Mitschwingen und Dazwischengehen - Mechtild Erpenbeck - E-Book

Mitschwingen und Dazwischengehen E-Book

Mechtild Erpenbeck

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Beschreibung

"Dieses Buch ist für die Prozessberatung ein echter Meilenstein. Gekonnt leuchtet es all die normalerweise so schwer zugänglichen Facetten des komplexen Prozessgeschehens in der beraterischen Zusammenarbeit aus. Intelligent gemacht, klug komponiert und eine in vielfacher Hinsicht nützliche Handreichung." Univ.-Prof. Dr. Rudolf Wimmer, Universität Witten/Herdecke "Mutig, praxiserfahren, hilfreich. Ich bin begeistert!" Dr. Roswita Königswieser, Königswieser & Network "Eines wird hier besonders deutlich: Die Dynamik von Gruppen folgt einer anderen Logik als die des Individuums oder von Organisationen. Mechtild Erpenbeck versteht es, komplexe Sachverhalte auf spannende und lebensnahe Art und Weise zu vermitteln. Ihre Fallbeispiele lesen sich mitunter wie ein Thriller, dessen Spannungsbogen durch die vertiefende Theorie eher noch gesteigert wird. Brillant geschrieben und sehr empfehlenswert!" Eberhard Hauser, hauserconsulting Ein Tanz um Macht und Vertrauen Wer als Berater:in oder Trainer:in mit Gruppen arbeitet, kennt das Gefühl: Irgendetwas stimmt hier nicht. Oder es ist ein diffuser Widerstand zu spüren, den man sich nicht erklären kann. Mechtild Erpenbeck untersucht in diesem Buch, was bei der Beratung von Organisationen im Hinblick auf die Dynamik in Gruppen von Bedeutung ist. Neben Kompetenz hinsichtlich Diagnose und Intervention erweist sich die innere Haltung der Beratungsperson als entscheidender Faktor im "Tanz um Macht und Vertrauen". In anschaulicher, gut verständlicher Sprache wird die Arbeit mit Gruppen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, darunter Systemtheorie, Sozialpsychologie, Kybernetik, Gruppendynamik und Theater bzw. Tanz. Im Zentrum stehen jedoch Praxisbezug und Praxiserfahrung. Aus diesem Zusammenspiel gewinnen Berater:innen eine Prozesskompetenz, mit der sie auch selbstorganisierten Gruppen und Teams gewachsen sind. Über die Autorin: Mechtild Erpenbeck, Dipl.-Päd., Psychologin, Systemische Beraterin; Gruppendynamikerin (DGGO), Supervisorin und Lehrsupervisorin (DGSv); Senior Coach (DBVC); Theaterregisseurin und -autorin, Inszenierungen an zahlreichen Stadt- und Landesbühnen, Gründung und Leitung einer spartenübergreifenden Theatercompagnie in Berlin; seit 1998 in verschiedenen Praxisfeldern der Organisations- und Individualberatung tätig, insbesondere in Change Management, Führungskräfteentwicklung und Konfliktmoderation. Inhaberin der Beratungspraxis CONSULTACT, Berlin. Ausbildung von Business Coaches und Trainer:innen, Lehrtätigkeit an verschiedenen Hochschulen und Akademien.

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Die Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«

Die Bücher der petrolfarbenen Reihe Beratung, Coaching, Supervision haben etwas gemeinsam: Sie beschreiben das weite Feld des »Counselling«. Sie fokussieren zwar unterschiedliche Kontexte – lebensweltliche wie arbeitsweltliche –, deren Trennung uns aber z. B. bei dem Begriff »Work-Life-Balance« schon irritieren muss. Es gibt gemeinsame Haltungen, Prinzipien und Grundlagen, Theorien und Modelle, ähnliche Interventionen und Methoden – und eben unterschiedliche Kontexte, Aufträge und Ziele. Der Sinn dieser Reihe besteht darin, innovative bis irritierende Schriften zu veröffentlichen: neue oder vertiefende Modelle von – teils internationalen – erfahrenen Autor:innen, aber auch von Erstautor:innen.

In den Kontexten von Beratung, Coaching und auch Supervision hat sich der systemische Ansatz inzwischen durchgesetzt. Drei Viertel der Weiterbildungen haben eine systemische Orientierung. Zum Dogma darf der Ansatz nicht werden. Die Reihe verfolgt deshalb eine systemischintegrative Profilierung von Beratung, Coaching und Supervision: Humanistische Grundhaltungen (z. B. eine klare Werte-, Gefühls- und Beziehungsorientierung), analytisch-tiefenpsychologisches Verstehen (das z. B. der Bedeutung unserer Kindheit sowie der Bewusstheit von Übertragungen und Gegenübertragungen im Hier und Jetzt Rechnung trägt) wie auch die »dritte Welle« des verhaltenstherapeutischen Konzeptes (mit Stichworten wie Achtsamkeit, Akzeptanz, Metakognition und Schemata) sollen in den systemischen Ansatz integriert werden.

Wenn Counselling in der Gesellschaft etabliert werden soll, bedarf es dreierlei: der Emanzipierung von Therapie(-Schulen), der Beschreibung von konkreten Kompetenzen der Profession und der Erarbeitung von Qualitätsstandards. Psychosoziale Beratung muss in das Gesundheits- und Bildungssystem integriert werden. Vom Unternehmen finanziertes Coaching muss ebenso wie Team- und Fallsupervisionen zum Arbeitnehmerrecht werden (wie Urlaub und Krankengeld). Das ist die Vision – und die politische Seite dieser Reihe.

Wie Counselling die Zufriedenheit vergrößern kann, das steht in diesen Büchern; das heißt, die Bücher werden praxistauglich und praxisrelevant sein. Im Sinne der systemischen Grundhaltung des Nicht-Wissens bzw. des Nicht-Besserwissens sind sie nur zum Teil »Beratungsratgeber«. Sie sind hilfreich für die Selbstreflexion, und sie helfen Berater:innen, Coachs und Supervisor:innen dabei, hilfreich zu sein. Und nicht zuletzt laden sie alle Counsellor zum Dialog und zum Experimentieren ein.

