Mittelmaß und Wahnsinn - Gerhard Hastreiter - E-Book

Mittelmaß und Wahnsinn E-Book

Gerhard Hastreiter

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Beschreibung

Wir proklamieren Fortschritt und Digitalisierung in unseren großen Unternehmen und Organisationen. Dabei legen wir Verhaltensweisen an den Tag, die bisweilen beinahe manisch erscheinen. Trotzdem bleiben die Ergebnisse meist im Mittelmaß stecken. Wir versuchen, eine Welt, die voller neuer Möglichkeiten steckt, mit Methoden zu managen, die noch immer einer frühindustriellen Ära entspringen. Mit dem provokativen Blick eines Insiders und häufig mit einem Augenzwinkern beschreibt Gerhard Hastreiter den täglichen Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit und zeigt Wege aus diesem Dilemma. In "Mittelmaß und Wahnsinn" beschreibt er, wie in unseren großen Organisationen eine Rhetorik der immer währenden Beschleunigung und Disruption gepflegt wird, während das Ergebnis häufig nichts anderes ist als Durchschnitt. Er zeigt in ebenso heiterer wie bisweilen bestürzender Weise, wie uns alte, tief verankerte Verhaltensmuster hindern, das Potenzial tatsächlich zu heben, das Technologie und Digitalisierung versprechen. Und er sucht nach Strategien, wie wir den Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit auflösen können in einer Welt, in der der Stern des Skaleneffekts langsam aber sicher verglüht und dem Paradigma der Autonomie Platz machen muss.

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Dr. Gerhard Hastreiter

Mittelmaß und Wahnsinn

Vom täglichen Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit in unseren Unternehmen und wie Fortschritt und Innovation tatsächlich vom Fleck kommen könnten

© 2019 Dr. Gerhard Hastreiter

Illustrationen: Sabine Kennel

Titelbild: iStock

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Hardcover

978-3-7482-2419-8

e-Book

978-3-7482-2420-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Vorwort

Mittelmaß und Wahnsinn

Neue Welt, alte Mittel

Exponential-Potenzial und Ergebnis-Depression

In Kaffeeküchen und Pendlerzügen

Durchschnitt bis zum Ende

Exponential-Potenzial

Ergebnis-Depression

Prinzip 1: Rechnen Sie mit dem Schlimmsten!

Unternehmer verzweifelt gesucht

Angststörungen

Auf der Suche nach dem Stein der Weisen

Optimierer, nicht Unternehmer

Prinzip 2: Diversity — aber richtig!

Matrix Overloaded

Es lebe die Matrix

Ergebnislos

Die große Frage

Ein Exkurs über Komplexität

Prinzip 3: Wider die Matrix!

Jäger des verlorenen Schatzes

Ab in die Garage

Dream on

Der Tempel des langsamen Siechtums

Prinzip 4: Wider die Selbsttäuschung!

Die großen Gleichmacher

Immer und überall

Money, Money, Money

Die großen Gleichmacher

Let it be (done)

Prinzip 5: Sapere aude!

Clone Wars

Alle Jahre wieder

Asche zu Asche

Die Verteidigung der Klonkrieger

Durchschnittlich überdurchschnittlich

Prinzip 6: Potenzial, nicht Ressource!

Mission Impossible

Von Flughäfen und Philharmonien

Prae Mortem

Kein Platz für Helden

Prinzip 7: Ehrlich. Agil. Mutig

Die Dialektik der Veränderung

Das ewige Mantra

Der Change, das sind die anderen

Ehrlichkeit

Reziprozität

Prinzip 8: Ehrlichkeit und Reziprozität

Ready Player One

Eine Welt voller neuer Optionen

Die Organisation neu (er-)finden

Weg mit den Ritualen der alten Welt

Die Richtigen (be-)fördern

Die Architektur der Autonomie

Im Inneren der Zelle

Schöne neue Welt

Was ist drin?

Neue Manager braucht das Land

In der Blase

Am Scheideweg

Danksagung

Vorwort

Zu gerne hätte ich dieses Buch „Bekenntnisse eines Nichtkonformisten“ genannt, ein Bild gezeichnet als jemand, der nach fünfundzwanzig Jahren unter dem immer enger gewordenen Joch einer Unternehmensbürokratie die — gefühlten — Ketten gesprengt hat, um nun dem System einen Spiegel vorzuhalten und den Weg in eine bessere Zukunft zu weisen. Opfer und Visionär zugleich. — Allein, das wäre nicht redlich.

