Morgen ist der Tag nach gestern - Mechtild Borrmann - E-Book

Morgen ist der Tag nach gestern E-Book

Mechtild Borrmann

4,4

Beschreibung

Gustav Horstmann war Beiratsmitglied einer Stiftung, die sich um in Not geratene Familien kümmerte. Als er tot in seinem ausgebrannten Haus gefunden wird, nehmen Böhm und sein Team von der Kripo Kleve die Ermittlungen auf. Im Keller finden sie auf einem PC Fotos von vermissten Kindern aus multikulturellen, geschiedenen Ehen. Was ist mit den Kindern geschehen?

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Mechtild Borrmann · Morgen ist der Tag nach gestern

Mechtild Borrmann

Morgen ist der Tag nach gestern

Gustav Horstmann, ein angesehener Bürger und ehemaliger Stadtrat, war Beiratsmitglied der Maria-Söder-Stiftung, die sich um in Not geratene Familien kümmerte. Nachdem er tot in seinem ausgebrannten Haus gefunden wird, nehmen Böhm und sein Team von der Kripo Kleve die Ermittlungen auf.

Ein weiterer Toter wird geborgen, als die Spurensicherung alle Trümmer beseitigt hat. Im Keller findet sich auf einem PC Bildmaterial von vermissten Kindern, deren Familien von der Stiftung betreut wurden. Was ist mit den Kindern geschehen?

Die Ermittlungsarbeit der Polizei in der Ruine wird akribisch von Frank Zech beobachtet, der mit einem Feldstecher seine Nachbarn ausspioniert. Er weiß, wer der zweite Tote ist und was sich in den vergangenen Jahren in dem Haus abgespielt hat. Aber er hat allen Grund zu schweigen …

Mechtild Borrmann wurde 1960 geboren und lebt heute in Bielefeld. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie am Niederrhein. Sie arbeitete u.a. als Tanz- und Theaterpädagogin. Sie ist Inhaberin eines Restaurants in der Bielefelder Altstadt. Im Jahr 2006 erschien ihr Krimi „Wenn das Herz im Kopf schlägt“. (Weitere Informationen zur Autorin unter: www.mechtild-borrmann.de).

Mein Dank für fachliche Beratung gilt Kommissar Stefan Thermann, Kommissar Marco Harms und Oberfeuerwehrfrau Hülya Simsek.

Unsere Bücher im Internet:www.pendragon.de

E-Book-Formate von readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

2. Auflage

Originalausgabe Veröffentlicht im Pendragon Verlag Günther Butkus, Bielefeld 2007 © by Pendragon Verlag Bielefeld 2007 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Günther Butkus, Judith Kriener Umschlag & Foto: Uta Zeißler Satz: Pendragon Verlag auf Macintosh

1

Knistern und Bersten dringt in die unruhigen Bilder seines leichten Schlafs. Die Geräusche stören, wollen sich nicht einfügen in die Traumsequenz. Als er die Augen öffnet, gilt sein erster Blick dem Wecker. Zwei Uhr fünfundvierzig leuchten die roten, eckigen Digitalziffern ihn an. Aber nicht nur die Ziffern scheinen zu leuchten. Jetzt erst nimmt er das unregelmäßige Flackern an den Wänden und der Zimmerdecke wahr, begreift, dass die Traumbilder verflogen, die Geräusche aber geblieben sind.

Er springt aus dem Bett und läuft zum Fenster.

Einige Sekunden steht er da und starrt auf das brennende Nachbarhaus. Am Straßenrand haben sich Menschen versammelt. Nachbarn aus der Seilerstraße und von der Hauptstraße sind mit Autos und Fahrrädern herbeigeeilt.

Vorsichtig schleicht er die Treppe hinunter und schaut bei Mutter herein. Das Zimmer liegt nach Westen und die alten Fensterläden sind fest verschlossen. Kurzatmig, mit gurgelndem Geräusch zieht sie Luft in die Lunge. Das blondierte Haar liegt, unter einem Netz, wie ein schmuddeliger Heiligenschein um das teigig glänzende Gesicht. Auf dem Nachttisch steht eine Schachtel Dormocaps. Daneben die fünfziger Packung Tramal.