Dr. Dirk Rohr

Herausgeber der Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«

Mechtild Erpenbeck

Mitschwingen und Dazwischengehen

Systemisch-gruppendynamische Prozesskompetenz in Beratung und Training

Zweite Auflage, 2024

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Beratung, Coaching, Supervision«

hrsg. von Dirk Rohr

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagfoto: © Jorge – stock.adobe.com

Redaktion: Nicola Offermanns

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Zweite Auflage, 2024

ISBN 978-3-8497-0444-5 (Printversion)

ISBN 978-3-8497-8396-9 (ePUB)

© 2022, 2024 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

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Inhalt

Vorbemerkung

1 Vorhang auf

2 Der Rahmen: Kleine Artenkunde

2.1 Steckbrief: Gruppe

2.2 Lerngruppen

2.2.1 Im »Offenen«

2.2.2 Im Haus

2.3 Team

2.4 Gremium

2.5 Großgruppe

2.6 Auftragsarten

3 Der andere Blick: Ein paar Perspektiven à la carte

3.1 Kippbilder

3.2 Kunst und Tanz

3.3 Fußball

3.4 Aufstellungsarbeit

4 Das Fundament: Emotionale Kompetenz

5 Anfänge

5.1 Zwischen Unsicherheit und Absorption

5.2 Auftritt Beratungsperson

6 Qualifiziert im Nebel stochern

6.1 Basis-Brillenmodelle gruppendynamisch

6.1.1 Widerstrebende Kräfte

6.1.2 Der gruppendynamische Raum

6.2 Basis-Brillenmodelle systemisch

6.2.1 Werte – Normen – Attraktoren

6.2.2 Systemische Prinzipien gesampelt

6.3 Universal-Brillenmodell: Rolle

7 Dazwischen gehen

7.1 Lernraum Hier-und-Jetzt

7.2 Türöffner

7.3 Kriterien für Prozessinterventionen

7.3.1 Tragfähigkeit der Beziehung

7.3.2 Timing

7.3.3 Fokus – Ebene – Intensität

7.3.4 Veränderungsmöglichkeit

8 Anschlussfähigkeit: Bei sich selbst anfangen

8.1 Trigger-Check

8.2 Innere Haltung

8.3 Landkarten-Inspektion

8.4 Antizipation und Aktion

9 Macht

9.1 In der Geistesgeschichte

9.2 In Gruppen

9.3 Exkurs: Agile Teams

9.4 Opposition 1: Brille »Widerstand«

9.4.1 Kreative Abwehr würdigen

9.4.2 Kontext mitdenken

9.4.3 Stroh zu Gold spinnen (Teil 1)

9.5 Opposition 2: Brille »Autoritätskonflikt«

9.5.1 Trennen und verbinden

9.5.2 Stroh zu Gold spinnen (Teil 2)

10 Miteinander laufen: Konkurrenz gegendert

10.1 Männer mit Männern

10.2 Männer mit Frauen

10.3 Frauen mit Männern

10.4 Frauen mit Frauen

10.5 Mittendrin: Die Beratungsperson

11 Vertrauen

11.1 Wagnis

11.2 Feedback

11.3 »Authentizität«

12 Abschiede

13 Was bleibt

Literatur

Über die Autorin

Glattes Eis

Ein Paradeis

Für den, der gut zu tanzen weiß.

Friedrich Nietzsche

Vorbemerkung

Es bleibt ein Drahtseilakt, sich schreibend zum Geschlecht der Wörter zu verhalten. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Sprache schafft Wirklichkeiten. Ich habe mich also einmal mehr für die kreative Unordentlichkeit entschieden: Mit großem Vergnügen war ich stets auf der Suche nach sprachlichen Formen, die sich weder dem Diktat des generischen Maskulinums beugen, noch eine neue normative Korrektheit an dessen Stelle setzen, die der Sprache ihren natürlichen Klang und Fluss nimmt. Von Fall zu Fall schlage ich mich auf die eine oder auf die andere Seite und bitte die Lesenden, mir einen solchen Wankelmut nachzusehen.

1 Vorhang auf

Ein Tagungsraum, mal kleiner, mal größer, Stühle und Tische in einer Anordnung, die ein deutlich markiertes »Vorne« aufweist: der Ort, der jener Figur vorbehalten ist, die eine in diesem Raum stattfindende Veranstaltung leiten oder moderieren wird. Mit einem solchen Standardsetting beginnen viele Beratungstage, in diesem Bühnenbild finden die Dramen des Beratungsalltags statt. Da sitzen oder stehen wir dann, wir Moderatorinnen, Berater, Mediatorinnen, Referenten, Coaches oder Trainerinnen und schauen in die Augenpaare einer Gruppe von Teilnehmenden. Ob Stuhlkreis, Stehtische, Kinobestuhlung oder Besprechungstisch mit Wasser und Keksen – wer beratend in und für Organisationen tätig ist, kommt an Gruppen nicht vorbei. Zwar kommen Organisationsvertreterinnen und -vertreter im Beratungskontext gelegentlich als singuläre Figuren vor – im Einzelcoaching zum Beispiel –, die meisten Settings im Rahmen von Organisationsberatung indes sind Gruppensettings: Gruppen jeglichen Zuschnitts, von drei Personen bis möglicherweise dreihundert und mehr. Gruppen von Menschen, die sich gut kennen, bis hin zu solchen, in denen sich Menschen zum ersten Mal begegnen.

In den Organisationen sind da zunächst einmal die festen Gruppenformationen der Aufbauorganisation, also z. B. die Teams mit ihren Führungskräften und die Gremien der Unternehmensleitung. Des Weiteren sind da noch die Gruppen, die sich anlassbezogen und befristet bilden, in denen sich Personen aus ganz unterschiedlichen Organisationseinheiten zusammenfinden: Projektgruppen, Task Forces, Führungskräfte-Fortbildungsgruppen, Qualitätszirkel u. v. m. In all solchen Fällen finden sich Organisationsmitglieder über eine längere oder kürzere Zeit zusammen, um Ziele zu erreichen und in Zusammenarbeit Ergebnisse zu erzielen. Als Unterstützung auf diesem Weg werden bisweilen Beraterinnen und Berater gedungen. Wir rücken dann mit einem dicken Katalog möglicher Veranstaltungsformate und einem prall gefüllten Methodenkoffer an und planen Zukunftswerkstätten und Teamentwicklungen oder designen Labs, Hackathons und Reviews, jeweils mit »maßgeschneiderten« Übungen, Planspielen, Visualisierungs-Tools, Befragungs-Designs und Feedbackschleifen.

