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Mechtild Borrmann

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Beschreibung

Zeitgeschichte trifft subtile Spannung: SPIEGEL-Bestseller-Autorin Mechtild Borrmann verwebt eine tragische Schuld, einen bitteren Verrat und eine unmögliche Liebe zur Zeit des Zweiten Weltkriegs zu einem großen deutschen Roman. »Adele ist verschwunden.« Mehr mag die Fremde nicht sagen, die sich in einem Café einfach so an den Tisch der Anwältin Cara setzt – und kurz darauf ebenfalls spurlos verschwindet. Zurück bleibt lediglich ihre Handtasche. Neben anrührenden Feldpost-Briefen aus dem 2. Weltkrieg, die von einer großen Liebe zeugen, findet Cara darin auch Unterlagen über den Verkauf einer Villa in Kassel zu einem symbolischen Preis. Doch was hat das alles mit ihr zu tun? Und weshalb wurde die Villa – anders als vereinbart – nie an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben? Caras Recherchen decken nicht nur die tragische Geschichte einer großen, verbotenen Liebe auf, sondern auch die Schuld einer Liebenden und einen bitteren Verrat. Der Roman beruht auf wahren Lebensgeschichten: Recherchen im Tagebuch-Archiv Emmendingen haben Mechtild Borrmann zu diesem feinfühligen Roman über Schuld, Verrat und eine tragische Liebe während des 2. Weltkriegs inspiriert. Entdecken Sie auch die anderen zeitgeschichtlichen Spannungs-Romane von Bestseller-Autorin Mechtild Borrmann: • Der Geiger (Russland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und Deutschland 2008) • Die andere Hälfte der Hoffnung (Tschernobyl 1986 bis 2010 und Deutschland 2010) • Trümmerkind (Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1992) • Grenzgänger (Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1970)

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Seitenzahl: 348

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Mechtild Borrmann

Feldpost

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

»Adele ist verschwunden.« Mehr mag die Fremde nicht sagen, die sich in einem Café einfach so an den Tisch der Anwältin Cara setzt – und kurz darauf ebenfalls spurlos verschwindet. Die Frau hinterlässt einen Aktenkoffer und die kryptische Bitte, Cara möge sich um den Inhalt kümmern. Neben anrührenden Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg finden sich darin Unterlagen über den Verkauf einer Villa in Kassel Wilhelmshöhe zu einem symbolischen Preis. Caras Recherchen decken nicht nur die tragische Geschichte einer großen, verbotenen Liebe in Zeiten des Nationalsozialismus auf, sondern auch die Schuld einer Liebenden und einen bitteren Verrat.

Inhaltsübersicht

Motto

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Danksagung

Ja, man wird uns vergessen. Das ist unser Schicksal, da kann man nichts machen. Das, was uns ernst, bedeutend und sehr wichtig erscheint, wird eines Tages vergessen sein oder unwichtig erscheinen.

 

Anton Tschechow

Prolog

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, aber das stimmt nicht. Es gibt Verletzungen, die unversorgt geblieben sind, die immer wieder aufbrechen oder hässliche Narben hinterlassen haben. Narben, die sich bei Wetterumschwung mit einem leichten Stechen oder Pochen bemerkbar machen, die unter der Kleidung versteckt unschön auf der Haut liegen und das Geschehene ab und an ins Gedächtnis rufen.

Auch verschwiegene Ereignisse, die wir längst vergessen glauben, drängen von Zeit zu Zeit ans Licht und verlangen nach erneuter Beachtung. Das kann Jahre und manchmal Jahrzehnte später sein.

Da ist ein Foto oder unbekanntes Dokument, das nicht zu den mündlichen Überlieferungen passen will.

Da ist eine Begegnung mit einem, der dabei war. Einem, der die Ereignisse anders in Erinnerung hat, der entlang der dokumentierten Begebenheiten die Zwischenräume mit anderen Erzählungen füllt.

Im Rückblick, im Weitwinkel der Zeit, zeigen sich dann Zusammenhänge, die vorher nicht sichtbar waren. Dann scheint es, als seien von verschiedenen Orten und längst vergangenen Zeiten die Ereignisse unaufhaltsam aufeinander zugelaufen – durch Jahre hindurch und über Entfernungen hinweg.

Eine genaue chronologische Abfolge lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Die Erinnerungen sind lückenhaft. Die Rückblicke, von persönlichem Erleben und Gefühlen wie Zorn, Sehnsucht und Resignation geprägt, bezeugen die Zeitabschnitte abweichend voneinander. Somit ist ein lineares Erzählen nicht möglich. Aber die Dinge, die von Bedeutung sind, sind glaubhaft versichert. Beginnen wir also im Jahr 2000, genauer, im Dezember 2000 in Kassel.

Beginnen wir mit dem Anfang vom Ende.

Kapitel 1

Kassel, 22. Dezember 2000

Cara

Der 22. Dezember 2000 ist ein Freitag. Die Temperaturen liegen knapp über dem Gefrierpunkt. Draußen fällt wässriger Schnee, der sich auflöst, kaum dass er den Boden erreicht. Die Menschen eilen, auf der Suche nach letzten Geschenken, mit gesenkten Köpfen und hochgestellten Kragen oder aufgespannten Regenschirmen an den weihnachtlich dekorierten Schaufenstern vorbei. Auf dem Friedrichsplatz täuschen die Lichter des Weihnachtsmarktes wohlige Wärme vor.

Schon gestern hat Cara Russo ihrer Angestellten schöne Feiertage und einen guten Rutsch gewünscht. Für heute hatte nur noch der Termin auf dem Amtsgericht im Kalender gestanden, und jetzt war auch der erledigt. Die Kanzlei würde bis nach Neujahr geschlossen bleiben.

Sie freut sich auf die freien Tage. Christian betreibt eine kleine Buchhandlung in der Stadt. Er wird zwischen den Feiertagen arbeiten, aber sie haben sich vorgenommen, die gemeinsame Freizeit mit Kino, Kochen und Essen mit Freunden und Theaterbesuchen zu verbringen.

 

Auf dem Weihnachtsmarkt kauft sie noch ein paar Grußkarten und setzt sich damit ins Café Nenninger. Sie bestellt Cappuccino und schreibt die alljährlichen Weihnachts- und Neujahrsgrüße an ihre Eltern und Verwandten im Piemont. Die Eltern waren Anfang der Fünfzigerjahre hergekommen. Eigentlich nur für drei oder vier Jahre, um ordentlich Geld zu verdienen, aber dann war es anders gekommen. Cara wurde geboren, ihr Vater war beim Städtischen Gartenbauamt schnell zum Vorarbeiter aufgestiegen, und die Mutter hatte eine gute Stellung im VW-Werk in der Kantine gefunden. Als sie vor sechs Jahren beide in Rente gingen, hatten sie sich von ihren Ersparnissen ein kleines Haus in der Nähe von Turin gekauft und waren in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Cara hatte sich zwei Jahre zuvor als Anwältin niedergelassen. Sie hatte sich auf Miet- und Arbeitsrecht spezialisiert, und ihre kleine Kanzlei in der Kölnischen Straße lief gut.