Für Nicht-Konformisten ist – wohl zurecht – kein Platz im höheren Management. Ich habe mich gerne in der Nähe des Randes bewegt, den Bogen dessen, was noch als konform gilt, etwas stärker gespannt, gelegentlich dem System einen Spiegel zum Schmunzeln vorgehalten und auch manchmal klar und deutlich Position bezogen. Nie aber habe ich wirklich an den Festen des Systems gerüttelt. Im Gegenteil, ich war stolzer Teil dieses Systems. Ich bin kurz nach der Geburt meiner zweiten Tochter auf ein Management-Seminar gegangen, weil „man die Einladung seines CEOs nicht ausschlägt“. Ich habe mich im Urlaub um Mitternacht aus dem Bett geschlichen, um an Telefonkonferenzen teilzunehmen (in der absurden Annahme, meine Familie würde das nicht wirklich bemerken). Ich habe dem Burnout in die Augen geschaut und gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt. Und warum? — Die Antwort ist einfach: weil es Spaß gemacht hat!

Ich habe ziemlich genau fünfundzwanzig Jahre in einem der größten und erfolgreichsten Unternehmen Deutschlands gearbeitet, einem Versicherungs- und Finanzdienstleister, der unter anderem die Finanzkrise bravourös überstanden hat. Ich hatte das Glück, dabei immer ein Umfeld zu finden, das zu mir passte: Chefinnen und Chefs, von denen ich etwas lernen konnte und Kolleginnen und Kollegen, mit denen zusammen wir etwas „schaffen“ konnten — in beiderlei Sinn des Wortes: kreativ (oder sagt man besser „innovativ“?) und ergebnisorientiert — und dabei Spaß hatten. Vom Programmierer (heute trägt man so eine Qualifikation gerne als Ehrenzeichen) habe ich mich über alle Stufen und „Entwicklungsprozeduren“, die so ein Großunternehmen zu bieten hat, hochgearbeitet ins höhere Management. Ich habe in der IT gearbeitet, im Vertrieb und in dem, was man heute „Operations“ nennt. Ich habe große Linieneinheiten geführt, komplizierte Projekte geleitet und zuletzt die weltweite Inhouse-Beratung. Kurz, ich habe fast alles gesehen und erlebt und nochmal: es hat Spaß gemacht. So viel Spaß, dass ich dafür die Grenzen meiner eigenen Belastbarkeit und der meiner Familie ausgereizt habe.

Dazu kommt, dass das System mit all seinen Dysfunktionen, um die es in diesem Buch auch geht, durchaus erfolgreich ist. Erfolgreich nicht im Sinne eines wir-lassen-alle-anderen-weit-hinter-uns-erfolgreich, eher im Sinne von „gut genug, um unsere Position im Spitzenfeld zu behaupten“, aber trotzdem erfolgreich. Genau hier beginnt jedoch das Problem und es ist ein verbreitetes: Die Lücke zwischen Ambition und Wirklichkeit ist groß und wird immer größer.

Warum ist das so und gibt es einen Weg aus diesem Dilemma?

Dazu verfolgt dieses Buch zwei Thesen. Die erste These lautet: In einer Welt, in der die Möglichkeiten exponentiell wachsen, führen wir große Organisationen immer noch mit den Paradigmen und Methoden einer industriellen, ja teilweise vor-industriellen Zeit. Die sich daraus ergebenden Beschränkungen und Fehlfunktionen sind es, die die Ausschöpfung des wahren Potenzials verhindern. Die zweite These ist: Der Ausweg aus diesem Zustand liegt in einer Transformation von der Großorganisation, die dem Skaleneffekt huldigt, zu einer Organisation der Autonomie, echter Autonomie.

