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Schenken Sie sich und anderen ein Buch, das dem Herzen gut tut. Der Friedensnobelpreisträger erklärt die Grundlagen eines mitfühlenden Lebens. Mit Mitgefühl zu leben ist eine der edelsten Tugenden des Menschen. Neben Weisheit ist Mitgefühl im Buddhismus der wichtigste Aspekt auf dem Pfad zur Erleuchtung. In diesem Ratgeber zeigt der Dalai Lama, wie die tibetisch-buddhistische Lehre vom Mitgefühl durch einfache Übungen lebendig werden kann – zum Beispiel, indem wir frühere und aktuelle Beziehungen zu anderen mit einbeziehen. Darüber hinaus widmeter sich den zugehörigen Themen der spirituellen Persönlichkeitsentfaltung: wie wir Schwierigkeiten in Glück verwandeln, wie eine sinnvolle Meditations-Praxis aussehen kann und wie ein liebevolles Miteinander im Alltag gelebt werden kann. Die Unterweisungen des Dalai Lama basieren auf einem alten tibetischen Text zur Geistesschulung, "Die Strahlen der Sonne" (15. Jh.), einem Lieblingstext des Dalai Lama, den er immer wieder lehrt und in unsere Lebenswirklichkeit überträgt. Wie kein Zweiter versteht er es, alte buddhistische Weisheiten für die Menschen heute und ihre persönliche Entwicklung relevant zu machen. Dies ermöglicht es jedem Menschen, sein volles Potenzial zu leben und einen klaren Geist und ein mitfühlendes Herz zu entwickeln.
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Seitenzahl: 345
Dalai Lama
Mitgefühl im Alltag leben
Den Geist erwecken, das Herz erleuchten
Aus dem Amerikanischen von Peter Kobbe
Knaur e-books
Schenken Sie sich und anderen ein Buch, das dem Herzen gut tut. Der Friedensnobelpreisträger erklärt die Grundlagen eines mitfühlenden Lebens.
Mit Mitgefühl zu leben ist eine der edelsten Tugenden des Menschen. Neben Weisheit ist Mitgefühl im Buddhismus der wichtigste Aspekt auf dem Pfad zur Erleuchtung.
In diesem Ratgeber zeigt der Dalai Lama, wie die tibetisch-buddhistische Lehre vom Mitgefühl durch einfache Übungen lebendig werden kann – zum Beispiel, indem wir frühere und aktuelle Beziehungen zu anderen mit einbeziehen.
Darüber hinaus widmeter sich den zugehörigen Themen der spirituellen Persönlichkeitsentfaltung: wie wir Schwierigkeiten in Glück verwandeln, wie eine sinnvolle Meditations-Praxis aussehen kann und wie ein liebevolles Miteinander im Alltag gelebt werden kann.
Die Unterweisungen des Dalai Lama basieren auf einem alten tibetischen Text zur Geistesschulung, „Die Strahlen der Sonne" (15. Jh.), einem Lieblingstext des Dalai Lama, den er immer wieder lehrt und in unsere Lebenswirklichkeit überträgt. Wie kein Zweiter versteht er es, alte buddhistische Weisheiten für die Menschen heute und ihre persönliche Entwicklung relevant zu machen.
Dies ermöglicht es jedem Menschen, sein volles Potenzial zu leben und einen klaren Geist und ein mitfühlendes Herz zu entwickeln.
Die hier von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lamadargelegten Lehren zur Schulung des Geistesbasieren auf einem Text mit dem TitelDie Strahlen der Sonne.
Dieser wurde im frühen 15. Jahrhundert von Hortön Nam-kha Pel verfasst, einem Schüler des großen Gelehrten und Meisters Tsong-kha-pa (1357–1419)[1]. Der Text ist ein Kommentar zu einer noch früher datierten Schrift namens Geistesschulung in sieben Punkten, auf deren Verse das vorliegende Buch laufend Bezug nimmt. Sie ist im vollständigen Wortlaut am Ende des Buches wiedergegeben. Strahlen der Sonne war Anfang des 20. Jahrhunderts ein ziemlich ausgefallener Text, dessen Sinn nicht mehr ohne Weiteres eingängig war. Nachdem Kyabje Ling Rinpoche[2], der Studienleiter des Dalai Lama, eine Erläuterung darüber gehört hatte, wurde die Schrift zu einem seiner Lieblingswerke, denn sie verbindet die Wesenszüge der Geistesschulung mit den Überlieferungen des tibetischen Buddhismus vom stufenweise verlaufenden Pfad und lässt sich aufgrund ihrer einprägsamen knappen, unmittelbar verständlichen Darstellungsweise leicht in die tägliche Praxis umsetzen. Ling Rinpoche sorgte dafür, dass der tibetische Text neu ediert und verbreitet wurde, und lehrte ihn auch selbst. In der Folge hat ihn der Dalai Lama bei vielen Gelegenheiten gelehrt, in seinem Wohnort Dharamsala, in den neu gegründeten Klöstern Südindiens und in Bodh Gaya, dem Ort, an dem der Buddha Erleuchtung erlangte. So erfreut sich diese Schrift mittlerweile wieder großer Beliebtheit.
Die hier vorgelegten Lehren Seiner Heiligkeit wurden von folgendem Team ins Englische übersetzt und herausgegeben: von Ehrwürden Geshe[3] Lobsang Jordhen, einem Absolventen des Instituts für buddhistische Dialektik, Dharamsala, der seit 1989 für Seine Heiligkeit den Dalai Lama als ordensgeistlicher Assistent und persönlicher Übersetzer tätig ist; von Lobsang Chophel Gangchenpa, der auch am Institut für buddhistische Dialektik studierte und als buddhistischer Übersetzer zunächst an der Bibliothek tibetischer Werke und Archive in Dharamsala und später über zehn Jahre in Australien arbeitete; und von Jeremy Russell, der seit über zwölf Jahren mit der tibetischen Gemeinde in Dharamsala zusammenarbeitet; er ist Chefredakteur der Zeitschrift Chö-Yang, die Stimme tibetischer Religion und Kultur, die vom Ministerium für religiöse Angelegenheiten der tibetischen Exilregierung publiziert wird.
Gerhard Riemann
Der Buddha ging in vielen unterschiedlichenUnterweisungen auf die Interessen undAnlagen derer ein, die kamen,um ihn zu hören.
Und doch skizzieren diese Unterweisungen allesamt Methoden, durch die wir den Geist läutern und den voll erwachten Zustand der Erleuchtung erreichen können. Unter den verschiedenen Lehrzyklen gibt es eine Überlieferung, die als Geistesschulung oder Umwandlung des Denkens bezeichnet wird. Dies ist eine besondere Technik, die ersonnen wurde, um das zu entwickeln, was wir den »Geist des Erwachens« oder »Erleuchtungsgeist« (Bodhichitta)[4] nennen – das Streben nach Erleuchtung, um anderen helfen zu können. Diese Technik wurde durch den indischen Meister Atisha nach Tibet übermittelt; er unterrichtete seine tibetischen Schüler darin. Auf den Ersten Dalai Lama wurde sie durch Hortön Nam-kha Pel übertragen, und von diesem setzte sich die Übertragung zu meinem eigenen Wurzel-Lama[5], dem verstorbenen Kyabje Ling Rinpoche (1903–1983), fort, von dem ich sie erhalten habe.
