Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation - Werner Vogd - E-Book

Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation E-Book

Werner Vogd

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Beschreibung

Wer sein Glück in der Zukunft sucht oder sich an überkommene Ideen aus der Vergangenheit klammert, läuft Gefahr, dass ihm das Leben entgleitet. Die Kernbotschaft buddhistischer Lehren lautet deshalb: Es gibt nichts zu erreichen. Kein Paradies, keinen Fluchtpunkt in einer höheren Transzendenz – nur die Gegenwart und die subjektive Qualität lebendiger Beziehungen. Das Heil liegt in einer gelungenen Beziehung zu sich selbst, in einer Leiblichkeit, in der ein Mensch sich (wieder) selbst in der Mitte der Welt wahrnimmt. Wer sich auf die Vipassana-Meditation einlässt, wird feststellen, dass sein Leben an Lebendigkeit und Fülle gewinnt. Als sehr ursprüngliche Form des buddhistischen Pfades stellt Vipassana ein vollständiges spirituelles System dar, lässt aber Theorien und Konzepte hinter sich. Hier geht es um die Kunst zu leben und um die Rückkehr ins eigentliche, unmittelbare Sein. Werner Vogd ist dem Phänomen Vipassana in einem mehrjährigen Forschungsprojekt nachgegangen. Zusammen mit Dunja Batarilo beschreibt er Vipassana als die Kunst, ein Leben zu führen, in dem sich die Sinnfrage nicht mehr stellt. Stattdessen kann sich das Potenzial der eigenen Existenz wirklich entfalten. Das Leben – seiner Natur nach instabil, berührbar und fragil – wird gerade dadurch lebendig, dass es auf dem Fluss ständiger Dynamik und Veränderlichkeit beruht. Das Buch erläutert u. a. eingehend die positiven Auswirkungen von Vipassana auf Depression, Angstzustände und tiefe Verunsicherung.

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Für die Mütter

Gertrud und Beate

Werner VogdDunja Batarilo

Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation

2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

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Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

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Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

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Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin ✝ (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Reden reicht nicht!?«

hrsg. von Michael Bohne, Gunther Schmidt und Bernhard Trenkle

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: © ryabis – stock.adobe.com

Redaktion: Anja Bachert

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0420-9 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8377-8 (ePUB)

© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Teil I: Einführung

1.1 Wege zu Vipassana

1.2 Buddha war kein Buddhist – der Weg in den Westen

Kurzer historischer Überblick

Vipassana für Laien – ein Ergebnis der Befreiung aus der Kolonialherrschaft?

Interkultureller Austausch – Vipassana goes West

1.3 Meditation wirkt. Das Allheilmittel des 21. Jahrhunderts?

Meditation – ist das nicht MBSR? Ein Missverständnis

Von Äpfeln und Birnen. Meditation ist nicht gleich Meditation

»Gut fürs Gehirn«. Positive Effekte von Meditation

Teil II: Auf dem Pfad

2.1 Die Suche nach der Überwindung des Leids

Die Suche nach Befreiung – Auswege und Sackgassen

Sehen, was ist

Alles fließt – von anicca und anattā

2.2 Leben, Leiden, Loslassen

Blut, Schweiß und Tränen

Forscher in der inneren Serengeti – das Zusammenspiel von Geist und Körper erkunden

Sturm in der Stille – die Aggregatzustände von dukkha

2.3 Psychosomatischer Frühjahrsputz – saṅkhāras auflösen

Ich beobachte, also bin ich. Heilung durch Vipassana

Loslassen, was belastet

Mit sich selbst durch dick und dünn

Von Langeweile und Lustlosigkeit

Erkenne dich selbst

2.4 Einmal Paradies und zurück. Von bhaṅga und den dunklen Nächten der Seele

Bhaṅga als Lackmustest

Am Ende der Nacht das Morgengrauen

Freund und Feind

Der verkörperte Geist

Adiṭṭhāna – Meditieren im Dampfdrucktopf

2.5 Werde der Weg. Die Lehre von der Bedingten Entstehung

Mitten rein ins Leben

2.6 Der Mittlere Weg im Alltag. Von kleinen Schritten und Stolpersteinen

Hürden auf dem Weg

Geduld statt Schuld

Anstrengungslose Anstrengung

Zentrierung in einer beschleunigten Welt

Teil III: Nach Hause kommen

3.1 Erleuchtung in Wanne-Eickel. Nibbāna ist für alle da

Endstation Sehnsucht

Ich kenne dich, Māra

Alles fließt

In den Strom eintreten

Ich weiß, dass ich nichts weiß – und das ist gut so

Von Lehre und Leere

3.2 Die Rückkehr. Mit Mitgefühl und Liebe der Welt begegnen

Liebe will ins Leben

Last but not least: mettā

Die Liebe ist ein Kind der Freiheit

Von Mitgefühl und Burn-out

Risiken und Nebenwirkungen: Glück

Vergebung, Versöhnung, Verantwortung

Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt

Die Alchemie des Leids

Vipassana als Institution – eine Ökonomie der Gnade

3.3 Leben in Gemeinschaft und Unvollkommenheit – Warum wir keine andere Wahl haben

Nachwort von Werner Vogd

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor und die Autorin

Teil I: Einführung

1.1Wege zu Vipassana

Sie sitzen da wie Salatköpfe auf einem Feld: in ordentlichen Reihen, alle im gleichen Abstand voneinander, reglos und schweigend. Die Gesichter nach vorne gewandt, die meisten von ihnen im Schneidersitz. Männer und Frauen aller Altersgruppen meditieren in einem schmucklosen Raum, durch eine unsichtbare Linie nach Geschlechtern getrennt. Ein tiefer Friede liegt über der Szene. Was hinter den geschlossenen Augen, was in den fast bewegungslosen Körpern vor sich geht, bleibt dem Beobachter verborgen. Sie atmen und fühlen – nur deshalb sind sie hier.

