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Von den Schreien wird sie wach. Von der Stille danach. Sie stolpert barfuß die steile Holztreppe hinunter, stößt sich den Zeh an der Schwelle zur Spülküche, drückt ihr ganzes Gewicht gegen die schwere Tür. Das Neonlicht beißt in ihren Augen. Vom Küchentisch tropft Tee die Wachstuchdecke hinunter und sammelt sich zu einer Pfütze auf dem Linoleumboden. Die dicke Kanne liegt reglos auf Bauch und Tülle. Ein Stuhl ist zerbrochen. Ihr Herz schlägt im Kopf ... Der alte Gietmann ist tot. Sie finden seine Leiche grausam zugerichtet auf einem Feldweg inmitten der endlosen Felder des Niederrheins. Noch am gleichen Tag erscheint in der örtlichen Tageszeitung seine Todesanzeige. "Begrenzt ist das Leben, doch unendlich die Erinnerung." Peter Böhm und seine Kollegen von der Kripo Kleve stoßen bei ihren Nachforschungen überall im Dorf auf Schweigen. Als drei Tage später eine weitere Männerleiche gefunden wird, macht sich unter den Bewohnern des Ortes Angst breit.
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Seitenzahl: 287
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Mechtild BorrmannWenn das Herz im Kopf schlägt
Mechtild Borrmann wuchs am Niederrhein auf und lebt seit 1983 in Bielefeld. Sie arbeitete zunächst 15 Jahre im verschiedensten pädagogischen Bereichen und ging dann für eineinhalb Jahre nach Korsika. Anschließend wechselte sie beruflich in die Gastronomie und führte ein Restaurant in der Bielefelder Altstadt.
Seit 2011 arbeitet sie als freie Schriftstellerin. Ihr Kriminalroman »Wer das Schweigen bricht« wurde mit den Deutschen Krimipreis 2012 aufgezeichnet und für den Friedrich Glauser Preis nominiert. »Wenn das Herz im Kopf schlägt« ist ihr erster Kriminalroman.
Mechtild Borrmann
Mein Dank gilt meinen Restaurantmitarbeitern,ohne deren Engagementdieses Buch nicht möglich gewesen wäre.
1. Auflage 2006
2. Auflage 2012
3. Auflage 2012
© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von: © Kitty - www.fotolia.de
Redaktion, Satz: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-937001-70-8
E-Book-978-3-95441-013-2
Für meine Eltern und Geschwister
Von den Schreien wird sie wach. Von der Stille danach.
Sie stolpert barfuß die steile Holztreppe hinunter, stößt sich den Zeh an der Schwelle zur Spülküche, drückt ihr ganzes Gewicht gegen die schwere Tür.
Das Neonlicht beißt in ihren Augen. Vom Küchentisch tropft Tee die Wachstuchdecke hinunter und sammelt sich zu einer Pfütze auf dem Linoleumboden. Die dicke Kanne liegt reglos auf Bauch und Tülle. Ein Stuhl ist zerbrochen.
Ihr Herz schlägt im Kopf.
Sie durchquert den Raum und zieht die Metalltür zur Deele auf.
Am anderen Ende, vor dem Deelentor, steht Papa. Er hat den guten Anzug an.
Mama liegt auf dem Zementboden.
Wenn das Herz im Kopf schlägt, kann sie nicht denken.
Das Tor steht weit auf. Sie sieht den feinen Sprühregen im Schein der Hoflampe.
Sie rennt los – fällt. Mamas Schuh. Papa läuft hinaus in den Hof. Sie steht auf, nimmt den Schuh und drückt ihn mit beiden Händen gegen ihren Leib.
Draußen schlägt die Autotüre.
Der Motor heult auf.
Mama weint nicht. Mama hat sonst immer geweint.
Mamas Beine und Füße sind ganz nackt, ganz still.
Durch das Deelentor sieht sie zwei kleine rote Lichter, die auf dem Feldweg eilig kleiner werden.
»Mama! Mama, steh doch auf.«
Ihre Rufe hallen durch den großen Raum.
Vorsichtig schiebt sie den Hausschuh über Mamas linken Fuß.
»Mama, steh doch auf.«
Sie presst ihre Hände auf die Ohren.
Der zweite Schuh! Mama braucht beide Schuhe, um aufzustehen.
Sie läuft los.
Ins Wohnzimmer, in die Küche, auf den Flur.
Sie rennt. Sie wimmert.
Ins Bad, ins Schlafzimmer, in die Spülküche.
Sie schlägt mit den Fäusten gegen ihren Kopf.
In den Hof, in den Garten, in den Stall.
Mama, ich finde ihn, ich finde ihn bestimmt. Dann kannst du aufstehen.
Ein Auto fährt auf den Hof. Die Scheinwerfer blenden sie.
»Papa?«
Die Haustür fällt mit einem sanften Klack ins Schloss. Augenblicklich ist sie von einem Geruchscocktail aus Zitrusreiniger, Knoblauch und Kohlwurst eingehüllt. Anna atmet durch den Mund. Vor den Briefkästen stehen ein Kinderwagen und ein Dreirad. Sie legt die Aktentasche auf den Sitz des Dreirades, schiebt den Kinderwagen zur Seite und zieht den vierten verbeulten Metallkasten in der oberen Reihe auf.
Das Namensschild ist kaum noch zu lesen.
Seit zwanzig Jahren steckt der Papierstreifen hinter dem Kunststofffensterchen. Damals war sie zusammen mit einer anderen Studentin hier eingezogen. Sie hatten am Küchentisch mehrere Exemplare dieser Minischilder angefertigt. Vier Jahre später hatte ihre Mitbewohnerin ihr Studium beendet und war nach Bonn gezogen. Anna hat das Papierchen herausgenommen und den unteren Namen durchgestrichen.