Als sie ihr Adressbuch aus der Tasche zieht, fällt ein Bescheid vom Arbeitsgericht heraus. Den hat sie ganz vergessen. Einen Moment überlegt sie, ins Büro zurückzugehen, aber dann legt sie die Papiere auf den Tisch und entscheidet, die Unterlagen von zu Hause aus an den Mandanten zu schicken.

 

Die Frau steht plötzlich an ihrem Tisch. »Entschuldigen Sie. Alle Plätze sind belegt. Kann ich mich hier dazusetzen?«

»Bitte, gerne«, antwortet Cara freundlich und widmet sich wieder ihren Weihnachtsgrüßen. Die Frau stellt eine schwarze Einkaufstasche aus Kunststoff auf einen der freien Stühle, knöpft ihren nassen braunen Wollmantel auf und bleibt unschlüssig stehen. Cara blickt auf und zeigt mit einem Kopfnicken nach rechts. »Die Garderobe ist dort.«

Die Fremde schüttelt den Kopf. »Ja! Aber … ach nein, ich behalte ihn an«, antwortet sie unsicher und setzt sich. Auch die gehäkelte Mütze aus dicker weinroter Wolle nimmt sie nicht ab. Die abgegriffene beige Handtasche mit Klippverschluss findet Platz auf ihrem Schoß, eingeklemmt zwischen Tischkante und Bauch. Während sie die Karte mit den Speisen und Getränken studiert, betrachtet Cara sie aus den Augenwinkeln. Sie schätzt die Frau auf etwa siebzig. Die Hände sehen nach jahrelanger harter Arbeit aus, und bestimmt geht sie nicht oft in ein Café. Als die Kellnerin an den Tisch kommt, bestellt sie mit leiser Stimme eine Tasse Tee. Dann legt sie die Karte beiseite und sieht Cara an.

»Wohnen Sie hier in Kassel?«, fragt sie, und ohne eine Antwort abzuwarten, spricht sie weiter: »Eine Bekannte von mir hat hier auch gewohnt.« Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Aber die ist nicht mehr da. Eigentlich müsste sie da sein, aber in ihrem Haus, da oben in Wilhelmshöhe …« Sie hebt die Hand, zeigt unsicher in Richtung Fenster und atmet schwer, bevor sie fortfährt: »Die Leute in dem Haus haben gesagt, dass sie da nicht wohnt. Nein, sie haben sogar gesagt, dass es Adele Kuhn da nie gegeben hat. Aber das kann nicht stimmen!« Sie legt die Hände übereinander auf den Tisch, betrachtet sie einen Moment schweigend und sieht Cara dann direkt an. »Ich weiß, dass das nicht stimmt«, flüstert sie über den Tisch hinweg.

Cara runzelt die Stirn. Sie hat sich auf einen entspannten Urlaubsbeginn gefreut, und jetzt sitzt diese offensichtlich verwirrte Frau ausgerechnet an ihrem Tisch. Aber sie will nicht unhöflich sein, daher erkundigt sie sich freundlich: »Sie sind nicht von hier? Darf ich fragen, wo Sie herkommen?«

Die Frau überhört die Fragen. »Haben Sie Ärger mit dem Gericht?«, will sie stattdessen wissen.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

Die Fremde zeigt auf das Schreiben, das immer noch auf dem Tisch liegt.

»Ach so. Nein, ich bin Anwältin. Aber jetzt habe ich Urlaub«, antwortet Cara, erleichtert, dass das Gespräch sich nun realen Dingen zuwendet.

»Anwältin«, flüstert die Frau und gießt reichlich Milch in ihren Tee. »Sind Sie hier in Kassel Anwältin?«, fragt sie weiter.

Cara nickt.

Es entsteht eine Pause. Die Frau rührt den Tee in der dünnwandigen Tasse um. Der helle Ton vermischt sich mit den Stimmen der anderen Cafébesucher um sie herum. »Wie heißen Sie?«, fragt sie schließlich.

Cara zögert, nimmt dann aber eine Visitenkarte aus ihrem Portemonnaie und reicht sie ihr.

Die Frau begutachtet sie mit ausgestrecktem Arm, öffnet den Klippverschluss ihrer Handtasche und lässt die Karte hineingleiten. Dann nimmt sie den Faden ihrer Geschichte, den Blick fest auf die Teetasse gerichtet, wieder auf.

»Die Adele, die ist damals mit der Grazyna und dem Baby hierher. Das weiß ich genau! Ihre Sachen hat sie bei uns auf dem Hof gelassen. Wir sollten gut drauf aufpassen. Sie wollte alles später abholen.« Langsam schüttelt sie den Kopf. »Wir haben lange gewartet und später auch geschrieben. Dreimal geschrieben. Erst meine Mutter und dann ich. Immer an die Adresse in Wilhelmshöhe, die sie uns gegeben hat. Weil es ihr doch so wichtig gewesen ist, mit diesen Sachen. Aber eine Antwort ist nicht gekommen.« Wieder atmet sie schwer. Leise, wie zu sich selbst, spricht sie weiter, und Cara muss sich vorbeugen, um sie zu verstehen. »Danach … es ging ja drunter und drüber, damals. Wie das dann so ist, alles geht seinen Gang. Kein Vieh mehr auf dem Hof, nur die beiden Ochsen und eine Handvoll Hühner. Nur die Mutter und wir zwei Kinder. Wie sollten wir denn alleine den großen Hof versorgen? Bis 1959 haben wir noch auf den Vater gewartet, aber der ist nicht mehr zurückgekommen. Wir hatten weiß Gott andere Probleme.« Sie tätschelt die schwarze Einkaufstasche auf dem Stuhl neben ihrem. »Ich hatte die Adele ganz vergessen, aber vor Kurzem ist meine Mutter gestorben. Achtundachtzig ist die geworden. Ein gesegnetes Alter. Ich habe ihre Wohnung ausgeräumt, und da sind mir die Sachen wieder in die Hände gefallen. Mutter hat sie all die Jahre über aufbewahrt. Hat wohl gedacht, dass die Adele sich mal meldet.« Sie schüttelt den Kopf, hängt einen Moment ihren Gedanken nach. »Aber vielleicht hat sie die Sachen auch einfach vergessen. Es war noch ein Wolltuch dabei. Das haben die Motten zerfressen. Das habe ich weggeschmissen. Die Briefe haben auch Mottenfraß an den Ecken, aber nicht so schlimm.« Sie nimmt einen Schluck Tee.