Irgendwann stehe ich also als Beratungsperson1 das erste Mal in jenem Tagungsraum. Vorhang auf. Die Blicke der Teilnehmenden sind erwartungsvoll auf mich gerichtet. Vermutlich bin ich gut vorbereitet, habe aber von den konkreten sozialen Erfahrungen, die diese Menschen mitbringen und die ihre Erwartungen prägen, nur eine vage Ahnung. Was immer ich jetzt sage oder tue, ich habe damit – Zack! – schon eine Entscheidung getroffen, habe einen Impuls gesetzt, eine erste Botschaft ins gemeinsame Kommunikationssystem »eingespeist«. Auf den Impuls folgt eine Reaktion, das Spiel beginnt. Ob es ein Drama oder Lustspiel, eine getanzte Tragödie oder große Oper wird, ist noch ungewiss. Alle agieren, kommunizieren und improvisieren höchst professionell, alle stellen sich irgendwie aufeinander ein, und so entsteht die Inszenierung. Wie genau kommt zustande, was ich tue und sage? Was habe ich gedacht, gefühlt und berücksichtigt, bevor ich handelte? Was genau hat mich bewogen, es so und nicht anders zu machen, dies und nicht etwas anderes zu sagen? Welche innere Landkarte hat mir den Weg gewiesen? Oft genug weiß man es hinterher nicht mehr.

Hier jedenfalls, in dieser ersten Begegnung mit der Gruppe in einem Raum, ist das bevorstehende Abenteuer zu spüren. Nicht umsonst haben auch alte Hasen unserer Zunft noch Lampenfieber. Es beginnt ein kollektiver Tanz, der aus dem Moment heraus erfunden wird, von genau diesen Menschen, dieser Gruppe, und niemand kann wissen, wie er ausfallen wird. Es entsteht jedes Mal eine einzigartige Choreografie, weder vorhersehbar noch als Ganzes replizierbar. In Anbetracht dieser radikalen Unplanbarkeit des dynamischen Gruppenprozesses – manche sagen dazu auch Gruppendynamik – können einem die minutengenau fixierten Ablaufpläne, Trainingsleitfäden und Workshop-Designs, die allenthalben erstellt werden, nahezu absurd erscheinen. Grad so, als wolle man mit einem rituellen, nach strengen Regeln vollzogenen Abwehrzauber die bösen Geister der Unverfügbarkeit zähmen.

Dabei hat es sich inzwischen durchaus herumgesprochen, dass für den Erfolg der Arbeit von Gruppen klug geschnürte Aufgabenpakete mit präzise ausgeflaggten Zielen weitaus weniger ausschlaggebend sind als die Kooperationsqualität, die die Gruppe entwickelt. Das Wesen dieser Qualität indes entzieht sich gern der Beschreibung – und damit auch einer Möglichkeit der Beeinflussung. Es beruht auf komplexen Dynamiken, die wir gemeinhin mit sprachlichen Hilfskonstruktionen zu erfassen versuchen: Die Chemie muss stimmen, dann entsteht ein Teamspirit oder Gruppengeist. Und diesen »Geist« sollte ich als die beratende Person idealerweise hegen und pflegen, schubsen und bremsen, entfalten und verdichten – auf alle Fälle klug zu lenken wissen.

Doch wie lerne ich das? Wie bekomme ich Kontakt zu der Kraft, die in dem Ganzen das »Mehr« als die Summe der Teile entstehen lässt? Wie kann ich auf die unsichtbaren Dynamiken Einfluss nehmen, die so manche Projektgruppe kläglich scheitern lässt, obwohl darin die klügsten und prominentesten Köpfe der Organisation versammelt sind? Eindeutige Antworten auf diese Fragen kann es nicht geben, da es sich um Kontingenzphänomene handelt, also um etwas, das weder notwendig noch unmöglich ist – immer hätte alles auch ganz anders sein können. Das entbindet Beratende jedoch nicht von der Aufgabe, Hypothesen zu entwickeln, und diese in professionelles Handeln zu übersetzen. Denn das ist es schließlich, was wir in der Arbeit mit Gruppen tun. Es lohnt sich also, den Weg von der inneren Prüfung der Wahrnehmung zur äußeren Handlung als Beratungsperson einmal sorgfältig zu beleuchten. Genau diesem Vorhaben möchte sich das vorliegende Buch widmen.

Wer hat das nicht schon einmal erlebt: zu spüren, dass in der Gruppe »irgendwas nicht stimmt«, dass sich die Leute »seltsam verhalten«, dass etwas Ungutes »in der Luft liegt« oder etwas Ungeklärtes »im Raum steht«. Oder natürlich andersherum: dass alles, wie von Geisterhand geführt, einfach »rund läuft«.2 Wenn Menschen sich in einem Interaktionsgefüge bewegen, gibt es unendlich viele Einflussfaktoren, deren dynamische Wechselwirkungen das Klima und den Ton des Miteinanders bestimmen. Auf diese Weise entwickelt sich Vertrauen oder Misstrauen in der Gruppe, tauchen Konflikte auf, wird Kreativität gefördert oder behindert, das Verhältnis zu Aufgabe und Kontext geformt, kurz: So entsteht der Geist der Zusammenarbeit. Spätestens durch diese Erfahrungen erahnen auch die Sachorientiertesten unter den Beratenden in der Regel, was es in der Tiefe bedeuten mag, dass der Beziehungsaspekt den Inhaltsaspekt der Kommunikation bestimmt, wie Paul Watzlawick bekanntermaßen feststellte (s. dazu Watzlawick, Beavin u. Jackson 1996).

