Mit Wind unter den Flügeln - Tanja Wenz - E-Book

Mit Wind unter den Flügeln E-Book

Tanja Wenz

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Beschreibung

Kennen Sie eigentlich Radegundis, Birgitta von Schweden oder Rosa von Lima? Wer diesen Frauen und ihrer Geschichte noch nicht begegnet ist, muss sie kennenlernen. Auch hinter den bekannten Namen wie Mutter Teresa, Hildegard von Bingen oder Johanna von Orléans verbergen sich spannende Geschichten: von mutigen Frauen, die mit dem, was sie getan und geglaubt haben, bis heute immer wieder neue Generationen inspirieren. Dieses Buch stellt sie vor: 16 Frauen, die mit ihrem Glauben den sprichwörtlichen Berg versetzten und Geschichte schrieben. Ihr Leben - ein Vorbild für viele. Sie nehmen uns mit auf eine aufregende Reise durch Zeit und Raum - auf eine Wanderschaft des Glaubens. In kurzen, spannend erzählten Anekdoten, Briefen, Verhören oder Monologen lernen wir sie aus ganz neuer Perspektive kennen: Die Visionärinnen, Vordenkerinnen, Mahnerinnen, Seherinnen und Vorbilder der Geschichte. "Mit Wind unter den Flügeln" erzählt von den großen Frauen des Glaubens, die das Leben vieler Menschen veränderten und die Kirche bewegten. Jede Geschichte ergänzt mit Steckbrief und spannenden Hintergrundinfos! Mit 16 große Frauen des Glaubens: Radegundis, Jutta von Sponheim, Hildegard von Bingen, Birgitta von Schweden, Katharina von Siena, Johanna von Orléans, Katharina von Bora, Teresa von Ávila, Rosa von Lima, Bernadette Soubirous, Therese von Lisieux, Edith Stein, Elisabeth Schmitz, Maria Terwiel, Mutter Teresa, Ruth Pfau

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Prolog

Reglos sitzt er da, hoch in den Wipfeln einer Tanne. Er hört einen Ruf. Langsam dreht der Falke seinen Kopf, blickt in alle Richtungen. Dieser Ruf ist mächtig. Er zieht ihn, leitet ihn. Er lauscht. Dann weiß er, was zu tun ist. Deutlich liegt sein Weg vor ihm. Mit einem Ruck drückt er sich vom Ast der Tanne ab und erhebt sich in den klaren Himmel.

Wind rauscht unter seinen Schwingen und trägt ihn über die Lande. Auf seiner Reise durch Zeit und Raum späht der Falke mit scharfen Augen nach unten, auf eine Welt, die ihm mal fremd und mal vertraut vorkommt. Er überfliegt dichte Wälder, große Städte, steinerne Brücken, azurblaue Meere und mäandernde Flüsse.

Er gibt sich ganz der Führung seines Herzens hin, das deutlich den Ruf vernimmt, immer noch, immer mehr. Er führt den Falken in ferne Länder und vergangene Zeiten, immer auf der Spur besonderer Frauen, die in ihrem Leben etwas bewegten. Er weiß, jede dieser Frauen hat einen einzigartigen Lebensweg beschritten, ist durch ihren Mut, durch ihren Glauben und vor allem durch ihr Handeln zu einem Vorbild für viele Menschen geworden. Mit seinen scharfen Augen betrachtet er ihre Welt, ist stiller Beobachter, Begleiter aber auch Führer. Gerade das, was er sein muss. Er nimmt Kurs auf sein erstes Ziel …

Wissenswertes Schon immer faszinierten Raubvögel die Menschheit. So steht beispielsweise der Adler für Stärke, Mut und ewiges Leben. Er wird weltweit mit Göttern in Verbindung gebracht. Der Falke steht ihm in dieser Beziehung in nichts nach. Er ist ein wendiger, kraftvoller Vogel, intelligent und mit scharfem Blick. Mehrere falkengestaltige Gottheiten existieren in der ägyptischen Mythologie [Horus (Himmel), Re (Sonne) und Chons (Mond)]. Er hat auch als Symbol der Pharaonen große Bedeutung. In der nordischen Mythologie trägt Freya ein Falkengewand. Mit ihm kann sie sich angeblich wie ein Falke durch die Lüfte bewegen oder sich gar in einen solchen verwandeln. Bei den Kelten zählte er als Botschafter zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Sokol wird er in der slawischen Mythologie genannt. Er ist eine Gestalt der Sonne und des Lichtes. Auch ist er bekannt für seinen Mut, seine scharfen Augen und seine Fähigkeit, in kürzester Zeit große Distanzen zu überwinden. Er wird auch als Vogel der Krieger bezeichnet oder gar als Figur, in die sich russische Männer verwandeln, denen eine schwierige Aufgabe bevorsteht.