Ihre Methoden verkörpern den Wesenskern, die Essenz der Lehren des Buddhas: die Herausbildung des Erleuchtungsgeistes. Ich freue mich sehr, dass ich die Möglichkeit habe, diese Überlieferung weiterzugeben, weil ich mich selbst in ihr übe. Zwar kann ich von mir nicht behaupten, alle nötigen Voraussetzungen mitzubringen, die jemanden dazu qualifizieren, derartige Unterweisungen zu erteilen, aber ich empfinde große Bewunderung und innige Verehrung für sie. Ich freue mich sehr, dass diese kostbare, vom Buddha übermittelte Unterweisung in diesem Zeitalter des Niedergangs, da die Lehren des Buddhas schon beinah ausgestorben sind, tatsächlich bis zu jemandem wie mir gelangt ist.
Zwischen dem, der die Unterweisung gibt, und dem, der sie hört oder liest, besteht keine Konkurrenz. Wir tun es ja nicht zum persönlichen Vorteil. Sofern diese Lehre aus dem reinen Wunsch weitergegeben wird, anderen zu helfen, besteht keine Gefahr, dass sich unser Geisteszustand verschlechtert; er kann sich dabei nur verbessern. Erleuchtung können wir nur durch die Meditationspraxis erreichen; ohne sie können wir keinesfalls unseren Geist umwandeln. Das Lesen oder Anhören buddhistischer Unterweisungen soll uns einzig und allein dazu befähigen, die Praxis angemessen zu vollziehen. Daher sollten wir unser Bestes tun, um das, was wir verstehen, in die Praxis umzusetzen. In diesem Augenblick verfügen wir über dieses kostbare Leben als freie und glücksbegünstigte Menschen, die imstande sind, sich in dieser Praxis zu betätigen. Wir sollten die Gelegenheit beim Schopf ergreifen. Zwar ist es wichtig, uns um unseren Lebensunterhalt zu kümmern, aber wir sollten nicht ausschließlich davon besessen sein. Wir sollten auch an unsere Zukunft denken, denn das Leben nach dem Tod ist etwas, worüber wir wenig wissen, und unser Schicksal ist nicht voraussagbar. Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann ist es sehr wichtig, darüber nachzudenken und sich darauf vorzubereiten. Zu diesem Zeitpunkt, da wir über sämtliche Voraussetzungen verfügen, die für das Üben des Dharma, der Unterweisungen Buddhas, erforderlich sind, sollten wir uns mit aller Anstrengung darauf konzentrieren, dies tatsächlich zu tun, und auf diese Weise unser Leben mit Sinn erfüllen.
Wir können dies tun, indem wir einen Pfad beschreiten, der günstige künftige Wiedergeburten zeitigt und letzten Endes zur Erleuchtung führt. Das letztgültige Streben ist darauf gerichtet, den voll erwachten Zustand der Buddhaschaft zu erzielen, weil ja auch eine günstige künftige Wiedergeburt nicht sehr sicher ist. Das Nachdenken über die allgemeinen und besonderen Mängel des gesamten Existenzkreislaufs, dieses Teufelskreises von Geburt und Tod, wird uns dazu veranlassen, nach der Befreiung von Leid zu streben. Außerdem sollten wir nicht allein um uns, sondern ebenso um das Wohl aller anderen besorgt sein.
Die spezielle Technik zur Umwandlung des Geistes ist in einem Verstext namens »Geistesschulung in sieben Punkten« enthalten, der hier in Anlehnung an seine Kommentierung in einem Werk von Hortön Nam-kha Pel, betitelt Die Strahlen der Sonne, eingehend erörtert wird. Was wir mit Geist, Denken oder Bewusstsein meinen, umgreift einen sehr vielschichtigen Gegenstand. Es lohnt sich zu untersuchen, was, insbesondere im Kontext der buddhistischen Lehren, mit Bewusstsein oder Geist gemeint ist, weil es nach den Lehren des Buddhas keinen Schöpfergott gibt; alle Erscheinungen sind in Abhängigkeit von ihren eigenen Ursachen und Bedingungen entstanden. Wir müssen untersuchen, worin diese Ursachen bestehen.
Geradeso wie die Hitze des Feuers nicht durch jemand anderen erzeugt wird, weil es das Wesen des Feuers ist, heiß zu sein, und geradeso wie es das Wesen des Wassers ist, nass zu sein, gibt es etwas als Bewusstsein oder Geist Bezeichnetes, auf dessen Basis wir Gefühle von Lust und Schmerz haben. Allgemein gesprochen: Wenn wir die charakteristische Eigenart eines bestimmten Gegenstandes nicht kennen, werden wir ihn nicht verändern oder von ihm Gebrauch machen können. Wenn wir keine Ahnung von den klimatischen Bedingungen eines Landes haben, werden wir nicht beurteilen können, wann es an der Zeit ist, Blumen zu pflanzen. Ebenso ist es wichtig, erst einmal festzustellen, was Geist oder Bewusstsein ist, wenn man eine Umwandlung im Geist bewirken will. Dann müssen wir erkennen, wie der Geist umgewandelt wird.
Ob man nun die Existenz von etwas als Bewusstsein oder Geist Bezeichnetem akzeptiert oder nicht – offenkundig ist, dass jeder Lust und Schmerz erlebt und jeder nach Glück trachtet und Leid zu vermeiden sucht. Dieses Glück, nach dem wir trachten, und das Begehren – sie entstehen aufgrund des Geistes. Daher müssen wir das Wesen des Geistes erkennen und das Verfahren, durch das wir ihn schulen und umwandeln können. Tatsächlich kann eine Umwandlung des Geistes nur durch den Geist bewirkt werden. Also müssen wir prüfen, ob es einen Zustand gibt, in dem wir von allen negativen Aspekten des Geistes völlig frei sein können und worin das eigentliche Verfahren zur Erreichung einer derartigen Freiheit besteht.
Schmerz, Lust und Leid sind von ihren eigenen Ursachen und Bedingungen abhängig. Daher ist es wichtig, dass wir feststellen, welches die negativen Aspekte des Geistes sind, die Leid hervorrufen, und sie zu überwinden versuchen. In ähnlicher Weise können wir die positiven Aspekte des Geistes verbessern, die Glück bewirken. Mit Geistesschulung ist eine Technik oder ein Verfahren gemeint, durch das wir den Geist umwandeln oder läutern können. Alle größeren Weltreligionen, insbesondere der Buddhismus, haben Techniken zur Umwandlung des Geistes. Hier jedoch handelt es sich um eine einzigartige Methode, die ersonnen wurde, um unseren ungezähmten und verblendeten Geist zu schulen. Der Text trägt deshalb den Titel Die Strahlen der Sonne, weil er eine Technik skizziert, durch die wir das Dunkel der Unwissenheit in unserem Geist lichten können. Diese Dunkelheit des Geistes betrifft unsere falsche Auffassung von einem Ich oder Selbst und unsere ichbezogenen, selbstsüchtigen Einstellungen, die negativen Aspekte des Geistes. Genauso wie die Strahlen der Sonne das Dunkel lichten, lichtet diese Unterweisung das Dunkel der Unwissenheit.