Nein, er wird gar nicht erst versuchen sie zu wecken. Sie wird schimpfen, wenn er sie weckt.

Sie wird auch schimpfen, wenn er sie nicht weckt. Aber erst morgen.

„Der Horstmann brennt! Der Horstmann brennt lichterloh!“, flüstert er in den Raum.

In seinem Zimmer zurück, öffnet er die Schublade der Wäschekommode, hebt die sorgfältig gestapelten Unterhemden vorsichtig hoch und legt sie auf den Schubladenrand. Er zieht das Fernglas heraus, hebt den schmalen Lederriemen über den Kopf, greift wieder mit beiden Händen nach den Unterhemden und legt sie zurück. Dann öffnet er die Balkontür und tritt hinaus ins Freie.

Die Gärten zwischen ihrem und Horstmanns Haus haben zusammen die Größe eines Fußballfeldes. Nur der Bach trennt die Grundstücke. Das Rufen der Menschen, das ächzen von aufspringendem Holz und das Prasseln der Flammen, die aus den unteren Fenstern schlagen und die Ränder des Rieddaches anspringen, sind gut zu hören.

Er schaut durch das Glas und regelt die Schärfe. Das Feuer hat die Räume des ausgebauten Dachbodens erreicht. Vorhänge brennen und Glas zerspringt. Die Flammen schnappen nach dem Sauerstoff und werden einatmend größer. Der Fackeltanz spiegelt sich auf den silbergrauen Stämmen der Weißbuchen hinter der Terrasse und lässt sie in zitterndem Gelb und Rot aufleuchten.

Wie Schwärme von Glühwürmchen fliegen Funken in das feine, von der Hitze des Sommers ausgetrocknete Blattwerk, glühen auf und ersterben. Neue Schwärme tanzen vom Haus hinüber, dichter und entschlossener fallen sie über die gut zehn Meter hohen Baumkronen her und in Sekunden brennen sie lichterloh. Die Hitze der Nacht verbindet sich mit der Glut des Feuers. Frank tritt gegen die mit Efeu zugewachsene Balustrade des Balkons. Schmerzvoll verzieht er den Mund und flüstert: „Aber wie …?“

Keiner kann ihn hier sehen. Nicht, wenn er es nicht will. Horstmann müsste doch da sein. Aber warum …?

Dicke, grauschwarze Rauchschwaden finden jetzt ihren Weg durch die feinen Ritzen des Rieddaches. In der Ferne hört er das gleichmäßige Auf- und Abschwellen von Martinshörnern, das sich zwischen das unkontrollierte Zischen und Knistern des Feuers schiebt. Noch bevor die Feuerwehr da ist, liegt für einen Augenblick ein Grollen in der Luft, wie der Vorbote eines Gewitters. Das Dach bricht ein und die Flammen, endlich frei atmend, greifen in die Nacht und malen einen weiten roten Bogen über den Himmel.

Frank hält mit der Linken das Fernglas. Mit der rechten Faust schlägt er auf das Geländer, versucht den zornigen Rhythmus des Feuers zu finden.

Feuerwehrmänner laufen kreuz und quer, Leitern werden ausgefahren, überall wird gerufen und hantiert. Am Boden spritzen sie Löschschaum in das Haus, von den Leitern aus arbeiten sie mit Wasser. Auch der Rasen und die Baumreihen am Bach werden bewässert.

Es ist vier Uhr zwanzig, als die Bewegungen der Männer ruhiger werden und die Reste des Hauses dampfend daliegen, wie ein Drache, der seine letzten Atemzüge tut.

Erneut öffnet er die Schublade der Kommode, hebt die Unterhemden sorgfältig auf die Ablage, wickelt den schmalen Lederriemen um das Fernglas und legt es zurück. Wieder greift er mit beiden Händen nach der Wäsche und schichtet sie akkurat über das Fernglas. Dann schließt er die Schublade.

