos defizient erscheinen.
Als Entbehren von »Saft und Kraft« wird die Schwäche alltäglich erfahren. Schwäche lässt sich jedoch genauer beschreiben als ein Verlust von Mächtigkeit, Mächtigkeit verstanden als ein Verfügen über Möglichkeiten, als Können in diesem Sinne, und dies erklärt auch die spezifische Schwäche des Versagens: etwas nicht zu können, jedenfalls nicht jetzt und vielleicht auch künftig nicht, es möglicherweise noch nie gekonnt zu haben. Schwäche ist die Erfahrung von Ohnmacht, und es ist erstaunlich, wie profund diese das Innere des Selbst zu durchdringen vermag, denn sie äußert sich nicht nur im Physischen und Psychischen, sie greift selbst aufs Geistige über, auf das hermeneutische Sinngefüge des Selbst, und entfaltet hier auf ruinöse Weise ihre Wirkung: Was immer als sinnvoll galt, erscheint nun als nichtig. Alles wird fragwürdig, auch das Selbst für sich selbst. Kann selbst der »Sinn«, insofern er einer Anstrengung bedarf, Zusammenhänge zu sehen und zu knüpfen, eine Frage von Kraft sein? Liegt der Grund dafür, dass die Kultur der Moderne so allergisch gegen Schwäche ist, darin, dass sie sich ohnehin nur mit Mühe der Sinnlosigkeit erwehrt? Ist sie entgegen dem äußeren Eindruck im Innersten ihrer selbst schwach und ohnmächtig?
Einzelne Menschen tragen diese Problematik in sich und glauben an ein persönliches Problem, das ihnen zu schaffen macht. Das spitzt sich in der Lebenshaltung junger Menschen zu, die bemüht sind, sich nur ja keine Blöße zu geben, keine Schwächen erkennen zu lassen, die geforderte Leistung penibel zu erbringen, alle Aufgaben perfekt zu lösen, »ganz normal zu sein«, Karriere zu machen, Erfolg zu haben, winner zu sein und niemals loser, vor allem aber: immer cool, auf ganz unphilosophische Weise stoisch, scheinbar unbeeindruckt von allem, unberührt, auch unberührbar in jeder Hinsicht. Zugleich leiden sie unter der Erfahrung von Schwäche, da sie sich eines Könnens nicht für mächtig halten. Der Kraftaufwand, die Fassade der Kraft andauernd aufrechtzuerhalten, ist immens, zweifellos ein Wettbewerbsnachteil auf dem Weg zum angestrebten Ziel, stark zu werden, jedenfalls auf längere Sicht. Andersmodern wäre es, trotz allem die Schwäche zu leben, sie gewähren zu lassen wenigstens für einen Moment, sie sich und anderen einzugestehen, im vertrauten Kreis oder im Kreis von Betroffenen, auch in einem therapeutischen Kontext, um das Unvermögen oder gar Versagen als Möglichkeit seiner selbst in den Blick zu nehmen. Nicht defensiv, sondern offensiv, nicht um einen Vorwurf an »die Gesellschaft« zu adressieren, sondern um das gesellschaftliche Verhältnis gegenüber Schwäche und Versagen individuell und im Verbund mit anderen durch einen veränderten eigenen Lebensvollzug zu korrigieren. Die andere Moderne wird eine schwache und in ihrer Schwäche stärkere Moderne sein.
Wenn der Kern der Schwäche die Erfahrung von Ohnmacht ist, dann läuft die Strategie, ihr zu begegnen, auf den Gewinn von Macht hinaus, Macht im Sinne von Können. Auch wenn es nicht darum gehen kann, jegliche Ohnmacht, jeglichen Mangel an Können für immer hinter sich zu lassen, so doch darum, die Ohnmacht partiell zu überwinden und auf diese Weise lebbar zu machen. Kein allumfassendes Können steht in Frage, mit dessen Anspruch und Unerreichbarkeit gerade junge Menschen sich konfrontiert sehen, sehr wohl jedoch ein exemplarisches Können, eine einzige Sache, auf die das jeweilige Selbst sich wirklich versteht, zugespitzt: Fußball zu spielen oder Rechenkünste zu üben oder Liebe zu machen, das jedoch gekonnt. Und stets erarbeitet sich das Selbst dabei ein Können im Umgang mit der Schwäche selbst, ein Schwachseinkönnen und Versagendürfen, das leichter fällt, wenn es ein Residuum der Stärke gibt. Da es ausgeschlossen ist, ein Können im Moment der Schwäche selbst zu erwerben, muss es vorweg erarbeitet werden. Es kann konserviert werden in der Haltung, die der Schwäche gegenüber grundsätzlich eingenommen wird; sie muss aber frühzeitig justiert werden, um im fraglichen Moment verfügbar zu sein.