Die Interaktionen der Gruppenmitglieder folgen einer Choreografie, deren Figuren und Schritte aus stillen Beziehungsübereinkünften erwachsen. Diese Choreografie gilt es zunächst einmal zu verstehen (heißt systemisch: zu beobachten, zu beschreiben und zu bewerten), denn nur dann kann ich als Beratungsperson ungestraft dazwischentreten – und vielleicht ein paar neue Schritte und Bewegungsmuster anstoßen. Einfach reingrätschen geht nicht. Was also sind, am Rande der Bühne stehend, meine Abwägungen, Einschätzungen und Hypothesen zum Gruppenprozess? Wie kann ich mich angemessen auf seine Dynamik und Dramaturgie einschwingen, und wie finde ich den Moment für einen ersten Schritt hinein, das »window of opportunity« für eine wirksame Intervention?

Die Systemtheorie bietet sich natürlich sofort als Brille an, wenn man komplexe, autopoietische Prozesse »lesen« lernen möchte. Will man jedoch Aufschluss darüber bekommen, wie speziell mit Gruppenprozessen umzugehen ist, trifft man hier unversehens auf eine Leerstelle: Die neuere Systemtheorie luhmannscher Prägung kennt den Begriff der Gruppe überhaupt nicht mehr. Als Kategorie sozialer Systembildung wird er als nutzlos angesehen, denn bekanntermaßen bestehen in diesem Denkrahmen soziale Systeme nicht aus ihren Elementen (in diesem Fall Gruppenmitgliedern), sondern aus Kommunikationen. Das soziale Phänomen Gruppe wird dementsprechend entweder dem System »Interaktion« oder dem System »Organisation« zugerechnet.3 So erweist es sich hier sowohl als lohnend, den »frühen Luhmann«4 noch einmal neugierig zu konsultieren, als auch, andere systemtheoretische Ansätze ein wenig »gegen den Strich« zu lesen, um sie für unsere Belange nutzbar zu machen. Und allem voran müssen wir die Theoriebildung und Praxiserfahrung der Gruppendynamik heranziehen. Diese Forschungsrichtung hat sich, seit Kurt Lewin 1944 am MIT das Research Center of Group Dynamics gründete, auf die spezifischen Prozesse und Dynamiken in und von Gruppen spezialisiert und den Theoriediskurs mit zahlreichen wegweisenden Erkenntnissen versorgt.5

Die Überlegungen in diesem Buch sind also sowohl vom gruppendynamischen als auch vom systemischen Denken gespeist. Und da die Wurzeln des gruppendynamischen Denkens mit der Psychoanalyse einerseits und der Sozialpsychologie andererseits verbunden sind und auch der systemische Ansatz theoretisch vielgestaltig ist, fließen hier Denkfiguren aus multiplen Perspektiven ein. Mit solch verschiedenen Brillen ausgestattet möchte das Buch gleichsam mit den Lesenden hinter die Kulissen des Gruppengeschehens schauen. Kulissen trennen im Theater die Vorderbühne von der Hinterbühne, jenem halbdunklen Bereich, von wo aus die Bühnenauftritte und Einsätze aller Art organisiert und orchestriert werden. Wenn wir uns als Beratende in die Prozesse von Gruppen einschalten wollen, müssen wir die Kunst beherrschen, respektvoll und trittsicher deren Hinterbühne6 zu besuchen – ohne damit Gefahr zu laufen, sofort achtkantig herausgeworfen zu werden, wie das im Theater mit Fremden sofort passieren würde.

Was kann ich also z. B. in einem beraterisch begleiteten OE-Prozess7 mit einem Vorstandsgremium tun, das sich zwar als Team versteht, dessen Mitglieder sich jedoch bei Entscheidungen stets gegenseitig blockieren? Hier könnte es ja von Vorteil sein, die Vorstände zur Selbstbeobachtung anzuregen. Wie aber komme ich dahin, wenn sie nur darauf geeicht sind, den Blick ausschließlich nach außen zu richten (z. B. in den Markt oder die Politik) oder allenfalls in die Verfasstheit der Organisation hinein? Wenn man die Arbeitsbeziehung nicht ruinieren will, ist hier gewiss strikt davon abzuraten, erst mal eine ordentliche Teamentwicklung zu verschreiben, einfach Feedback zu geben, oder unvermittelt zirkuläre Fragen zu stellen. Störe ich – wenn auch in bester beraterischer Absicht – die Kommunikationsmuster zur Unzeit oder auf inadäquate Weise, bekomme ich es postwendend mit heftigen Abwehremotionen zu tun. Abgesehen davon, dass ich gegebenenfalls auch damit umzugehen gelernt haben sollte, muss hier sowohl eine Geläufigkeit im Umgang mit interventionsleitenden Theoriemodellen her als auch eine professionelle Sensibilität im Kontakt mit der Gruppe. Mit einem Wort: Hier ist Prozesskompetenz gefragt.

Nun ist das leicht gesagt. Kompetenzen sind ausgesprochen komplexe »Dispositionen selbstorganisierten Handelns«.8 Sie vereinen sowohl Wissen und Fähigkeiten als auch Haltung und Erfahrung. Ein Universalrezept dafür gibt es nicht. Dieses Buch soll dazu beitragen, Choreografien kennen und »lesen« zu lernen, und es will eine Idee vom Mitschwingen und professionellen Dazwischengehen vermitteln.9 Es geht dabei weniger um eine neuerliche Zusammenstellung des Fachwissens über Gruppenprozesse als um das Mindset und die inneren Prozesse der Beratenden im Interventionshandeln. Das Buch ist für Kolleginnen und Kollegen aus Training, Beratung und Coaching gedacht, denen eine prozessorientierte Arbeit mit Gruppen ein Anliegen ist. Es ist für diejenigen geschrieben, die Pläne machen, um etwas zu haben, was man ggf. auch umwerfen kann, und die wissen, dass die Arbeit mit Gruppen die hohe Kunst der Improvisation bzw. Stegreifintervention erfordert und ermöglicht.