Von außen sichtbar: ein in Schweigen gehülltes Gebäude hinter einem Schutzwall von Schildern, die »Bitte Ruhe« und »Edle Stille« verlangen. In einem abgegrenzten Areal um das Haus sind vereinzelt einige wenige Menschen zu sehen, die ihre Runden drehen. Langsam und bedächtig gehend, wie in Zeitlupe, schweigend, in sich versunken. Eine Frau lächelt, einer anderen rollen Tränen über die Wangen, ein junger Mann lehnt sich an einen Baum, der nächste badet das Gesicht in staubflockendurchtanzten Sonnenstrahlen, die durch Buchenblätter fallen. Zur vollen Stunde ertönt ein Gong, der Außenbereich füllt sich. Auch im Inneren des Hauses bewegen sich die Menschen verlangsamt wie unter Wasser, niemand spricht, jeder ist mit sich allein, unter all den anderen.

Was anmutet wie Szenen aus einem Shaolin-Film, ist ein ganz normaler Tag auf einem Kurs in der Vipassana-Tradition. Diese sogenannten Retreats sind in der Szene auch als »Bootcamps« bekannt. Ein solcher Kurs verlangt von den Teilnehmern ein grundlegend anderes Commitment als ein Achtsamkeitskurs, den man zweimal die Woche besucht, oder als Meditationsübungen am Smartphone. Wer hierherkommt, will es wirklich wissen.

Ein Vipassana-Retreat ist eine Art Kloster auf Zeit. Vor Beginn verpflichten sich alle Meditierenden in spe, sich für die Dauer des Kurses an bestimmte Regeln zu halten: nicht zu stehlen, nicht zu lügen, keine Drogen zu nehmen und keine sexuellen Handlungen zu vollziehen. Es sind Verhaltensrichtlinien, wie sie auch viele konfessionelle und spirituelle Gemeinschaften kennen. Die Kommunikation wird eingestellt, auch die nonverbale; Zeichensprache und Gestikulieren sind nicht erwünscht. Die Organisatoren des Kurses schützen diese Stille nach außen hin: Telefone werden ausgestöpselt, Türklingeln abgestellt. Die Teilnehmer ihrerseits verzichten auf jeden Kontakt zur Außenwelt und geben alles ab, was ihre Konzentration stören könnte: Laptops, Bücher, Schreibzeug, ihr Mobiltelefon. Es ist eine kompromisslose Absichtserklärung: Man ist gekommen, um zu meditieren – nichts anderes. Die sogenannte Edle Stille soll dabei helfen, einen inneren Raum zu betreten, in dem es möglich ist zu lauschen. Zeit dazu ist reichlich: zehn Tage lang, zehn bis zwölf Stunden am Tag.

Tagesablauf eines Vipassana-Kurses nach S. N. Goenka

4:00-4:30 Uhr

Gong – Aufstehen

4:30-6:30 Uhr

Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer

6:30-8:00 Uhr

Frühstückspause

8:00-9:00 Uhr

Gruppenmeditation in der Halle

9:00-11:00 Uhr

Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer

11:00-12:00 Uhr

Mittagessen

12:00-13:00 Uhr

Ruhepause

13:00-14:30 Uhr

Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer

14:30-15:30 Uhr

Gruppenmeditation in der Halle

15:30-17:00 Uhr

Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer

17:00-18:00 Uhr

Teepause

18:00-19:00 Uhr

Gruppenmeditation in der Halle

19:00-20:00 Uhr

Diskurs des Lehrers in der Halle

20:00-21:00 Uhr

Gruppenmeditation in der Halle

21:00-21:30 Uhr

Fragestunde in der Halle

21:30 Uhr

Nachtruhe, Licht aus

Das Kurssetting bildet eine Art Raumschiff, auf dem die Teilnehmer als schweigende Besatzung anheuern. Die Reise, die sie antreten, führt sie nicht ins Weltall, aber in einen ähnlich unbekannten Raum – das eigene Bewusstsein.

Ein Missverständnis, dem viele aufsitzen, die das erste Mal hierherkommen: dass zehn Tage Meditation Entspannung bedeuten. Runterkommen, Ruhe. Meditieren im Sinne von Vipassana heißt jedoch: »Sehen, was ist«. Beobachten. Mit Wellness und Sich-fallen-Lassen hat das nichts zu tun; das aktive Kultivieren der Aufmerksamkeit und Beobachten des eigenen Bewusstseins erfordert hohe Konzentration und unablässige Anstrengung. Ein Vipassana-Kurs ist eine herausfordernde und oft auch konfrontative Lernerfahrung auf vielen Ebenen und daher definitiv keine Wellnesswoche. Nicht umsonst sind auf jedem Kurs einige wenige Menschen dabei, die vorzeitig abbrechen.