Nach den einleitenden Kapiteln („Mittelmaß und Wahnsinn“ und „Exponential-Potential und Ergebnis-Depression“), die sich mit der Frage der unausgeschöpften Potenziale befassen und warum wir trotz aller „Wahnsinns-Rhetorik“ größtenteils im Mittelmaß stecken bleiben, geht es zunächst um eine Auseinandersetzung mit den angesprochenen Fehlfunktionen:

• Von der erfolglosen Suche nach den internen Unternehmerpersönlichkeiten („Unternehmer verzweifelt gesucht“)

• über die Wucherungen der Matrixorganisation („Matrix overloaded“),

• die erfolglose Jagd nach der Innovation („Jäger des verlorenen Schatzes“),

• die Abhängigkeit von externen Beratern („Die großen Gleichmacher“),

• den wenig durchdachten Umgang mit der „Ressource“ Mensch („Clone Wars“),

• die systematischen Gründe, die zum Versagen in großen Projekten führen („Mission impossible“)

• und die Frage, warum der viel beschworene „Change“ immer wieder steckenbleibt („Die Dialektik der Veränderung“).

Die letzten beiden Kapitel („Ready player one“ und „Schöne neue Welt“) widmen sich schließlich der Frage, wie eine Organisation der Autonomie aussieht und welche Wege es dahin geben kann.

Ach ja, am Ende haben wir uns dann doch vorzeitig getrennt; — mein Arbeitgeber und ich. Warum? Um ehrlich zu sein, die abschließende Antwort auf diese Frage habe ich selbst noch nicht ganz gefunden. Vielleicht liegt auch sie irgendwo in den nächsten Seiten.

Mittelmaß und Wahnsinn

Was dieses Buch soll und was es nicht kann

„Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder dasGleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten."

Albert Einstein

Bisweilen grenzen Genie und Wahnsinn eng aneinander. Manchmal nimmt man ein wenig Wahnsinn in Kauf, um das Genie dahinter leuchten zu sehen. Blickt man aber zurück auf eine Arbeitswoche in einer unserer großen Organisationen, so stellt sich ein Gefühl der ganz anderen Art ein: sich täglich beschleunigender Wahnsinn. Ein Wahnsinn, der die pathologischen Verhaltensweisen selbst zu generieren scheint, aus denen er sich speist: Frustration und Aggression. Am schlimmsten aber ist: am Ende des Pfads lockt nicht etwa das Außergewöhnliche. Nein, das Ergebnis ist meist nichts anderes als: Mittelmaß.

In beidem — im Mittelmaß wie im Wahnsinn — haben sich viele Organisationen eingerichtet, ja geradezu eingekuschelt. Das ist irgendwie und beinahe logisch für das Mittelmaß oder sagen wir freundlicher: den Durchschnitt. Auch wenn es an ein Sakrileg grenzt, das auszusprechen: In der Mitte ist es bequem. Das Risiko ist begrenzt, man muss sich keinen schwierigen Fragen stellen und kann im Wesentlichen weitermachen, wie man es eben im- mer macht. Der Rest der Welt ist ja per Definition auch größtenteils durch- schnittlich.

Natürlich würde kein Manager einer großen Organisation dergleichen zugeben. Vermutlich würde auch keiner dergleichen ernsthaft glauben, denn fast immer wird die praktizierte Durchschnittlichkeit begleitet von der Musik des Wahnsinns, einem sich ständig steigernden Stakkato an Terminen, Initiativen und Immer-Schneller-Vorwärts-Rhetorik. Das Bild vom Hamsterrad ist abgedroschen, aber dennoch beschreibt es die Situation: schneller, immer schneller. Bis zur körperlichen Erschöpfung. Aber ohne substanziellen Fortschritt. Und tatsächlich haben wir auch in diesem W ahnsinn eine Art Komfortzone gefunden. Wir praktizieren ihn geübt und leidenschaftlich. Vom mutig vorgetragenen Wassermelonenstatus (außen grün, innen rot) im Lenkungsausschuss über die multiple Verantwortungsverwässerung in Organigrammen, die wie U-Bahnpläne von Großstädten aussehen, bis hin zu den längst leeren Ritualen der Personalentwicklung — wir tun es! Manchmal tun wir es vielleicht mit einem Augenzwinkern, manchmal klagen wir vielleicht beim Mittagessen und manchmal wehren wir uns vielleicht sogar (ein klein wenig). Aber wir tun es. Schließlich ist der Wahnsinn die Norm und die Geschwindigkeit, mit der wir unser Hamsterrad antreiben, ein wichtiger Einflussfaktor für das persönliche Vorwärtskommen.