Am Anfang seines Werks huldigt der Autor Hortön Nam-kha Pel, der ein Schüler Tsong-kha-pas war, diesem als erhabenem Meister und erfleht sein Mitgefühl. Die Worte erhabener Meister betreffen Tsong-kha-pas große Vorzüge: Hatte er doch begehrliches Anhaften an die irdischen Lüste der Welt vollkommen abgelegt und die höchsten Stufen der Verwirklichung erreicht.
Der Huldigung an Tsong-kha-pa folgen Verse mit Grußformeln an den Buddha, den Begründer des Verfahrens zur Schulung des Geistes, an den Buddha der Zukunft, Maitreya, und an den Bodhisattva der Weisheit, Manjushri[6]. Die Meister der Geistesschulung in Tibet, die Kadampa-Lehrer[7], werden gleichfalls erwähnt. Der Autor ehrt den Buddha, indem er dessen Vorzüge im Einzelnen darlegt: Er schildert ihn als denjenigen, der sich, motiviert durch starkes Mitgefühl und Liebe gegenüber empfindenden Wesen, in den sechs Vollkommenheiten[8] und den vier Faktoren[9] übte, um den Geist anderer reifen zu lassen, mit der Zielsetzung, sie von Leid zu erlösen und sie zur Befreiung und zum vollen Erwachen des Geistes zu führen.
An dieser Stelle benutzt der Autor das Bild vom Steuermann, der die Schiffspassagiere sicher an ihren Bestimmungsort befördert: So führt der Buddha, indem er das Schiff der Liebe und des Erleuchtungsgeistes lenkt, die empfindenden Wesen zum Erwachen, zur Erleuchtung. Auch er war einmal ein gewöhnliches Wesen wie wir, aber aufgrund der Kraft seines Mitgefühls schulte er sich im Pfad und war fähig, seinen Geist umzuwandeln bis hin zur endgültigen Erleuchtung. Sein Mitgefühl motivierte ihn dazu, einen derartigen Zustand zu erreichen, Mitgefühl vervollkommnete seine Erleuchtung, und Mitgefühl veranlasste ihn dazu, andere gemäß ihren unterschiedlichen Interessen und Anlagen anzuleiten.
Ebendeshalb ist der Erleuchtungsgeist die Wurzel von allem Glück und Frieden im gesamten Universum. Auf lange Sicht bildet er den Grundstock, der es uns ermöglicht, in den Zustand vollständiger Erleuchtung zu kommen. Aber schon von einem Tag zum anderen gilt: Je mehr wir eine altruistische Einstellung entwickeln können, desto glücklicher werden wir uns fühlen und eine desto bessere Atmosphäre werden wir um uns schaffen. Wenn hingegen unsere Emotionen ungezähmt schwanken und wir uns leicht zu Hass und Eifersucht hinreißen lassen, werden wir gleich von Tagesbeginn an nicht einmal unser Frühstück genießen können, und unsere Freunde werden uns aus dem Weg gehen. So stören unbeständige Emotionen nicht nur unseren eigenen Geisteszustand, sie stören auch den Geist anderer. Solche ruhelosen Empfindungen kann man nicht jemand anderem anlasten, denn sie rühren jeweils vom eigenen Geisteszustand her. Ebendeshalb bringt eine altruistische Einstellung großes Glücksgefühl und inneren Frieden mit sich.
Je größer unser innerer Friede ist, desto friedlicher ist die Atmosphäre um uns. Angst und Misstrauen hingegen entstehen aufgrund einer selbstsüchtigen Einstellung und anderer negativer Geisteszustände. Eine selbstsüchtige Einstellung erzeugt Angst und Unsicherheit, die ihrerseits Misstrauen erzeugen. So ist ein friedvoller Geist selbst für Menschen, die keinem besonderen Glauben anhängen, wichtig. Wenn die Vorzüge des Buddhas erörtert werden, stehen immer der Erleuchtungsgeist und das Mitgefühl an erster Stelle.
Kapitel 1
Ganz gleich, welcher Dharma-Übungwir uns widmen, ob wir Gebete sprechen,ob wir Unterweisungen gebenoder anhören –
als Buddhisten sollten wir stets damit beginnen, dass wir die Strophe für die Zufluchtnahme und das Entwickeln des Erleuchtungsgeistes rezitieren.
Ich nehme Zuflucht zum Buddha, Dharma und zur spirituellen Gemeinschaft,
bis ich den Zustand der Erleuchtung erlange.
Möge ich durch Freigebigkeit und andere heilsame Handlungen Buddhaschaft erreichen,
um allen empfindenden Wesen von Nutzen zu sein.
Diese Strophe umfasst auf engstem Raum den Wesenskern der Lehren des Buddhas und besonders derer des Mahayana-Buddhismus, des Großen Fahrzeugs[10]. Im ersten Verspaar erfahren wir etwas über die Zuflucht, im zweiten erfahren wir, wozu wir den altruistischen Erleuchtungsgeist entwickeln. Alle, die Zuflucht nehmen, haben ein Gefühl der Verbundenheit und des Vertrauens gegenüber den Drei Juwelen – dem Buddha, dem Dharma (seinen Lehren) und dem Sangha, der spirituellen Gemeinschaft von Mönchen und Nonnen. Ebendieser Umstand entscheidet, ob man Buddhist ist oder nicht. Wenn man Zuflucht zu den Drei Juwelen nimmt, ist man Buddhist; andernfalls ist man keiner. Die Zufluchtnahme kann unterschiedlich tief greifend sein, das hängt jeweils von der eigenen Verständnisebene ab. Je mehr wir über das Wesen der Drei Juwelen Bescheid wissen, desto mehr werden wir von ihren besonderen Vorzügen überzeugt sein. Unsere Zufluchtnahme zu ihnen wird dann viel beständiger und tief greifender sein.