Cara legt ihren Stift beiseite und ist jetzt aufrichtig interessiert.

»Wann haben Sie denn zuletzt von Ihrer Freundin gehört? Ich meine, wenn ich Sie richtig verstehe, ist das über fünfzig Jahre her. Da kann doch für Ihre Freundin viel passiert sein. Vielleicht ist sie einfach umgezogen, oder sie hat geheiratet und lebt jetzt in einer anderen Straße, einer anderen Stadt.«

Die Frau nickt. »Ja, das kann natürlich sein, aber sie hat da gewohnt. Warum sagen die Leute, dass es sie da nie gegeben hat?«

Cara hebt hilflos die Schultern und versucht sich an einer Erklärung. »Bestimmt wissen sie nur nicht, wer vor so langer Zeit dort gewohnt hat.«

Wieder entsteht eine Pause. Die Frau scheint über die Antwort nachzudenken. Dann nimmt sie ihre Handtasche vom Schoß und steht auf. »Wo sind denn hier die Toiletten?«

Cara zeigt in die Richtung und sieht ihr nach. Anschließend widmet sie sich wieder ihren Weihnachtsgrüßen. Die letzte Karte geht an ihre Eltern. Sie wünscht ein frohes Fest, bedauert, an den Feiertagen nicht bei ihnen zu sein, und verspricht, an Heiligabend anzurufen.

Erst als sie die Post mit Briefmarken beklebt, fällt ihr auf, dass die Frau noch nicht zurück ist. Das geht mich nichts an, versucht sie sich einzureden, aber die nur zur Hälfte geleerte Teetasse steht da wie eine Mahnung. Ein Schwächeanfall? Vielleicht die Aufregung? Sie geht zu den Toiletten hinüber und sieht nach. Beide Kabinen sind unbesetzt, die Frau ist nicht mehr da.

Cara ist beruhigt. Wahrscheinlich hat sie ihren Tee vergessen und ist gegangen. Oder … oder sie hat ihn sich auf diese Weise ergaunert, und Cara wird ihn gleich auf ihrer Rechnung finden. Sie lacht kurz auf und flüstert anerkennend: »Chapeau!«

Zurück an ihrem Platz, fällt ihr Blick auf die schwarze Einkaufstasche, die immer noch auf dem Stuhl steht. Sie packt ihre Karten und das Anschreiben zusammen und winkt der Kellnerin. Mit der Bitte um die Rechnung zeigt sie auf die Tasche und sagt: »Die Dame, die hier gesessen hat, hat ihre Tasche vergessen.«

»Oh, Ihre Bekannte hat schon alles bezahlt. Sie bat mich, Ihnen auszurichten, dass Sie die Tasche mitnehmen sollen.«

Cara lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und ist sprachlos. Die Bedienung ist schon fort, als sie immer noch fassungslos die schwarze Einkaufstasche betrachtet.

»Von wegen verwirrt«, flüstert sie und zieht die unerwartete Weihnachtsgabe zu sich heran. Darin steckt ein alter brauner Aktenkoffer. Sie nimmt ihn heraus. Das Leder ist spröde, die beiden Metallschließen sind angerostet. Sie lassen sich nur mit aller Kraft herunterdrücken. Ein muffiger Geruch strömt ihr entgegen, als sie ihn aufklappt. Einige Bücher, etliche Briefe, bestimmt zwanzig oder dreißig, mit einer dünnen Sisalschnur zusammengebunden. Sie löst den Knoten um das Bündel und betrachtet die Briefe einzeln. Sie sind an eine Adele Kuhn gerichtet. Auf etliche ist in verblasstem Rot »Feldpost« gestempelt. Sie bindet sie wieder zusammen, steckt alles zurück in den Aktenkoffer und überlegt für einen Moment, die Kellnerin zu rufen, das Missverständnis aufzuklären und die Tasche zurückzulassen. Aber dann ist ihre Neugier stärker, und nicht zuletzt empfindet sie auch ein wenig Bewunderung für die Chuzpe der Alten. Zu Hause, denkt sie, kann sie sich den Inhalt in Ruhe genauer ansehen. Sicher findet sich irgendwo ein Hinweis darauf, wer die Frau ist und wo sie wohnt. Vielleicht bekommt sie sogar heraus, was aus dieser Adele Kuhn geworden ist, dann kann sie ihrer Caféhausbekanntschaft eine entsprechende Nachricht zusammen mit der Tasche zukommen lassen.

An diesem Nachmittag ahnt Cara noch nicht, was ihre Nachforschungen auslösen würden. Aber die ersten Anzeichen zeigen sich schon zwischen den Jahren.

Kapitel 2

Kassel, 1935

Adele

Die Mutter hatte darauf bestanden, dass sie zur Schule gingen. Am Abend zuvor hatte Albert noch argumentiert, dass er sich sowieso nicht auf den Unterricht konzentrieren könne, aber Katharina Kuhn ließ seine Einwände nicht gelten. »Euer Vater erwartet von uns, dass bis zu seiner Rückkehr alles seinen gewohnten Gang geht!«, hatte sie mit aller Entschiedenheit erklärt.

Adele und Albert meinten, spät dran zu sein, rannten von der Burgstraße zur Straßenbahnhaltestelle Wilhelmshöhe und kamen doch noch zeitig an. Albert litt an Asthma und rang nach Luft. Die Nacht war kalt gewesen, und die bewaldeten Berghänge, die die Stadt umgaben, waren in den aufsteigenden Frühnebeln nur zu erahnen. Die taufeuchte Morgenluft kühlte ihre erhitzten Gesichter, während sie auf die Straßenbahn warteten. Dietlind und Richard Martens wohnten in der Hupfeldstraße und würden am Bahnhof Wilhelmshöhe zusteigen.

»Sollen wir es ihnen sagen?«, fragte Adele ihren Bruder und schob die krause rötliche Haarsträhne, die sich immer aus ihrem Zopf löste, hinters Ohr. Mit den Kindern des Apothekers Martens waren sie seit Jahren befreundet. Albert war sechzehn, Richard ein Jahr älter, und beide gingen aufs Friedrichsgymnasium. Adele und Dietlind waren fünfzehn und besuchten die katholische Mädchenschule Engelsburg. Auch die Eltern waren freundschaftlich verbunden. Familie Martens war oft im Hause Kuhn zu Gast gewesen. Man hatte sonntags gemeinsame Ausflüge unternommen, und zweimal waren sie sogar zusammen im Urlaub auf Borkum gewesen, aber seit Hermann Martens in die NSDAP eingetreten war, war die Verbindung der Eltern abgekühlt.