1 Im Folgenden wird diese Bezeichnung für alle Rollen im Beratungsrahmen verwandt, ebenso wie der Terminus »Beratung« alle Formen wie Training, Moderation, Mediation etc. einschließen soll. Spezifiziert werden sie nur dann, wenn es für den Kontext notwendig scheint.

2 Das Phänomen des Funktionierens verstehen wir gemeinhin zwar ebenso wenig wie die augenfällige Dysfunktion, müssen es aber vielleicht auch nicht: Never change a running system.

3 Siehe auch Wimmer (2007) mit seinem Plädoyer für die systemtheoretische Rehabilitation des Gruppenbegriffs.

4 Gemeint sind seine Schriften der 1960er- und 1970er-Jahre, jedenfalls bevor er sich mit seinem Hauptwerk Soziale Systeme in der Theoriebildung vom Menschen als Bezugsgröße abwandte.

5 Für einen ersten Überblick empfiehlt sich das Handbuch von Edding und Schattenhofer (2015).

6 Erving Goffman (1969) hat diese schöne Metapher für die unsichtbaren Beweggründe des menschlichen Handelns eingeführt.

7 OE: Organisationsentwicklung.

8 Erpenbeck und von Rosenstiel (2003, S. XI). Die in diesem Werk vorgenommene Sichtung und Neubewertung gilt als wegweisend in der Theoriebildung der Erwachsenenbildung (s. auch Arnold u. Erpenbeck 2016).

9 Wie die bewegungs- und körperbezogenen Bilder schon ahnen lassen, sind hier Präsenzsituationen im Blick. Die spezifische Dynamik von virtuellen Begegnungen wird unberücksichtigt bleiben, denn das ist eine andere Geschichte, die es wert ist, ein andermal erzählt zu werden.

2 Der Rahmen: Kleine Artenkunde

Vorbereitung ist für Beratende ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit. Es gehört zur professionellen Routine, sich im Vorfeld der ersten Begegnung mit einer Gruppe geflissentlich zu informieren. Sollte es ein Auftrag innerhalb einer Organisation sein, haben vermutlich Gespräche mit Verantwortungstragenden der Organisation stattgefunden, die Überschrift über die bevorstehende Veranstaltung(sreihe) ist abgesegnet und an die Teilnehmenden kommuniziert, Hintergrund und Ziel des Beratungsauftrages sind geklärt. Es liegen Informationen über den Kontext vor, z. B. das Organigramm nebst Mission-Statement, und die Vor-Geschichten aus der Historie der Organisation und der Gruppe, des Teams oder des Gremiums sind notiert. Welche Fragen sollten sich Beratende darüber hinaus stellen? Zum Beispiel eine Frage, die fast zu banal scheint, um ihr überhaupt Bedeutung beizumessen, nämlich: Was ist das für ein Typus von Gruppe, mit der ich da arbeiten werde? Und in der Folge: Was lassen sich daraus für Arbeitshypothesen über die zu erwartende Prozessdynamik ableiten?

2.1 Steckbrief: Gruppe

Bevor wir uns verschiedene Arten von Gruppen anschauen, brauchen wir erst einmal eine halbwegs solide Begriffsbestimmung. Wenn man Gruppe auf dem niedrigsten Definitionslevel als Ansammlung von Menschen versteht, dann ist mithin alles Gruppe, was größer als zwei ist. Zwei werden als »Paar« wahrgenommen und sind auch im soziologischen Verständnis noch keine Gruppe.10 Und schon wird es kompliziert: Kommt die Definition »Gruppe« nun aus der Innen- oder der Außenperspektive? Von außen gesehen kann eine gewisse Anzahl zufällig beieinanderstehender oder sich bewegender Personen (wie z. B. Fußgänger an einer Ampel) durchaus als Gruppe wahrgenommen werden, wenn sie der beobachtenden Person als eine geordnete Einheit erscheinen. Von innen würde sich diese Menschenansammlung wiederum wohl nicht unbedingt als Gruppe sehen.

Ein paar Faktoren müssen sich also finden lassen, die aus einer Menschenansammlung eine Gruppe bzw. ein soziales System machen. Eine erste Idee dieses Vorgangs liefert Niklas Luhmann in einer seiner frühen Schriften:

»Jeder menschliche Kontakt erfordert eine gewisse Selbstdarstellung der Teilnehmer. Sie sagen in ihrem Handeln, Stellungnehmen, Entscheiden, unvermeidlich etwas über sich selbst aus und legen sich damit vor Partnern, die ein Gedächtnis haben, auf bestimmte Ansichten oder Qualitäten fest. Wiederholte Kontakte festigen auf diese Weise im Laufe der Zeit soziale Beziehungen, an die sich Kontinuitätserwartungen knüpfen, kleine Systeme mit eigenen Normen, darunter in der Hauptsache der: so zu bleiben, wie man sich gezeigt hat.«11

Und schon haben wir eine fertige »Gruppe«. Öffnet man die Blende nun etwas weiter und schaut auf den schulenübergreifenden sozialwissenschaftlichen Konsens, dann lassen sich folgende Merkmale finden, die aus dieser Sicht eine Gruppe kennzeichnen:

Interaktion:

Die Personen interagieren miteinander und sind nicht einfach nur am selben Ort.

Normen:

Es sind soziale Normen erkennbar, die das erwartete Verhalten der Individuen regulieren.

Rollen:

In den Interaktionen der Mitglieder bilden sich variable Rollen heraus, die alle funktionalen Notwendigkeiten für die Gruppe abdecken.

Daseinszweck:

Die Mitglieder teilen das Einverständnis mit einem Daseinszweck. Das kann eine Arbeitsaufgabe sein, eine gemeinsame Aktivität oder eine Weltanschauung.

Grenzen:

Es gibt eine von innen wie von außen erkennbare Außengrenze. Dadurch ist definiert, wer dazugehört und wer nicht.

Identität:

Die Mitglieder bilden eine kollektive Identität heraus, der sich ihre individuelle Identität nachordnet; Angriffe auf andere Gruppenmitglieder werden tendenziell als Angriffe auf sich selbst betrachtet.