Wer tut sich so etwas an und warum? Vipassana-Kurse haben weltweit jedes Jahr mehr Zulauf. Allein im deutschen Sprachraum werden derzeit jährlich über 50 einführende Zehntageskurse angeboten, mit jeweils 70–120 Teilnehmern. Bis zu 7000 Menschen pro Jahr lassen sich hierzulande auf diese Erfahrung ein, sie finden allein über Mundpropaganda zum Kursort. Viele sind Wiederholungstäter, und noch mehr warten sehnsüchtig darauf, einmal teilnehmen zu dürfen. Viele, viele Menschen, die ihren ersten Zehntageskurs absolviert haben, kommen aus dem Retreat und ziehen das Resümee: »Das war das Beste, was ich je gemacht habe.«

Wer sind diese Menschen, was zieht sie in die Kurszentren? Die einen sind von Neugier getrieben, andere wünschen sich mehr Tiefe im Leben. Die einen suchen Ruhe oder Sinn, wieder andere Heilung. Die israelische Soziologin Michal Pagis, die für ihre Doktorarbeit über Jahre hinweg als teilnehmende Beobachterin Kurse besucht hat, kommt zu dem Schluss, dass gut zwei Drittel aller Kursteilnehmer Auswege aus einer Lebenskrise suchen. Diese Beobachtung deckt sich mit dem Eindruck, den wir im Rahmen unserer Studie »Buddhismus im Westen« gewonnen haben: Viele Teilnehmer berichten von existenziellen Krisen, die der Auslöser waren, sich zum ersten Kurs anzumelden. Trennungen und Trauerfälle, chronische Krankheiten, Erschöpfung – die Liste der Motive ist lang und so vielfältig wie die Menschen, die den Weg zu Vipassana finden. Alle haben sie eines gemeinsam: den Wunsch nach Veränderung.

Viele Menschen, mit denen wir gesprochen haben, sagen über sich selbst, dass sie »auf der Suche« waren – und dass sie in der Vipassana-Meditation etwas gefunden haben. Es ist eine Suche, die oftmals über unmittelbare Symptome oder Leiden hinausgeht. Es ist eine Suchbewegung nach Antworten auf die Fragen, die das Leben selbst an den Menschen stellt. Erfahrungen von Geburt, Krankheit, Altern und Tod werfen Fragen nach der Bedeutung des eigenen Lebens auf, die früher zuverlässig von Religionsgemeinschaften beantwortet wurden. Je weniger man sich diesen traditionellen Zusammenhängen zugehörig fühlt, desto mehr ist man auf sich selbst gestellt in dem Versuch, diese Fragen für sich zu beantworten, das eigene Leben zu bewältigen und ihm Sinn zu geben. Stephen Batchelor, Schriftgelehrter und ehemaliger buddhistischer Mönch schottischer Abstammung, hält dieses »unbedingte Anliegen« sich existenziell zu verorten für eine anthropologische Konstante, die er so zusammenfasst:

»Ich bin begierig danach zu hören, was diese alten Stimmen zu sagen haben, das meine gegenwärtige Verfassung als menschliches Tier auf diesem durch das Weltall rasenden Ball aus Fels und Wasser erhellen könnte.«1

Die Mehrzahl der Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, stammt aus dem deutschen Sprachraum. Viele erzählen davon, in einem kirchlich, oft protestantisch geprägten Elternhaus aufgewachsen zu sein. Davon, dass es einen tragenden Glauben gab, der sie in der Kinderzeit umgab und der später von einem positivistischen Weltbild schwer erschüttert wurde. Einige haben sich bewusst von der Kirche abgewandt, andere konnten einfach nichts mehr damit anfangen.

Wieder andere sehen Vipassana als eine Praxis, die ihren Glauben ergänzt. Petra, seit mehr als zwanzig Jahren Vipassana-Lehrerin, spricht für viele andere, wenn sie sagt: »Ich denke, ich habe immer nach dem Sinn des Lebens gesucht.« Rosa, eine langjährige Meditierende, erzählt von der Verzweiflung, die sie als Schülerin im Biologie-Leistungskurs erfasste: »Wie jetzt, was? – Das sollen alles nur Atome sein, die zusammenhängen?« Der erste Vipassana-Kurs, den sie besuchte, war für sie »eine unglaubliche Antwort«.