2

Wolfgang Wessel sitzt hinter seinem großen Schreibtisch, der sich über die ganze Raumbreite unter den Fenstern hinzieht, und sieht die aktuellen Einkaufspreise des Amsterdamer Blumengroßmarktes auf dem Bildschirm seines PCs durch. Die dürfte er eigentlich noch gar nicht haben, aber er ist seit Jahren dabei und man hat so seine Verbindungen. Auf diese Weise kann er seinem Sohn, der nachts um ein Uhr mit fünf Fahrern und ebenso vielen LKWs losfährt, sagen, bis zu welchen Preisen er mitbieten soll und wann er auf jeden Fall aussteigen muss.

Mechanisch schreibt er die Höchstgebote hinter Margeritenstämmchen auf Zwölferpaletten, Gerberagebinde zu 250 Stück, Gladiolen … Baccararosen … Dann schreibt er die Gesamtstückzahl dazu und wie viele der jeweiligen Sorte die Fahrer auf welche LKWs verladen sollen.

Jetzt, bei der Hitze, ordert er nur kleine Mengen Schnittblumen. Die Menschen leben draußen, jedenfalls die, die einen Garten oder Balkon haben. Topfpflanzen gehen um diese Jahreszeit, Topfpflanzen, die in allen erdenklichen Farben blühen. Die LKWs fahren dann die Großmärkte in Nordrhein-Westfalen an, wo die Ware weiterverkauft wird.

Die Verkaufspreise lässt er offen. Es kommt darauf an, für wie viel Daniel die Ware einkaufen kann. Er handelt dann den Verkaufspreis aus, dafür hat er ein Händchen.

Daniel ist erst dreiundzwanzig Jahre, aber er versteht das Geschäft. Seine Ausbildung als Groß- und Außenhändler hat er in einem Fahrradgroßhandel gemacht. Daniel hatte zu Hause lernen wollen, aber Wolfgang hatte darauf bestanden, dass sein Sohn erst mal einen anderen Betrieb kennenlernen sollte. Das war richtig gewesen, wie sich schon bald herausstellte. Nicht, dass der Fahrradgroßhandel eine tolle Firma gewesen wäre, aber Daniel hatte verstanden, was alles schiefgehen konnte und auf was er als Chef zu achten hatte.

Simon, sein Zweiter würde in diesem Jahr neunzehn werden und ein gutes Abitur machen. Dann würde er fort-gehen um zu studieren. Psychologie oder Medizin, hatte er bereits vor vier Jahren verkündet, und dieser Wahl war er bis heute treu geblieben. Simon war kein Geschäftsmann. Er hatte nie Interesse an der Firma gezeigt, sodass eigentlich schon immer klar gewesen war, dass Daniel das Geschäft übernehmen würde.

Er greift nach dem Foto das rechts neben dem Bildschirm auf dem Schreibtisch steht. Es zeigt ihn mit seinen Kindern vor einem Skilift in Italien. Er und die Jungen hatten sich in einer Reihe aufgestellt. Miriam hatten sie alle drei getragen. Er hatte ihre Schultern gehalten, Daniel ihre Hüfte und Simon die Füße. Es sah so aus, als würde sie waagerecht vor ihnen schweben. Marion, seine zweite Frau, hatte fotografiert. Er stellt das Bild zurück.

Zufrieden nickt er seinem PC zu. Ja, er könnte die Firma an Daniel übergeben. Wenn er in Schwierigkeiten geraten würde, wären all die Mühen der vergangenen dreißig Jahre bei seinem Sohn in guten Händen.

Er lehnt sich in seinen schweren, ledernen Schreibtischstuhl zurück und blickt aus dem Fenster. Der asphaltierte Hof. Die eingezeichneten Parkbuchten für zehn LKWs, die beiden großen Kühlhäuser mit den Büros dazwischen, die eigene Dieselzapfsäule und nach links die Wiesen und das letzte alte Treibhaus.