Lange bleib ich auch nicht mehr, hat sie gedacht.
Hier hatte sie ihre kurze Ehe mit André geführt und ihre Tochter großgezogen, hier lebt sie seit gut einem halben Jahr wieder allein, und hier wird sie wahrscheinlich auch sterben. Reklame, eine Ansichtskarte von Margret und Karl.
Sie läuft die abgetretene Steintreppe hoch, nimmt immer zwei Stufen auf einmal. Die letzten Stufen, vom zweiten in den dritten Stock, nimmt sie einzeln und kramt dabei in ihrer Jackentasche nach dem Wohnungsschlüssel.
Das macht sie immer so. Den richtigen Schlüssel schon zwischen Daumen und Zeigefinger, wie eine kleine Waffe, mit der sie sich zur Not den Weg freischießen kann, um direkt in ihrer Wohnung zu verschwinden.
Sie schafft es nicht.
Ihre Nachbarin steht zappelnd in der Eingangstür ihrer Wohnung, schiebt mit dem linken Fuß beharrlich ihren Pudel in den Flur zurück. Sie wedelt mit einem Brief in der rechten Hand, als müsse sie ein ausgehendes Feuer retten. »Frau Behrens, wie gut, dass ich Sie antreffe.« Die Figur der Nachbarin erinnert an eine Kentaurin. Heute trägt sie einen rosafarbenen Trainingsanzug aus Fliegerseide. Die Jacke hängt weit über ihren schmalen Oberkörper. Das Unterteil spannt über ausladende Oberschenkel und Hüften. »Ein Einschreiben für Sie!« Sie hält Anna den Briefumschlag entgegen. »Rechtsanwalt!« Sie beugt sich noch weiter zur Tür hinaus und tritt den kläffenden Pudel entschieden in die Wohnung zurück. »Also, wenn das jetzt wegen des Schimmels im Bad ist, lassen Sie sich nicht einschüchtern. Wir haben den auch, und ich lüfte regelmäßig!«
Anna greift mit der rechten Hand nach dem Brief und schließt mit der Linken die Wohnungstüre auf.
»Wenn Sie Zeugen brauchen, ich meine ...«
»Danke!« Die Türe fällt hinter ihr ins Schloss, und sie kann endlich wieder atmen. Draußen redet ihre Nachbarin auf ihren Hund ein.
Anna betrachtet den Absender. Dr. Martin Kley, Rechtsanwalt und Notar, Kleve.
Für einen Augenblick löst sich die Schrift vor ihren Augen auf. Sie sieht Felder und Wiesen, Kopfweiden am Bach und am Horizont eine schnurgerade Pappelreihe. Das sind die Soldaten am Ende der Welt!
Sie geht den Korridor entlang in die Küche, wirft Ansichtskarte, Werbung und Schlüsselbund auf den Küchentisch und öffnet das Fenster. Draußen vermischen sich die ersten Schatten des Abends mit dem Grau des Tages. Ohne den Brief abzulegen, zieht sie ihre Lederjacke aus. Das Papier wehrt und windet sich in ihrer Hand, während sie den Ärmel ihrer Jacke abstreift.
Im Park schimpft eine Frau auf türkisch mit ihren Kindern. Die Laute klingen erdig und vital. Sie hat Französisch, Englisch und Russisch studiert. Französisch und Englisch, weil Karl ihr dazu geraten hatte. Russisch, weil es ihr damals so verlässlich klang.
Sie geht zur Küchenschublade, nimmt das kleine Obstmesser und schlitzt das Kuvert mit einem Ruck auf.
Sie braucht lange, um zu verstehen. Es ist, als würde sie einen komplizierten russischen Text übersetzen.
Draußen ist der Tag hinter den Wohnblocks, am anderen Ende des Parks, abgestürzt. Die Laternen streuen diffuses Licht auf die Wege. In der Nachbarschaft spazieren Fernsehstimmen aus den Fenstern und fallen in den Park.
Nachlass Frau Johanna Behrens. Verstorben 25.02.2000.
Nachlassnehmerin: Frau Anna Behrens.
Eine Kate mit Inventar, 20 Hektar Weideland, ein Eichenhain.
Sie starrt hinaus in den Park.
Sie sieht die Kate im Schatten des Eichenwaldes, die Wiesen und Felder und auf dem kleinen Hügel den Hof. Den Behrenshof!
Die Bilder bringen diese Taubheit mit sich, diese dröhnende Stille, die sie kennt und die sie so schlecht erträgt. Die Bilder waren gefährlich. Sie hatten, als sie sie nicht loswerden konnte, Selbstmordversuche und Psychiatrieaufenthalte nach sich gezogen.
Ihr Mann hatte es nicht ertragen. Ihre Tochter hat es ertragen müssen.
Ohne Licht einzuschalten geht sie ins Bad und zieht sich aus. Dann dreht sie das Duschwasser an, stellt es so heiß, dass sie es gerade noch aushalten kann. Das Wasser schmerzt auf Schultern und Rücken. Es muss lange schmerzen, bis sie sich wieder spürt. Es muss lange schmerzen, bis sie den Bildern entkommt.
Das flache Land mit seinen Wiesen und Feldern, die bis zum Horizont reichen, beginnt rechts und links von der Autobahn. Obwohl nur hundertzwanzig Kilometer von Köln entfernt, ist sie nie wieder hier gewesen. Kleve ist ihr fremd. Kleve ist in ihrer Erinnerung eine Burg und eine Weihnachtsdekoration in einem Schuhgeschäft. Im Fenster hatte ein riesiger Engel gestanden und sanft mit den Flügeln geschlagen.