Stabilität:

Die Gruppe ist hinreichend lange zusammen, um sich selbst als Gruppe konzeptualisieren zu können. Die entsprechende Zeit ist variabel.

Damit ist die Gattung »Gruppe« beschrieben.12 Im Folgenden können wir nun genauer umreißen, mit welchen speziellen Arten dieser Gattung wir es im Rahmen von Beratung, Training und Weiterbildung zu tun haben. Wir wagen uns dabei auch bereits – quasi als Teaser – an erste vorsichtige Hypothesen darüber heran, welche Prozessdynamik zu erwarten ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Prozessdynamik von Gruppen, die in einen organisationalen Kontext eingebunden sind, immer von diesem Kontext mit all seinen formalen und kulturellen Bedingungen geprägt ist. Das ist der Ausgangspunkt jeder weiteren Überlegung.

2.2 Lerngruppen

Lerngruppen findet man zuhauf in einem Feld, welches die Profis aus Training und Beratung von jeher gern bestellen: in der Weiterbildung, insbesondere der Führungskräfteentwicklung. Die hier angesiedelten Seminare und Workshops bedienen die unterschiedlichsten Themen und Inhalte im weiten Feld von Leadership und Management. Maßgebliches Kriterium im Sinne der zu erwartenden Gruppenprozesse ist hier der Veranstaltungsrahmen, da dieser die Zusammensetzung der Gruppenmitglieder bestimmt. Der entsprechende Markt unterscheidet hier zwischen »offenen« Seminarangeboten und einer »Inhouse«-Weiterbildung.

2.2.1 Im »Offenen«

»Offene« Seminare finden sich im Programm zahlreicher Beratungs- und Weiterbildungsanbieter. Zu diesen Veranstaltungen kommen Führungskräfte aus den unterschiedlichsten Kontexten und Branchen an einem Tagungsort zusammen. Die Lerngruppen umfassen i. d. R. zwischen acht und 16 Teilnehmende, die Veranstaltungsdauer variiert meist von halbtägigen Workshops bis zu einwöchigen Seminaren. Was die Zusammensetzung anbelangt, handelt es sich hier um sogenannte Stranger Groups – um Gruppen, deren Mitglieder sich vorher nicht kannten. Einige der Teilnehmenden werden aufgrund eines Entwicklungszieles, das in einem Potenzialdiagnostik-Verfahren, Development Center oder Mitarbeitergespräch ihrer Herkunftsorganisation dingfest gemacht wurde, zu dem jeweiligen Seminar geschickt; andere haben sich das Seminar selbst ausgesucht, sich vielleicht sogar intern für ihre Teilnahme stark gemacht. In der Gruppe mischen sich also die »Geschickten« mit den »Freiwilligen«. Und damit geht die Prozessdynamik schon los.

So unterschiedlich die Herkunftsorganisationen sind, so breit können auch die »Dienstgrade« und Führungsspannen der teilnehmenden Führungskräfte gefächert sein. Das ist für die zu erwartende Prozessdynamik insofern von Bedeutung, als die Teilnehmenden aus ihren jeweiligen organisationalen Herkunftskontexten sowohl ein kulturbedingtes Mindset als auch ihr persönliches Statusbewusstsein in die Interaktionen der Gruppe hineintragen. Da sitzt dann schon mal der Forstamtsleiter neben der Investmentbankerin, oder die Pflegedienstleitung des Kreiskrankenhauses neben der CTO13 einer global operierenden Fintech-Company. In dieser Diversität müssen sich die Teilnehmenden erst einmal zurechtfinden. Gleichzeitig macht das Seminarsetting und der meist für alle geltende »Casual«-Dresscode die mitgebrachten Statusunterschiede weitgehend unsichtbar. Das hat zwar eine egalisierende Wirkung, irritiert aber auch die gewohnte soziale Orientierung und befeuert so zunächst das Ringen um einen angemessenen Platz im Gruppengefüge.

Ob sich die mitgebrachten Unterschiede verfestigen oder ob sie gegebenenfalls im Laufe des Gruppenprozesses völlig verblassen, ob andere Unterschiede oder Gemeinsamkeiten in den Vordergrund treten, welche Transformationen also im Rang- und Rollengefüge möglich werden – das gehört zum spannenden Teil des Tanzes. Im Falle einer lebendigen Prozessdynamik werden hier für gewöhnlich so manche Vorurteile revidiert. Eine solche Erfahrung schärft das Bewusstsein der Teilnehmenden für soziale Zuschreibungen und verflüssigt unreflektierte Glaubenssätze. So verspricht eine Stranger Group ein Höchstmaß an unbekannten Variablen und stellt damit für die Trainerin oder den Trainer eine besondere Herausforderung in prozessorientierter Arbeit dar.

Für die Teilnehmenden hingegen bieten Stranger Groups zunächst einmal eine große Freiheit. Hier ist auf den ersten Blick fast alles möglich. Jede Person kann sich selbst noch mal ganz neu erfinden, da das Geflecht von Normen und Erwartungen, in welchem sie sich in ihrem organisationalen Heimatkontext bewegt, in dieser Gruppe keine Gültigkeit hat. Das ermöglicht eine persönliche Offenheit, die im Rahmen betriebsinterner Gruppenformationen nicht denkbar wäre. In einem »offenen« Seminar oder Training können ungestraft »Schwächen« kenntlich gemacht werden, hier können die Teilnehmenden von Problemen, Ängsten oder Führungs-»Unfällen«, von ungeliebten Chefs und Kündigungsgelüsten sprechen, ohne Angst haben zu müssen, dass die Geschichte postwendend in den Flurfunk des eigenen Unternehmens eingespeist wird.