Aber selbst wenn man bereit ist, den selbst generierten Wahnsinn als Standard zu akzeptieren: ohne die Aussicht auf das genialische oder wenigstens ein außergewöhnliches Ergebnis fehlt ihm in Wahrheit seine Berechtigung und wir müssen uns fragen, wie wir entweder das Pathologische loswerden oder das Ergebnis auf eine neue Stufe heben können. Oder am besten beides. Dass wir uns aber so gut eingerichtet haben und dass wir unser Rad zusammen mit so vielen anderen im Gleichtakt in Schwung halten, verstellt den Blick darauf, was dafür zu tun wäre. Deshalb ist das erste Ziel dieses Buchs Provokation. In der Hoffnung, dass es eine Reaktion der Art „Das können wir besser!“ hervorruft, habe ich versucht, die Dinge in den buntesten Farben zu malen, die am lautesten nach Veränderung rufen. Das regt hoffentlich an und manchmal sollte der Blick in den Spiegel sogar unterhaltsam sein. Provokation und ein entsprechender Reflex allein sollte schon viel helfen, aber die Fragen, die sich stellen und die Antworten, die es darauf zu finden gilt, sind fundamentaler.

Neue Welt, alte Mittel

Die Arten und Weisen wie große Unternehmen und Organisationen und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heute geführt und gesteuert werden, haben (meist) gute Gründe und tiefe Wurzeln. Sie haben aber auch ihre Zeit. Und die ist für manches einfach abgelaufen. Spätestens seit der Geist der Digitalisierung durch die Korridore weht, ist eigentlich klar, dass man einiges über Bord werfen und vieles neu denken muss. Vieles kann man auch erst jetzt neu denken, weil sich die Möglichkeiten dramatisch geändert haben.

Blicken wir aber zum Beispiel auf die Entwicklung der Produktivität in den letzten Jahrzehnten, also auf den Wert, den wir pro Arbeitsstunde schaffen, so scheint man nichts zu finden von diesen neuen Möglichkeiten. Statt zu wachsen, stagnieren die Zahlen. Heute liegt das jährliche Produktivitätswachstum in den großen Industrieländern deutlich unter einem Prozent. In den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts lag es bei über drei Prozent. Was so unspektakulär klingt, hat drastische Konsequenzen: während in jenen Jahren jede Generation ihren Lebensstandard verdoppelt hat, braucht es dazu heute drei oder mehr Generationen, wenn es überhaupt gelingt. Nun ja, vielleicht können — oder müssen — wir ja einfach zufrieden sein mit dem Standard, den wir erreicht haben. Doch auch die prinzipielle Frage ist quälend: wo geht all der Innovation und der schönen neuen Digitalisierung die Luft aus? Warum ist ihr messbarer Effekt so viel geringer als ihr gefühlter?

Die erste These dieses Buches ist: Der Grund für dieses scheinbare Paradoxon liegt darin, dass wir immer noch versuchen, eine Welt voller neuer Möglichkeiten mit alten, eigentlich überholten Mustern und Methoden zu managen; und dass dies genau die Beschränkungen sind, die die unerträgliche Langsamkeit des Wachstums bestimmen. Wenn man versucht, das Neue mit den alten Paradigmen zu behandeln, dann ist es kein Wunder, dass Wachstum und Innovation in der Breite so wenig von der Stelle kommen und dass sich der Produktivitätsfortschritt eher zu verlangsamen als zu beschleunigen scheint. Es ist nicht der Mangel an Potenzial, es sind tradierte Verhaltensmuster, die die Entwicklung verzögern und verhindern.

Die zweite These dieses Buches ist, dass der entscheidende Paradigmenwechsel weg geht vom Streben nach Größe, Macht und Skalen hin zur Organisation von Autonomie.

Größe und Autonomie sind nicht auf den ersten Blick entgegengesetzte Pole und sie müssen es auch nicht zwangsweise sein. Aber das Paradigma der Größe, dem lange vor allem wegen der damit verbundenen Skaleneffekte gehuldigt wurde, kommt mit einer Reihe von Begleitern. Zuallererst: Planung, Steuerung und (hierarchische) Kontrolle. Planung, Steuerung und Kontrolle sind zentrale Ingredienzen industrieller Prozesse. Als solche haben sie ihren Siegeszug weit über die industrielle Produktion (oder auch den industrialisierten Service) ausgedehnt. Sie sind fundamentale Muster im Management geworden und geblieben. Sie bestimmen sogar die Art und Weise, wie über die „Ressource Mensch“ gedacht und wie mit ihr umgegangen wird.