Die Rechtsanwaltskanzlei Kley findet sie schnell.
Sein Beileid spricht der kleine, alte Mann routiniert aus. Dass es kein Testament gibt und sie somit Alleinerbin ist. Ausweisen muss sie sich und unterschreiben – »hier und da. Bitte.«
»Den Schlüssel können Sie sich bei Lüders abholen – auf dem Behrenshof.«
Anna spürt, wie die Muskeln ihrer Oberschenkel sich verkrampfen. Sie schaut ihn mit großen Augen an. »Lüders?«
Sein professioneller Gleichmut fällt augenblicklich von ihm ab. »Ja, ja. Lüders hat den Hof damals gekauft, wenn man da von kaufen überhaupt reden kann.« Er wird groß auf seinem ledernen Schreibtischsessel. »Er hat mich schon dreimal angerufen. Ich habe ihm gesagt, dass ich nichts sagen kann. Dass die Angelegenheit noch nicht abgeschlossen ist.« Das hat er gerne gesagt. Da ist er zufrieden mit sich. »Er ist der Meinung, die Kate, die Wiesen und der Wald wären jetzt auch seins.« Dem Satz verleiht er Nachdruck, indem er bei den Worten Kate, Wiesen und Wald mit spitzem Zeigefinger auf den Tisch sticht.
»Ich wusste nicht, dass Lüders den Hof ...« Sie schluckt.
Wieder attackiert er die Tischplatte, benutzt die Klopfzeichen, um einzelne Worte zu unterstreichen. »Direkt nach dem Selbstmord Ihres Vaters. Auf dem Friedhof wollte der damals einen Termin mit mir machen. So was ist mir mein Lebtag noch nicht untergekommen.« Der kleine, blasse Mann hat jetzt rote Flecken im Gesicht.
Anna bedankt sich und reicht ihm die Hand. Sie spürt Übelkeit aufsteigen.
Lüders!
Die schwere Haustür schiebt sich hinter ihr ins Schloss.
Kein Zurück. Ausgesperrt!
Sie hat unterschrieben. Kein Zurück. Eingesperrt!
Eingesperrt in einem kleinen Dorf am Niederrhein. Eingesperrt in der Enge ihrer Kopfbilder. Lüders. Der kleine Nachbarhof.
Sie geht zum Auto. Lüders! Ein großer Mann mit lauter Stimme. Sie fädelt sich in die Autoschlange stadtauswärts ein. Lüders! Eine Frau in bunten Kittelkleidern. Sie biegt links ab Richtung Nimwegen. Lüders! Einer der Männer in ihrem Kopf?
Auf der Landstraße muss sie das Lenkrad nur festhalten. Rechts und links kleine Orte mit spitzen Kirchtürmen, die sich in dieser Weite, in der sich alles andere zu ducken scheint, den direkten Weg ins Himmelreich bohren. Grasende Pferde und Tausende von wiederkäuenden Kühen. Wiesen, parzelliert durch kleine, mit Kopfweiden eingefasste Wasserläufe, die in heißen Sommern austrocknen und im Herbst stetig steigen, bis alles Land unter einem feinen, zittrigen Wasserspiegel wartet. Wiesen, die in kalten Wintern zufrieren, auf denen Kinder auf Schlittschuhen nach Holland laufen.
Lüders hat den Behrenshof gekauft! Lüders hat das Blut vom Zementboden gescheuert und sich eingerichtet. Anna spürt ihr Herz im Kopf schlagen. Sie zwingt sich, ruhig und tief zu atmen. Wenn ihr Herz im Kopf schlägt, kann sie nicht denken.
Er schwenkt seinen Gehstock. Mit jedem Schritt hebt er ihn an, bringt ihn in die Waagerechte und hält ihn – für den Bruchteil einer Sekunde – in dieser Position. Dann, dem Griff mehr Spiel lassend, fällt die Stockspitze mit einem metallischen Klack auf den Asphalt, und er beginnt von vorn. Der Wind jagt in Böen über die Felder, treibt die letzten Frühnebelfetzen über das Land und versucht ihn aufzuhalten. Mit Regenschauern wird heute zu rechnen sein. In diesem Jahr hat das Wetter mitgespielt. Die Saat kommt gut, die Wiesen sind fett, und seit einigen Tagen zeigt sich überall das Gelb der Kuhblume. Auf hohen Stielen schwebt weißer Wiesenkerbel.
Heute hat er kein Auge dafür.
Damals sind sie sich uneins gewesen. Die Alte hat immer von Pacht geredet, aber er hat ihr deutlich gesagt, dass er bis an ihr Lebensende zahlt und dann alles ihm gehört.
Er stemmt seine kräftige Gestalt gegen die neue Böe und spießt seinen Stock in den Wind.
»Den Hof«, ist sie stur geblieben, »den Hof und das Ackerland im Westen, dafür gehe ich zum Notar. Aber keine Verträge über die Wiesen, den Wald und den Kotten.« Nicht mal ins Haus hat sie ihn gebeten. Wie einen Bittsteller hat sie ihn behandelt, auf ihre großbäuerliche Art. »Hab ja niemanden mehr, wirst wohl alles kriegen. Musst dich eben gedulden, bis ich nicht mehr bin.« Dann hat sie sich umgedreht und ist in ihren ärmlichen Kotten stolziert, als wäre es ein Herrenhaus.
