Mitten in der Stadt - Mechtild Borrmann - E-Book

Mitten in der Stadt E-Book

Mechtild Borrmann

4,9

Beschreibung

Mitten in Kleves Innenstadt ereignet sich ein skrupelloses Verbrechen. Drei Männer durchbrechen mit einem Geländewagen die Scheibe eines Juweliergeschäfts und erbeuten wertvollen Schmuck. Als einer der Hauptverdächtigen tot aufgefunden wird, ermittelt das Team um Hauptkommissar Victor Grube in alle Richtungen und stößt dabei auf die tragische Geschichte der Familie Koller. Wie hängt dieses unheilvolle Schicksal mit dem Fall zusammen?

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Mechtild Borrmann · Mitten in der Stadt

Mit überhöhter Geschwindigkeit rast ein Geländewagen in das Schaufenster eines Juweliergeschäfts in der Klever Innenstadt. Was zunächst nach einem tragischen Unfall aussieht, entpuppt sich als raffinierter Raubüberfall. Auf der Flucht überfahren die Täter den herbeigeeilten Kellner einer Pizzeria. Hat Luca den Täter erkannt und kann er ihn identifizieren, wenn er aus dem Koma erwacht? Das Team um Hauptkommissar Vincent Grube ermittelt in alle Richtungen. LKA und BKA schalten sich ein, weil sie eine bundesweite Raubserie auf Juweliergeschäfte vermuten. Als der Hauptverdächtige ermordet aufgefunden wird, müssen die Ermittler von vorn anfangen. Bei ihren Recherchen, die losen Ende des Falles zu verknüpfen, stoßen sie auf eine Familientragödie, die auch die hartgesottenen Kriminalbeamten zutiefst erschüttert.

Mechtild Borrmann wurde 1960 geboren und lebt heute in Bielefeld. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie am Niederrhein. Sie arbeitete u. a. als Tanz- und Theaterpädagogin und ist Inhaberin eines Restaurants in der Bielefelder Altstadt. Im Jahr 2007 erschien ihr zweiter Krimi „Morgen ist der Tag nach gestern“.

Mechtild Borrmann

Mitten

in der Stadt

„Wenn man wüsste, was passieren wird, wenn man wüsste, was als Nächstes passieren wird (…), wäre man verloren. Man wäre so ruiniert wie Gott. Man wäre ein Stein. (…) Man würde nie jemanden lieben, nie wieder. Man würde es nicht wagen.

aus: „Der blinde Mörder“ von Margaret Atwood

Die Handlung ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Prolog

Dünn sind die Tage. Dünn wie Eis auf einem Weiher, wenn die Sonne danach greift. Dann kann man sich nicht mehr hinauswagen, muss an der Uferböschung bleiben und die Füße ganz vorsichtig setzen. Kleine Schritte in die Stille stellen und warten, ob dieses verräterische Knacken zu hören ist.

Sie geht schon lange auf diese Art. Mit dieser tastenden Vorsicht. Sehnt sich nach einem langen, kalten Winter, der alles, was gewesen ist, unter einer Schneedecke begräbt und dem Weiher eine Eisfläche von tiefer Festigkeit gibt. Aber diese Winter gibt es in ihrem Leben nicht mehr. Winter, in denen ein Neuanfang wohnt.

Im Rückblick verschwimmen die Dinge, aber wenn sie auf den Weiher sieht, weiß sie, dass sie nie mitten auf der Eisfläche gestanden hat. Schon als Kind hatte sie diese Schwäche erkannt, diese Unvollkommenheit gespürt. Sie gehörte zu ihr wie ihre zierliche Gestalt, die blassblauen Augen und das feine Haar von unbestimmtem Braun. Nichts an ihr war je deutlich hervorgetreten, weder eine Äußerlichkeit noch eine Gabe. Als sie sechs war, ging der Vater, weil sie so war. Die Mutter ertränkte ihren Kummer quartalsweise im Alkohol, weil sie so war.