Kein Wunder, Planung, Steuerung und Kontrolle sind zentrale Erfolgsmuster unserer Entwicklung. Sie sind die Mechanismen, durch die sich der Ackerbauer abgehoben hat vom Jäger und Sammler, sie sind es, mit denen sich Staaten erhoben haben über nomadische Stämme. Und natürlich sind Planung, Steuerung und Kontrolle entscheidende Faktoren für die Entwicklung vom Kleinhandwerk zur globalen Großindustrie. So wäre es nicht nur blauäugig, sondern auch falsch, dieses Dreigestirn prinzipiell zu verunglimpfen. Trotzdem würde ich behaupten, dass es bereits in der ersten Phase des Informationszeitalters die bedingungslose Konzentration auf diese tradierten Management-Paradigmen war, die echten Fortschritt behindert oder gar verhindert hat. Vielleicht könnte man sogar argumentieren, dass die leuchtendsten Erfolgsbeispiele dieser Phase — Unternehmen, die wir heute ehrfürchtig bewundern — deshalb erfolgreich wurden, weil sie diese alten Muster durchbrochen haben. Im Großen und Ganzen aber wurden auch im frühen Informationszeitalter die alten Paradigmen zwar etwas verfeinert und poliert, man lebte aber gerne und gut mit ihnen weiter.

Dann sind zwei Dinge geschehen. Zuerst ist die Welt volatil, unsicher, komplex und vieldeutig geworden. Globalisierung war ein Treiber für diese Entwicklung, genau wie technologischer Fortschritt, immer wachsende Kundenerwartungen und nicht zuletzt das unaufhörliche Streben nach Größe selbst. Planung, Steuerung und Kontrolle aber sind die falschen Mittel, um mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität umzugehen. General Stanley McChrystal beschreibt in seinem Buch „Team of Teams: New Rules of Engagement for a Complex World“1 eindrucksvoll, wie eine Organisation, von der man es auf den ersten Blick am wenigsten vermuten würde, das Militär, das erkannt und seine Organisation deshalb radikal angepasst hat. Der Grund dafür war ebenso einfach wie brutal: die traditionelle Organisation und die Haltung, die ihr zugrunde liegt — die der Überlegenheit von Größe und Stärke — war hilflos geworden gegenüber den neuen Bedrohungen, vor denen sie stand.

Ohne solche existenziellen Bedrohungen — und welche Organisation fühlt sich schon ernsthaft bedroht, aller digitalen Disruptionsrhetorik zum Trotz — ist das Beharrungsvermögen groß. Die Gründe dafür sind tief verwurzelt, sind es doch die alten Verhaltensmuster, die die Großen von heute groß gemacht haben. So klammert man sich also daran. Unbewusst. Das gilt gleichermaßen für die Organisationen selbst wie für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich aufgemacht haben, die Sprossen der Hierarchieleiter zu erklimmen. Und natürlich gilt es auch — oder ganz besonders — für diejenigen, die am oberen Ende dieser Leiter angekommen sind.

Man versucht, der neuen Welt mit alten Mitteln zu begegnen. Alles und jedes wird „gemanagt“. Kunden, Produkte, Services, vor allem aber die „Schnittstellen“, deren Zahl sich in der VUCA-Welt2 exponentiell entwickelt. Wir kommen später auf die verheerenden Wucherungen der Matrixorganisation, aber eines ist klar: Schnittstellen schaffen keinen Wert. Damit wiederum gilt, dass die Produktivität sinkt, je mehr Schnittstellen wir glauben, managen zu müssen. Diese Schnittstellen sind es, in die Parkinsons Gesetz die überflüssige Arbeit füllt.3 Das allein sollte schon fast reichen, um das Produktivitäts-Paradox zu erklären.