Wir haben unterschiedliche Möglichkeiten, bei den Drei Juwelen Zuflucht zu suchen. Die eine besteht darin, uns den Drei Juwelen anzuvertrauen, indem wir sie als uns überlegen betrachten und ihren Schutz, ihre Obhut und Unterstützung suchen. Die andere Möglichkeit, bei den Drei Juwelen Zuflucht zu suchen, besteht darin, danach zu trachten, eines Tages ein Buddha zu werden, indem man sich ihre überragenden Qualitäten von Wissen und Einsicht aneignet. Die zwei Möglichkeiten der Zufluchtnahme veranschaulichen unterschiedliche Ebenen des Muts und der Entschlossenheit. Manche Menschen suchen in Zeiten der Gefahr und Not die Unterstützung und den Schutz einer überlegenen Person und brauchen regelmäßig deren Hilfe, um das zuwege zu bringen, was sie sich gerade vorgenommen haben. Solche Menschen sind nicht wirklich imstande, etwas für sich zu tun. Andere hingegen sind mutiger. Ganz zu Anfang ersuchen sie womöglich um ein wenig Beistand, aber sie sind entschlossen, sich selbst zu helfen. Sie wenden jede erforderliche Anstrengung auf, um sich ihre Wünsche zu erfüllen. Sie wollen unbedingt unabhängig werden, also arbeiten sie hart daran, ihre Ziele zu verwirklichen und sich selbst der Probleme zu entledigen.
Freilich gibt es auch jene, die bei der Zufluchtnahme nicht sehr mutig sind. Sie vertrauen sich den Drei Juwelen an und bitten inständig, dass man ihnen Schutz und Obhut gewähren möge. Zum Dasein eines Buddhas aufzusteigen – dazu fehlt ihnen die innere Zuversicht und der Glaube an sich selber. Dies ist die Einstellung von Menschen, die nur ihre eigene Befreiung von Leid und Wiedergeburt erstreben. Jene, die die Befreiung aller empfindenden Wesen erstreben, sind viel mutiger. Auch sie vertrauen sich den Drei Juwelen an und begehren Schutz und Obhut von ihnen, doch das Hauptziel ist für sie, selbst die höchste Seinsweise der Buddhaschaft zu erreichen, damit sie anderen von größtem Nutzen sein können. Solche Menschen sind entschlossen, alle auf störende Emotionen zurückzuführenden Prägungen zu beseitigen und die untadeligen Eigenschaften eines Buddhas zu verwirklichen. Diese Art der Zufluchtnahme ist umsichtig.
Da es klar ist, dass sich die Zufluchtnahme verschiedenartig gestalten und auf unterschiedlichen Ebenen vollziehen kann, ist es unerlässlich, über das Wesen von Buddha, Dharma und Sangha und über ihre besonderen Vorzüge nachzudenken, während man die Zufluchtsformel rezitiert.
Möge ich durch Freigebigkeit und andere heilsame Handlungen Buddhaschaft erreichen,
um allen empfindenden Wesen von Nutzen zu sein.
In diesem Verspaar kommt der Erleuchtungsgeist zum Ausdruck. Indem der Einzelne dieses besondere Bestreben entwickelt, zielt er darauf ab, zum Vorteil aller empfindenden Wesen den höchsten Erleuchtungszustand zu erlangen. Vom Beginn der Zufluchtnahme an denkt der Übende bei allen heilsamen Handlungen: »Ich werde mich auf diese heilsamen Tätigkeiten einlassen, damit empfindende Wesen von jeglichem Elend frei sein und in völligem Frieden leben mögen.«
Die guten Taten des Übenden sind nicht am Eigennutz orientiert. Dieses Bestreben ist wirklich wunderbar, mutig und weitreichend. Durch die Macht dieser Denkweise sät der Übende Saaten und legt den Grundstock für all die herrlichen Dinge in diesem Leben und in künftigen Leben. Diese Verse enthalten den Wesenskern und die Wurzel der Lehren des Buddhas. Obwohl die Strophe sehr kurz ist, ist ihre Bedeutung unausschöpflich und tief. Während wir diese Verse rezitieren, sollten wir all unsere Dharma-Übungen, wie etwa das Meditieren und das Erteilen oder Anhören von Lehren, auf den Nutzen aller lebenden Wesen ausrichten. Wir sollten nicht bloß oberflächlich auf die Worte achten, sondern vielmehr darüber nachdenken, was sie bedeuten.
Jedes Mal, wenn wir irgendeine Dharma-Übung ausführen, beginnen wir sie mit dieser Strophe für die Zufluchtnahme und das Entwickeln des Erleuchtungsgeistes. Normalerweise rezitieren wir sie dreimal, obwohl es keine Regel gibt, die uns daran hindern würde, sie noch öfter oder nur ein- bis zweimal aufzusagen. Die dreifache Wiederholung gibt uns Gelegenheit, über die Bedeutung der Verse nachzudenken. Durch diese Übung sollten wir fähig sein, eine Umwandlung unserer Einstellungen zu bewirken und unseren Geist in positivem Sinne zu formen. Möglicherweise muss man die Verse viele Male rezitieren, um dies zu erreichen.
Vielleicht möchten wir, unserer Veranlagung entsprechend, das Verspaar der Zufluchtsformel viele Male rezitieren, um dann ebenso oft die Formel für das Hervorrufen des Erleuchtungsgeistes zu sprechen. Auf diese Weise können wir uns jeweils auf eines konzentrieren und die Übung wirksamer machen. Nachdem wir die Verse etwa fünfzehnmal rezitiert haben, sollte in unserem Herzen eine Veränderung eintreten. Möglicherweise sind wir manchmal so gerührt, dass uns Tränen in den Augen stehen.
Erst nachdem wir mit echter Hingabe Zuflucht genommen und den Erleuchtungsgeist entwickelt haben, sollten wir uns anderen Übungen widmen, etwa dem Sprechen von Gebeten oder dem Rezitieren von Mantras[11]. Der Wirkungsgrad jeder nachfolgenden Übung hängt davon ab, mit welcher Intensität und wie wirkungsvoll wir Zuflucht genommen und den Erleuchtungsgeist erweckt haben. Fraglich ist, ob das bloße Rezitieren von Gebeten ohne echte Motivation eine buddhistische Übung ist. Möglicherweise bringt es nicht mehr Nutzen als das Abspielen eines Tonbands. Entscheidend ist daher in diesem Zusammenhang, eine wirklich positive Motivation zu entwickeln. Wir sollten unsere spirituelle Praxis mit allem Nachdruck darauf ausrichten, positive und heilsame Gedanken und Handlungen hervorzubringen.
Wenn wir ein Essen zubereiten, müssen wir mit den Hauptzutaten, beispielsweise Reis, Mehl und Gemüse, anfangen. Gewürze und Salz gibt man später hinzu, damit es Geschmack bekommt. Ähnlich verhält es sich bei der Dharmapraxis: Wenn ihr Hauptanliegen, nämlich das Erzeugen einer positiven und förderlichen Geisteshaltung, erfüllt ist, werden auch andere Übungen, etwa Gebete, Visualisierung und Meditation, bedeutungsvoll. Alle Religionen sind im Prinzip dazu da, den menschlichen Individuen zu helfen, bessere, gesittetere und kreativere Menschen zu werden.