Wer einen Zehntageskurs besucht, wird schnell feststellen: Die Halle, in der gemeinsam meditiert wird, ist ein nüchterner Raum. Kein Räucherwerk, keine Bilder, keine Mantras. Die fast klinisch anmutende Klarheit entspricht dem wissenschaftlichen Gestus, mit dem in die Technik eingeführt wird. Schon bald wird deutlich: Es geht in diesem Rahmen nicht darum, irgendwem irgendetwas zu glauben, sondern darum, sich selbst auf die Suche zu machen, dem eigenen Geist auf die Schliche zu kommen. Das scheint gerade für akademisch geprägte, intellektuell ausgerichtete Menschen attraktiv zu sein, die sich von allem, was nach Esoterik riecht, abgestoßen fühlen. Der amerikanische Psychiater und Meditationslehrer Paul R. Fleischman erinnert sich an seine eigene Ambivalenz in Bezug auf seinen bevorstehenden ersten Kurs: »Ich wollte Frieden und Harmonie, aber nicht um den Preis von Kompetenz oder einem lebendigen und selbstverantwortlichen Leben.« Wie viele andere hielt er Meditation für Nabelschau und für eine Praxis, die sich von der Welt abwendet, und hatte entsprechende Vorbehalte: »Ich wollte etwas über Meditation erfahren, aber ich wollte kein Nichtsnutz werden.«2

Solche Ängste sind unbegründet. Niemand, mit dem wir gesprochen haben, hat sich im Laufe der eigenen Meditationspraxis von der Welt abgewandt. – Im Gegenteil: Vipassana-Meditation scheint Menschen vielmehr dazu zu befähigen, ein volleres, intensiveres Leben zu führen, sich gleichsam in die Mitte des eigenen Lebens zu stellen. Mit Egozentrik hat das, wie wir noch sehen werden, nichts zu tun.

Dass diese Technik ursprünglich als Schlüssel zur Erleuchtung gedacht war, spielt für die meisten Meditierenden heute eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ist Vipassana für viele Praktizierende ein Mittel, mit den Anforderungen ihres Alltags besser klarzukommen. Für einige wenige, die sich dem Weg bewusst voll und ganz verschreiben, spielt das Thema Erleuchtung wirklich eine Rolle – und durch die Hintertür vielleicht auch für alle. Dieses komplexe Spannungsfeld zwischen Weltlichkeit und Transzendenz, zwischen Körper und Geist, zwischen Zielstrebigkeit und Präsenz wollen wir im Laufe dieses Buches näher erkunden und untersuchen, was die Besonderheit von Vipassana ausmacht.

Was immer es ist, das so viele Menschen zu Vipassana bringt, – es scheint so zu sein, wie eine Kursteilnehmerin auf dem Weg nach Hause sagte: »Da passiert etwas zutiefst Heilsames.«

1.2Buddha war kein Buddhist – der Weg in den Westen

Bis zur Jahrtausendwende hatte Meditation den Ruf, esoterisch zu sein, der Begriff roch nach Mottenkugeln und Mystizismus. Das ist endgültig vorbei. Meditation hat sich zu einem »sichtbaren und wachsenden Phänomen der Mittelschichten in postindustriellen Gesellschaften« gemausert, so die Soziologin Michal Pagis.3 Allein in den Vereinigten Staaten meditieren etwa 30 Millionen Menschen. In Deutschland ist es schwer, an entsprechende Zahlen zu kommen. Laut einer Schätzung der Deutschen Buddhistischen Union bezeichneten sich im Jahr 2008 rund 300 000 Deutsche als Buddhisten; etliche Tausende mehr dürften heutzutage meditieren, ohne sich dieser Glaubensgemeinschaft zugehörig zu fühlen. Fragen um das Konvertieren von einer Religion oder Weltanschauung zu einer anderen spielen dabei keine Rolle. Diese Menschen praktizieren – nicht nur, aber auch – Vipassana.

Die »Zehntageskurse nach S. N. Goenka«, auf die wir uns in diesem Buch beziehen, werden derzeit in 108 Ländern der Welt angeboten, 225 entsprechende Meditationszentren gibt es momentan weltweit – Tendenz steigend. Die Menschen, die Vipassana meditieren oder sich dafür einsetzen, dass diese Kurse für die Teilnehmer kostenlos stattfinden können, bezeichnen sich selbst nicht als Buddhisten. Das ist umso erstaunlicher, weil Vipassana ursprünglich eine Praxis war, zu der über viele Jahrhunderte hinweg ausschließlich eingeweihte Mönche Zugang hatten. Meditationszentren, in denen Laien die Technik erlernen können, sind historisch ein sehr junges Phänomen. Die Methode hat sich von einer in Asien betriebenen Geheimwissenschaft zu einem globalisierten, über alle sozialen Schichten hinweg verfügbaren Angebot entwickelt, und das innerhalb weniger Jahrzehnte.4

Kurzer historischer Überblick

Der Begründer der buddhistischen Lehren, der historische Buddha, lebte etwa im 5. Jahrhundert v. Chr. Geboren als erster Sohn eines Fürsten, wuchs er unter dem bürgerlichen Namen Siddharta an einem adligen Hof in der nordindischen Stadt Kapilavastu auf, im heutigen Nepal. Die einzelnen Stationen seines Suchens und Findens werden wir im Hauptteil dieses Buches näher beleuchten. Der spätere Buddha (wörtlich: »der Erwachte«) entwickelte im Laufe seiner intensiven und kurvenreichen Suche nach einem Ausweg aus dem Leiden schließlich eine Meditationspraxis, mit der er zur Erleuchtung fand. Der Sage nach war dies Vipassana. Die Technik wurde zur zentralen Praxis des Theravāda-Buddhismus (auf Pali, der Sprache des Buddha: »Die Lehre der Ältesten«). Theravāda gilt als die älteste und ursprünglichste Linie des Buddhismus, heute vorwiegend praktiziert in Sri Lanka, Myanmar, Thailand und Kambodscha.