Jetzt ist sie seit sechs Wochen schon nicht mehr, und er hat immer noch keine Nachricht. Kley, dieser eingebildete Winkeladvokat. Die Erbangelegenheit ist noch nicht abgeschlossen. Was soll denn da nicht abgeschlossen sein? Dieser kleine Wichtigtuer.
Abrupt bleibt er stehen. Wenn die Alte das der Kirche ...?
Er stützt sich schwer auf den Stock, atmet kurz und schnell. Siebzig hat er werden müssen. Siebzig Jahre, bis sie endlich ...!
Erst jetzt bemerkt er, dass er den Weg zum Kotten genommen hat. Es sind noch gut hundert Meter. Das Häuschen steht geduckt, lauert am Wegrand vor dem Eichenhain.
Er macht die Augen eng, schaut das Haus an, als sähe er einen Feind. Für einen Augenblick glaubt er, die Bewegung einer Gardine wahrzunehmen.
Was hat Klara gestern gesagt: »Der Pastor ist alle vierzehn Tage samstags bei ihr gewesen!«
Er richtet sich auf, bringt sein Gewicht vom Stock auf die Füße. Einen Augenblick zögert er noch, wagt es nicht, dem Feind den Rücken zuzukehren. Dann dreht er um. Mit eiligen Schritten läuft er den Weg zurück. Den Stock hebt er nur noch wenige Zentimeter vom Boden. Der Wind schiebt ihn jetzt, treibt zusätzlich zu Eile. Er hört das Rasseln in seiner Lunge und das Stakkato des Spazierstockes.
Er muss ins Dorf. Er muss es wissen.
Die kleine Kirche, früher mitten im Ort, steht abseits. Im Osten ist das Dorf Straßenzug um Straßenzug gewachsen. Wie ein riesiges Geschwür hängt es an dem alten Dorfkern. Gietmann hatte Glück gehabt. Seine Felder waren noch Bauland geworden, bevor dieser Naturschutzquatsch angefangen hatte. Genau wie die Felder der Alten. Aber das hatte die überhaupt nicht mitbekommen.
Lüders bleibt auf dem gepflasterten Vorhof stehen. Zwischen den ordentlich zurückgeschnittenen Rabatten verblühen hie und da Narzissen und Tulpen. Rechts neben der Kirche steht das rote Backsteinhaus mit Pfarramt und Pastorenwohnung. Er öffnet den unteren Knopf seines Lodenmantels und fingert ein Tuch aus seiner Hosentasche. Er lässt das gebügelte Quadrat zusammengefaltet, nimmt den Hut ab und wischt sich über das rote Gesicht und den kahlen Kopf.
Der Rudenau ist erst seit vier Jahren hier. Der weiß nichts von der ganzen Geschichte, von den Verträgen und wie unberechenbar die Alte war. Ihre eigene Enkelin hat die vor die Tür gesetzt, und wenn sie das Land der Kirche gestiftet hat, dann nur deswegen. Einen Platz im Himmelreich wollte sie sich schnell noch sichern. Und damit hat sie sich dann ein zweites Mal versündigt, hat gegen klare Vereinbarungen verstoßen. Der ahnungslose Pastor hat ihr dafür die Absolution erteilt.
Für einen Moment macht er seinen Rücken steif – sammelt sich, dann geht er zielstrebig den schmalen Pfad zum Pfarramt entlang und schellt.
Rudenau öffnet selbst. »Herr Lüders?« Mit schneller Hand schiebt er sein dunkles dichtes Haar, das vorne recht lang ist, von der Stirn in den Nacken. Eine Angewohnheit, die er auch während seiner Predigten nicht abstellen kann. Eine Geste, die Lüders weibisch findet und die schon für mancherlei Spekulationen am Stammtisch gut war.
»Ich wollte Sie mal kurz sprechen ... wegen der Behrens!« Er beobachtet Rudenau, versucht, in dessen Gesicht zu lesen.
Der Pastor geht einen Schritt zurück und macht die Türe frei.
Im Büro behält Lüders den Mantel an und setzt sich aufrecht auf die vordere Kante des geräumigen Sessels. Den Stock zwischen den Beinen, legt er die Hände übereinander auf dem Griff ab.
»Es ist – weil ich immer noch nichts gehört habe. Wegen dem Testament, meine ich ...« Wieder zieht er sein Taschentuch hervor und wischt sich über die Stirn. »Ich dachte, dass Sie vielleicht was wissen. Klara meinte, Sie waren ja öfter mal da!«
Rudenau sitzt ihm vis-à-vis auf dem kleinen Sofa. Er hat die Beine übereinandergeschlagen und die Hände mit verschränkten Fingern auf dem Knie abgelegt.
Lüders weicht Rudenaus Blick aus. So setzt sich kein Mann hin, so nicht.
»Meine Besuche bei Frau Behrens waren seelsorgerischer Art, Herr Lüders. Meines Wissens hatte sie auch nichts zu vererben. Den Behrensbesitz haben Sie doch auf Erbpacht erstanden.«
Die Worte kommen freundlich, aber Lüders hört den Vorwurf. Immer wenn von dem Behrenshof die Rede ist, hört er den Vorwurf. Seit über dreißig Jahren lebt er nun schon dort, und immer noch reden alle von dem Behrenshof. Lüdershof muss es heißen. »Das haben wir damals vereinbart, die alte Behrens und ich, aber eben nur mündlich, verstehen Sie? Den Hof ... das ist schriftlich, aber die hinteren Wiesen und den Wald, da gibt’s nur das Versprechen.« Er rutscht noch weiter vor auf seiner Sesselkante. »Ich dachte, dass sie das vielleicht der Kirche ...«
Plötzlich ist ihm klar, dass er das, was er wissen will, bereits erfahren hat. Er kippt seinen Oberkörper vor, stützt sein Gewicht auf den Stock und steht auf. »Ich muss dann mal wieder. Gleich Mittag!« Er überlegt, wie er das Haus verlassen kann, ohne diesem weibischen Kerl die Hand zu geben.