Übrigens: Der Wanderfalke ist im Sturzflug mit 322 gemessenen km/h das schnellste Tier auf der Welt.

Radegundis:

Königin des Frankenreiches

»Jesus Christus war und ist immer mein Ansporn, er ist meine große Liebe. Alles andere interessiert mich nicht!«

Der Falke hat sein erstes Ziel in den Blick genommen. Sein Weg ist weit, doch er sieht es klar vor sich. Nach langem Flug erreicht er schließlich Poitiers und überfliegt ein großes Klostergelände. Nach nur wenigen Augenblicken findet er, wonach er suchte. Im weitläufigen Klostergarten geht eine Frau umher. Sie ist schlank und bewegt sich katzengleich. Sanft landet der Falke auf dem höchsten Turm des Klosters.

Radegundis geht im Klostergarten auf und ab. Sie nimmt sich eine Stunde für die Kontemplation. Normalerweise hätte sie heute Dienst im Krankenraum, denn heute ist der Tag, an dem die Aussätzigen von Poitiers ins Kloster kommen und versorgt werden. Es sind die Menschen, die sonst nirgendwo Zuspruch oder gar Pflege bekommen, doch Radegundis versorgt diese gern und sie entlässt keinen ohne Kuss.

Eine Mitschwester hatte sie darauf einmal angesprochen und entsetzt gefragt: »Wie könnt Ihr diese Menschen küssen? Kein anderer wird Euch mehr den Kuss darbieten, wenn er wüsste, dass Ihr Aussätzige küsst.«

Radegundis hatte ihr ganz eigenes Lächeln gelächelt, ein Lächeln voll liebenswerter Güte, aber auch Überlegenheit und Ironie, hatte ihre grünen, blitzenden Augen auf ihre Mitschwester geheftet und geantwortet: »Nun, da Ihr mir diese Frage stellt, frage ich mich gerade, ob ich Euch noch den Kuss darbieten möchte.«

Mit diesen Worten hatte sie ihre Mitschwester im Hospiz stehen lassen, während diese ihr nur sprachlos hinterher schauen konnte.

Ihre Schritte werden langsamer, ihr Gang ruhiger, sie blickt zum Klostergebäude hinüber und wartet. Nun, die Meinung von anderen hat Radegundis noch nie interessiert. Sie ist immer ihren eigenen Weg gegangen, zumindest soweit ihr das als Frau möglich gewesen ist. Wen sollte sie auch um Rat fragen? Obwohl sie schon so lange im Frankenreich lebt, gibt es kaum einen Menschen, dem sie vertraut. Von Venantius einmal abgesehen. Aber auch er stammt ja nicht aus Poitiers, sondern aus Venetien.

Radegundis hat kaum noch Erinnerungen an ihre alte Heimat Thüringen oder an ihre Eltern. Sie weiß, dass ihre Mutter schon früh bei der Geburt ihres Bruders gestorben ist und ihr Vater von ihrem Onkel ermordet wurde, als sie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war. So zumindest erzählte man es sich hinter vorgehaltener Hand. Offen gesprochen hat niemand mit ihr darüber. Aber das ein oder andere hat sie trotzdem mitbekommen.

Ihr erging es am königlichen Hof ihres Onkels nicht schlecht. Dort lernte sie Lesen und Schreiben und manches mehr. Der Weg dahin war aber gesäumt von Krieg, Tod und Leid. Sie schüttelt sich leicht, als sie daran denken muss. Es sind keine schönen Erinnerungen, die sie an diese Zeit hat. Überall lagen Tote und Verletzte herum. Pferde wieherten in Panik. Ein schrecklicher Anblick. Sie und ihr Bruder wurden von Chlothar I. in sein Reich an die Somme verschleppt, in das ihr völlig fremde Frankenreich. Chlothar I., ihr Ehemann, den sie heiraten musste, obwohl sie nie heiraten wollte. Chlothar I., Frankenkönig, Chlothar I., Brudermörder. Wieder durchfuhr sie ein kalter Schauer. Chlothar, vor dem sie geflohen war und der sie verfolgen ließ.