Während für bestimmte Religionen das Rezitieren von Gebeten und für andere vorwiegend die körperliche Buße als grundlegende Praxis gilt, vertritt der Buddhismus die Auffassung, dass die entscheidende Praxis in der Umwandlung und Verbesserung des Geistes besteht. Man kann das auch aus einer anderen Perspektive betrachten. Im Vergleich zu körperlichen und verbalen Tätigkeiten ist die geistige Aktivität subtiler und schwer zu kontrollieren. Körperliche und sprachliche Aktivitäten sind offensichtlicher und lassen sich leichter erlernen und ausüben. Unter diesem Gesichtspunkt sind spirituelle Ziele, bei denen es um den Geist geht, heikler und schwerer zu erreichen.
Es ist unbedingt erforderlich, dass wir die wahre Bedeutung des Buddhismus verstehen. Es ist sehr gut, dass das Interesse am Buddhismus wächst, aber wichtiger und vordringlicher ist es, zu wissen, was der Buddhismus tatsächlich ist. Wenn wir den fundamentalen Wert und Sinn der Lehren des Buddhas nicht verstehen, dann wird wahrscheinlich jede Bemühung, sie zu bewahren, zu rekonstruieren oder zu verbreiten, in falschen Bahnen verlaufen. Die Lehre und das Verständnis des Dharma sind nichts Physisches. Wenn daher das Erbauen von Klöstern oder das Rezitieren von Schriften ohne angemessenes Verständnis erfolgt, dann zählen diese Tätigkeiten womöglich nicht einmal zur Dharmapraxis. Der springende Punkt ist, dass Dharmapraxis im Geist stattfindet.
Es wäre ein Irrtum, zu glauben, wenn wir bloß unsere Kleidung wechseln, Gebete sprechen oder uns in Demutshaltung niederwerfen, sei dies schon die ganze Dharmapraxis. Das möchte ich erläutern. Wenn wir uns in Demutshaltung niederwerfen oder den Tempel umrunden, kommen uns alle möglichen Gedanken in den Sinn. Wenn wir uns langweilen und der Tag sich endlos hinzieht, kann ein Rundgang um den Tempel sehr angenehm sein. Wenn wir einen gesprächigen Freund finden, der uns dabei begleitet, dann fliegt die Zeit nur so dahin. Das ergibt möglicherweise einen netten Spaziergang, ist aber streng genommen keine Dharmapraxis. Es gibt sogar Gelegenheiten, bei denen wir vielleicht dem äußeren Anschein nach Dharma praktizieren, in Wirklichkeit aber negatives Karma erzeugen. Zum Beispiel könnte eine Person beim Umrunden des Tempels einen Plan aushecken, jemanden zu betrügen, oder Rachepläne gegen einen Rivalen schmieden. Innerlich sagt sich der Betreffende vielleicht: »So krieg ich ihn dran, das werd ich ihm sagen, und das werd ich tun.« Auf ähnliche Weise könnten wir heilige Mantras rezitieren, während unser Geist in gehässigen Gedanken schwelgt. So kann sich das, was wie das physische und verbale Üben des Dharma aussieht, als trügerisch erweisen.
Wir sagen, der Hauptzweck des Dharma liegt darin, den Geist zu schulen. Wie machen wir das? Denken wir über jene Gelegenheiten nach, bei denen wir so wütend auf jemanden sind, dass wir alles tun würden, um ihn oder sie zu verletzen. Um nun ein richtiger Dharma-Schüler zu sein, müssen wir über diese Situation klar und rational nachdenken. Wir müssen bedenken, wie viele Fehler man aus Wut macht und welche positiven Resultate es bringt, wenn man Mitgefühl entwickelt. Wir können auch darüber reflektieren, dass die Person, gegen die sich unsere Wut richtet, genauso wie wir Glück erringen und Elend loswerden will. Wie können wir es unter solchen Umständen rechtfertigen, diese Person zu verletzen?
Wir können uns sagen: »Ich halte mich für einen Buddhisten. Sobald ich morgens die Augen aufschlage, rezitiere ich die Gebete für die Zufluchtnahme und die Entwicklung des Erleuchtungsgeistes. Ich verspreche, für alle empfindenden Wesen zu arbeiten, und doch bin ich in diesem Fall entschlossen, grausam und unvernünftig zu sein. Wie kann ich mich einen Buddhisten nennen und es wagen, den Buddhas gegenüberzutreten, wenn ich ihren Pfad zum Gespött mache?«
Wir können unsere verhärtete Haltung und unsere Wutgefühle vollständig auflösen, indem wir so denken. Statt ihrer können wir freundliche und gütige Gedanken hervorrufen, indem wir darüber reflektieren, wie falsch es ist, auf jene Person derart wütend zu sein, und wie sehr sie oder er doch unsere Güte und unser Wohlwollen verdient. Auf diese Weise können wir eine wahre Umwandlung des Herzens bewirken. Das ist der Dharma in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Unsere vorher negativen Gedanken können zerstreut und durch positive und mitfühlende Empfindungen für jene Person ersetzt werden. Dieser dramatischen Veränderung sollten wir Beachtung schenken: Hier findet ein ganz entscheidender Umschwung statt. Genau dies ist unter der Übung des Dharma wirklich zu verstehen, aber das ist keine leichte Angelegenheit.
Wenn ein rechtschaffener Gedanke von großer Kraft den Geist bestimmt, kann gleichzeitig nichts Negatives wirksam werden. Wenn wir von gütigen und freudigen Gedanken motiviert sind, dann können selbst scheinbar negative Handlungen positive Ergebnisse bewirken. Zum Beispiel ist es normalerweise negativ, wenn wir lügen. Tun wir es aber aus Mitgefühl und aus der rationalen Erwägung, damit jemandem zu helfen, dann kann Lügen in etwas Heilsames umgewandelt werden.
Die altruistische Denkweise des Erleuchtungsgeistes stammt aus der Praxis des Bodhisattvas, dem Üben von Herzensgüte und von Mitgefühl. Daher ist es einem Bodhisattva bei bestimmten Gelegenheiten erlaubt, negative körperliche und verbale Handlungen zu begehen. Derartige Vergehen haben normalerweise ungünstige Auswirkungen. Aber bisweilen können diese Handlungen, je nach ihrem Beweggrund, wertneutral sein, und hin und wieder können sie sich als erstaunlich verdienstvoll erweisen. Dies sind einige Gründe, weshalb wir darauf beharren, dass der Buddhismus im Wesentlichen mit dem Geist befasst ist. Unseren körperlichen und verbalen Handlungen kommt nur sekundäre Bedeutung zu. Entscheidend für die Qualität der Reinheit jeder spirituellen Übung ist also jeweils die Absicht und Motivation des Einzelnen.
Es steht den Menschen frei, an jede Religion zu glauben, die ihnen gefällt. Diejenigen, die der Religion ablehnend gegenüberstehen, tun dies aus freiem Willen. Die Menschen entscheiden sich gemäß ihrem Interesse und ihrer spirituellen Neigung für eine Religion. Es gibt keine Möglichkeit, jeden dazu zu bringen, den Buddhismus oder irgendeine andere Religion anzunehmen. Der Buddha konnte im Verlauf seines Lebens nicht alle Inder zu Buddhisten machen. In einer Welt mannigfaltiger Geschmacksrichtungen und Veranlagungen kann nicht jeder Buddhist sein. Die Menschen haben das Recht, an Religion zu glauben oder nicht, ganz wie sie wollen.