An dieser Stelle ein kleiner Vorgriff, für Kenner der Materie: Theravāda wird von manchen anderen buddhistischen Traditionen auch »Hinayāna«, »das kleine Fahrzeug«, genannt, um zu betonen, dass hier die Erleuchtung des Einzelnen und nicht das Glück aller Wesen im Vordergrund steht. Diese Fremdeinschätzung beruht allerdings auf einem Missverständnis der Lehre. Im Theravāda geht es zwar in erster Linie darum, den Geist zu beruhigen und zu reinigen, mit dem Ziel, einen Ausweg aus dem Leiden zu finden. Das geschieht jedoch, wie wir im letzten Kapitel sehen werden, mit dem Ziel, sich auf dieser Basis wieder der Welt öffnen zu können. Zunächst kann man sich merken, dass im Theravāda die Entwicklung von Konzentration und Selbsterkenntnis im Vordergrund steht. Der auf diese Weise geläuterte Geist verändert sich; er wird mit der Zeit immer stärker von einer mitfühlenden, liebevollen und gleichmütigen Haltung gleichsam durchflutet. Wer stetig und ausdauernd meditiert, der verändert auf Dauer nicht nur sein Verhalten, sondern schlussendlich auch seinen Charakter – dieser Prozess stellt sich von allein ein, die Sekundärtugenden folgen auf dem Fuße. Vor die großartigen Früchte der Meditation hat der »liebe Gott« jedoch den Schweiß gesetzt: Ohne gewissenhafte Arbeit an sich selbst passiert hier gar nichts.

Die Traditionslinien Mahāyāna und Vajrayāna spalteten sich erst etwa 500 Jahre später ab,* als der Buddhismus sich über ganz Asien verbreitete. Mahāyāna, auch das »Große Fahrzeug« genannt, erreichte über die Seidenstraße Zentral- und Ostasien. Hier ist die Didaktik anders gelagert, Ausgangspunkt der meditativen Schulung ist explizit und von vornherein die Entwicklung von tatkräftiger Liebe und Mitgefühl. Die Richtungen des Mahāyāna sind heute vorwiegend in Vietnam, Japan, Tibet, Bhutan, Taiwan, der Volksrepublik China und Korea vertreten. Auch der im Westen sehr beliebte Zen-Buddhismus entspringt dieser Linie – allerdings rückt hier eher wieder die Selbsterkenntnis in den Mittelpunkt.

Vajrayāna, auch »Diamantfahrzeug« genannt, hat sich besonders in Tibet und im südostasiatischen Raum verbreitet, in Bhutan ist diese Linie des Buddhismus Staatsreligion. Im Westen ist sie vor allem durch den Dalai Lama und den 16. Karmapa, den Linienhalter der Karma-Kagyü-Schule, bekannt geworden.

Keine dieser Traditionen erhebt den Anspruch, der wahre Buddhismus zu sein; sie bestehen nebeneinander. Es gibt innerhalb der vielfältigen, sich auf den historischen Buddha berufenden Bewegungen keine zentrale Autorität oder Lehrinstanz, die entscheidet, was die wahre Lehre ist. Alle Linien beziehen sich auf Schriften, die die Lehre des Buddha überliefern, und das in den verschiedensten Formen. Es handelt sich eher um unterschiedliche Ausprägungen verschiedener Aspekte dieser Lehre, die sich im Laufe der Zeit mit jeweils regional unterschiedlichen lokalen Traditionen und Glaubenssystemen vermischten. Was wir heute im Westen als »Buddhismus« antreffen, hat ebenso bereits einen Veränderungsprozess durchlaufen und sich unserem christlich-säkularen Selbstverständnis, der Ideengeschichte, die unser Denken und Fühlen prägt, unauffällig angepasst.

Vipassana ist eine von vielen Formen, in denen das Phänomen Meditation in den Westen gefunden hat. Die Technik legt Wert darauf, keinen »-ismus« vor sich herzutragen, sie will explizit keine Religion sein und richtet sich an Angehörige aller Kulturen und Religionen, an Männer wie Frauen. Viele Textstellen legen nahe, dass auch der Buddha selbst zu seinen Lebzeiten diese Haltung lebte und lehrte. So wird von vielen Anhängern berichtet, die ein weltliches Leben führten, also ihrem Beruf nachgingen und für ihre Familie sorgten und dennoch tief in die Meditationspraxis eintauchten. Siddharta Gotama war überdies Feminist: Er unterrichtete auch Frauen, womit er die damalige patriarchale Kultur ordentlich vor den Kopf gestoßen haben dürfte. Doch die neue buddhistische Idee traf auf ein traditionelles Asien. Im Laufe der Jahrhunderte vermischte sich die Lehre mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen. Sie passte sich einer hinduistisch geprägten, streng patriarchalen und nach Kasten getrennten Ordnung an, in der das Priestertum eine herausragende Rolle spielte und Frauen wieder zurückgedrängt wurden.5