Gleichmut hatten es ihre Lehrer in der Oberstufe genannt. Das hatte ihr gefallen. Es hatte ihr gefallen, weil das Wort „Mut“ darin versteckt war. Sie selber hatte sich als eine Wartende gesehen. Ohne zu wissen worauf, hatte sie sich immer als eine betrachtet, die warten musste, deren Zeit noch kommen würde. Ihr Leben lag immer in der Zukunft, war immer mindestens einen Tag von ihr entfernt. Diese fast stoische Geduld schöpfte sie aus einer Art Schicksalsgläubigkeit. Manchmal hatte sie gefürchtet, sie könne den Augenblick verpassen. Den Augenblick verstreichen lassen, der sie berühren und verändern würde. Wie ein Erwachen hatte sie es sich vorgestellt.

Dabei hatte sie nie nach den Sternen gegriffen. Nicht mal in ihren Tagträumen hatte sie es gewagt, ihre Unscheinbarkeit außer Acht zu lassen.

Mit dreizehn verband sie ihr zukünftiges Glück mit einem Mann. Ein Mann, dem sie alles sein würde und der sie dafür lieben könnte. Sie malte sich ein kleines Haus mit Garten aus. Sonntage auf der Terrasse. Der gedeckte Kaffeetisch zwischen zwei Spalieren, an denen Kletterrosen rankten. Kletterrosen, die das Glück vor den Blicken der Nachbarn schützten.

1

Der 21.04.2005 war ein regnerisch kalter Frühlingstag. Ein Donnerstag. Das nasse Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone glänzte am Abend unter den Straßenlaternen, feiner Regen tanzte in den Lichtkegeln. Die Stadt war wie ausgestorben. Die letzten Gäste der kleinen Pizzeria „Gambero“ hatten sich auf den Heimweg gemacht. Roberta füllte die Theke auf, spülte die letzten Gläser und wickelte noch schnell ein paar Bestecke für den nächsten Tag. Vittore saß mit dem Kassenstreifen, den Kellnerportmonees und dem Taschenrechner am Ecktisch und machte bei einem Glas Chianti den Tagesabschluss. An der Theke tranken Carmen, die Aushilfskellnerin, und Luca, Robertas Neffe, ihr Feierabendbier. Luca musste noch bis zum Herbst auf seinen Studienplatz in Mailand warten, und Vittore hatte ihm angeboten, in der Zwischenzeit bei ihm zu arbeiten.

Auf dem Buffet lief der Fernseher ohne Ton. Der neu gewählte Papst. Rom. Der Petersplatz. Mikrophone wurden vor Gesichter gehalten. Luca und Carmen sahen schweigend den stummen Bildern zu.

Vittore hatte am Wochenende vorgezogene Narzissen und Tulpen in Töpfen gekauft und den alten Leiterwagen vor der Eingangstür damit bepflanzt.

„Es ist April“, hatte er geschimpft, „und wenn der Frühling nicht kommt, dann hole ich ihn jetzt!“ Roberta hatte gelacht. „Ach, Vittore. In den Nachrichten sagen sie, dass es sogar noch Nachtfröste geben kann. Dann friert uns alles kaputt!“ Seither rollte er jeden Abend den schweren Wagen über Nacht vor den überdachten Eingang.

Als Roberta ihn daran erinnerte, blieb Vittore über seine Abrechnung gebeugt und knurrte: „Wenn es regnet, wird es ja wohl nicht frieren!“ Dann sah er auf. „Luca. Carmen. Könnt ihr ihn ein Stück näher an die Wand ziehen, sonst kommen die Lieferwagen morgen früh nicht vorbei.“ Die beiden gingen hinaus, stellten sich zu beiden Seiten der Deichsel und schoben das schwere Gefährt näher an die Hauswand. Mehrere Male zogen sie ihn wieder vor, um den richtigen Einschlagwinkel zu finden. Carmen lachte. „Wo hast du denn das Einparken gelernt?“, neckte sie Luca.

Das Auto, das mit hoher Geschwindigkeit die Straße herunterraste, nahmen sie erst im letzten Augenblick wahr. Erschrocken sprangen sie zur Seite. Luca fing sofort an zu schimpfen: „Viaffanculo!“ Sie sahen dem Wagen nach. Er umfuhr mit quietschenden Reifen den Lohengrinbrunnen und raste gut dreihundert Meter von ihnen entfernt in das Schaufenster des Juweliergeschäftes. Mit einem Knall barst die Panzerglasscheibe, und man hörte das Niederprasseln der Glassplitter wie einen heftigen Regenschauer. Vittore und Roberta kamen herausgelaufen. „Der hat die Kurve nicht gekriegt“, rief Luca, „der war viel zu schnell.“ Für einen Augenblick standen sie staunend. Der schwere Geländewagen hatte sich weit in den Verkaufsraum des Juweliergeschäftes hineingebohrt. Erst jetzt begann die Alarmanlage zu schrillen.