In unserem Fall ist ausschlaggebend, dass wir uns für den Buddhismus entschieden haben und bereit sind, zum Buddha Zuflucht zu nehmen. Unter diesen Umständen sind wir verpflichtet, uns an die Worte des Buddhas zu halten. Wenn wir Tibeter die Lehren des Buddhas nicht befolgen, wäre es einfach absurd, dies von den Chinesen zu verlangen. Sie verwerfen den Buddhismus; weshalb sollten sie die Lehren des Buddhas befolgen? Wenn sie lügen und sich sonstigen verblendeten Handlungen hingeben, was können wir da machen? Wenn sie sich von Hass, Anhaftung und Unwissenheit überwältigen lassen, werden sie nicht glücklich sein und andere in Schwierigkeiten bringen. Buddhisten, einschließlich der Tibeter, haben die Aufgabe, die Lehren des Buddhas in die Tat umzusetzen. Unsere Praxis sollte so beschaffen sein, dass die störenden Emotionen – Feindseligkeit, Anhaftung und Unwissenheit – beseitigt werden. Unser Geist sollte von diesen Verblendungen frei sein, und wir sollten stattdessen positive Qualitäten entwickeln.
Als Buddhisten haben wir Buddha-Statuen oder -Gemälde auf dem Altar in unserer Wohnung. Wir suchen Tempel und Klöster auf und huldigen dem Buddha. All dies bringt unseren Respekt und unseren Glauben zum Ausdruck. Aber das eigentliche Kriterium ist, wie sehr wir uns wirklich an die Worte des Buddhas halten. Der Buddha ist unser Lehrer, Führer und spiritueller Erzieher. Daher sollten unsere körperlichen, sprachlichen und geistigen Handlungen mit seinen Lehren übereinstimmen. Auch wenn wir sie nicht gänzlich befolgen können, sollten wir uns doch ernsthaft darum bemühen.
Aus tiefstem Herzen sollten wir von der festen Zielsetzung durchdrungen sein, den Grundsätzen entsprechend zu handeln, die uns die Lehre des Buddhas an die Hand gibt. Wir müssen dafür sorgen, dass unser Alltagsleben unserem Anspruch, Buddhisten zu sein, gerecht wird. Wenn wir dazu nicht imstande sind, wird unser Bekenntnis oberflächlich und bedeutungslos sein. Wenn wir, unter dem Deckmantel, Buddhisten zu sein, die Worte des Buddhas ignorieren und missachten, dann ist das eine Form von Betrug. Es ist in sich widersprüchlich und erbärmlich. Zwischen dem, was wir sagen, und dem, was wir tun, sollte Einklang herrschen. Wenn wir unsere Dharma-Übung beginnen, rezitieren wir die Gebete für die Zufluchtnahme und das Entwickeln des Erleuchtungsgeistes, aber zugleich sollten wir eine förderliche Motivation entwickeln, die von Güte und Mitgefühl inspiriert ist. Dieser Art Übung sollten sich die Schüler wie auch ihr Lehrer unterziehen. Wenn ich auf einem Thron sitze, heißt das nicht, dass ich denken soll, wie bedeutend ich bin. Ich sollte auch nicht denken, dass ich der Dalai Lama bin und zu denen, die mir folgen, alles sagen kann, was mir passt. Eine solche Einstellung wäre ungehörig. Ich bin ein einfacher buddhistischer Mönch und Schüler des Buddhas. Ich habe die Verpflichtung, den Dharma nach besten Kräften zu vermitteln. Wenn ich dies tue, versuche ich nicht, dem Buddha zu gefallen oder zu schmeicheln. Tatsache ist vielmehr, dass ich um mein eigenes Glück und Leid besorgt bin. Ob ich Glück genieße oder Elend erleide, ruht ganz allein in meiner Hand. Diese grundlegenden Faktoren motivieren mich dazu, den Dharma zu üben.
Der Buddha hat aus eigener Erfahrung gelehrt, was letztlich von Nutzen ist und was schädlich ist. Ich zum Beispiel wünsche mir Glück und hoffe, dem Leid zu entgehen. Dies ist ein Bestreben, das in seiner Dauer über Monate, Jahre, ja selbst die ganze Spanne dieses Lebens hinausgeht; es erstreckt sich über endlos viele Lebzeiten. Um in einem Leben nach dem anderen Glück zu erlangen und mich von Elend zu befreien, muss ich klar erkennen, dass die drei Gifte – die störenden Emotionen Begierde, Hass und Unwissenheit – meine Feinde sind. Unwissenheit – die Auffassung, dass Dinge so existieren, wie sie erscheinen, nämlich unabhängig und aus sich selbst, ohne von Ursachen abzuhängen – ist die Wurzel dieser Verblendungen. Um diesen beschränkten und ichbezogenen Gedanken entgegenzuarbeiten, muss ich Herzensgüte, Mitgefühl, Altruismus und die Weisheit entwickeln, die die Leerheit[12] begreift.
Ich glaube, dass mein Schicksal ganz allein in meiner Hand liegt. Was der Buddha lehrte, ist für mein Leben von großer Orientierungskraft. Seine Worte werden immer klarer, und was er vor 2500 Jahren lehrte, ist so sehr von Belang wie eh und je. Auch wenn ich die Tiefe all seiner Lehren nicht ausloten kann, kann ich seine Intention erschließen – etwa im Hinblick auf seine Erläuterung der zwei Wahrheiten (der letztgültigen Wahrheit und der konventionellen Wahrheit)[13], der Vier Edlen Wahrheiten (des Leidens, seines Ursprungs, seiner Beendigung und des Pfades, der zu seiner Beendigung führt) und so weiter. Wann immer ich die Philosophie, die der Buddha vor so langer Zeit lehrte, anhöre und über sie nachdenke, stoße ich auf kaum irgendetwas, das für mich keinen Sinn ergäbe. Ich ziehe großen Nutzen aus seinen Lehren, und ich glaube, dass andere wiederum aus meinen Worten Nutzen ziehen können. Aus ebendieser Absicht zu helfen teile ich meine Ideen und meine Erfahrung mit. Wenn wir anderen Menschen behilflich sind, erweisen wir dem Dharma einen Dienst. Schon einer einzigen Person zu helfen ist wertvoll.