Es war eine gewaltige Umstellung für Radegundis, denn sie musste eine neue Sprache lernen und sie hatte alles verloren, was sie kannte und liebte. Bis auf ihren Bruder. Aber sie hatte auch Neues kennengelernt. Das Wertvollste darunter war wohl der christliche Glaube, Jesus Christus, dem sie folgte. Der ihr Trost spendete und sie auf einen ganz anderen Weg als bisher führte. Vergessen waren die heidnischen Götter, nun zählten nur noch Jesus Christus und das Reich Gottes. Voller Liebe dachte sie an die Gebete zu ihm, die Gemeinschaft mit anderen Christen. Sie hatte beschlossen, ihr Leben Gott zu weihen und nicht zu heiraten.

Noch immer wird sie rot vor Zorn, wenn sie daran denken muss, dass es Chlothar I. war, der ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Chlothar, immer wieder Chlothar, denn er begehrte sie zur Frau, besser gesagt er begehrte ihre thüringischen Erbansprüche, die sie noch immer hatte. Ihr Blick wird etwas milder. Nun ja, sie hat das Beste aus ihrer Ehe gemacht, da ist sie sich sicher.

Die Rosen im Spalier verströmen ihren betörenden Duft und holen Radegundis aus ihren Erinnerungen zurück. Sie bleibt stehen und genießt eine Weile die wärmende Sonne. Wann endlich kommt Venantius? Venantius Fortunatus, der Priester des Klosters, Berater, Freund und Glaubensgenosse. Er hat vor, zu ihr zu kommen, um Briefe mit ihr zu besprechen. Der gute Venantius! Es ist ihr immer eine Freude, mit ihm zu plaudern. Nicht nur über die Briefe an hochgestellte Persönlichkeiten, sondern auch ganz allgemein über das Leben innerhalb und außerhalb der Klostermauern. Wenn sie es recht bedachte, war es oft ein richtiger Tratsch, den sie zusammen abhielten. Doch gerade das tat so gut! Venantius hatte aber auch die wunderbare Gabe, andere Menschen parodieren zu können. Es war so herrlich, wie er die näselnde Stimme der Äbtissin im Kloster Metz nachahmte oder den Gang ihres Gemahls Chlothar. Wie er den Zeigefinger auf eine bestimmte Art beim Reden oder Rezitieren hob, wedelte und senkte. Radegundis hatte oft Tränen gelacht. Das Schöne an der Freundschaft und Vertrautheit zu Venantius war, dass sie beide schweigen konnten wie ein Grab. Wenn sie über König Chlothar oder über die neue Äbtissin im Kloster witzelten, blieb das alles unter ihnen. Sie vertrauten sich blind, und das war einmalig. Keinem anderen Menschen würde sie so viel von sich anvertrauen.

Radegundis lächelt wieder still in sich hinein. Auch eine Frau hat ihre Macht. Sie braucht dafür keine Waffen, keine Pferde und kein Gold. Sie muss nur eine gute Menschenkenntnis haben und die richtigen Hebel ansetzen und schon bekommt eine Frau, was sie begehrt, in ihrem Fall ein eigenes Kloster. Obwohl der Prozess bis hierhin, wie sie zugeben muss, doch etwas langwieriger war als sie gehofft hatte, denn Chlothar ist in der Tat etwas schwer von Begriff. Sicher liegt es daran, dass er schon betagt an Jahren ist und das war ja auch schon so gewesen, als sie ihn hatte heiraten müssen.

Aber letztlich hatte sie ihn dahin bekommen, wohin sie ihn haben wollte, nämlich außerhalb ihres Bettes. Anscheinend musste sie auf ihn eine geradezu betörende Anziehung ausgeübt haben, obwohl sie dazu selber nie aktiv Anlass gegeben hatte. Sie hatte nie, wirklich niemals heiraten wollen und hatte das auch vehement kundgetan. Chlothar jedoch hatte sie gezwungen. Vielleicht war es ihre innere Unabhängigkeit, die er so geschätzt hatte, redete sie sich manchmal ein, wenn sie es in den wenigen Minuten ihres gemeinsamen Lebens gut mit ihm meinte, oder aber ihr Erbe, oder ihr frisches Fleisch, wenn sie es nicht gut mit ihm meinte. Gerade diese Unabhängigkeit wurde ihm eines Tages zum Verhängnis.

Radegundis Lächeln wird hart, als sie daran denkt, dass er meinte, mit ihr sein übliches Machtspiel spielen zu können und darüber hinaus mit ihren Mitmenschen verfahren zu können, wie es ihm beliebte. Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass der Mord an ihrem Bruder sie veranlassen würde, das Weite zu suchen.