Dagegen stellt sich ein anderer Versuch, unserer komplex gewordenen Welt zu begegnen: Vereinfachung. Das ist zum Teil berechtigt. Über die Zeit häuft man viel Unnützes an und manches macht man komplex, einfach weil man es kann. Aber es gibt relativ enge Grenzen. Vieles ist komplex und selbst wenn manches an der Oberfläche einfach erscheint, so ist es knapp darunter kompliziert. Holzschnitte oder Schein-Vereinfachungen helfen da nicht, auch wenn man sie markig von den Podien herunter verkünden mag. Das gilt — ganz nebenbei — natürlich nicht nur für unsere Organisationen, sondern es ist ein generelles Phänomen unserer Zeit, in der die großen „Vereinfacher“ täglich Boden zu gewinnen scheinen. Statt pauschaler Vereinfachung wäre ein gutes Verständnis von Komplexität notwendig. Die Lösung liegt selten in purer Simplifizierung, sondern in der Schaffung von Strukturen, die zur Selbstregulierung fähig sind. Das wiederum erfordert neben dem gründlichen Verständnis auch etwas anderes, was wir nicht zu haben glauben: Zeit.

Gerade schließlich werden wir von einer zweiten Welle erfasst, die das Größenparadigma und seine Begleiter endgültig das Zittern lehrt: der Stern des Skaleneffekts selbst beginnt zu verglühen. Digitalisierung, Robotik, künstliche Intelligenz, 3D-Druck, gepaart mit Ressourcen in der Cloud, die auf Bedarf verfügbar sind, stellen das Paradigma von der Überlegenheit der Größe selbst in Frage. Die klassische Fabrik sieht ihrem Ende entgegen, aber auch das klassische Call-Center, das bekannte Back-Office, sogar die Steuer- oder die Anwaltskanzlei in ihrer heutigen Form. Es mag vielleicht noch etwas dauern, aber die Entwicklung scheint unaufhaltsam. Wie aber will man eine — weiterhin komplexe — Welt, in der Skaleneffekte eine immer geringere Rolle spielen, erfolgreich organisieren entlang von Prinzipien, die ihren Grund alleine im Mantra von der Überlegenheit der Größe haben und auf zentralistische Planung, Steuerung und Kontrolle bauen?

Die Antwort ist: „Gar nicht“. Wir brauchen ein neues Paradigma. Dieses neue Paradigma lautet: Autonomie. Nicht unbedingt individuelle Autonomie, sondern eine Organisation, die als Kollektiv autonomer Organisationsteile funktioniert:

• Organisationsteile, die sich nicht über (hierarchisch gemanagte) Prozesse definieren, sondern über ihren Output.

• Organisationsteile, die in sich so autonom wie möglich sind, aber über eine gemeinsame Architektur verbunden sind und ihre Beziehungen wiederum vor allem über den jeweiligen Output regeln.

• Organisationsteile, deren internes Leitprinzip zuerst direkter Austausch ist und nicht primär Regelbücher und Kontrolle.

• Organisationsteile, die in sich vielfältig sind und Menschen als solche würdigen.

Planung, Steuerung und Kontrolle werden im Paradigma der Autonomie ersetzt durch Mechanismen der Selbstregulierung.

Dass Veränderung Not tut, darüber sind sich fast alle einig. Aller Erkenntnis zum Trotz aber geschieht wenig und je größer und erfolgreicher die Organisation ist, desto größer wird die Aufgabe. Man könnte auch sagen: desto weniger echte Veränderung geschieht. Da kann ein wenig Provokation zu Anfang nicht schaden. Der nächste Schritt ist, diese Dinge auch wirklich anzupacken und wie immer ist die Umsetzung viel schwieriger als die Erkenntnis an sich. Um beides geht es in den nächsten Kapiteln.

Eine Warnung aber vorneweg: die Lektüre kann stellenweise irritierend sein, vor allem, wenn man im Management eines größeren Unternehmens arbeitet oder gerade dabei ist, die ersten Sprossen der entsprechenden Leiter zu erklimmen. Dieses Buch versucht, den Euphemismus zu vermeiden, einen offenen und ehrlichen Blick zu werfen auf das, was uns täglich in unseren Unternehmen begegnet. Dabei fällt dieser Blick auch manchmal in den Spiegel. Sicher ist, dass es nur der klare, ungetrübte Blick ist, der ein gründliches Verständnis ermöglicht. Mit diesem Verständnis ausgerüstet und mit einer Portion Mut wird der nächste Schritt nicht nur zur Herausforderung, sondern zum Vergnügen: die Gestaltung des eigenen Wegs, heraus aus Mittelmaß und Wahnsinn!