In den Wohnungen über den umliegenden Geschäften gingen Lichter an, Fenster wurden geöffnet. Der durchdringend hohe Ton der Alarmanlage machte das absurde Bild real, rüttelte Vittore und Luca aus ihrer Erstarrung.

Sie rannten die Straße hinunter, wollten den Verunglückten zur Hilfe eilen. Wenige Meter vor dem Unglücksort blieben sie abrupt stehen. Zwei vermummte Männer liefen durch den Laden, räumten die Auslagen aus, die Vitrinen und Verkaufstheken. Erst jetzt nahm Luca die spitz zulaufende Eisenkonstruktion vor dem Frontschutzbügel wahr. Der Mann, der im Wagen zurückgeblieben war, trat immer wieder im Leerlauf auf das Gaspedal. Das Heulen des schweren Motors vermischte sich mit dem Fiepen der Alarmanlage, schien es anzustacheln.

Vittore und Luca standen mitten in der Fußgängerzone, vielleicht zwanzig Meter vom Schaufenster entfernt. Plötzlich schob der Fahrer seine Mütze hoch, sah nach hinten und setzte den Wagen zurück. Die beiden anderen Männer liefen mit Plastiktüten aus dem Laden direkt auf Vittore und Luca zu, die jetzt unmittelbar neben dem Wagen standen. Sie sprangen in das Auto. Noch einmal heulte der Motor auf, noch einmal setzte das schwere Fahrzeug zurück.

Vittore erkannte die Absicht. Er griff nach dem Arm seines Neffen und riss ihn zurück. Der Außenspiegel erfasste Lucas Schulter, schleuderte ihn auf das Pflaster. Dann raste der Wagen über den Hasenberg davon.

Luca schaute sich benommen um. Er sah in Vittores entsetztes Gesicht, hörte unter dem Lärmen der Alarmanlage, wie Roberta immer wieder seinen Namen rief. Langsam erhob er sich. Seine Schulter schmerzte, der Kopf dröhnte. Roberta erreichte ihn endlich, zog ihn an sich, streichelte sein Gesicht, küsste ihn unter Tränen auf Stirn und Wangen.

Nur zwei, vielleicht drei Minuten später vermischte sich das Schrillen des Alarms mit dem auf- und absteigenden Singsang von Martinshörnern. Zwei Polizeifahrzeuge kamen die Fußgängerzone heraufgefahren. Luca erhob sich schwankend. Polizisten liefen in das zerstörte Juweliergeschäft.

Weitere zwei bis drei Minuten vergingen, ehe das ohrenbetäubende Heulen der Alarmanlage erstarb.

Die Ruhe war wie ein Erwachen. Gespenstisch jagte der fahle Schein der Blaulichter über die Häuserwände. Ein spukhafter Takt, der die Schaulustigen anzog.

Menschen mit hastig übergeworfenen Jacken, andere in Pantoffeln und Bademänteln hatten ihre Beobachtungsposten an den Fenstern aufgegeben und kamen auf die Straße. Polizisten sprachen in Funkgeräte, liefen hin und her, begutachteten Lucas Verletzungen, orderten einen Krankenwagen, brüllten nach Absperrband, scheuchten die Neugierigen zurück. Juwelier Bergers silberfarbener Mercedes hielt vor dem Drogeriemarkt. Zwei weitere Zivilfahrzeuge parkten unmittelbar vor dem Tatort. Polizisten in Zivil, Männer der Spurensicherung. Vittore, Carmen, Roberta und Luca saßen auf den Stufen des Brunnens und warteten auf den Krankenwagen. Carmen zog ihre Strickjacke aus und legte sie Luca um die Schultern. Langsam löste sich auch bei Roberta der Schock. Ein Polizist kam, schrieb Namen und Adressen auf, wollte wissen, was sie gesehen hatten.