Die Wiesen waren früher Felder gewesen, auf denen sein Vater und zu Anfang auch er, Kohlsorten und später Salat unter Plastikplanen angebaut hatten. In den Treibhäusern hatten sie Setzlinge vorgezogen, sowohl für die eigenen Felder als auch für den Verkauf auf dem Wochenmarkt.

Mit dem kleinen, roten Hanomagtraktor war er mit seinem Vater morgens um fünf Uhr los zum Wochenmarkt. Dann hatten sie ihren Stand aufgebaut und schon gegen sieben Uhr kamen die ersten Hausfrauen um sich die größten und kräftigsten Kohlsetzlinge zu sichern.

Er hatte aus der einfachen Gärtnerei seines Vaters ein gesundes Unternehmen gemacht. Als Kohl in Treibhäusern vorziehen und auf den Feldern reifen lassen keine Gewinne mehr brachte und alle Kollegen klagten, da kann man ja besser nach Holland fahren und sich die Arbeit mit dem Anbau sparen, hatte er nicht nur geredet, sondern es getan. Zuerst hatte er Gemüse direkt an die Endabnehmer verkauft, war mit dem kleinen Lastwagen, für den er sich verschuldet hatte, jeden Morgen nach Holland rüber und anschließend die Wochenmärkte abgefahren. Dann hatte es ärger gegeben und die Konkurrenz hatte geschimpft: Du unterbietest ja die Großmarktpreise!

Da war ihm die Idee gekommen. Da hatte er einen weiteren LKW gekauft und nach und nach war das Großmarktgeschäft angelaufen. Später hatte er auf Blumen umgesattelt und auch damit hatte er die Zeichen der Zeit erkannt. Die beiden ältesten Treibhäuser hatte er abgerissen, die Felder eingezäunt und Weideland daraus gemacht. Inzwischen hatte er es an seinen Nachbarn verpachtet. Seeberg züchtete Pferde und hielt die Wiesen in Ordnung.

Er wendet sich wieder dem Bildschirm zu.

Sein Unternehmen ist gesund. Er schreibt seit Jahren schwarze Zahlen. Die drei neuen LKWs laufen über Kredite und sein Geländewagen ist geleast. Aber alles andere ist sein Eigentum.

Auch das, was er hier tut, die Preise überprüfen und Höchstgebote festlegen, konnte Daniel inzwischen genauso gut. Es war eher ein Ritual, als eine erforderliche Arbeit, die seine Person gebraucht hätte.

Nein, er muss sich keine Sorgen machen. Er kann die Tage mit ausgedehnten Spaziergängen mit dem Hund verbringen, den Sommer auf der Terrasse genießen, in den Urlaub fahren oder ins Gefängnis gehen.

Er hat sich diesen Tag anders vorgestellt. Er hat geglaubt, die Schwere in seinem Herzen würde sich auflösen, aber stattdessen nimmt diese Gleichgültigkeit ihn in Besitz, eine Gleichgültigkeit, die schmerzt.

Er schaltet den Computer aus und holt ein rotes Din-A4 Schulheft aus der linken, unteren Schublade. Auf dem Deckblatt steht auf den vorgezeichneten Linien in kindlicher Handschrift: Miriam Wessel. Auf der Linie darunter: Rechnen.

Nur die ersten beiden Seiten sind mit in Fünferpäckchen angeordneten Malaufgaben beschrieben. Die Siebenen haben eine kleine aufstrebende Linie, bevor sie in eine geschwungene Waagerechte übergehen, die am Ende wieder aufsteigt. Es sieht aus, als habe die Zahl zwei kleine spitze Ohren.