2.2.2 Im Haus

Das Pendant zum »offenen Seminar« ist im Beratungsjargon die Inhouse-Veranstaltung: Seminare, Workshops und Trainings, die vom Unternehmen für die eigenen Führungskräfte mit dafür eingekauften oder hauseigenen Trainern und Trainerinnen durchgeführt werden. Teilweise unter den gleichen Überschriften wie bei den offenen Angeboten. Dauerbrenner sind dabei Themen wie Change-Management, Konfliktlösung, Teamdynamik, Selbst-Management oder Verhandlungsführung. Im Verein – als Curriculum – heißt das Ganze dann gern Führungskräfte-Entwicklungsprogramm. Auch hier ist von Belang, ob die Teilnehmenden dienstverpflichtet oder freiwillig dabei sind, wobei es auch Mischformen gibt, z. B., wenn jemandem die Maßnahme innerhalb eines Mitarbeitergesprächs im Rahmen des »persönlichen Entwicklungsplans« nahegelegt wurde. Je nachdem also, wie es sich im Vorfeld verhält, bläst der Seminarleitung von Beginn an ein sehr unterschiedlicher Wind ins Gesicht. Wenn sie diesen Wind ignoriert, also in keiner Weise dazu in Resonanz geht, droht schon gleich zu Beginn ein Schiffbruch (auch hierzu an anderer Stelle eingehendere Reflexionen).14

Der bedeutendste Faktor für die zu erwartende Prozessdynamik in einer solchen Gruppe ist der allen gemeinsame organisationale Kontext. Die Führungskräfte sind dadurch von vornherein in ein festes Gerüst von Rollenerwartungen eingespannt, ihre individuelle Freiheit ist begrenzt, der Konformitätsdruck hoch. In den Kommunikationen werden die kulturellen Codes des Gesamtunternehmens, Tabus, Glaubenssätze, Werte und Normen deutlich erkennbar. Die Beratungsperson muss hier in besonderer Weise drei Faktoren stets in der Balance halten:

die Loyalität gegenüber dem veranstaltenden Unternehmen

das Engagement für die Interessen der Teilnehmenden und

die eigene professionelle Neutralität.

Denn die Teilnehmenden von Inhouse-Gruppen haben nicht selten Ambitionen, die Beratungsperson für ihre Interessen zu vereinnahmen – mit Vorliebe im Schulterschluss gegen die oberste Instanz der Unternehmenshierarchie. Dieser Versuch ist immer ein schlauer Spielzug; und manchmal nur dazu da, die Korrumpierbarkeit der Seminarleitung und damit deren Seriosität zu überprüfen – gleichsam eine paradoxe Intervention vonseiten der Teilnehmenden.

Das Thema Hierarchie ist ohnehin in den Lerngruppen der Führungskräfteweiterbildung eine Achse, um die herum sich viele Kommunikationsrituale bilden. Doch gehen wir hier noch mal einen Schritt zurück zu den Rahmenbedingungen. Bezogen auf die traditionellen Linienhierarchien ist von entscheidendem Belang, ob die Lerngruppen im Horizontalschnitt zusammengestellt werden (Führungskräfte einer Hierarchie-Ebene, also Peers) oder im Vertikalschnitt (Führungskräfte verschiedener Hierarchie-Ebenen). Das ist für die Prozessdynamik in der Gruppe ein deutlicher Unterschied.

Eine Lerngruppe aus Peers, so sollte man meinen, bietet die ideale Voraussetzung für eine offene und vertrauensvolle Kommunikation unter Gleichen. Zumindest folgen die meisten Organisationen bei ihrer Entscheidung über die Gruppenzusammensetzung dieser Annahme. Allerdings ist es in der Praxis nicht ganz so einfach. Prozessdynamisch gesehen muss hier sowohl mit Konkurrenzspannungen als auch mit dem diametralen Gegenteil gerechnet werden: einer unreflektierten »Verschwisterung«. Die Verführung ist in dieser Gruppenart groß, sich implizit oder explizit gegen einen gemeinsamen »Außenfeind« (wahlweise die Mitarbeitenden oder die Chefs) zu verbünden. Das vermeidet die unangenehme interne Differenzierung, suspendiert aber damit auch ein wichtiges Lernfeld. Die Beratungsperson begegnet hier in besonders ausgeprägter Weise den beiden antagonistischen Urkräften der Gruppendynamik: dem Zusammenschluss und der Auseinandersetzung (mehr dazu in Kap. 6.1.1).

Im Fall der Hierarchie-Ebenen-übergreifenden Gruppe ist das Spannungsverhältnis etwas anders gelagert.15 Die Beratungsperson wird hier in besonderer Weise im Themenspektrum von Macht und Autorität gefordert. Auch in diesen Lerngruppen liegt der permanente Vergleich und die unterschwellige Aufstiegskonkurrenz nahe – vor allem aber die Angst vor Fehltritten. Als teilnehmende Führungskraft muss man dabei aufpassen, was man von sich zeigt. Jede persönliche Preisgabe kann gefährlich werden: Die Ranghöheren fürchten Scham und Statusverlust, die Rangniedrigeren implizite oder explizite Sanktionen. Das kann im schlimmsten Fall zu Blockaden in der Zusammenarbeit der Gruppe führen. Gelingt es jedoch, diese Blockaden gemeinsam zu lösen, wird hier eine große Chance freigelegt: Durch Perspektivwechsel und Reflexion der jeweiligen Rollenzwänge lassen sich Verständnisbrücken zwischen den Hierarchie-Ebenen bauen.16 Manchmal genügt als Initialzündung schon, wenn einer der Ranghöchsten der Gruppe erkennbar ein persönliches Risiko eingeht. Das kann mit einem Schlag für alle anderen den Weg in eine neue Qualität der Verständigung freimachen. Solche Begegnungsmomente sind sehr wirkmächtig und wären in einer Gruppe von Peers nicht in gleicher Weise möglich.

2.3 Team

Die prägende Gruppenvariante in den Organisationen selbst ist das Team. Diese Bezeichnung hat in den letzten Jahrzehnten eine beachtliche Karriere hingelegt – nicht nur in Organisationen. Auch in der gesellschaftlichen Alltagskultur ist sie ein Renner. Alles, was nicht nach Zufallsgruppe aussieht, ist sofort »Team«: Wenn Halbwüchsige sich aus einer ungeliebten Familientradition ausklinken wollen, wird ihnen vorgehalten: »Aber wir sind doch ein Team!«; die Bäckerei um die Ecke sucht eine »Bäckereifachkraft (m/w/d) zur Verstärkung für unser Team«; sogar der Parteienvorsitz wird zunehmend gern von einem Tandem übernommen, das sich selbst als »gutes Team« bezeichnet – als wäre a priori Qualität drin, wo »Team« draufsteht.