»Ich werde mit Richard sprechen. Vielleicht kann sein Vater rauskriegen, wo sie Vater hingebracht haben«, entschied Albert und warf seine lederne Schulmappe lässig von der rechten in die linke Hand. Albert war groß und dürr, und seine Bewegungen wirkten oft ein wenig ungelenk, so als habe er seine langen Arme und Beine nicht ganz unter Kontrolle.

Als Dietlind und Richard am Wilhelmshöher Bahnhof zustiegen, sah Adele an ihren Blicken, dass sie bereits davon gehört hatten. Trotzdem war da diese kleine, freudige Aufregung, die sie seit Wochen empfand, wenn Richard sie mit seinen blauen Augen ansah.

Im Waggon wurde geraucht. Albert vertrug den Qualm nicht, deshalb stellten sie sich wie immer hinten auf die offene Plattform des letzten Straßenbahnwaggons.

»Tut mir so leid«, flüsterte Richard, legte die Hand kurz auf Alberts Schulter und strich dann Adele tröstend über den Oberarm. Sie spürte die Wärme seiner Hand durch den Ärmel ihrer Strickjacke und blickte verlegen zu Boden.

Dietlind erklärte leise und mit Vorwurf in der Stimme: »Vater hat gesagt, dass es ja mal so kommen musste.«

Albert ging über die Bemerkung hinweg und wandte sich an Richard. »Weiß dein Vater, wo sie ihn hingebracht haben?« Richard schüttelte den Kopf. »Aber er hat versprochen, dass er sich darum kümmert.«

Am Adolf-Hitler-Platz verließen sie die Bahn. Ein Stück gingen sie noch schweigend nebeneinander, dann bogen die Jungen in die Wolfsschlucht zum Friedrichsgymnasium ab, während die Mädchen weiter die Wilhelmstraße entlang zur Engelsburg schlenderten. Dietlind erzählte vom vergangenen Abend beim Bund Deutscher Mädel und schien schon vergessen zu haben, dass Adele andere Sorgen hatte.

»Fräulein Lange hat gesagt, wenn du ständig fehlst, kannst du am Kaiserplatz nicht dabei sein.« Sie machte eine kleine Pause, und als Adele nicht reagierte, fügte sie an: »Das wäre doch schade, findest du nicht?«

In der Stadt war man überall mit den Vorbereitungen der Reichskriegertage des Kyffhäuserbundes beschäftigt, die am ersten Juliwochenende stattfinden sollten. Am Kaiserplatz wurde eine große Tribüne für die Ehrengäste gebaut. Man erwartete über zweihunderttausend Kriegsveteranen, und seit Wochen probten die Jungen und Mädchen der Hitlerjugend gemeinsam den perfekten Fahnenaufmarsch für die Abschlussveranstaltung. Adele war es egal, ob sie dabei sein würde. Es machte ihr sowieso keinen rechten Spaß, denn Richard und Albert machten nicht mit. Richard war Schwimmer. Er hatte die Schulmeisterschaften im 1500-Meter-Freistil gewonnen und war von den Veranstaltungen der HJ freigestellt. Er sollte an den Deutschen Jugendmeisterschaften teilnehmen, und sein Training hatte Vorrang. Albert hatten sie ausgemustert, weil er zu groß war und beim Schwenken der Fahnen ständig aus dem Rhythmus kam.

»Du störst das einheitliche Bild«, hatte Fräulein Lange gesagt, die für die Choreografie zuständig war.

Albert hatte den Enttäuschten gemimt und erst auf dem Nachhauseweg erleichtert zu seiner Schwester gesagt: »Gott sei Dank habe ich das Theater hinter mir!«

Dietlind redete ohne Punkt und Komma, während sie das letzte Stück der Wilhelmstraße mit Adele zurücklegte. Die hörte schon gar nicht mehr zu, war mit ihren Gedanken bei den Ereignissen vom Vortag.

 

Am späten Nachmittag hatte das Telefon geklingelt. Um diese Zeit war es für gewöhnlich der Vater, der aus seiner Spedition am anderen Ende der Stadt anrief. Albert hatte beim ersten Läuten grinsend gesagt: »Ich wusste es! Vater möchte, dass wir das Abendessen um eine Stunde verschieben.«

Die Mutter war lachend aufgestanden und hinüber ins Arbeitszimmer des Vaters gegangen, wo das Telefon stand.

»Oder nein, warte«, hatte Albert ihr nachgerufen, »er wird sagen, wir sollen mit dem Essen nicht auf ihn warten.«

Katharina Kuhn war lange nicht ins Esszimmer zurückgekommen, wo Adele und Albert mit Hausaufgaben beschäftigt waren. Nach einer Viertelstunde war Adele durch die Eingangshalle ins Arbeitszimmer gegangen, um nach ihr zu sehen. Die Mutter hatte in der Sitzecke in einem der Ledersessel gesessen und wie blind vor sich hin gestarrt. Als sie Adele endlich wahrnahm, hatte sie gesagt: »Das war Herbert Lenz aus der Buchhaltung. Sie … sie haben euren Vater abgeholt.«

Adele hatte sich in den Sessel der Mutter gegenüber fallen lassen.

»Aber warum denn?«, hatte sie ungläubig gefragt.

Katharina Kuhn hatte hilflos die Schultern gehoben und nicht geantwortet. Ganz still war es im Zimmer gewesen. Man hatte nur das gleichmäßige Ticken der alten Standuhr gehört, die links von Vaters Schreibtisch stand und die er sonntags, vor dem Kirchgang, mit dem kleinen Flügelschlüssel aufzog, der auf dem Kaminsims lag.

In Adeles Kopf war alles durcheinandergegangen, wieder und wieder hatte sie gemeint, Hermann Martens zu hören, wie er vor zwei Jahren zu ihrem Vater sagte: »Glaub mir, Gerhard, das nächste Mal kommst du nicht so glimpflich davon!«

 

Der Vater war kein Freund der NSDAP, und daraus hatte er nie einen Hehl gemacht. Vor zwei Jahren, im März 1933, hatten innerhalb weniger Tage an allen öffentlichen Gebäuden die Hakenkreuzfahnen geweht. SS und SA verschleppten wahllos Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftler und Juden in die Gaststätte Bürgersäle in der Oberen Karlsstraße. Sie wurden verhört, misshandelt, und etliche kamen ins Gefängnis. Als Gerhard Kuhn erfuhr, dass einer seiner langjährigen Mitarbeiter verhaftet worden war, war er zur Polizei gegangen, um herauszufinden, was man dem Mann vorwarf, aber er hatte keine Auskunft bekommen. Stattdessen hatte man ihm unverhohlen gedroht.