Anfangs entwickelte der Buddha die altruistische Gesinnung und bemühte sich dann um das Ansammeln von inneren Qualitäten. Schließlich erlangte er den erleuchteten Zustand der Buddhaschaft. Er tat dies ausschließlich zum Vorteil anderer empfindender Wesen. Vom Erleuchtungsgeist inspiriert, also mehr um andere besorgt als um sich, vervollkommnete der Buddha seine Schulung auf dem Pfad. Aufgrund seines Altruismus arbeitete der Buddha daran, das Wohl anderer empfindender Wesen zu erwirken. Weltzeitalter lang verfolgte er unbeirrbar dieses eine Ziel. Auch nach seiner Erleuchtung veranlasste ihn ebendiese Kraft des Altruismus, das Rad des Dharma zu drehen[14]. So besteht das eigentliche Thema des Buddhismus darin, anderen behilflich zu sein. Wenn wir anderen dabei helfen können, positive Qualitäten in ihren Herzen zu entfalten, sie glücklich machen und ihr Leben mit Sinn erfüllen, dann ist das ein wahrer Dienst am Buddha und seiner Lehre. Wir müssen gewissenhaft unsere intensivsten Bemühungen in diese Richtung lenken. Auf diese Weise, glaube ich, verwirklicht man nicht nur das Wohl des anderen, sondern auch das eigene.
Der traditionelle Brauch, dass sich der Lehrer dreimal vor dem Thron niederwirft, ehe er (oder sie) darauf Platz nimmt, ist sehr bedeutsam. Er hat den Zweck, Überheblichkeit zu verhüten. Wenn jemand auf einem hohen Thron sitzt und Unterweisungen gibt, dann bezeugen die Leute ihm ihren Respekt, indem sie sich vor ihm niederwerfen. In einer solchen Situation muss man besonders aufpassen. Sonst besteht große Gefahr, dass sich Überheblichkeit einschleicht. In einigen Fällen ist das auch vorgekommen. Bestimmte Mönche, die anfangs ganz schlicht und bescheiden waren, stellten fest, dass sie eine Menge Schüler und einen gewissen Rang erreicht hatten, und sie wurden hochnäsig und aufgeblasen. Man kann es ihnen nicht verübeln; es war das Resultat ihrer störenden Emotionen.
Die störenden Emotionen sind äußerst gerissen und zäh. Wenn einer, der in ihrer Gewalt ist, auf dem Thron sitzt, dann wird er von Verblendung beherrscht. Während wir ihm zuhören, regt sich Stolz bei ihm, und dies umso heftiger, je länger er redet. Genau so funktionieren die störenden Emotionen. Die Wirkung der störenden Emotionen ist erstaunlich. Sie können einen Meister dazu bringen, sich mit anderen zu streiten, nur weil er sich mehr Schüler wünscht. In einem solchen Fall sind Anmaßung und Feindseligkeit gleichzeitig am Werk. Glücklicherweise gibt es eine Kraft, die störende Emotionen bekämpfen kann. Das ist die Weisheit. Die Weisheit wird klarer und schärfer, wenn wir analytisch und prüfend vorgehen. Sie ist stark und dauerhaft. Der unwissende Geist hingegen kann zwar schlau sein, aber der Analyse kann er nicht standhalten. Unter intelligenter Prüfung bricht er zusammen. Diese Einsicht gibt uns das Selbstvertrauen, die Probleme zu bewältigen, die von den störenden Emotionen hervorgerufen werden.
Wenn wir genau untersuchen und reflektieren, können wir ein solides Verständnis der Weisheit und der störenden Emotionen, etwa der Feindseligkeit und des begehrlichen Anhaftens, gewinnen; diese Regungen werden durch den Geist hervorgebracht, der meint, dass die Dinge wahrhaft wirklich sind, dass sie so existieren, wie sie erscheinen. Der Geist, der sich diese Vorstellung von wahrer Existenz macht, ist äußerst rührig, energisch und trickreich. Sein enger Kumpan, die ichbezogene Einstellung, ist genauso ausdauernd und halsstarrig. Zu lange schon stehen wir völlig unter ihrem Einfluss. Sie hat sich als unser Freund, Rückhalt und Beschützer ausgegeben. Jetzt sollten wir, sofern wir achtsam und umsichtig sind, die Weisheit entwickeln, die begreift, dass die Dinge nicht so existieren, wie sie erscheinen, dass ihnen diese Art von Wirklichkeit fehlt; sie wird Weisheit, die die Leerheit erfasst, genannt. Indem wir diese Waffe mit beharrlichem Bemühen gebrauchen, werden wir uns gegen die störenden Emotionen zur Wehr setzen können.
Im Verlauf unserer Praxis müssen wir über die Vorteile der fürsorglichen Hinwendung zu anderen und über die Mängel der Ichbezogenheit nachdenken. Am Ende wird sich die Fürsorge für andere als überlegen erweisen, und unser Egoismus wird in schlechtem Licht erscheinen. Alles hängt davon ab, wie engagiert und gewissenhaft wir sind. Wenn wir uns bewähren können, indem wir unter Einsatz jeder erdenklichen Mühe dem richtigen Pfad folgen, dann können wir sicher sein, dass sich die störenden Emotionen ausräumen lassen.
Buddhaschaft ist das höchste Ziel unserer Praxis, und es wäre von Nutzen, zu verstehen, was damit gemeint ist. Das tibetische Wort für Erleuchtung hat zwei Teile; der erste bezieht sich auf Läuterung, der zweite auf Anreicherung oder Fülle. Was wir vor allem läutern müssen, sind die Mängel unseres Geistes. Eine solche Läuterung beinhaltet nicht, dass die Mängel vorübergehend aufhören. Sie erfordert bewusstes Handeln beim Einsatz der Gegenmittel zur vollständigen Beseitigung dieser Mängel.
Nun sind aber die Mängel, auf die wir uns beziehen, die Quelle des Leids: Karma, störende Emotionen und die von diesen hinterlassenen Prägungen. Diese Mängel können nur durch Anwendung geeigneter Gegenmittel beseitigt werden.
Die von den störenden Emotionen hinterlassenen Prägungen hindern den Einzelnen daran, Allwissenheit zu erlangen. Bewusstsein hat seinem wahren Wesen nach das Potenzial, alles zu wissen, aber diese Mängel verschleiern den Geist und hindern ihn an einem solchen Wissen. Indem er die erforderlichen Gegenkräfte entwickelt, gelingt es dem Geist, diese Hindernisse zu beseitigen. Wenn das Bewusstsein gänzlich frei von Behinderung ist, erreicht es automatisch volle geistige Präsenz, und die betreffende Person erwacht zu voller Erleuchtung.
Der Erleuchtungszustand ist keinerlei physische Gegebenheit, etwa ein himmlischer Wohnsitz. Er ist die ureigene Qualität des Geistes, die in ihrem vollen positiven Potenzial enthüllt wird. Um daher diesen Zustand des Erwachens[15] zu erreichen, muss der Übende in der Anfangsphase die negativen Züge des Geistes beseitigen und eine positive Qualität nach der anderen entwickeln. Der Geist wendet aktiv das Gegenmittel an, um die negativen Impulse und Verdunkelungen zu entfernen. Dabei wird ein Punkt erreicht, an dem die störenden Emotionen und geistigen Hindernisse nie wieder auftreten können, ganz gleich, was geschieht. Aus demselben Grund obliegt es ausschließlich dem Geist, spirituelle Einsicht und Wissen zu entfalten. Wie gering die positive Energie zunächst auch sein mag, zur gegebenen Zeit eröffnet sich dem Geist vollkommene Wissensfülle, und er erwacht zur Buddhaschaft.