Radegundis nimmt ihren Gang über das Klostergelände wieder auf, lässt den Duft der Rosen hinter sich. Sie weiß noch genau, wie erstaunt sie war, als Chlothar sie dann verfolgen und suchen ließ und sie anflehte, zu ihm zurückzukehren. Doch diese Sentimentalität hatte sie keine Sekunde zu einer Umkehr bewogen. Sie lächelt bei diesen Gedanken immer noch, als sie endlich Venantius auf sich zukommen sieht.

»Zu dir wollte ich gerade«, sagt sie verschmitzt, und ihre grünen Augen blitzen vor Belustigung. »Mein Herz wurde etwas ungeduldig und wollte nicht mehr warten, bis du kommst. Da hätte ich sogar die kalten Mauern des Klosters in Kauf genommen.«

Venantius strahlt übers ganze Gesicht. »Ach, ich denke, es ist schöner, wenn wir uns hier im Garten die Beine vertreten. Das Wetter ist einfach herrlich und hier draußen gibt es weniger Ohren und Augen, die mitlauschen oder sehen können.« Auch er lächelt verschmitzt.

»Nur der Falke dort oben«, lacht Radegundis und zeigt auf den höchsten Turm. »Woher er wohl kommt?«

»Wohin er wohl fliegt?« Beide sehen sich voller Vertrautheit an und lächeln.

Radegundis liebt diese kleinen Neckereien, und sie liebt den Sommer und die Wärme. Seite an Seite gehen sie die schmalen Wege entlang. Das Besondere an Venantius ist, dass sie auch mal gemeinsam schweigen können. Es ist dann kein unangenehmes Schweigen, sondern ein stilles Einvernehmen zwischen verwandten Seelen. Reden können viele Menschen, aber Schweigen nur die wenigsten. Beide müssen sich nun etwas aneinanderdrücken, denn die Wege sind nicht überall dafür gedacht, zu zweit nebeneinander auf ihnen zu wandeln. Überhaupt sind sie nicht dazu gedacht, auf ihnen voller Muße zu wandeln. Die Arbeit im Kloster steht an erster Stelle und das Wandeln ist ein Luxus.

Aber Radegundis sieht das etwas anders: Wer viel betet, viel fastet, Kranken hilft und die niedersten Arbeiten im Kloster verrichtet, darf manchmal im Garten wandeln. Natürlich würde sie das nie zu ihren Nonnen sagen, aber für sich selbst findet sie so einen Spazierganz ganz legitim. Für sie ist auch das ein Dienst für Gott. Hier wird sie ganz still im Gebet. Hier begegnet sie ihm ganz persönlich.

Die Gespräche mit Venantius reiht sie da mit ein. Schließlich müssen die Gedanken auch einmal fließen dürfen und sich nicht nur auf die Arbeit konzentrieren. Denn Gedanken können sich auf diese Art und Weise weiterentwickeln und manchmal eine ganz bestimmte Form annehmen.

»Venantius, weißt du noch, wie ich in Noyon die Idee zu diesem Kloster hatte? Wie ich den Plan entwickelte, das erste Frauenkloster im Frankenreich zu gründen?«, fragt sie ihn unvermittelt.

Ihr Freund nickt mit dem Kopf und antwortet: »Ich war zwar nicht dabei, weil ich ja erst später in dein Leben getreten bin, aber ich habe es von anderen gehört, und auch du hast mir schon davon berichtet. Doch das hat mich, als ich es dann hörte, stark beeindruckt. Deine Haltung und Gradlinigkeit.«

Radegundis blickt ihn direkt an und für einen kurzen Augenblick ist da ein tiefes Verständnis zwischen ihnen. Radegundis nickt leicht mit dem Kopf. Schon manches Mal hatte sie geglaubt, in Venantius‘ Augen einen verborgenen Schatten einer ungestillten Leidenschaft zu entdecken. Nur ein kleiner Funke davon, doch nie so viel, dass es ihr unangenehm wurde. Aber sie glaubte fest, wenn er kein Priester geworden wäre, sondern geheiratet hätte, dann hätte er sich ganz sicher für eine Frau wie sie selbst es war entschieden.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagt er nun lächelnd: »Du hast mich erwischt. Es ist deine Schönheit, die mich fasziniert, oh Holde, und die Art, wie du dich bewegst. Deine starke Ausstrahlung, Blume der Somme, die fast eine magische Anziehung auf mich ausübt.« Durch die leicht dahingesprochenen Worte wird es nie schwer zwischen ihnen. »Und übrigens auch auf die meisten Menschen, die dir begegnen«, setzt er hinzu, »auch wenn du selbst das nie siehst oder wahrhaben willst, weil dich das schnöde Weltliche nicht zu interessieren scheint.«