»Ich gebe Ihnen einen guten Rat«, hatte einer der Polizisten gesagt, »hauen Sie ab, sonst werden Sie Ihrem Mitarbeiter schon bald Gesellschaft leisten.«

Einen Tag später hatte Gerhard Kuhn bei einem Treffen mit Geschäftsfreunden empört davon berichtet, hatte von »Skandal« und »Rückfall in die Barbarei« gesprochen, und am nächsten Morgen war er, kaum dass er das Haus verlassen hatte, verhaftet worden.

Katharina, Adele und Albert hatten gar nicht mitbekommen, was sich vor der Tür zugetragen hatte. Ganz leise war das vor sich gegangen. Erst als jemand aus der Spedition durchläutete und fragte, ob der Chef noch hereinkäme, hatte Katharina Kuhn gesehen, dass der Wagen ihres Mannes, ein DKW F1, noch in der Einfahrt stand, und war unruhig geworden. Gegen Mittag hatte sie, außer sich vor Sorge, Hermann Martens angerufen. Der saß im Stadtrat und hatte Kontakte. Er war abends vorbeigekommen und wusste zu berichten, dass man den Vater wegen »verleumderischer Äußerungen gegen Führer und Reich« zum Verhör geholt hatte.

Zwei Tage war er damals fort gewesen. Zwei Tage, in denen die Mutter Himmel und Hölle in Bewegung setzte. Sie telefonierte mit Freunden und Geschäftspartnern des Vaters und bat Hermann Martens, der Gründungsmitglied der NSDAP in Kassel war, seinen Einfluss geltend zu machen. Ausschlaggebend war wohl letztlich, dass die Spedition Kuhn eine angesehene Firma mit über dreißig Mitarbeitern war. Gerhard Kuhn war bei den Kasseler Unternehmern geachtet, und es hatten sich viele Fürsprecher gefunden.

Mit einer Platzwunde am Kopf und Prellungen am ganzen Körper brachte Martens ihn zwei Tage später nachts heim. Katharina Kuhn hatte Adele und Albert zurück in ihre Zimmer geschickt, aber sie waren an der Treppe der Eingangshalle stehen geblieben und hatten gelauscht. Die Mutter weinte.

Hermann Martens hatte gesagt: »Du darfst in der Öffentlichkeit so nicht reden, Gerhard. Denk doch an deine Familie. Andere sitzen wegen solcher Äußerungen im Zuchthaus Wehlheiden, und beim nächsten Mal – da kannst du sicher sein – wirst du nicht so glimpflich davonkommen.«

Der Vater hatte seinen Rat befolgt. Gleich am nächsten Tag hatte er Adele und Albert zu sich ins Arbeitszimmer gerufen und gesagt: »Ihr wisst, dass ich bisher dagegen war, aber jetzt möchte ich, dass ihr in die Hitlerjugend eintretet.« Adele war sofort einverstanden gewesen, sogar erleichtert, weil sie nun keine Ausflüchte mehr erfinden musste, warum sie nicht dabei war. Albert dagegen hatte protestiert. Er wolle sich nicht von anderen Jungen herumkommandieren lassen, und an Heimatabenden, Wanderungen und Geländespielen sei er nicht interessiert.

Der Vater hatte ihm mit einer endgültigen Handbewegung das Wort abgeschnitten und gesagt: »Ich verlange es von dir! Es ist zum Schutz der Familie.«

Das war jetzt über zwei Jahre her, und seitdem hatte der Vater selbst zu Hause jedes Gespräch über Politik vermieden, zumindest wenn Adele und Albert dabei waren.

Es war doch alles gut gewesen.

Im Klassenzimmer nahmen Dietlind und Adele ihre Plätze in der hinteren Reihe ein. Seit einigen Wochen gab es auch jüdische Schülerinnen. Sie wurden an den anderen Schulen nicht mehr unterrichtet, aber die Engelsburg war eine katholische Schule und ignorierte die Anordnung.

Während des Morgengebets bat Adele lautlos und inständig: »Bitte, lieber Gott, lass Vater wieder zu Hause sein, wenn ich aus der Schule komme.« Dem Unterricht konnte sie kaum folgen, übertrug Zahlen und Rechenzeichen von der Tafel in ihr Heft, als handelte es sich um eine Schönschreibübung.

Einmal rief Schwester Agatha sie auf und zeigte an die Tafel. »Adele, wie würdest du diese Gleichung lösen?«

Sie stand auf, starrte mit hochrotem Kopf auf die Zahlen und Zeichen und hob hilflos die Schultern.

In der letzten Stunde wartete sie nur noch sehnlichst auf das Läuten. Kaum dass es ertönte, packte sie eilig ihre Hefte zusammen, was ihr eine Rüge der Lehrerin einbrachte. Sie musste sitzen bleiben, bis alle Schülerinnen das Klassenzimmer verlassen hatten. Dann endlich durfte auch sie gehen. In den Fluren riss sie sich noch zusammen, zwang sich zu gemäßigten Schritten, aber kaum aus dem Gebäude heraus, rannte sie zur Straßenbahn.

Albert war bereits zu Hause. Sie fand ihn und die Mutter im Wohnzimmer und sah den beiden gleich an, dass es keine guten Neuigkeiten gab. Hinter ihr erschien das Hausmädchen Lotte in der Tür und fragte leise: »Soll ich das Mittagessen jetzt auftragen?«

»Ja«, antwortete Katharina Kuhn und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Ja, natürlich. Wir machen alles wie immer.«

Die Mutter hatte den ganzen Vormittag herumtelefoniert, aber nichts in Erfahrung bringen können.

Am Mittagstisch rührten sie das Essen kaum an. Als das Hausmädchen abräumte, klingelte es. Obwohl es Lottes Aufgabe war zu öffnen, sprang Adele auf, rief: »Da ist er!«, und rannte zur Tür. Nach wenigen Schritten fiel ihr ein, dass der Vater nicht klingeln würde.

Es war Herbert Lenz, Gerhard Kuhns rechte Hand und Buchhalter in der Spedition. Er war Ende fünfzig, und mit den tiefen Linien auf der hohen Stirn sowie um Mund und Nase wirkte sein Gesicht wie geschnitzt. Er hielt seinen Hut mit beiden Händen vor den Leib. Katharina Kuhn stand auf, als er das Esszimmer betrat.

»Haben Sie etwas in Erfahrung bringen können?«, fragte sie so laut, dass es fast klang wie ein Rufen.