Mindestens hundert Mal hat er die Aufgaben schon durchgesehen. Immer und immer wieder. Sie sind alle richtig gelöst bis auf eine. Im letzten Päckchen hatte sie zwölf mal sechs gerechnet und zweiundachtzig herausbekommen. Er lächelt den Zahlen entgegen. Die Zwölferreihe hatten sie noch zwei Tage vorher geübt und sie hatte genau diesen Fehler schon an jenem Abend gemacht. Er hatte gesagt: „Prinzessin, das ist doch ein einfacher Sprung von sechzig auf zweiundsiebzig.“ Da hatte sie tief durchgeatmet und empört ausgerufen: „Ja, aber für mich ist das ganz schön schwer! Alles was über fünfzig ist finde ich unübersichtlich.“

Er dreht das Heft auf die Rückseite und greift nach dem silbernen Montblanc-Füller, den seine Frau ihm zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte.

Er würde es in ihr Heft schreiben. Niemandem gegenüber fühlte er sich zur Rechenschaft verpflichtet, aber er würde Rechenschaft ablegen. In ihrem Rechenheft!

Nissen, 12. August 2003

Ich will meiner Strafe nicht entgehen. Ich will weder um Verständnis oder Mitgefühl buhlen, noch um Verzeihung bitten. Ich würde es wieder tun, immer und immer wieder. Ich bin nicht der, der die andere Wange hinhält, und ich bin auch nicht der, der sofort losgeht und seine Rechte einfordert. Ich bin ein geduldiger Mensch und lange Zeit habe ich viel Glück gehabt. Ich habe es sicher oft nicht wirklich zu schätzen gewusst, aber es hat Augenblicke gegeben, da hätte ich zerspringen können vor Glück und Dankbarkeit.

Er sieht zum Fenster hinaus. Es waren immer Augenblicke der Ruhe, des Stillhaltens. Es waren die Augenblicke der Vögel mit ihrer Leichtigkeit und ihren hellen Tönen. Sie waren selten und dauerten nur Sekunden, aber er erinnert sich an durchscheinendes Licht und eine Verbundenheit mit allem, was lebt. Nur ganz kurz. Dann spürte man das Gewicht des Körpers auf den Füßen und es ist vorbei.

An einem Sommermorgen um fünf Uhr in der Frühe auf dem Feld hatte er es erlebt. In den Armen seiner Frau hatte er es erlebt, als seine Söhne geboren wurden und Jahre später, als Miriam auf die Welt kam. Mit ihr wurden diese Augenblicke häufiger. Als sie ihre ersten Schritte tat, hatte er es erlebt. Es waren nur drei Schritte, aber sie kam auf ihn zu und fiel ihm in die Arme, als sei er das rettende Ziel. Damals hatte er es zum ersten Mal gesagt: „Keine Angst! Dir wird nichts passieren, so lange ich lebe.“ Damals hatte er es zum ersten Mal versprochen.

3

Die Hitze liegt seit Wochen wie ein schweres Kissen auf der Stadt. Im flirrenden Tageslicht halten Sekundenzeiger inne, um Kraft zu schöpfen für den nächsten Schritt. Stunden tropfen zäh vom Morgen zum Mittag und vom Mittag zum Abend. Selbst die Nächte bringen keine Abkühlung, nur schwüle Dunkelheit.

Die licht- und wärmeabweisenden Rollos in seinem Büro sind heruntergezogen, die Fenster in der Hoffnung auf einen Luftzug auf Kippe gestellt.

Die Tage verlaufen ruhig, selbst das Verbrechen scheint auf Abkühlung zu warten.

Böhm sitzt seit sechs Uhr am Schreibtisch. Bei erträglichem Wetter wäre er um diese Zeit allein auf dem Flur der Abteilung Kapitalverbrechen, aber seit Tagen kommen auch die anderen Kollegen in den frühen Morgenstunden, um in der heißen Mittagszeit eine Pause einlegen zu können.

Böhm ist seit Anfang des Jahres, nach neun Monaten Sonderurlaub, zurück.

Es ist kurz nach sieben, als Steeg an seine geöffnete Bürotür klopft.

„Morgen, Peter!“

Böhm dreht sich mit dem Stuhl zur Seite und nickt ihm zu.