Vittore schluckte und wollte zu sprechen ansetzen, aber Roberta war schneller. „Ja, einen Geländewagen. Er ist die Straße heruntergerast und hat versucht Luca umzubringen.“

Vittore drehte sich um und schüttelte den Kopf. „Roberta!“, sagte er mahnend.

Ob sie die Täter beschreiben könnte, fragte der Beamte. „Schwarz“, antwortete Luca. „Schwarze Skimützen mit Löchern für die Augen. Schwarze Hosen und Jacken. Handschuhe.“ Er schüttelte den Kopf, wieder wurde ihm schwindelig. Übelkeit stieg auf. Er schluckte. „Nur der Fahrer, der hat beim Rückwärtssetzen seine Mütze kurz auf den Kopf geschoben. Ich glaube, der konnte mit der Mütze nicht nach hinten sehen.“

Noch während er das sagte, wurde seine Stimme leiser.

Irritiert sah er zu seinem Onkel hinüber. Der hatte eine tiefe Längsfalte über der Stirn und blickte ihn eindringlich an.

Der Polizist fragte routiniert: „Würden Sie ihn wiedererkennen?“

Ein kurzes Zögern.

„Nein“, Luca wich seinem Blick aus, „nein, das ging alles viel zu schnell!“ Wieder wurde ihm übel.

2

Hauptkommissar Vincent Grube vom Raubdezernat entfaltete seinen langen Körper, als er aus dem Mazda stieg. Er brauchte nur einen Blick, um zu erkennen, dass er es hier mit einem Überfall zu tun hatte, der zu einer bundesweiten Serie gehörte. Seit gut neun Monaten gingen die Männer nach dem gleichen Muster vor. Sie fuhren nachts mit einem Geländewagen, dem eine massive, dreieckige Stahlkonstruktion auf den Kühlergrill montiert war, in die Fenster oder Türen von Juweliergeschäften. Sie brauchten nur wenige Minuten, packten zusammen, was Schaufenster und Vitrinen hergaben, und verschwanden, ehe die Polizei vor Ort war. Sie suchten sich die Geschäfte aus, die entweder breite Panzerglastüren besaßen oder, wie hier, Schaufenster, die bis zum Boden reichten.

Unter seinen Schuhen knirschte das zerborstene Glas. Große Teile der Scheibe steckten noch im Rahmen. Bizarre Gebilde, die in das Ladeninnere ragten.

Er hatte den braunen Kordkragen seiner Barbourjacke hochgestellt und schritt missmutig hinüber in das Geschäft.

Das fehlte ihm gerade noch. Jetzt würde man von ihm Zusammenarbeit erwarten. Kooperation mit LKA, BKA und den Polizeidienststellen der vorherigen Tatorte. Konferenzschaltungen und ellenlange Besprechungen. Dieses nervige Palavern, bei dem es sowieso nur darum ging, wer mehr zu sagen hatte. „Zuständigkeiten abklären“ war sein ganz persönliches „Unwort“.

Als er im Laden stand, konnte er nicht umhin, Planung und Dreistigkeit der Tat einen gewissen Respekt zu zollen. Das hatte er sich in den letzten Jahren angewöhnt. Immer, wenn er einen Tatort aufsuchte und die wichtigsten Fakten kannte, packte er die Täter in seine Bewertungsskala. Es gab die Rubriken „spontan und dumm“, „geplant und dumm“, „spontan und pfiffig“, „geplant und pfiffig“, und es gab so was wie hier. Geplant, professionell und dreist!

Er betrachtete seine Fälle wie Pokerpartien, und wie beim Pokern machte ihm seine Arbeit nur Freude, wenn er einen einigermaßen guten Gegenspieler hatte. Die Kategorie „geplant und dumm“ beleidigte ihn. Wenn jemand in einem Verhör sagte: „Wir hatten das alles gut geplant, aber nicht bedacht …“, dann musste er das Zimmer verlassen. Solche Sätze machten ihn fuchsteufelswild. In den ersten Jahren im Raubdezernat hatte er sich noch auf Diskussionen eingelassen, hatte gesagt: „Wenn man etwas nicht bedacht hat, dann war es nicht gut geplant. Das ist ein Widerspruch. Verstehen Sie das?“ Inzwischen ging er einfach aus dem Raum. Er erwartete in gewisser Weise von seiner Klientel vernünftig durchdachte Arbeit. Alles andere waren Respektlosigkeiten, mit denen er sich nur ungern abgab.