»Nicht viel, aber ich muss Sie dringend sprechen, Frau Kuhn. In der Spedition sind die Lkws beschlagnahmt worden.«

Katharina ließ sich auf ihren Stuhl zurückfallen. »Aber … was soll das heißen?«

Lenz setzte sich ebenfalls an den Tisch. Er sah kurz zu Albert und Adele hinüber und wandte sich wieder an Katharina. »Kann ich offen sprechen?«

Sie dachte einen Moment nach, dann nickte sie. »Die Kinder sind alt genug.«

»Ich glaube, es hängt alles mit dem Anruf vom Samstag zusammen«, begann Lenz und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen grauen Haare. »Am Samstag hat sich jemand von der Gauleitung gemeldet. Es ging um die Vorbereitungen der Reichskriegertage. Wir sollten für die nächsten zwei Wochen alle acht Lkws zur Verfügung stellen.« Lenz schluckte schwer. »Ihr Mann hat erklärt, dass das nicht geht, nicht über eine so lange Zeit. Dass wir Aufträge zu erfüllen haben und die Lastwagen gebraucht werden. Er hat ihnen drei Lkws und zwei Fuhrwerke angeboten.« Resigniert betrachtete er den Hut, den er auf seinem Schoß abgelegt hatte. »Als sie gestern Ihren Mann abgeholt haben, habe ich gar nicht an das Telefongespräch gedacht. Aber jetzt haben sie sämtliche Wagen, die im Hof standen, mitgenommen. Alle beschlagnahmt. Das Papier ist vom Gauleiter unterschrieben. Zwei Lkws sind noch unterwegs, die sollen morgen geholt werden. Wir haben nur noch die Fuhrwerke.«

Katharina Kuhn stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte die Hände vors Gesicht und stöhnte. Dann nahm sie die Hände herunter und erklärte mit Zuversicht: »Wenn sie jetzt haben, was sie wollten, dann werden sie Gerhard doch wieder gehen lassen, nicht wahr?«

Lenz nickte verhalten. »Das hoffe ich, aber wenn nicht … Ich meine, ich muss wissen, wie es weitergehen soll.« Er räusperte sich. »Sie müssen das jetzt entscheiden, Frau Kuhn. Sollen wir vorübergehend schließen, oder sollen wir die Aufträge erledigen, die wir mit den Fuhrwerken bewerkstelligen können? Die weiten Transporte, für die wir die Lkws benötigen, habe ich schon abgesagt, aber innerhalb der Stadt und in der näheren Umgebung könnten wir fahren.«

Katharina, die sich nie um die Spedition gekümmert hatte, brauchte nur wenige Sekunden. »Wir fahren! Bis wir die Lkws wiederhaben, übernehmen wir eben nur die Transporte, die wir mit den Fuhrwerken schaffen. Es sind ja bloß zwei Wochen.« Sie nickte ihren Kindern zu. »Wir machen alles wie immer!«

Dieses »alles wie immer« sollten nicht nur Adele und Albert in den nächsten Wochen wieder und wieder zu hören bekommen. Katharina Kuhn hielt sich an diesen drei Worten fest, wiederholte sie in der Firma und zu Hause, als würde sie die Perlen eines Rosenkranzes herunterbeten.

Kapitel 3

Kassel, 27. Dezember 2000

Cara

Die Weihnachtstage vergehen für Cara Russo und ihren Partner Christian Sander entspannt und ohne die üblichen Weihnachtsverpflichtungen. Sie haben keinen Weihnachtsbaum aufgestellt und stattdessen den großen Adventskranz, der in der Ecke des Wohnzimmers an einem Haken von der hohen Decke hängt, mit Holz- und Strohfiguren dekoriert. Im Wohnzimmerfenster leuchtet ein Herrnhuter Weihnachtsstern aus Papier.

Draußen ist von weißer Weihnacht nichts zu sehen. Es regnet nicht mehr, aber die Temperaturen liegen über null, und der Himmel über Kassel zeigt sich grau.

Cara hatte als Referendarin in einer großen Kanzlei gearbeitet und war Stammkundin in seiner Buchhandlung gewesen, als sie Christian kennenlernte. Ab und an waren sie sich auch im Theater begegnet. Eines Abends hatte es heftig geregnet, und weil Cara zu Fuß und ohne Schirm gekommen war, bot Christian an, sie nach Hause zu fahren. Von da an verabredeten sie sich zu den Theaterbesuchen, und nach einigen Wochen waren sie offiziell ein Paar. Die Verbindung hatte in beiden Freundeskreisen großes Erstaunen ausgelöst. Sie, die lebhafte Cara, die gerne feierte und es mit der Ordnung nicht so genau nahm, und der förmliche, eher stille Christian, der als ausgesprochen ordnungsliebend galt. Zwei Jahre später zogen sie zusammen. Eigentlich war das nicht geplant gewesen, aber man hatte Christian die Altbauwohnung mit vier Zimmern in der Friedrich-Ebert-Straße angeboten. Hundert Quadratmeter, hohe Decken, große Fenster und ein schöner, alter Parkettfußboden. Und weil auch Cara aus ihrem kleinen Apartment am Stadtrand ausziehen wollte und die Wohnung sehr günstig, aber zu groß war für eine Person, hatten sie entschieden, es zu versuchen. Ihre Verbindung war nicht diese Liebe auf den ersten Blick gewesen, eher eine stetig wachsende Zuneigung. Sie vertrauten einander und wollten sich beide ein Leben ohne den anderen nicht mehr vorstellen.

Am ersten Weihnachtstag gehen sie abends ins Theater und sehen sich eine Inszenierung von August Strindbergs Fräulein Julie an. Den zweiten Weihnachtstag verbringen sie zusammen mit Freunden. Schon nachmittags trudeln die Ersten ein, und während der gemeinsamen Essensvorbereitungen kommen nach und nach weitere Gäste dazu. Am Abend sind sie schließlich zwölf Personen, ziehen den schweren Esszimmertisch aus, tragen den Küchentisch hinüber und stellen ihn dazu. Es ist ein fröhlicher Abend. Sie sitzen bis weit nach Mitternacht an dieser langen Tafel, essen, trinken, reden und lachen.

Die schwarze Einkaufstasche und die Frau aus dem Café sind vergessen.