Die Haltung zielt vor allem darauf, sich frei zu machen von der ständigen Anstrengung, stark sein zu müssen, frei von dem Aufwand, die Empfindung der Schwäche zu überspielen. Vielmehr vorweg sich sagen zu können: »Ich muss nicht brillieren, wozu auch? Um mir selbst und anderen etwas vorzumachen? Wozu soll das gut sein?« Gut ist eher der Verlust der Kraft, denn er ist von Bedeutung für ihren Wiedergewinn. Nicht so sehr in der Behauptung einer Kraft, die sich erschöpft hat, liegt die Möglichkeit ihres Wiedergewinns, sondern im Eingeständnis ihres Verlustes: Nur so kann sie sich erholen. Eine Dialektik von Stärke und Schwäche wird darin erkennbar: Je mehr das Selbst seiner Schwäche nachgibt, anstatt sie zu bekämpfen, umso eher gewinnt es die Stärke wieder, mit ihr zurechtzukommen, wenn auch nicht sie zu überwinden. Alle »Überwindung« kann nur ein temporäres, kein dauerhaftes Ziel sein, denn sporadisch kehrt die Schwäche wieder, ständig ist sie präsent, auf Dauer bleibt sie als Möglichkeit erhalten, ja sogar als Notwendigkeit, denn nicht die vermeintliche Stärke, sondern die Schwäche ist kreativ und produktiv: Sie treibt Sensibilität hervor, sie schärft das Bewusstsein, sie arbeitet an dem Werk, von dem das Selbst sich einen Zugewinn an Stärke verspricht. Die Notwendigkeit der Schwäche, mangels Stärke ungeschützt zu agieren, bricht verkrustete Strukturen auf und öffnet den Raum des Anderen, der Transformation: Neue Möglichkeiten der Gestaltung fliegen dem zu, der schwach sein kann. Neue Möglichkeiten der Begegnung kommen in den Blick, denn der, der schwach ist, öffnet sich für andere, wenn auch aus purer Not. Wer stark ist, bedarf anderer hingegen nicht – bis eine Schwäche ihn überkommt; dann aber ist er allein. Menschen scheitern an ihren Stärken eher als an ihren Schwächen; wahre Stärke ist daher, schwach sein zu können. Vielleicht gilt dies auch für die Philosophie, wenn einige Hoffnungen auf Lebenshilfe in sie gesetzt werden.
Es sind diese Hoffnungen, die Intellektuelle in Furcht und Schrecken versetzen: Die Suche nach »Lebenshilfe« einer wachsenden Zahl von Menschen trifft auf das Entsetzen der Gebildeten, die nichts damit zu tun haben wollen. Woher die Heftigkeit der Nachfrage, warum die Entschiedenheit der Verweigerung? Die Nachfrage rührt her von all denen, die sich in ihrer Lebensbewältigung auf sich selbst gestellt sehen, eine Folge der verlorenen Tradition, Konvention, Religion, die bis ins Detail des Alltags hinein definieren konnten, wie zu leben ist. Praktisches Lebenwissen wird in der Moderne nicht mehr von Person zu Person, von Generation zu Generation weitergereicht; die fortschreitende Befreiung hat diese Kette unterbrochen. So findet sich das Individuum allein in seinem begrenzten Lebenshorizont wieder, die Ressourcen eines überlieferten, gemeinsamen Lebenwissens bleiben ihm verschlossen und es beginnt danach zu fragen, wo Lebenshilfe zu bekommen sei. Die Situation wird verschärft von Ängsten und der Empfindung von Schwäche angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften und der stets neuen Herausforderungen durch Wissenschaft und Technik, auf die nicht von vornherein schon Antworten bereitstehen.
Eine ganze Skala von Lebensfragen bricht auf, Einzelfragen und grundlegende Fragen, bürokratische, gestalterische, therapeutische und existenzielle Fragen. Für die bürokratische