„Morgen, Achim.“

Achim Steeg trägt trotz der Hitze sein Leinenjackett über einem T-Shirt mit Stehkragen. Seine Sommergarderobe, die er, auch wenn es jetzt draußen schneien würde, nicht ändern könnte. Steeg lebt nach festen Regeln und manchmal scheint es Böhm, dass ein Durchbrechen dieser festgefahrenen Strukturen den jungen Mann zutiefst verunsichern würde.

In der linken Hand eine Wasserflasche, in der rechten ein angebissenes Brötchen, lässt er sich mit einem Seufzer auf den Stuhl gegenüber von Böhm fallen.

„Ist das eine Scheißhitze. Gestern bin ich sämtliche Baumärkte und Elektrohandlungen abgefahren, um einen Ventilator zu kaufen. Ausverkauft! Kannst du dir das vorstellen? Es gibt in dieser verdammten Stadt nirgendwo einen Ventilator zu kaufen. Und der Hammer ist, wenn du einen vorbestellen willst, haben die allen Ernstes vier Wochen Lieferzeit. Über die Preise will ich gar nicht erst reden. Die sind doch alle nicht mehr ganz dicht!“

„Wer?“ Joop van Oss schlurft auf weißen Stoffslippern ins Büro.

Steeg mustert ihn von oben bis unten und schüttelt den Kopf.

„Wir hier in Deutschland sagen nicht ‚wer’, wenn wir einen Raum betreten. Wir sagen ‚Guten Morgen’.“

„Morgen! Wer ist nicht ganz dicht?“

Joop geht zur Kaffeemaschine und schenkt sich Kaffee ein. Mehrere gespülte Tassen stehen kopfüber auf einem sorgfältig ausgebreiteten Geschirrtuch.

Joop sieht Steeg erstaunt an.

„Hast du gespült?“

„War ich nicht.“ Achim beißt in sein Brötchen. „Aber du könntest mir auch einen Kaffee einschenken.“

Joop reicht ihm eine Tasse.

„Peter, du auch?“

„Danke, ich hab noch!“

Van Oss zieht sich einen der vier Stühle aus der Fensterecke herüber und setzt sich neben Steeg.

„Habt ihr die Waldbrände in Portugal und Frankreich im Fernsehen gesehen? Das ist noch nicht vorbei. Das haben wir jetzt davon. Die globale Erwärmung wird uns alle treffen. Wir vernichten uns selbst. Bald ist Europa eine Wüste. Die Bilder von den Äckern in Brandenburg … habt ihr gesehen …?“

Steeg verdreht die Augen.

„Jooo-hop! Komm wieder runter, ja! Wir können es sowieso nicht ändern. Ob du dich jetzt aufregst oder nicht. Also verschon deine, und vor allem meine Nerven, mit diesem globalen Erwärmungsquatsch.“

„Aber das ist kein Quatsch! Ich sage es euch. In ein paar Jahren werden wir Menschen wegen Wasserdiebstahls hinter Gitter bringen. Wir werden für eine Flasche Wasser mehr bezahlen als für eine Flasche Chateau Neuf du Pape! Die Pole schmelzen …“

„Joop!“ Achim funkelt ihn an. „Nicht schon am frühen Morgen, du hysterischer Holländer!“

Van Oss verschränkt die Arme vor der Brust und schiebt das Kinn vor.

„Okay“, er hebt demonstrativ den Kopf und schaut auf die rote, runde Küchenuhr über der Tür. „Um wie viel Uhr kannst du die Wahrheit vertragen?“

Steeg beißt resigniert in sein Käsebrötchen.

Böhm lächelt vor sich hin. Steeg und van Oss sind wie Hund und Katze, aber sie arbeiten perfekt zusammen. Nach der Mordserie in Merklen war Joop in eine Krise geraten. Er fühlte sich an dem Tod des letzten Opfers schuldig, weil er es aus den Augen verloren hatte. Steeg hatte sich um ihn gekümmert. Eine Tatsache, die bei allen Kollegen Erstaunen hervorgerufen hatte.