Hier nun, wenn es tatsächlich wieder die gleichen Täter waren, hatte er es mit seiner Lieblingskategorie zu tun, und wenn da jetzt nicht diese Kooperation mit den anderen Stellen dranhängen würde, hätte er sich richtiggehend gefreut. Nun gut, dem Fahrer musste er auf jeden Fall einen Punkt abziehen. Bisher waren bei den Überfällen nie Personen zu Schaden gekommen. Diesmal hatten sie den kleinen Italiener angefahren. Er war sich ziemlich sicher, dass es ein Versehen war, und so wie es aussah, war er auch nicht ernsthaft verletzt. Aber trotzdem!

Der Juwelier kam auf ihn zu. Er reichte ihm gerade bis zur Schulter, aber das taten viele Männer. Die Jugendlichen hingegen erreichen immer häufiger Augenhöhe, und er hatte sich noch nicht entschieden, ob ihm das gefiel.

Berger stand mit hängenden Schultern und Tränen in den Augen vor ihm. Er war unnatürlich blass. Grube hatte inzwischen ein Auge dafür, ob jemand unter Schock stand.

Er ging zu einem der Uniformierten. „Hol mal einen von den Sanitätern rüber. Die sollen sich den Berger ansehen.“

Berger bückte sich und hob ein Armband mit grünen Steinen auf. Ein mit Samt ausgeschlagenes Kunststoffkästchen lag auf einer zerschlagenen Vitrine. Sorgfältig legte Berger das Schmuckstück auf den dunkelblauen Stoff, strich geistesabwesend immer wieder über die funkelnden Steine.

Er sah zu Grube hoch. „Aber woher haben die das gewusst? Das können die doch nicht gewusst haben, oder?“

Grube wurde hellhörig. Seine fast schwarzen Augen unter der hohen Stirn blickten Berger aufmerksam an. „Was denn, Herr Berger? Was können die nicht gewusst haben?“

„Dass …“, er rang nach Luft und zeigte zur Decke. „Wir wohnen hier drüber. Eigentlich ist immer jemand da. Nur heute nicht.“ Der kleine Mann schwankte. Grube wischte Splitter von der cremefarbenen Sitzfläche eines eleganten Jugendstilsessels und half Berger sich zu setzen. Seine tiefe Stimme brüllte wie ein Donner über den Platz. „Wo bleibt denn der Sanni!“ Eilig kam ein junger Mann in orangefarbener Jacke herübergelaufen.

3

Mit neunzehn arbeitet sie an den Wochenenden als Zimmermädchen im Hotel Residenz. Er ist Autohändler aus dem Westen und regelmäßiger Gast. Seine Anzüge sind von Armani, seine Schuhe aus Italien. „So einen“, sagen ihre Kolleginnen, „so einen müsste man abkriegen.“

Sie reinigt das Bad, als er im Türrahmen steht und amüsiert zusieht. Sie spürt die Hitze in ihren Wangen, senkt den Blick und konzentriert sich ganz auf das Säubern des Waschbeckens. Als sie am Nachmittag den Arbeitskittel gegen Straßenkleidung getauscht hat und durch die Lobby auf dem Weg zum Bus eilt, spricht er sie an. Er begleitet sie zum Busbahnhof, lädt sie in ein Café ein. „Sie gefallen mir“, sagt er, und sie starrt verlegen in ihren Cappuccino. Einunddreißig Jahre ist er. Er sieht gut aus, und sie spürt die interessierten Blicke von den Nachbartischen. Eine Stunde bleiben sie. Immer wieder sieht sie ihn unsicher an, hört sich sagen, dass sie im ersten Semester Pädagogik studiert, mit ihrer Mutter alleine lebt und gerne ins Kino geht. Er hört zu, stellt Fragen, warnt sie, ihr Studium wegen des Hoteljobs nicht zu vernachlässigen. Dann hat sie auch den zweiten Bus verpasst, und er fährt sie kurzerhand in seinem Porsche nach Hause.

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