Rudenau steht auf.
Erstaunlich behände ist Lüders an ihm vorbei. »Ich finde schon raus!«
Von der Landstraße biegt sie rechts ab in die schmale Pappelallee. Hundertzweiundzwanzig. Es sind einhundertzweiundzwanzig Bäume.
Es war ein sonniger Tag, so wie heute. Sie wollten mit dem Bus in die Stadt. Es gab keine Haltestelle, aber wenn man sich an die Landstraße stellte, hielt der Bus aus Kranenburg. Sie hatte gequengelt, und da hatte Mama vorgeschlagen, die Bäume zu zählen. Sie rechts, Mama links. Zum Schluss war sie gerannt, immer darauf bedacht, ein bis zwei Pappeln vor Mama zu sein.
Im Osten des Ortes ist ein großes Neubaugebiet entstanden. Hübsche Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften. Nicht zugehörig stehen sie da, angedockt an dieses Jahrhunderte alte Dorf, dass so rund und geschlossen daliegt wie eine Auster.
Sie findet sich sofort zurecht. Bis zur Dorfmitte und am Bildstock mit dem Gekreuzigten nach links. Der Weg ist asphaltiert. Zu beiden Seiten drei Häuser. Wenn man sie passiert hat, sind dem Blick keine Grenzen mehr gesetzt. Mitten in dieser Ebene, auf einem angeschütteten Hügel, der den Hof vor Hochwasser schützen soll, liegt der Behrenshof umringt von Stieleichen. Der Weg, der wie ein kleiner Damm zwischen zwei Wassergräben entlangläuft, führt in einem großen Bogen zur Auffahrt des Hofes und dann weiter um den Hof herum. Sie hält vor der Auffahrt und steigt aus.
Nach links geht ein Wirtschaftsweg ab. Die Fahrrinnen sind dort, wo der Regen den lehmigen Boden immer wieder wegschwemmt, mit zerschlagenen roten Dachziegeln aufgefüllt. Große rote Flecken auf dem Weg, der gut fünfhundert Meter weiter am Eichenwäldchen endet. Die Kate liegt davor und ist von hier aus nur im Winter zu sehen.
Sie zieht die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug mit einem Griff aus ihrer Jackentasche. Drei Versuche mit dem Feuerzeug braucht sie, bis die Zigarette brennt. Am Ende der Auffahrt, hinter dem verschlossenen Hoftor, kläfft ein Hund. Zwischen den Stämmen der Eichen sieht sie den Haussockel, den unteren Teil der Scheune und des Hoftores. Alles andere bleibt hinter den Eichen verborgen, aber sie muss keinen Blick darauf werfen. Die Fassade ist weiß gestrichen, die Fensterläden tannengrün und das Dach hat schwarze Schindeln. Daneben das große, braune Hoftor. Sie kennt es nur geöffnet, aber jetzt scheint es geschlossen. An der anderen Seite des Tors die Scheune und hinter dem Hof die Stallungen und der Gemüsegarten, in dem Oma mit eng zusammengestellten Füßen kleine Wege in die Erde zwischen Bohnen und Erbsen trampelte. Alle Gebäude in einem Halbkreis um den gepflasterten Hinterhof herum.
Hinauffahren und die Schlüssel abholen. Nur die Schlüssel abholen. Sie atmet den Rauch gierig ein. Herr oder Frau Lüders werden öffnen. Oder vielleicht einer der Söhne. Nicht hineingehen! Nein danke, sehr freundlich, aber ich möchte nur die Schlüssel.
Sie führt die Zigarette ein letztes Mal mit zittriger Hand zum Mund, wirft sie zu Boden und drückt die Kippe mit dem rechten Fuß tief in den lehmigen Boden des Straßenrandes.
Im Schritttempo fährt sie die Auffahrt hinauf. Als sie die letzte Eiche passiert, sieht sie, dass dreißig Jahre die Dinge verändert haben. Der Platz vor dem Wohnhaus ist eine schwarze Teerfläche mit vier ordentlich markierten Parkbuchten. Die Fenster sind nicht mehr zweiflügelig, sondern jetzt aus Kunststoff und ohne den senkrechten weißen Balken in der Mitte. Im ersten Stock sieht sie halb heruntergelassene Jalousien. Die Fensterläden sind abmontiert, die Scharniere ragen unnütz aus dem Mauerwerk. Sie lenkt ihr Auto in eine der Parkbuchten. An einem hölzernen Blumenkübel, in dem Narzissen langsam braun werden und rote Tulpen nur noch vereinzelt Blütenblätter tragen, ist ein Nummernschild angebraucht:
KLE-LL-222.
Sie steigt aus. Der Hund kläfft, als ginge es um sein Leben. Immer wieder springt er die Innenseite des Hoftors an.
Anna steigt die vier Stufen zur Haustür hinauf und schellt. Der Hund beruhigt sich. Sie schiebt die Hände in die Taschen ihrer Lederjacke, tritt einen Schritt zurück und wippt auf den Zehenspitzen. Niemand da. Vielleicht hätte sie doch besser erst angerufen. Noch einmal geht sie einen Schritt vor, nimmt ihre Hände aus den Taschen und schellt ein zweites Mal.
Jetzt hört sie im Haus Schritte, und gleich darauf öffnet sich behäbig die schwere Tür.