Das große Ziel der Erleuchtung, zentral für die Lehre des Buddhas, wurde zu etwas, das im Leben der kleinen Leute nicht vorkam. Wer meditieren lernen wollte, musste ins Kloster gehen. Die große Befreiung – wenn überhaupt6 – blieb den Mönchen vorbehalten, die sich in Orden organisierten, von allen weltlichen Aufgaben befreit waren und ihr Leben der Introspektion und Meditation widmeten. Der »Buddhismus« der Mönche sah und sieht noch heute völlig anders aus als der der großen Masse der Gläubigen. Mönche widmen sich der Meditation, für ihren Lebensunterhalt sind sie auf Spenden aus der Bevölkerung angewiesen. Im Gegenzug übernehmen sie ihrerseits eine spirituell ordnende Funktion in der Gesellschaft. Sie führen Rituale aus und übernehmen seelsorgerische Tätigkeiten für die Allgemeinheit. Das einfache Volk hingegen befolgt Riten und Gebräuche. Ähnlich wie in der christlichen Tradition war es lange ausschließlich der Klerus, der Zugang zu Texten der Lehre hatte und darauf seine Autorität begründete. Die Mönche hielten ihr Wissen lange Zeit vor Laien, Frauen und in späteren Jahrhunderten auch vor Menschen aus dem Westen verborgen. Vipassana sollte nur an diejenigen weitergegeben werden, die jahrelang durch Meditation ihren Geist geschult hatten. So blieb die Praxis lange Zeit einer kleinen Elite von Männern vorbehalten, die in Klöstern, Höhlen und Wäldern lebte.

Indien, die Heimat des Buddha, ist heute kein buddhistisches Land. Die größte Ausdehnung hatte der Buddhismus unter König Ashoka, der im 3. Jahrhundert v. Chr. diese Philosophie bis weit über die Grenzen Indiens hinaus verbreitete. Erst im 12. Jahrhundert wurde die Lehre des Buddha durch den Hinduismus und später auch den Islam verdrängt. Während letztere heute die prägenden Religionen des Subkontinents sind, geriet Vipassana im Laufe der Jahrhunderte in Vergessenheit. In einigen südostasiatischen Ländern, insbesondere in Myanmar, wurde die Technik jedoch unauffällig gehütet. In dem Bestreben, sie möglichst rein und unverändert zu erhalten, wurde die Praxis nur von Mönch zu Mönch, von Lehrer zu Schüler, weitergegeben. Unterweisung in Vipassana zu bekommen, war eine Auszeichnung. Bis heute ist der dankbare Rückbezug auf die Lehrer, auf deren Schultern alle heutigen Meditierenden gewissermaßen stehen, ein Charakteristikum der Vipassana-Bewegung. Auch deshalb soll die Geschichte der modernen Vipassana-Tradition an dieser Stelle den Raum bekommen, den sie verdient. Ohne all die vielen mutigen und inspirierenden Schritte derer, die vorangegangen sind, wäre es heute im Westen nicht möglich, diese Technik zu erlernen.

Es ist eine alte Prophezeiung überliefert: 2500 Jahre nach der Erleuchtung des Buddha sollte Vipassana von Myanmar aus zurück nach Indien finden und von dort aus in die ganze Welt. Prinzessin Vipassana fiel also in einen jahrhundertelangen Dornröschenschlaf. Als sie wieder erwachte, fand sie eine Welt vor, die sich grundlegend verändert hatte.

Vipassana für Laien – ein Ergebnis der Befreiung aus der Kolonialherrschaft?