Erst am Mittwoch rücken sie wieder ins Bewusstsein. Cara kommt mit frischen Brötchen vom Bäcker zurück, als Christian sie darauf anspricht. »Die Briefe, die im Arbeitszimmer auf dem Schreibtisch liegen, sind die aus dem alten Aktenkoffer?«

Cara stutzt. »Ach ja. Gut, dass du mich erinnerst, darum wollte ich mich heute kümmern.«

Chris, der unterdessen den Frühstückstisch gedeckt hat, schenkt Kaffee ein. »Ich habe vorhin zwei der Feldpostbriefe gelesen. Das muss eine große Liebe gewesen sein. Wenn diese Adele noch lebt, dann sollte sie die Briefe unbedingt zurückbekommen.«

Cara schmunzelt. Chris kann es schlecht aushalten, wenn Dinge ungeklärt bleiben. Das ist für ihn eine Art Unordnung, etwas Unfertiges, wie ein Puzzle, in dem Steine fehlen. Sie geht in die Küche, legt die Brötchen in einen Korb und ruft lachend: »So, und darum soll vermutlich ich mich kümmern. Wenn das ein Auftrag ist … du kennst ja meine Stundensätze!«

Die beiden Briefe hatte sie wegen der Adressen auf den Kuverts herausgelegt. Die Feldpost von 1941 bis 1943 war an Adele Kuhn in Kassel-Bettenhausen gegangen. Die Post nach 1943 war ebenfalls an Adele, aber nach Kannberg geschickt worden. »Hellerhof« stand unter »Adele Kuhn« und darunter nur noch Paderborn/Kannberg. Cara hatte den Straßenatlas aus dem Auto geholt und das Dorf gefunden. Sie wollte mit einer Anfrage auf dem Einwohnermeldeamt in Paderborn anfangen. Wenn die Adresse lediglich Hellerhof lautete, ohne Straßennamen, dann musste das ein großer Hof sein. So ein Besitz wurde nach der Familie benannt, und die Frau im Café hatte auch von einem Hof gesprochen. »Kein Vieh mehr auf dem Hof«, hatte sie gesagt.

Als Chris sich auf den Weg in die Buchhandlung macht, nimmt Cara sich noch eine Tasse Kaffee und geht ins Arbeitszimmer. Über die Auskunft bekommt sie die Telefonnummer des Einwohnermeldeamtes Paderborn. Auf dem Amt kann die Angestellte keinen Hellerhof finden.

»Nein, tut mir leid. Ich habe es jetzt auch noch mit den Nachbardörfern von Kannberg versucht, aber einen Hellerhof oder eine Familie Heller gibt es nicht.«

Als Cara erklärt, dass es den aber bis 1945 bestimmt gegeben habe, stöhnt die Frau am anderen Ende der Leitung auf. »Das sind über fünfzig Jahre, da ist jede Menge Wasser die Pader runter! Hier haben etliche Landwirte in den letzten zwanzig Jahren aufgegeben oder verkauft. Ist außerdem viel gebaut worden in den umliegenden Dörfern, auch in Kannberg.« Nach einer kleinen Pause fragt sie misstrauisch: »Wozu brauchen Sie das denn nach so langer Zeit?«

Cara erzählt von der Adresse auf der Feldpost und dass sie die Briefe gerne zurückgeben würde.

Die Frau am anderen Ende der Leitung hört interessiert zu und rät schließlich: »Wissen Sie, Kannberg ist ja nicht groß. Ich meine, unter den alten Leuten im Dorf gibt es bestimmt einige, die Ihnen da weiterhelfen können. Am besten, Sie fahren mal hin.« Sie zögert einen Moment. »Also, wenn Sie wollen, dann könnte ich meine Oma fragen. Die lebt im Nachbardorf, und wenn es in Kannberg einen Hellerhof gegeben hat, dann weiß die das.« Cara nimmt dankend an, nennt ihre Telefonnummer und schreibt sich den Namen Brigitte Hoffmann auf. Frau Hoffmann verspricht ihr, sich am nächsten Tag zu melden.

Cara legt auf und fährt sich mit den Fingern durch ihr kurzes schwarzes Haar. Was jetzt? Sie nimmt den Stadtplan von Kassel aus der unteren Schreibtischschublade und sucht nach der Straße in Bettenhausen, die auf den ersten Briefen steht. Sie ist nicht zu finden. Sie faltet den Plan wieder zusammen. Eigentlich ist das nicht verwunderlich. Bettenhausen wurde bei den Bombenangriffen zu großen Teilen zerstört, und der Stadtteil hatte sich mit dem Wiederaufbau völlig verändert. Mit dieser Adresse würde sie also auch nicht weiterkommen. Ihr fällt ein, dass die Frau im Café von der Wilhelmshöhe gesprochen hatte. »In ihrem Haus in Wilhelmshöhe«, hatte sie gesagt. Adele Kuhn musste also zu irgendeinem Zeitpunkt dort gewohnt haben. Kurzerhand ruft sie das Einwohnermeldeamt Kassel an und fragt, ob eine Adele Kuhn in Kassel gemeldet ist. Die Auskunft ist schnell erteilt. Nein. Der Nachname ist häufig, aber eine Adele gibt es in Kassel nicht.

Cara packt den restlichen Inhalt der Tasche aus. Zwei Bücher. Ein graugrüner Einband, mit Stockflecken übersät. Der verblichene Buchrücken ist abgestoßen. Die dünnen Buchseiten haben Feuchtigkeit gezogen, liegen gewellt zwischen den Buchdeckeln. Vorne auf dem Einband sind in geschwungener Schrift die goldenen Buchstaben AK eingeprägt. Der blassrote Buchrücken, ebenfalls goldgeprägt, gibt genauere Auskunft: Alfred Kerr, Gesammelte Schriften, Die Welt im Licht I, Verweile doch, S. Fischer Verlag. Der ersten Innenseite ist zu entnehmen, dass das Buch 1927 erschienen ist. Auf der zweiten Seite findet sie einen handschriftlichen Eintrag.

Ach, wärest du doch hier

Cara lässt die Seiten durch die Finger gleiten. Hier und da sind Stellen mit Bleistift unterstrichen, andere mit Randbemerkungen versehen.

Das zweite Buch ist eher ein Büchlein und passt auf eine Hand. Abgegriffenes dunkelrotes Leder, an den Ecken abgestoßen. In Goldschriftschnitt steht auf dem Deckel »Heine« und darunter Buch der Lieder. Die Gedichte sind mit kleinen Schwarz-Weiß-Bildern von Hugo Flintzer illustriert, das Papier ist vergilbt. Auch hier, vorne auf der ersten Seite, ein handschriftlicher Eintrag.

Zur Erinnerung an das wunderbare Wochenende.

In Liebe

Richard

Mai 1940

Sie nimmt einen der Feldpostbriefe zur Hand. Die Schrift ist identisch mit den Widmungen in den Büchern. Absender: Richard Martens. Nach kurzer Überlegung flüstert sie: »Einen Versuch ist es wert!« und greift erneut zum Telefon, um die Auskunft anzurufen.

»Richard Martens in Kassel. Haben Sie da eine Telefonnummer?«

Es dauert einen Moment, dann sagt die Telefonistin: »Direkt in Kassel finde ich keinen Eintrag, aber es gibt einen Dr. Richard Martens in Baunatal.« Cara notiert sich die Telefonnummer, legt auf und spürt plötzlich eine unerklärliche Unruhe.