»Jesus Christus war und ist immer mein Ansporn«, erwidert Radegundis leise, »er ist meine große Liebe. Alles andere interessiert mich nicht!«

»Das weiß ich«, sagt Venantius, »obwohl es dich nicht davon abgehalten hat, einen weitreichenden Briefwechsel mit allen möglichen Persönlichkeiten zu führen, geistlich …« Er macht eine kleine Pause und fährt dann fort: »… wie auch weltlich. Du bist eine beliebte Briefpartnerin, von manchen sicher etwas gefürchtet, denn du bist überaus schlagfertig und nimmst nie ein Blatt vor den Mund.«

»Du sagst das so, als sei dies etwas Wunderbares«, meint Radegundis nachdenklich, »doch das verschaffte mir nicht immer nur Freunde, wie du genau weißt.«

»Dennoch«, sagt Venantius mit Nachdruck, »ich bleibe dabei. Ich habe das sichere Gefühl, dass das Christentum im Frankenreich durch dein Charisma und deine Gläubigkeit fester in den Gedanken und Handlungen vieler Menschen, besonders auch der Mächtigen, verankert worden ist.«

Radegundis räuspert sich. Sie weiß genau, dass Venantius auf Chlothar anspielt. »Weißt du, Venantius, Chlothar ist kein ganz so schlechter Mensch wie ich zuerst gedacht habe, oder alle anderen das meinen. Er ist sehr gläubig und hat mich selbst immer in meinem Glauben bestärkt. Auch wenn ich mehr Nonne als Ehefrau für ihn war, hat er mich stets gut behandelt. Wenn unsere Dienerschaft schlecht über mich gesprochen hat und Freunde und Verwandte die Nase gerümpft haben, weil ich die Fleischschüsseln wortlos weitergereicht und nichts davon genommen habe, hat er mich stets vor ihnen verteidigt.«

Venantius zieht die Stirn kraus und überlegt: »Vielleicht hatte er Angst vor der Strafe Gottes, wenn er seine Frau nicht unterstützt in ihrem Glauben.« »Wer weiß, aber nur durch ihn habe ich die nötigen Geldmittel bekommen, um das Kloster verwirklichen zu können«, erwidert Radegundis. »Als er endlich verstanden hat, dass ich nicht zu ihm zurückkehren, sondern eine Braut Christi werden würde, hat er viele Hebel in Bewegung gesetzt, um mich zu unterstützen.«

»Manchmal redest du zu gut von ihm«, sagt Venantius ernst, »du weißt sehr wohl, dass dein Mann durchaus seine grausamen Seiten hat. Da er sie dir persönlich gegenüber aber oft nicht zeigt und sich fast immer zivilisiert verhält, scheinst du das manchmal zu vergessen.«

»Nicht zu vergessen, lieber Venantius«, sagt Radegundis mit Nachdruck, »aber zu verzeihen. Ich rechne es Chlothar tatsächlich hoch an, dass er sich mir gegenüber stets höflich verhalten hat, denn das ist, nachdem ich kinderlos blieb, keine Selbstverständlichkeit.«

Venantius verlangsamt seine Schritte und bleibt stehen. Neugierig fragt er: »Und wie hat Chlothar reagiert, als du Agnes, eure Adoptivtochter, als Äbtissin eingesetzt hast? Über diesen Punkt haben wir noch nie gesprochen.«

»Agnes ist ein Juwel«, antwortet Radegundis mit Liebe in der Stimme, »sie ist eine überaus liebreizende junge Dame und sicher hätte Chlothar sie gut mit dem Sohn eines benachbarten Königshauses vermählen können. Darauf spielst du sicher an, nicht wahr, mein Freund? Du wunderst dich bestimmt, dass Chlothar seine Tochter einfach so ziehen ließ.«

»Du liest in mir wie in einem offenen Buch«, lacht Venantius, der nicht zum ersten Mal denkt, dass Radegundis ihn mit ihren grünen, leicht schrägstehenden Augen an eine Katze erinnert. Die Antwort erstaunt ihn. »Darüber habe ich auch immer wieder nachgedacht. Obwohl Agnes nicht seine Tochter dem Fleische nach ist, liebt er sie sehr. Sie wollte ihr Leben schon immer Gott weihen und er wusste, dass er gegen ihren Willen handeln würde, sollte er sie zu einer Heirat zwingen. Außerdem hat er schon bei mir gemerkt, dass es einer Ehe nicht zuträglich ist, wenn sie gegen den Willen der Frau geschlossen wird. Nein, er hat sie traurigen Herzens, aber mit seinem Segen dem Kloster überlassen.« Erneut kommen beide an den Rosen vorbei. Der süße Duft hüllt sie ein.