1 General Stanley McChrystal, David Silverman, Tantum Collins, Chris Fussell (2015): Team of Teams New Rules of Engagement for a Complex World, Penguin

2 VUCA ist ein Akronym für die englischen Begriffe volatility, deutsch ‚Volatilität‘, ‚Unbeständigkeit‘, uncertainty, deutsch ‚Unsicherheit‘, complexity, deutsch ‚Komplexität‘ und ambiguity, deutsch ‚Mehrdeutigkeit‘

Es beschreibt die Rahmenbedingungen der Führung von Organisationen in einer Welt, die durch diese vier Parameter charakterisiert wird. (Quelle: Wikipedia)

3 C. Northcote Parkinson formulierte bereits 1955 sein Gesetz des Bürokratiewachstums: „Arbeit dehnt sich in genau dem Maß aus, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht“(The Economist Nr. 5856 vom 19. November 1955)

Exponential-Potenzial und Ergebnis-Depression

Von den Beschränkungen, die uns hindern das Potenzial auszuschöpfen

„Die Spielregeln des Lebens verlangen von uns nicht,dass wir um jeden Preis siegen, wohl aber, dass wirden Kampf niemals aufgeben.“

Viktor Frankl

Eine gewaltige Lücke klafft in unseren Unternehmen und Organisationen, ein weiter Abgrund tut sich auf zwischen Anspruch und Wirklichkeit, eine tiefe Kluft liegt zwischen dem, was gedacht und gesagt wird und dem, was tatsächlich geschieht. Entgegen aller Rhetorik kommt der Fortschritt nur ganz langsam voran. Diese Tatsachen zu akzeptieren, fiel mir schwer. Nach fünfundzwanzig Jahren im Management ist schließlich der Euphemismus zur zweiten Natur geworden. „Es gibt keine Probleme, lediglich Herausforderungen“. Und Herausforderungen sind dazu da, sie zu bewältigen. Alles ist am Ende eine Frage der Kraft und der Kompetenz, vor allem der eigenen Kraft und der eigenen Kompetenz.

Überhaupt, wen interessiert, was nicht funktioniert? Gesucht sind Ratgeber, verbindliche Gebrauchsanweisungen, einfache Lösungen: „Fünf Wege zum Erfolg“, „Die drei ultimativen Geheimnisse der Mitarbeitermotivation“, „In sieben Schritten vom Moloch zum Startup“, „Künstliche Intelligenz für Dummies“ … . Dazu kommt, dass die Lage besser ist als ihr Ruf. Die Wirtschaft blüht, die Beschäftigung wächst. Manches neue Unternehmen wird mit nie da gewesener Geschwindigkeit erfolgreich — oder zumindest wertvoll. Trotzdem leben die alten im Großen und Ganzen nicht schlecht weiter. Oder ist das nur eine Frage der Zeit?

In Kaffeeküchen und Pendlerzügen

Begibt man sich in die Kaffeeküchen oder in die Pendlerzüge, ist das Bild ein anderes. Da ist nur die Erschöpfung größer als die Klage darüber, was nicht funktioniert in unseren Unternehmen, über die wachsende Entfremdung zwischen Arbeit und Ergebnis und die immer größer werdende Kluft zwischen Reden und Tun, über Druck und psychische Last. Aber auch das war noch nie anders, oder? Jammern auf stetig steigendem Niveau, Rechtfertigungsversuche der Veränder ungsunwilligen, der Gestrigen, der „Slow Mover“. Kein Grund, nicht auf das Positive zu schauen, nicht den Blick nach vorn zu richten, nicht die Rezepte zu finden für den Erfolg.

Diese Interpretation aber überspielt das Grundproblem: Das Potenzial, das wir haben, ist so viel größer als das, was wir daraus machen; — individuell, vor allem aber auch als Organisationen.

Die Möglichkeiten wachsen schnell, exponentiell. Wir stehen an einer Schwelle, an der wir die kleinen wie die großen Probleme lösen könnten und gleichzeitig individuell Sinn finden. Aber alte Verhaltensmuster und überlieferte Beschränkungen machen daraus eine Wirklichkeit, in der wir kaum vom Fleck kommen. In den Kaffeeküchen und in den Pendlerzügen merkt man das, man hat es schon immer gemerkt. Kaum jemand möchte so viel Kraft und Lebenszeit investieren, nur um am Ende minimalen Fortschritt zu erfahren. Gräbt man noch tiefer, so werden die Widersprüche noch mehr. Waren Größe und zentral geführte Organisation bis vor Kurzem noch entscheidende Erfolgsfaktoren, so sind sie es, die heute zu fundamentalen Fehlfunktionen führen. Eigentlich taten sie das schon immer, denn sie machen träge und unflexibel aber „Economies of Scale“ glichen diese Nachteile oft aus. Das ist es, was sich gerade dramatisch ändert. Oder schon geändert hat.