Kapitel 4

Kassel, 1935

Adele

Im Hause Kuhn wechselten die Tage nach der Verhaftung des Vaters zwischen Hoffen und Bangen. Sie wussten inzwischen, dass Gerhard Kuhn in Wehlheiden einsaß. Wenn sie bei Tisch davon sprachen, begann Katharina mit unruhiger Hand das Geschirr zurechtzurücken, schob Schüsseln, Platten, Besteck oder Serviettenringe um Millimeter nach rechts oder links und erklärte: »Nach den Reichskriegertagen ist er wieder zu Hause. Ihr werdet sehen.« Sie hatte sich um eine Besuchserlaubnis bemüht, aber die war ohne Begründung abgelehnt worden. Selbst das interpretierte sie als Hinweis auf eine baldige Entlassung. »Sicher erlauben sie keine Besuche bei Gefangenen, die sowieso in den nächsten Tagen wieder rauskommen.«

Es war Herbert Lenz, der darauf drängte, einen Anwalt einzuschalten. Als sie endlich einen aufgesucht hatte, kam sie geradezu überschwänglich nach Hause zurück. »Ein paar Tage müssen wir überstehen. Der Anwalt wird sich kümmern, und bis dahin machen wir alles wie immer.« Beruhigende Worte, die nicht nur an Adele und Albert gerichtet waren. Auch sie selbst schien sich damit Mut zuzusprechen. Wenn Albert zu sagen wagte: »Es ist aber nicht alles wie immer!«, dann bedachte sie ihn mit einem erschrockenen wie enttäuschten Blick, legte die Hände wie zum Gebet aneinander und hielt entschieden dagegen: »So darfst du nicht denken! Es wird wieder, du wirst schon sehen.«

Für die Firma hatte Katharina Kuhn entschieden, keinen der Arbeiter zu entlassen, ihr Mann wäre doch ohnehin bald wieder da. »Nur bis die Reichskriegertage vorbei sind«, versicherte sie Herbert Lenz. »Das schaffen wir schon. Dann ist mein Mann zurück, und alles ist wieder beim Alten.«

Als die Festlichkeiten auf dem Kaiserplatz vorüber waren und der Vater drei Tage danach immer noch nicht heimgekehrt war, litt sie am Abend an Atemnot und musste sich hinlegen.

Albert holte Dr. Löblich, der in der Nachbarschaft wohnte.

»Es ist das Herz«, sagte er zu Albert und Adele, »Aufregung tut ihr nicht gut.«

Vier Tage hütete sie das Bett, dann kümmerte sie sich wieder um die Spedition. Die Lkws waren weiterhin beschlagnahmt, und der Buchhalter Lenz drängte auf Entlassungen.

»Wir wissen nicht, wie lange es noch dauern wird, und wir haben ohne die Lastwagen keine Arbeit für die Leute. Das können wir uns nicht leisten, Frau Kuhn. Ihr Mann würde das auch so entscheiden.«

Am 15. Juli unterschrieb sie mit Tränen in den Augen zwanzig Kündigungen. Es kam ihr wie ein Verrat vor, und mit jeder Unterschrift empfand sie deutlicher, wie ihre Hoffnung schwand, ihr Mann könnte bald wieder zu Hause sein.

Am Tag danach meldete sich endlich der Anwalt. Lotte führte ihn in den Salon, wo er steif neben einem der zierlichen Sessel stand, bis Katharina ihn aufforderte, sich zu setzen.

»Die Anklageschrift liegt jetzt vor«, begann er unsicher, bevor er schluckte und mit sachlicher Stimme erklärte: »Der Gerichtstermin wird in vierzehn Tagen sein. Ihr Mann wird der Sabotage beschuldigt. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf, mit dem ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet habe.« Er atmete tief durch, dann fügte er hinzu: »Aber im Grunde ist das auch eine gute Nachricht, denn dafür gibt es überhaupt keine Beweise. Der Vorwurf ist absurd. Wir können das vor Gericht widerlegen.«

Als er sich verabschiedet hatte, schien es, als habe Katharina nur seinen letzten Satz gehört. »Wir können den Vorwurf widerlegen.« Das hatte der Anwalt gesagt.

 

Die Schulferien hatten bereits begonnen. Richard kam fast täglich nach seinem Schwimmtraining vorbei und erkundigte sich nach dem aktuellen Stand. Oft unternahm er anschließend lange Spaziergänge mit Albert. Adele freute sich auf seine Besuche und war enttäuscht, wenn er sich mit Albert auf den Weg machte und sie nicht einmal fragte, ob sie mitkommen wolle. Gleichzeitig war sie sich sicher, dass er ihretwegen kam. Er erkundigte sich, wie es ihr gehe, neckte sie manchmal, fand aufmunternde Worte, zog sanft an ihrem Zopf und nannte sie »kleine Adele«. Einmal streichelte er ihre Wange und sagte: »Was hier passiert, tut mir so leid für dich.«

Richards Besuche waren der einzige Lichtblick. Albert ging auch nach dem Fahnenaufmarsch auf dem Kaiserplatz nicht mehr zu den wöchentlichen Treffen der HJ, aber sie besuchte pflichtschuldig die BDM-Abende, hielt, wie ihre Mutter, an der Phrase fest: Alles wie immer!

Ende Juli erklärte die Gruppenleiterin auf dem Liederabend vor versammelter Mannschaft: »Adele, wir haben entschieden, dass du hier erst mal nicht weiter teilnehmen kannst. Die Gründe muss ich dir wohl nicht erklären.«

Da hatte sie es wieder gespürt, diesmal mit aller Deutlichkeit. Das kurze Beben in ihrem Innern, das sie schon bei der ersten Verhaftung des Vaters erschüttert hatte. Eine Erschütterung, die in ihren kindlichen Gewissheiten, dass alles gut werden würde, einen Haarriss auf der glatten Oberfläche hinterließ. Sie hatte zu ihrer besten Freundin Dietlind geschaut, aber die hielt den Kopf gesenkt und tat so, als wäre sie mit dem Text in ihrem Liederbuch beschäftigt. Wortlos verließ Adele den Raum.

Zu Hause ging sie in ihr Zimmer und weinte. Alles war durcheinander. Sie meinte, nicht länger zu wissen, was richtig und was falsch war. Ihr Vater hatte sicher kein Unrecht begangen, und doch spürte sie Zweifel. Irgendwas in ihrer Vorstellung von Recht und Unrecht passte nicht mehr zusammen. Der Mutter erzählte sie nicht von dem Abend, und in der folgenden Woche erklärte sie trotzig: »Ich gehe erst wieder hin, wenn Vater zurück ist!«

 

Der Prozess gegen Gerhard Kuhn fand am 30