»Ich bin meinem Mann dafür sehr dankbar«, ergreift sie erneut das Wort, »denn so weiß ich eine Person meines Vertrauens an der Spitze meines Klosters. Und Agnes macht sich wirklich gut. Das Kloster erhält regen Zuspruch und mittlerweile ist es auf fast 200 Nonnen angewachsen. Eine beachtliche Zahl für die kurze Zeitspanne von der Gründung bis zum heutigen Zeitpunkt, meinst du nicht?«

»Warum hast du den Vorsitz über das Kloster nicht selbst übernommen?«

Ihre großen grünen Augen bohren sich in seine. »Wie kann ich das? Gibt es keine bessere Berufung als den Dienst an Kranken? Hilfst du einem Armen, so hilfst du mir, hat Christus gesagt. Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden, Venantius, das kann dir doch nicht entfallen sein?« Sie lacht ihr glockenhelles Lachen.

»Auch wenn ich als thüringische Prinzessin aufgewachsen bin und nach meiner Verschleppung am königlichen Hofe in Reichtum und Luxus lebte«, fährt sie fort, »bin ich doch nicht glücklicher in Reichtum gewesen als hier in Armut. Ich habe keine königlichen Gewänder oder Macht nötig, um glücklich zu sein. Ich bin eine Dienerin Gottes.«

»Ich glaube, das ist der Grund, warum dir so viele Frauen ins Kloster folgen«, sagt Venantius anerkennend und voller Stolz, »und warum die großen Persönlichkeiten im Frankenreich mit dir Briefe wechseln. Du verkörperst für viele das lebendige Christentum in seiner reinsten Form.«

»Apropos Briefe«, sagt Radegundis und versucht durch den Themenwechsel von ihrer Verlegenheit abzulenken, »lass uns die Korrespondenz nach einem Gebet besprechen. Nicht mir gebührt so viel Lob, sondern Gott allein.«

Seite an Seite gehen sie in die Klosterkirche für ein gemeinsames Gebet. Aus den Augenwinkeln sieht Radegundis, wie der Falke sich erhebt.

Der Falke sieht die Frau und den Mann in der Klosterkirche verschwinden. Er drückt sich mit den Beinen vom Gemäuer ab und breitet seine Schwingen aus. Unter ihm liegt das Städtchen Poitiers, das von dem Flüsschen Clain in zwei Hälften geteilt wird. Dann dreht er ab und fliegt davon. Er hat ein neues Ziel.

Steckbrief: Radegundis (Königin der Franken)

Um 520 Geburt bei Mühlburg nahe Gotha

531 Verschleppung nach Neuestrien bei Péronne

540 Erzwingung der Heirat mit König Chlothar

550 Chlothar lässt Radegundis’ Bruder ermorden – sie flieht

556 Aussöhnung mit Chlothar

558 Gründung eines eigenen Frauenklosters »Sainte-Marie-hors-les-Murs«

561 König Chlothar I. stirbt

Ab 565 Schriftsteller, Dichter und Priester Venantius Fortunatus lebt in Poitiers und ist über 20 Jahre Radegundis’ Vertrauter und Freund

569 Der byzantinische Kaiser spendet einen Splitter des heiligen Kreuzes für ihr Kloster

587 Radegundis stirbt in Poitiers im Frankenreich und wird in der Klosterkirche beerdigt

19. Jh. Heiligsprechung

1887 Papst Leo XIII. stiftet eine goldene, mit Edelsteinen geschmückte Krone, diese trägt die Statue der Heiligen im Dom von Poitiers