Die Konjunktur des Begriffes als Passepartout nahm in Deutschland in den 1970er-Jahren ihren Anfang. In dieser Zeit gab es im gesellschaftlichen Diskurs einen vehementen Aufbruch in Richtung Hierarchiekritik. Das althergebrachte Autoritätsverständnis war nicht zuletzt durch die Studentenrevolte der späten 1960er-Jahre ins Wanken geraten, und in der Wirtschaft dachte man über die »Humanisierung der Arbeitswelt« nach. Der Gedanke als solcher war zwar nicht neu,17 nahm aber erst mit dem gesellschaftlichen Wandel in dieser Zeit Fahrt auf. Dabei war letztendlich die ökonomische Einsicht ausschlaggebend, dass Menschen, die weniger vereinzelt und tayloristisch-fragmentiert arbeiten, eine höhere Leistung erbringen können.

Die Konsequenz dieser Überlegungen war in den 1990er-Jahren die Einführung der Gruppenarbeit in der Industrie.18 Dies kann zugleich als die Geburtsstunde der noch heute verbreiteten »Teamifizierung« von Organisationen und Unternehmen gelten. Am Anfang jener Entwicklung stand also ein sehr ambiges Motiv: Es ging einerseits um Leistungssteigerung zur Profitmaximierung und andererseits um mehr Menschlichkeit; das eine sollte das jeweils andere bedingen. Auch wenn dieses Experiment weder in der einen noch in der anderen Richtung den gewünschten Quantensprung mit sich gebracht hat (s. hierzu Wimmer 2006), schwingt bis heute im Teambegriff die Verführungskraft einer Sozialutopie mit – die Möglichkeit der Versöhnung antagonistischer Paradigmata: All die oben genannten sozialen Zusammenschlüsse wollen mit dem Etikett »Team« glauben machen, dass es sich hier um eine ultimativ humane Form von kompetitiver Effizienz und Höchstleistungserbringung handelt.

Auch in Unternehmen wird der Terminus mit unermüdlicher Selbstverständlichkeit strapaziert, auch hier oszilliert er zwischen Heilsversprechen und Leerformel. Oft genug sind es schlicht Organisationseinheiten, die als »Team« bezeichnet werden – nur, weil es das gängige Etikett für eine Box im Organigramm ist. Ein Zusammenschluss von selbstständig arbeitenden Außendienstlern im Vertrieb z. B. ist streng genommen kein Team, da alle einzeln ihrer Wege gehen und in Bezug auf die Geschäftsabschlüsse gegebenenfalls sogar hart miteinander konkurrieren müssen. Ein Team, so sollte klargestellt werden, zeichnet sich maßgeblich durch die strukturell notwendige Kooperation seiner Mitglieder aus (vgl. Edding u. Schattenhofer 2012, S. 20 f.). Doch alles der Reihe nach. Folgender Steckbrief könnte zur genaueren Unterschiedsbildung beitragen:

Ein Team hat eine definierte Zahl von Mitgliedern – mindestens jedoch zwei.

Ein Team wird ausschließlich zur Erledigung einer Aufgabe gebildet.

Die Mitglieder tragen selbstständig mit ihren jeweiligen Fähigkeiten zur Erreichung der Teamziele bei.

Die Aufgaben und Tätigkeiten der Teammitglieder sind beschrieben, ergänzen sich und sind aufeinander bezogen. Zur Erreichung des Teamzieles sind alle Einzelbeiträge notwendig. Das bedingt eine gegenseitige Abhängigkeit in den Arbeitsabläufen und in der Leistungserbringung.

Das Team hat eine Teamidentität, die sich von den individuellen Identitäten der Mitglieder unterscheidet.

Das Team kommuniziert auf eine spezifische Weise – sowohl innerhalb des Teams als auch mit seiner Umwelt.

Die Teamleistung wird regelmäßig von einer übergeordneten Instanz bewertet.

Teams in Organisationen haben – wie oben einleitend erwähnt – einen festen Platz in der Aufbauorganisation. In der ehrwürdigen Linienorganisation ist ihnen entsprechend eine Führungskraft vorgeordnet, in einer Matrixorganisation eventuell sogar zwei. Agile Teams haben ggf. ihren Product Owner oder andere Funktionsrollen. Die Handlungs- und Ergebnisautonomie von Teams variiert je nach Hierarchieverständnis der Organisation. In jedem Fall aber wird darauf gesetzt, dass Teams eine inhärente Kraft zur Selbstorganisation haben.19 Und sollte diese eingebaute Automatik mal unrund laufen und sich gegen die Organisationsinteressen entwickeln, tritt die Zunft der Beratenden auf den Plan und bastelt eine »maßgeschneiderte« Teamentwicklungsmaßnahme.

Das Format Teamentwicklung ist allseits bekannt und weit verbreitet. Es gibt viele Regalmeter von Fachliteratur dazu mit Spielen, Übungen, Simulationen, Typologierastern und Designvorschlägen. Im Vergleich dazu, wie leicht, lustvoll und spielerisch die beraterische Arbeit mit Teams in diesen Werken beschrieben wird, nimmt es wunder, wie frustriert Beratende im Tagesgeschäft mitunter aus Teamworkshops herauskommen. Die Erfahrung nämlich, wie vielschichtig sich die Lage darstellen kann, wenn es irgendwo in der Zusammenarbeit »hakt« – wenn es also um Konflikte oder Dysfunktionen im Team geht –, machen Beratende meist sehr früh in ihrer beruflichen Laufbahn. Und hier wird auch im Handumdrehen klar, dass keine »Teamuhr« und kein Teamrollen-Modell die Komplexität eines Gruppenprozesses erschöpfend beschreiben kann.20