Die alte Frau steht gebeugt und muss ihren Kopf in den Nacken legen, um sie anzusehen. Anna hat sie kräftig und groß in Erinnerung. »Anna, nicht wahr?«
Klara Lüders sieht den dunkelblauen Golf vom Küchenfenster aus. Im Schritttempo kommt er die Auffahrt herauf und parkt neben dem Opel von Jörg. Das ist Ludwigs Parkplatz. Da steht immer Ludwigs BMW. Da ist doch extra das Schild. Sie wirft das Geschirrtuch über die linke Schulter und beugt sich über die Spüle zum Fenster. Köln! Ein Kölner Kennzeichen. Sie staunt über die Größe der Frau, die aus dem Auto steigt und sieht deren dickes, dunkles Haar. Die Haare! Sie kennt diese Frau nicht und doch, sie kennt diese Haare. Sie kennt dieses schmale Gesicht nicht und doch, sie kennt diese hohen Wangenknochen.
Das sanfte Ding-Dong der Türglocke lässt sie zusammenzucken. Sie zieht sich das Küchenhandtuch von der Schulter und wirft es auf die Spüle. Sie nimmt es wieder auf, legt sorgfältig die Tuchecken übereinander ... Aufmachen! Sie muss doch zur Tür gehen und aufmachen. Wieder ertönt die Glocke.
Sie hat das Geschirrtuch ordentlich halbiert, geviertelt, geachtelt. Mit dem Stoffpäckchen geht sie in die Deele hinaus und drückt die geschwungene, eiserne Türklinke hinunter. Während sie den linken Flügel der schweren Eichentür aufzieht, weiß sie plötzlich, wer da draußen steht.
Die Frauen stehen sich schweigend gegenüber. Für mehrere Sekunden scheint die Welt ohne Bewegung und ohne Ton. Der Hofhund, die Vögel, die Motorengeräusche, die von der Landstraße herüberwehen. Alles scheint innezuhalten.
»Anna, nicht wahr?« Klara Lüders knetet das Tuch in ihren Händen. Anna! Nicht wahr ... nicht wahr ... nicht wahr?!
Groß bist du geworden, könnte sie noch sagen. Die Haare hast du von deiner Mutter, könnte sie sagen. Dich haben wir ganz vergessen, könnte sie ...
Anna nickt ihr zu. »Frau Lüders, Herr Kley sagte mir, ich könnte bei Ihnen den Schlüssel für die Kate abholen.«
»Ja ... ja natürlich!« Natürlich! Das Kind möchte ein paar Andenken von der Familie haben. Wie dumm sie ist. Was hat sie denn nur gedacht? Erleichtert tritt sie einen Schritt zurück und huscht hinter den rechten Türflügel zum Schlüsselkasten.
»Wir haben noch nichts verändert. Ist alles noch so, wie es war. Du willst sicher ein paar Andenken rausholen.« Mit einem kleinem Schlüsselbund in der Hand kommt sie zurück. Sie hält ihn Anna entgegen. »Nimm dir alles, was du haben möchtest.« Sie lächelt großzügig.
Anna nimmt den Schlüsselbund entgegen. »Frau Lüders, da gibt es ein Missverständnis«, sie steckt den Bund in die Tasche ihrer Lederjacke, »ich habe die Kate geerbt.«
Das Geschirrtuchpäckchen fällt zu Boden. Klaras Mund lächelt weiter. »Aber ... aber das kann doch nicht ...« Sie schluckt das steife Lächeln ihrer Mundwinkel herunter.
»Doch, Frau Lüders. Die Kate, die Wiesen und der Wald gehören mir.« Anna bückt sich und reicht der alten Frau das Leinentuch. Sie dreht sich um, springt die fünf Treppen zum Hof hinunter und läuft mit großen Schritten zu ihrem Auto.
Klara sieht ihr nach. Die Wiesen! Das kann doch nicht sein. Ludwig hat doch gesagt ... Er hat doch all die Kredite aufgenommen. Die Wiesen! Das Bauland! Sie hat es Ludwig immer und immer wieder gesagt. Der Behrenshof, das ist ein Unglückshof. Man wird nicht glücklich, wo andere ihr Unglück gefunden haben.
Der Jägerzaun ist verwittert. Nur der Flieder steht hoch über den Beeten und versucht zu verschweigen, dass seit dem letzten Sommer hier niemand mehr Hand angelegt hat. Rabatten treiben unter braunem Laub mit neuem Lebenswillen, schieben verbissen junges Grün ins Licht. Huflattich, Vogel-Sternmiere und Brennnessel haben sich ausgebreitet und das Land annektiert.
Das Gartentürchen ist mit einem porösen Einmachgummi verschlossen. Das war nicht ihre Art. Als sie das tat, muss ihr Stolz schon gelitten haben.
Anna greift nach dem blassroten Ring, und er reißt, kaum dass sie ihn berührt. Das Tor bleibt trotzdem verschlossen. Mit dem Fuß schiebt sie es gegen die flache Laubschicht. Die Bewegung legt die unteren, feuchten Schichten frei, und ein würziger, modriger Duft steigt ihr in die Nase.
Der Haustürschlüssel klebt in ihrer schweißnassen Hand. Sie war selten hier gewesen. Du siehst aus wie deine Mutter, hatte Oma gesagt, aus dir wird nie eine Behrens.
Die Haustür öffnet sich erstaunlich leicht und schwingt sofort auf. Der kleine Flur ist nackt. An der Garderobe zur ihrer Linken hängt ein brauner Wintermantel. Auf der Ablage darüber thront ein Hut. In einer alten Milchkanne stehen Schirm und Stock bereit.