Damit die Vipassana-Tradition, wie wir sie heute im Westen kennen, entstehen konnte, mussten zwei historische Strömungen zusammenfinden. Zum einen der sogenannte buddhistische Modernismus, eine im Kern politische Bewegung. In den vorwiegend britisch besetzten Gebieten des heutigen Indien und Myanmar formierte sich eine gebildete Mittelschicht, die die Kolonialherren abzuschütteln versuchte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte sie den Buddhismus als eine Art Reformreligion. Es ging dabei weniger um spirituellen Gehalt als um ein ethnien- und schichtenübergreifendes kulturelles Erbe. Das damalige Burma oder Birma, heute Myanmar genannt, seit 1886 als indische Provinz von den Briten besetzt, war ein gespaltenes Land: Die Besatzungsmacht hatte das buddhistische Königshaus zerschlagen, etliche ethnische Gruppen bekämpften einander; Mönche und Laien verfolgten unterschiedliche Ziele.7 Der Mönch und Gelehrte Ven Ledi Sayadaw (»Ven« steht für »ehrwürdiger Lehrer«), geboren 1846, gehörte einer Reformbewegung an, die die zerrissene Zivilgesellschaft vereinen wollte, um gegen die Kolonialmacht anzugehen. Buddhistische Meditation war etwas, worauf sich Laien und Mönche sowie die wirtschaftliche und die politische Elite des Landes gut einigen konnten. Hier kommt eine zweite Strömung ins Spiel, in der die Praxis die primäre Rolle spielt: Der Mönch und Gelehrte Ledi Sayadaw erinnerte sich an die alte Prophezeiung, entsprechend der die buddhistischen Lehren 2500 Jahre nach Buddhas Tod erneut in der Welt Fuß fassen würden. Er war der Erste, der völlig neue Wege beschritt, indem er zum ersten Mal die Vipassana-Technik an Laien weitergab – und ihnen wiederum auftrug, ihr Wissen weiterzugeben. »Meditiert, als ob eure Köpfe Feuer fingen«, wies er seine Adepten an.8 Er vertrat eine Linie von spirituellen Lehrern, denen es darum ging, den wahren Gehalt der buddhistischen Lehren zu demokratisieren. Dhamma, die Lehre Buddhas, sollte nicht länger einer kleinen Elite vorbehalten sein. Seine Schüler, unter ihnen zum Beispiel auch der burmesische Meister Pa Auk Sayadaw, verbreiteten Vipassana in Burma und darüber hinaus. An dieser Stelle verzweigte sich die Bewegung, was bis heute sichtbar ist: Es gibt verschiedene Vipassana-Schulen, die die Technik in leicht variierter Form weitergeben. So wird zum Beispiel die Konzentration auf den Atem unterschiedlich gelehrt, es wird unterschiedlich viel Zeit auf das Vertiefen der Konzentration verwandt und auf die vier »Säulen der Achtsamkeit«. Dies sind: Betrachtung des Körpers, der Empfindungen, des Geistes und der mentalen Inhalte. Auch werden nicht alle Kurse kostenlos angeboten. Wenn im Laufe dieses Buches Bezug auf die Technik und auf die Organisation der Kurse genommen wird, dann ist stets die Schule nach S. N. Goenka gemeint.

Der erste Laienlehrer im großen Stil war Saya Thetgyi, ein Schüler Ledi Sayadaws. Ab 1914 unterrichtete er erstmals Feldarbeiter, später immer mehr Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die zu ihm pilgerten, um sich unterweisen zu lassen. 1937 begann Sayagyi U Ba Khin, der spätere oberste Buchhalter von Burma, zu meditieren. Der hohe Regierungsbeamte, berühmt-berüchtigt für seine Effizienz und den Kampf gegen Korruption in den burmesischen Behörden, begann schon bald seine Mitarbeiter selbst zu unterrichten. 1952 gründete er in der Hauptstadt Rangun das erste kleine Vipassana-Zentrum, wo er schon bald burmesische und auch westliche Schüler unterrichtete. Er gilt als Erfinder des Formats des bis heute gängigen Zehntageskurses.

Bevor Vipassana heim nach Indien finden konnte, musste noch S. N. Goenka auf den Plan treten. Er war bereits kein mönchisch geprägter Buddhist mehr, sondern brachte einen ganz anderen Hintergrund mit: Satya Narayan Goenka, der Begründer der gleichnamigen Vipassana-Bewegung, wurde 1924 im burmesischen Mandalay geboren, als Kind indischer Eltern. Der gläubige Hindu wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann, den allerdings heftige Migräneattacken plagten. Jeder Mensch, der einmal chronische Schmerzen erlebt hat, kennt die verzweifelte Suche nach Heilung, das Pilgern von Arzt zu Arzt, das auch Goenka hinter sich bringen musste. Schließlich kam er auf Empfehlung eines Freundes zu Sayagyi U Ba Khin. Als Goenka den Lehrer um Hilfe bat, soll dieser ihn zunächst wieder weggeschickt haben – er weigerte sich, die Technik nur als Mittel zum Zweck weiterzugeben. Goenka konnte ihn offenbar überzeugen, im Jahr 1955 absolvierte er seinen ersten Kurs. 1969 zog er zusammen mit seiner Frau nach Indien und begann dort, Kurse in Vipassana zu erteilen. Das »Rad der Lehre« begann nun, sich deutlich schneller zu drehen. 1976 eröffnete er das erste offizielle Vipassana Meditationszentrum in Igatpuri, nördlich von Mumbai.

Interkultureller Austausch – Vipassana goes West

Nicht nur in Indien und Burma braute sich in Sachen Meditation etwas zusammen. Auch in Europa und Asien bahnten sich geistige und soziale Strömungen an, die später auf das in Indien bereitete Feld treffen sollten. Bereits um 1900 gab es im Westen eine frühe Welle der Faszination für östliches Gedankengut. Die Theosophen und später die Anthroposophen ließen sich von Motiven wie Wiedergeburt und Erleuchtung inspirieren, interessierten sich für Magisches und Okkultes und bauten die entsprechenden Funde in ihre Weltanschauungen ein. Das Interesse galt vorwiegend den alten Schriften, nur eine Handvoll Theosophen widmete sich auch der praktischen Seite von Meditation.9Zahlenmäßig waren diese Avantgardisten eine Randerscheinung, sie bereiteten jedoch den geistigen Boden für einen späteren Boom.