Jede der Weltreligionen hat ihre charakteristischen Besonderheiten und ihre eigenen Anhänger. Doch im Grunde haben sie eine Reihe gleicher Zielsetzungen und Anliegen miteinander gemein. Infolgedessen sind sie all die Jahrhunderte hindurch für Millionen Menschen eine Quelle des Segens gewesen. Es lässt sich nicht bestreiten, dass Anhänger einer Religion durch lautere Praxis inneren Frieden gewinnen und diszipliniertere, kultiviertere und bessere Menschen werden. Sie tun sich selber Gutes, und viele von ihnen sind für die Menschheit von großem Nutzen.
Es entstehen jedoch auch viele soziale und politische Probleme aus dem Missbrauch von Religion. Menschen bekämpfen Andersgläubige, manchmal sogar im Rahmen eines groß angelegten Krieges. Dessen ungeachtet sollten wir die Vielfalt der Religionen respektieren, weil die Menschen unterschiedliche geistige Veranlagungen und Neigungen, verschiedene Geschmacksrichtungen und Interessen haben. Eine einzige Religion kann daher nicht jeden zufriedenstellen. Von diesem Gesichtspunkt aus ist Vielfalt etwas Bewundernswertes.
Jede Religion ist auf ihre eigene Weise nützlich. Es ist zwecklos, sich einzubilden, dass es eine einzige Religion für die ganze Welt geben sollte. Sogar zu Lebzeiten des Buddhas war es nicht so, dass jeder Inder den Buddhismus angenommen hätte. Das Gleiche trifft auch auf andere Religionen und ihre Gründer zu. Daher glaube ich an eine Eintracht der Religionen, die praktisch umsetzbar, anwendbar ist und positive Ergebnisse hervorbringen kann. Ich bewundere die guten Taten jener, die einer anderen Konfession angehören. Das ist ein sehr guter Ansatz, um Freundschaften zu schließen. Ich habe viele gute christliche, moslemische und hinduistische Freunde. In diesem Kontext scheint es mir sinnlos, sich auf philosophische Kontroversen und Auseinandersetzungen einzulassen. Was hat das für einen Wert, die theoretischen Standpunkte anderer Konfessionen infrage zu stellen?
Ich schlage vor: Anstatt unter religiösen Menschen gegenseitige Rivalität und Kontroversen zu schüren, sollten wir von anderen Konfessionen lernen. Tibetische buddhistische Mönche können dem Beispiel von Christen folgen, die in der Sozialarbeit tätig sind. Viele von ihnen widmen ihr Leben dem Dienst an den Armen, Notleidenden und Unterdrückten. In Kalkutta gibt es beispielsweise Mutter Teresa. Viele Christen pflegen unter völliger Nichtbeachtung ihres eigenen Lebens Leprakranke. Gibt es irgendeinen tibetischen Mönch, der das tut? Vor beinahe tausend Jahren leistete der große tibetische Meister Drom-tön-pa tatsächlich solch eine wertvolle Arbeit und verlor seine Glieder dabei. In neuerer Zeit sorgte auch Te-hor Kyor-pön Rinpoche für an Lepra leidende Menschen. Es wäre also klüger und sinnvoller, nicht die Konfrontation zu suchen, sondern vielmehr voneinander zu lernen. Auf diese Weise können religiöse Menschen bei der Schaffung von Frieden und Eintracht in unserer Welt eine positive Rolle spielen.
Weil die Menschen verschieden sind und ihre geistigen Neigungen variieren, lehrte der Buddha unterschiedliche philosophische Anschauungen. Seine Lehre bezweckt einzig und allein, empfindenden Wesen zu nützen, letztlich: sie zu Frieden und Erleuchtung zu führen. Die Lehre des Buddhas ist keine starre Doktrin, die von allen Anhängern verlangt, sich ein und derselben philosophischen Theorie anzuschließen. Im Gegenteil – der Buddha gab Erklärungen auf unterschiedlichem Niveau, um den ungleichen Auffassungsmöglichkeiten und geistigen Veranlagungen seiner Schüler gerecht zu werden. Das hatte zur Folge, dass in Indien vier größere Schulen des Denkens entstanden[16]. Und auch diese vier Schulen gliedern sich noch in zahlreiche Untergruppen.
Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass alles, was der Buddha lehrte, dazu da war, empfindenden Wesen zu helfen und ihnen auf dem spirituellen Pfad Anleitung zu geben. Seine philosophischen Lehren waren nicht bloß abstrakte Spekulation, sondern Bestandteil der Verfahren und Techniken zur Bekämpfung störender Emotionen. Wir können die Brauchbarkeit der Gegenmittel für verschiedene störende Emotionen aus unserer eigenen Erfahrung richtig einschätzen.
Vom Buddha wissen wir, dass wir, um Wut und Hass abzuwehren, über Herzensgüte meditieren sollten. Das aufmerksame Beachten der widerwärtigen Seiten eines Gegenstandes soll verhindern, dass wir an diesem hängen. Intensive logische Beweisführung wird aufgeboten, um zu zeigen, dass der Anschein, die Dinge hätten eine wirkliche Existenz, Täuschung ist. Die Vorstellung von einer wirklichen Existenz beruht auf Unwissenheit, und die Weisheit, welche die Leerheit erfasst, ist die direkte Gegenspielerin dieses Konzepts.
Aus solchen Unterweisungen können wir folgern, dass die störenden Emotionen nur zeitweilige Beschwerden des Geistes sind und man ihnen jegliche Grundlage entziehen kann. Wenn der Geist frei von Befleckungen ist, wird das Potenzial seines eigentlichen Wesens – Klarheit und Bewusstheit – gänzlich offenbar. Mit zunehmender Einsicht weiß der Praktizierende die Möglichkeit, Nirwana und Buddhaschaft zu erlangen, immer besser zu würdigen. Dies erweist sich als eine wundervolle Offenbarung.
Wir brauchen die Worte des Buddhas nicht als etwas Heiliges anzusehen, das wir nicht näher untersuchen dürfen. Im Gegenteil – es steht uns frei, seine Unterweisung zu überprüfen und herauszufinden, ob sie zutreffen. Der Übende kann den Geschmack der Unterweisungen des Buddhas kosten, indem er sie in die Tat umsetzt. So ist es das Resultat persönlicher Erfahrung, wenn man von den Unterweisungen überzeugt ist und Vertrauen in sie setzt. Das ist, meiner Meinung nach, spezifisch buddhistisch. In anderen Religionen hält man das Wort Gottes oder des Schöpfers für absolut.
Der spirituelle Pfad hat im Buddhismus zwei Hauptziele: die höhere Wiedergeburt und das, was man als das höchste Gut oder das eindeutig Beste[17]