1987 1400. Todestag: Errichtung eines Gedenksteins an der Kapelle zur Mühlburg

Wissenswertes Radegundis entstammte einem alten thüringischen Adelsgeschlecht. Nach dem Sieg des Frankenkönigs Chlothar I. über die Thüringer wurde sie als 11-Jährige zusammen mit ihrem Bruder in das Land der Franken verschleppt. Hier wurde sie fortan christlich erzogen und lernte Latein. Gegen ihren Willen musste sie Chlothar I. heiraten, der schon früh um sie geworben hatte. Fortan war sie Königin an seinem Hofe, lebte aber asketisch und ernährte sich vegetarisch. Da die Ehe kinderlos blieb, adoptierten sie ein Mädchen, das sie Agnes nannten. Radegundis wurde am königlichen Hof bespöttelt, da sie eher wie eine Nonne lebte denn als Königin. Als Chlothar ihren Bruder ermorden ließ, floh sie. Er wollte sie zurückgewinnen, sie aber weigerte sich. Später versöhnten sie sich, sodass sie mit seiner Hilfe das erste Frauenkloster in Frankreich gründete. Sie kehrte nie an den Hof zurück. Ihr engster Vertrauter war Venantius Fortunatus. Er war Dichter, Musiker und Literat. Später wurde er Bischof von Poitiers. Als Äbtissin setzte Radegundis ihre Adoptivtochter Agnes ein. Radegundis blieb zeit ihres Lebens ihrer asketischen Gesinnung treu. Sie betete viel, schlief und aß wenig. Außerdem versah sie die niedrigsten Dienste im Kloster und kümmerte sich intensiv um Kranke, besonders um die Aussätzigen, deren Schutzpatronin sie wurde. Ihr Gedenktag ist der 13. August.

Übrigens: Zwischen 532-537 wurde die Hagia Sophia, die Sophienkirche, in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul gebaut. Sie gilt als eines der bedeutendsten Gebäude aller Zeiten und wurde lange als Museum genutzt.

Heute ist sie zu einer islamischen Moschee umgewidmet.

Jutta von Sponheim:

Himmel oder Hölle?

»Was soll ich nur machen? Wo ist mein Weg, was hat Gott mit mir vor?«

Seine Reise hat ihn weit getragen, die Winde unter seinen Flügeln werden kälter. Erster Frost liegt in der Luft. Der Falke umfliegt die gigantischen Mauern einer riesigen Kirche. Dann schwenkt er zum Klostergarten des Frauenkonventes, der danebenliegt, und lässt sich auf einem großen Baum nieder. Von hier hat er einen guten Blick in den Garten.

Jutta kniet im Untergewand im Klostergarten, die Hände zum Gebet gefaltet, den Kopf gesenkt. Ein eisiger Wind fegt die letzten Blätter von den Bäumen und treibt sie vor sich her. Juttas Hände und Füße sind blau verfärbt, alles Blut ist aus ihnen gewichen, doch sie bemerkt es gar nicht. Der Boden ist gefroren und das Gras ist mit einer dünnen Eisschicht überzogen.

»Mutter, es wird Zeit hineinzugehen!«

Jutta reagiert nicht, und Pauline ist sich gar nicht sicher, ob sie überhaupt ihr Rufen gehört hat.

»Komm, das bringt doch nichts, das weißt du doch«, erinnert Clementina. »Sie ist so tief in der Versenkung, dass sie dich nicht hören wird, egal wie laut du nach ihr rufst. Außerdem tut der stürmische Wind sein Übriges. Wir helfen ihr einfach hoch und bringen sie in ihre Kammer.«

Pauline nickt, und so greifen sie, eine rechts und die andere links, Jutta unter die Schulter und ziehen sie vom Boden hoch. Jutta erschrickt und wehrt sich. Sie hatte doch erst eine Stunde hier draußen gesessen, bis Mitternacht wollte sie hierbleiben.

»Was macht ihr? Lasst mich!«, herrscht sie ihre beiden Mitschwestern an. Doch diese lassen sich nicht beirren, zu oft haben sie in letzter Zeit ihre Magistra nachts aus dem vereisten Garten zurück in die Kammer geholt. Juttas Füße sind gefühllos vor Kälte und so wird sie von den beiden Nonnen mehr getragen als dass sie selber geht. Aber da sie kaum noch etwas wiegt, ist das leicht zu schaffen. Außerdem hat Jutta keine Kraft, sich zu wehren. Sanft aber bestimmt führen die Schwestern sie in ihre Kammer und legen Jutta auf ihr Bett. Liebevoll decken sie sie zu.

»Warum macht sie das bloß immer? Will sie denn nicht mehr leben? Oder will sie ihr Leben verkürzen und nicht mehr bei uns bleiben?«, fragt Pauline traurig.

Da tönt aus der Ecke des Raumes eine klare Stimme: »Schweigt, eure Magistra hat ihre Gründe und die gehen euch nichts an.«

Die beiden jungen Nonnen senken demütig ihre Köpfe und ziehen sich zurück. Hildegard tritt aus dem Schatten heraus und setzt sich auf einen Schemel nahe ans Bett. Sie nimmt Juttas kalte Hände und wärmt sie. Jutta schläft bereits, so erschöpft ist sie. Sie spürt nicht mehr, wie Schauer durch ihren unterkühlten Körper jagen.