„Lasst uns anfangen, ja?“

Böhm schaut die beiden über den Rand seiner Nickelbrille an.

Steeg rutscht mit dem Stuhl vor.

„Ich bin noch an der Schießerei in Emmerich dran. Für heute hab ich noch zwei Zeugen vorgeladen, aber viel Hoffnung mach ich mir nicht. Das sind alles Polen und Russen, die halten dicht. Immer wenn es konkret wird, verstehen die auf einmal kein Deutsch mehr, oder können sich nicht erinnern. Wenn man denen glaubt, hatte keiner eine Waffe, und den Schuss hat der liebe Gott abgefeuert. Am liebsten würde ich da eine Hausdurchsuchung nach der anderen machen.“

Böhm nickt.

„Ist denn der Waffentyp inzwischen geklärt?“

„Eine dreiunddreißiger Beretta. Ist hier bisher nicht aufgetaucht. Wir haben die Daten ans BKA gegeben.“

Joop steht auf und bringt seine Tasse zum Spülbecken.

„Ich habe um zehn Uhr den Termin in Krefeld. Der unbekannte Tote in dem Weiher. So wie es aussieht, könnte es sich um den Vermissten aus Elten handeln. Sieht nach Selbstmord aus. Tod durch Ertrinken. Jedenfalls hat die Gerichtsmedizin keine Spuren von Gewalteinwirkung gefunden. Der DNA-Test ist noch abzuwarten, aber die Reste der Kleidung, die Uhr und der Ohrring passen.“

Joop schiebt die Hände in die Taschen seiner weiten, orangefarbenen Leinenhose. „Wieso fährt einer nach Krefeld um zu sterben?“

Böhm nimmt den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse.

„Wie verzweifelt muss man sein, wenn man irgendwo hinreist, um sich dort in einem seichten Gewässer zu ertränken? Diese Kraftanstrengung! Wo kommt diese Energie her, wenn man doch keinen Lebenswillen mehr hat?“

Steeg spült den letzten Bissen des Brötchens mit Kaffee hinunter. „Vielleicht wollte er einfach nicht in Elten sterben. Egal wo, nur nicht in Elten!“

Böhm lehnt sich in den Schreibtischstuhl zurück und verschränkt die Hände im Nacken unter dem grauen Haarkranz. Das schwarze Polo-Shirt spannt über der Brust.

„Ja vielleicht. Wir werden es nicht herausfinden!“

Er dreht sich seinem Bildschirm zu. „Aktuelles haben wir nicht. Heute Morgen hat es ein Feuer in Ness gegeben. Die Feuerwehr und das Technische Hilfswerk sind noch vor Ort. Sieht nach erheblichem Sachschaden aus. Ein umgebauter Hof, der aber eher wie ein Sommerhaus genutzt wurde. Ist als Zweitwohnsitz angemeldet, auf einen Gustav Horstmann. Die Brandursache wird zurzeit geklärt.“

Er beugt sich vor.

„Ich bin ab zehn in der Staatsanwaltschaft zu erreichen. Es geht noch mal um die Beweislage im Fall Schuck. Die Becker meint, es reicht nur für eine Anklage auf Totschlag und der Rechtsanwalt will sich auf Totschlag im Affekt einigen.“

Steeg springt auf.

„Toll. Der hatte das geplant, das hat er doch zugegeben. Scheiße! Von wegen Totschlag im Affekt. Immer diese hinterfotzigen Spielchen von diesen Rechtsverdrehern.“

Joop legt ihm eine Hand auf die Schulter und grinst ihn an.

„Achim, reg dich nicht auf. Wir können es sowieso nicht ändern, ne!“

Steeg sieht ihn einen Augenblick lang zornig an. Dann entspannt er sich.

„Hau endlich ab. Mit deinem ollen Benz brauchst du doch mindestens zwei Stunden bis Krefeld!“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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