Ein Hut, ein Stock, ein Re-gen-schirm
Und vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran!
An der Wand gegenüber hängt Jesus am Kreuz. Aus den Wunden in seinem ausgemergelten Körper lecken perfekt modellierte Blutstropfen. Sie schaut hinunter auf den Holzfußboden und ist für einen Augenblick erstaunt, keine rote Lache zu entdecken. Oben in der Aufhängung steckt ein Palmzweig. Er hat die Farbe des Kreuzes. Der Herr hat mir zwei meiner drei Söhne genommen, hatte Oma gesagt. Anna weiß, dass in jedem dieser Zimmer ein solches Kreuz hängt. Oma wollte den Sohn des Herrn leiden sehen. Egal in welchem Zimmer sie war. Überall sollte er unter dieser Dornenkrone seine letzten Atemzüge tun.
Sie geht durch die übrigen Räume. Alle sind sorgfältig aufgeräumt und gelüftet, die Topfpflanzen gepflegt. Familie Lüders hat sich – in der Erwartung, bald Eigentümer zu sein – gekümmert. Durch den Wald sind sie gekommen, durch den Gemüsegarten, durch die Hintertür. Den Weg, den sie früher auch genommen hat.
Die Möbel stammen aus den sechziger Jahren. Über Jahre dünn gewienertes Furnier und Resopal. Die großen, schweren Eichenmöbel sind im Behrenshof geblieben.
Sie beginnt in der Küche, durchsucht die Schubladen und Schränke. Teller, Tassen, Einkaufstüten, Besteck, Einmachgläser, Rechnungen, Medikamente, Kerzenstummel und ein Schuhkarton, randvoll mit Bändern und Gummis. Sie durchsucht den Wohnzimmerschrank und die Anrichte. Das gute Porzellan, Vasen, Tortenheber, Kuchengabeln, Versicherungsunterlagen, Gebetbuch und zwei Keksdosen aus Blech. In der silbernen mit der Aufschrift Aachener Printen findet sie Fotos. In der bunten, mit kleinen Winterbildern verzierten findet sie Briefe.
In schön geschwungener Schrift steht der Adressat auf dem vergilbten Papier.
Margret Lech.
Die Möbel rücken enger zusammen, lassen ihr keinen Platz zum atmen. Margret! Mamas Schwester. Tante Margret! Sie hat immer behauptet, dass sie keinen Kontakt mehr zu den Behrens habe.
Margret. Bei der sie groß geworden ist.
Erst jetzt fällt ihr die Unlogik ihrer Gedanken auf: Die Briefe sind hier. Sie sind ordentlich mit einer Briefmarke versehen, ungeöffnet, nie abgeschickt.
Sie trägt die Dose, die sie mit beiden Händen hält, als könne der Inhalt bei der geringsten Erschütterung zu Staub zerfallen, zum Esstisch und setzt sich auf einen der braun gepolsterten Stühle. Sie entnimmt den obersten Umschlag, und ihre Finger hinterlassen feuchtfettige Abdrücke auf dem Papier. Sie dreht den Brief um und sieht, was sie geahnt hat, was sie nicht denken wollte, was ihr zu unglaublich erschien. Magdalena Behrens steht da.
Die Briefe sind fünfunddreißig Jahre alt.
»Anna, da kommt Onkel Klaus. Willst du ihm diesen Brief für Tante Margret mitgeben?« Mama reicht ihr das blütenweiße Rechteck. Sie springt die Stufen vor der Haustür hinunter auf den Hof, in das sirrende Licht des Tages. Die Hitze greift nach ihren nackten Armen und Beinen. Zwischen riesigen Eichen läuft sie die immer kühle Auffahrt entlang, zum Briefkasten.
»Hallo mein Mädchen! Na, hast du wieder Post nach Köln?« Onkel Klaus fährt ein gelbes Fahrrad und trägt eine Uniform. Onkel Klaus ist Papas Cousin.
Klara steht auf der Treppe. Er schlägt die Wagentür seines BMW zu, drückt auf den Griff des Autoschlüssels und hört das leise Surren der Zentralverriegelung. Klara hat ihn erst einmal auf der Treppe erwartet. Damals war Jörg vom Trecker gefallen und mit dem Notarztwagen abtransportiert worden.
»Die Anna war hier!« Sie greift sich an die Stirn.
»Anna? Welche Anna?« Er hört ihre aufgeregten Erklärungen wie durch einen Tunnel. Er braucht ihre Erklärungen nicht. Die Umrisse des Hauses verschwimmen. Er wankt – schnappt nach Luft. Er spürt Klaras Hände auf seiner Brust, sie zerren an seinen Armen, drehen ihn zur Seite.
»Setz dich, Ludwig! Mein Gott, so setz dich doch!«
Er sackt langsam, das Treppengeländer mit beiden Händen fest umklammernd, auf die vorletzte Stufe. Die Alte hatte ihn gehasst, all die Jahre hatte sie ihn gehasst. Weil er lebte! Weil ihre Söhne tot waren! Und jetzt hat sie sich gerächt, hat aus ihrem Tod eine letzte große Abrechnung gemacht. Er legt die Ellbogen auf die Oberschenkel. Seine Hände hängen nutzlos zwischen den Knien. Sein Blick wandert über die Stallungen, vorbei an den beiden Silos und weiter über die Äcker. Nichts von all dem gehört jetzt noch ihm. Die Banken und Gietmann werden kommen und ihr Geld verlangen.