In ihren Träumen ist sie wieder jung und vor allem frei von Ängsten. Wie sehr fürchtet sie die Verdammnis, wenn sie wach ist, den Teufel, die Hölle. Doch wenn sie schläft, dann findet sie Frieden. Glocken beginnen zu schlagen. Wo kommen sie her? Haben sie nicht schon längst zum Komplet geläutet?

Aber nein, das sind die Glocken von Sponheim. Jutta sieht sich wieder als junges Mädchen in ihrer Kammer an einer Stickarbeit sitzen. Es ist ein kalter Wintertag und die fahle Wintersonne spendet nur spärliches Licht. Bald wird es zu dunkel für diese feine Arbeit sein. Leise murmelt die junge Jutta vor sich hin: »Was soll ich nur machen? Wo ist mein Weg, was hat Gott mit mir vor?« Es klingt wie ein monotoner Singsang und ihr Oberkörper pendelt dabei hin und her.

Ihr Bruder hatte ihr vor zwei Wochen mitgeteilt, dass sie nicht an einer Pilgerreise nach Compostela teilnehmen dürfe. Das hatte sie so erschüttert, dass sie für zwei Tage überhaupt nicht mehr gesprochen hat und auch jetzt ist sie schweigsam und redet nur das Nötigste mit ihrer Familie und mit ihrer Lehrmeisterin. Für Jutta war die Pilgerreise Hoffnung gewesen, Hoffnung für einen ersten Schritt auf ihrem Weg zu Gott. Hier ist er ihr oft fremd geworden, bei all der täglichen Arbeit und den vielen gesellschaftlichen Ablenkungen, die ein Leben auf einer Burg mit sich bringen. Jutta hat nur ein Ziel, sie möchte Gott nahe sein, ihn mit jeder Faser ihres Körpers fühlen, sie möchte seine Braut werden. Wie soll ihr das, hier auf der heimatlichen Burg, gelingen? Hier, wo sie immer wieder von Heiratswilligen bedrängt wird. Jutta ist sich sicher, dass eine Heirat sie in eine innere Dunkelheit führen würde, es wäre ihr geistiger Tod. Seit zwei Wochen drehen sich Juttas Gedanken um ihren weiteren Lebensweg. Sie hatte so sehr gehofft, auf ihrer Pilgerreise neue Hinweise von Gott zu bekommen, einen neuen Lebensweg aufgezeigt zu bekommen, einen Lebenssinn. Auf der Burg sieht sie für sich keine Zukunft und eine lange Reise hätte Abstand gebracht, vielleicht wäre sie auch der Beginn eines neuen Lebens geworden.

Juttas Mutter betritt den Raum und schaut ihrer Tochter eine Weile schweigend zu, dann sagt sie: »Jutta, für dich wäre es das Beste, wenn du heiraten würdest, es wäre für uns alle das Beste.«

Jutta hebt den Kopf und antwortet: »Nein, ich werde nicht heiraten, niemals!« Die Wintersonne sinkt hinter den Burgfried und lange Schatten legen sich auf die Kammer, auf das Mädchen und die Mutter. Es wird finster in dem Raum, bald ist nichts mehr zu erkennen. Es rückt alles in den Hintergrund, verschwimmt, und über allem liegt nun eine erdrückende Dunkelheit, die sich wie Schatten auf die Seele legt. Die Worte hallen in Jutta nach, dringen zu ihr ins Bewusstsein. Juttas Herz beginnt zu rasen, sie möchte schreien, sich aufbäumen, sie wird nie heiraten, niemals! Da legt sich plötzlich eine warme Hand auf Juttas Gesicht und leise gemurmelte Worte sind zu hören. Jutta versteht, es ist Hildegard, die bei ihr sitzt. Getröstet schläft Jutta wieder ein und versinkt erneut in ihren Träumen. Dieser Traum ist anders, leichter. Die Dunkelheit ist verschwunden, alles fühlt sich wunderbar und aufregend an. Die Sonnenstrahlen funkeln und lösen langsam den Nebel auf, der über allem liegt.

Jutta erkennt, wohin der Traum sie geleitet hat. Sie sieht Menschen den Berg hinaufsteigen, einige Mönche gehen vorweg, danach folgt eine junge Frau, die zwei Mädchen an den Händen hält. Und noch weitere Menschen eilen ihnen hinterher.