Durchschnitt bis zum Ende

Praktisch investieren große Organisationen seit Langem gewaltige Energie in Bemühungen, gegen solche Dysfunktionen anzukämpfen: Kundenorientierung die Dritte, Effizienzsteigerung die Zehnte, Digitalisierung, Globalisierung, Wellen der Reorganisation, Innovationsprogramme, Wachstumsinitiativen, Mitarbeitermotivation, Town-Hall-Meetings, All-Hands-Calls, Open-Plan Offices, Garagen und Labs, … . Der Erfolg dieser Mühen ist nicht gleich Null. Man bewegt sich … irgendwie. Das Problem ist jedoch, abgesehen vom Schneckentempo, mit dem man vorankommt: die Bewegung ist bestenfalls eine absolute, keine relative. Man kommt nicht „vor die Welle“, schlägt nicht den Wettbewerb, steht nicht an der Spitze des technologischen Fortschritts. Man paddelt eher mühsam hintennach. Mit genügend Kraft und Energie wird man nicht zurückfallen, aber relativ gesehen ist der Fortschritt sehr beschränkt; — gemessen am Aufwand sowieso. Noch öfter bewegt man sich im Kreis. Kein Wunder, dass das Ergebnis so häufig Erschöpfung ist.

Das ist das organisatorische Gesetz der großen Zahl: Mit der Größe einer Organisation nimmt die Tendenz zum Mittelmaß unvermeidbar zu.

Der Physiker in mir ist versucht, ein Modell für diesen Übergang von der — sagen wir — „agilen“ in die „träge“ Phase zu entwickeln. Zunächst gälte es, „Mittelmaß“ oder umgekehrt „unternehmerische Leistung“ genauer zu definieren. Das ist schwierig. Auf der Suche nach Exzellenz sollten es eigentlich die „harten“ Indikatoren sein, die diese Definition liefern: Gewinn oder Verlust, Produktivität, vielleicht auch Börsenkurs oder Marktkapitalisierung, möglichst bereinigt um kurzfristige Volatilitäten und relativ zum jeweiligen Markt. Der Vorrat an ergänzenden Parametern ist schier unerschöpflich. Er reicht von Innovationskraft über Mitarbeiterzufriedenheit bis hin zur Umweltbilanz. Leicht endet man so wieder in der Beliebigkeit und leider ist das Bild selten komplett.

Das zeigt sich oft erst spät. Fannie Mae und Freddie Mac wurden von Tom Peters und Robert Waterman 1982 noch als Musterbeispiel für Exzellenz herausgestellt.4 2008 waren sie faktisch zahlungsunfähig. Die American International Group war mindestens ein Jahrzehnt lang der Versicherer, der von seiner ganzen Branche beneidet wurde. In der Finanzkrise stellte sich heraus, dass das überdurchschnittliche Ergebnis mit getragen wurde von hochriskanten Kreditversicherungen. Es folgte eine de facto Zwangsverstaatlichung. General Electric war mit Jack Welsh nicht nur eine Industrie-Ikone, sondern in den 1990er Jahren auch der Leitstern für eine ganze Generation von Managern. Erst jetzt stellt sich heraus, dass genau in diesen Jahren die Geschäfte und Strukturen geschaffen wurden, die später für den Niedergang verantwortlich wurden. 2018 flog die GE-Aktie aus dem Dow Jones Index.

Auch die Parameter, die den Übergang bestimmen, sind vielfältig: Geschäftsmodell und Produktpalette, Alter und Struktur der Organisation. Oft kulminieren alle zusammen in einem Punkt: der Kultur des Unternehmens. Diese aber lässt sich kaum realistisch beurteilen — auch wenn sie, wie Peter Drucker sagt, die Strategie zum Frühstück verspeist. Die oben angeführten Beispiele belegen auch das.