Er hat geschuftet, ein Leben lang geschuftet. Erst der kleine Hof, auf dem jetzt Gerhard mit seiner Familie wohnt. Und dann sein vermeintlich großes Glück, als die Alte ihm den Behrenshof auf Erbpacht überschrieb.
Johann war ein fauler Großkotz gewesen. Der Hof war heruntergekommen, und er musste investieren. Er hatte auf Milchwirtschaft im großen Stil gesetzt. Er hatte zusätzliches Milchvieh gekauft, Melkmaschinen, ein Kühlhaus für die Tanks. Ein paar Jahre ging alles gut, und dann, in den Siebzigern, brach der Milchpreis immer weiter ein. Die großartig versprochenen Subventionen der EG flossen nur spärlich, und zum Schluss produzierte er Milch zum Nulltarif. Die Schulden waren geblieben.
Schweinezucht, hieß es dann, mit Schweinen kann man noch Geld verdienen. Gerhard, sein Ältester, war inzwischen Filialleiter bei der Bank. Die Wiesen, hatte er ihm damals gesagt, die Wiesen sind Bauland, und im Grunde gehören sie doch uns.
Er besorgte ihm einen Teil des nötigen Geldes. Ohne wirkliche Sicherheiten, nur seinen Worten vertrauend. Den Rest gab Gietmann. Der hatte während der Bebauung seiner Grundstücke ein Bauunternehmen gegründet. Auch er brauchte nichts Schriftliches. Nur die Bauaufträge, wenn die Wiesen endlich seine wären, die wollte er zugesichert haben. Zwei Schweineställe hatte er bauen können. Von fünf Uhr in der Früh bis abends um zehn hatten er, seine Frau und sein Sohn Jörg geackert.
Und dann kam 1995 das Hochwasser, und seitdem standen zwanzig Hektar seines Landes zur Diskussion. Retentionsraum, nannten sie das. Die Holländer planten, beim nächsten Hochwasser den Polder direkt an der Grenze zu überschwemmen, und das würde automatisch bedeuten, dass auch die Polder auf der deutschen Seite überschwemmt würden. Zwanzig Hektar seines Ackerlandes würden Brachland. Wiesen – natürlich. Aber was will man mit Wiesen, wenn Milchwirtschaft keinen roten Heller einbringt?
Seine Hände füllen sich abrupt mit Leben. Er greift zum Geländer und zieht sich hoch.
»Hör auf zu heulen!« Seine Stimme zischt. »Du magst Recht haben, wenn du sagst, der Behrenshof ist ein Unglückshof. Aber das hier ist seit Jahren der Lüdershof! Begreif das endlich!«
Draußen empfängt ihn ein diesiger Märzmorgen. Die kalte Luft füllt seine Lungen. Die Feuchtigkeit legt sich auf seinen kahlen Kopf, bildet Tropfen in seinem grauen Haarkranz und kühlt sein Gesicht. Er geht mit zunehmendem Tempo und spürt, wie sein Körper sich von innen her aufheizt und die Wärme bis in seine Muskeln dringt. Er steigt die schmale, in den Deich eingelassene Treppe hinauf. Der Nebel zieht in dichten Schwaden über den alten Rhein. Hier oben auf dem Deich flüstert ein leichter Wind in die Stille. Schon nach einem Kilometer ist die kalte Feuchtigkeit im Gesicht nicht mehr unangenehm, sondern willkommene Abkühlung. Jeder Schritt führt ihn tiefer in den Nebel, weiter weg von menschlicher Geschäftigkeit. Er liebt die morgendliche Ruhe auf diesem Grat zwischen verschlafenen Dörfern auf der einen, und dem behäbigen Fluss auf der anderen Seite.
Als er sich vor vier Jahren aus Köln hierher versetzen ließ, war es gerade diese Weite gewesen, die ihn angezogen hatte. Er hatte auf dem Deich gestanden und mehrmals Brigittes und seinen Namen gerufen. Nur so. Nur um zu hören, dass seine Rufe ohne Echo verebbten.
Brigitte war das unheimlich gewesen. Sie hatte gesagt: Hier ist man so verloren, Peter. Damals sah er sie verständnislos an. Inzwischen weiß er, was sie meinte. Nur, dass er es nicht »verloren« nennt. Er fühlt sich hier frei. Und immer, wenn er für ein paar Tage fort ist, sehnt er sich nach diesem grenzenlosen Himmel.
Brigitte hatte sich gewehrt, aber in Köln wollte sie auch nicht bleiben, und schon gar nicht in dem Haus, in dem alles an Andreas erinnerte. Dann veröde ich eben am Niederrhein, hatte sie gesagt.
Es war anders gekommen. Zuerst hatte sie Deutsch für Ausländer an der Volkshochschule unterrichtet, und inzwischen arbeitet sie in ihrem Beruf als Sozialpädagogin bei der Arbeiterwohlfahrt. Manchmal sehen sie sich zwei bis drei Tage nicht, schlafen nur nebeneinander.
Sie führten heftige Auseinandersetzungen, und Brigitte warf ihm vor, sich all die Jahre entzogen zu haben. Sie kümmerte sich um ihren geistig behinderten Sohn, und er verdiente Geld. Er gestand ein, dass er die Arbeit gesucht hatte. Dass er die Behinderung seines Sohnes nicht ertragen konnte, oder besser: seine eigene Hilflosigkeit. Sie sagte, sie sei nicht mehr bereit, ein Leben mit dem Titel Warten auf Peter zu führen.
Seither ist er sich ihrer nicht mehr so sicher, und das macht ihm Angst. Er liebt Brigitte und will mit ihr alt werden. Vielleicht ist es Phantasielosigkeit, aber ein Leben ohne sie scheint ihm undenkbar.