In den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts kamen die Hippies nach Indien, und das in Scharen. Das Land war für Westler war zwar weit entfernt, aber doch gut zugänglich: Die Kolonialisierung hatte ein gut funktionierendes Eisenbahnnetz und Englisch als Amtssprache hinterlassen; die Mönche waren es inzwischen gewohnt, auch mit Laien zu sprechen. Die 68er-Bewegung suchte nach Alternativen zu den verkrusteten, autoritären Strukturen, die ihre Elternhäuser geprägt hatten; der indische Subkontinent wurde ihr Selbsterfahrungslabor. Sich mit Buddhismus und Meditation zu beschäftigen, wurde hip: Die Beatles lernten Transzendentale Meditation, Osho gründete seinen berühmten Ashram in Puna, ein wahrer Exodus gen Osten setzte ein. Dieser war so deutlich, dass indische Bauern sich zu wundern begannen. Ob in Europa und den USA eine Dürre herrschte? – Ja, es war eine wohl eine Dürre. Aber eine von anderer, von spiritueller Art.10 Immer mehr dieser jungen Reisenden stießen auch auf die Angebote von S. N. Goenka. Seine Kurse hatten den Ruf, relativ unesoterisch zu sein, frei von Gebeten, Symbolen und Ritualen – das war besonders für Menschen mit akademischer Vorprägung attraktiv. Schon bald bildete sich eine ganze Community von vorwiegend amerikanischen Meditierenden, die im Umfeld des heutigen Lehrzentrums Dhammagiri, etwa 120 Kilometer von Mumbai, wohnten und arbeiteten und sich jahrelang in Meditation ausbildeten. Viele von ihnen kehrten später zurück in ihre Heimat und machten dort Karrieren, die es ihnen ermöglichten, Meditation in die Institutionen zu tragen. Einige wurden prominent: Die Philosophen Joseph Goldstein und Sharon Salzberg zum Beispiel sind heute bekannte Zen-Meditationslehrer, der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn entwickelte die MBSR-Methode, der Psychologe Daniel Goleman wurde in den 1990er-Jahren mit seinem Buch Emotionale Intelligenz weltbekannt – und das ist nur eine kleine, willkürliche Auswahl. 1975 wurde im US-Bundesstaat Massachusetts die Insight Meditation Society gegründet, das erste Meditationszentrum im Westen. Viele östliche Lehrer reisten in dieser Zeit durch die Welt, um zu unterrichten, so auch S. N. Goenka. Er steckte all seine Unternehmerfähigkeiten in seine Mission, leitete hunderte von Meditationskursen in Asien, Europa und den USA und schreckte nicht davor zurück, gemeinsam mit seiner Frau monatelang im Wohnmobil durch die USA zu touren.

Was heute ausgesprochen gut organisiert daherkommt, begann mit improvisierten Kursen in Zeltlagern und Jugendherbergen. Der erste zehntägige Vipassana-Kurs in Deutschland wurde 1983 in Eschwege bei Kassel durchgeführt. In den 1990er-Jahren fand die wachsende deutsche Vipassana-Gemeinde Heimat in Bad Herrenalb im Nordschwarzwald. Im Jahr 2002 wurde das Zentrum Dhamma Dvara im sächsischen Vogtland eingeweiht. Heute finden in diesem Zentrum und in angemieteten Herbergen und Seminarzentren deutschlandweit mehr als 30 Kurse pro Jahr statt, zählt man den gesamten deutschen Sprachraum sowie deutsche Kurse in Polen und Belgien mit, sind es über 50. Es sind Angebote, an denen niemand auch nur einen Cent verdient.

Viele östliche Schulen, die ihren Weg in den Westen fanden, machten sich von ihren ursprünglichen Lehrern schon bald unabhängig. Im Unterschied dazu hat die Linie nach S. N. Goenka das Erbe des Lehrers sorgfältig bewahrt. Die Tradition legt Wert darauf, Goenkas Didaktik nicht zu verändern. Noch immer werden in den Kursen Audio- und Videotapes abgespielt, die Goenka in den 1990er-Jahren zeigen. Der Aktualität tut dies bislang keinen Abbruch. Die Aufnahmen ermöglichen es, Kurse überall auf der Welt in gleicher Weise abhalten zu können. Die Rolle des Lehrers ist daher in dieser Tradition eine sehr bescheidene. Wer nach einem Guru sucht, wird hier enttäuscht. S. N. Goenka starb im Jahr 2013, er benannte keinen Nachfolger. Sein Erbe ist eine echte Erfolgsstory: Aus einer vergessenen Tradition machte er einen Exportschlager, eine zeitgemäße Laienbewegung, die jedes Jahr aufs Neue mehr Menschen erreicht und deren Leben sie positiv verändert.

1.3Meditation wirkt. Das Allheilmittel des 21. Jahrhunderts?

Auch im Westen hat das Phänomen Meditation in wenigen Jahren eine Entwicklung hingelegt, die ihresgleichen sucht. Noch vor wenigen Jahren eine Randerscheinung, die mit Räucherstäbchen und Guru-Hörigkeit assoziiert wurde, ist das Schlagwort »Meditation« heute eines, mit dem sich unterschiedlichste Produkte und Therapieangebote verkaufen lassen. Meditation, häufig »Achtsamkeit« genannt, wird vom Arzt verschrieben und ist aus Frauenzeitschriften, Manager-Ratgebern und App-Stores nicht mehr wegzudenken. Dasselbe gilt für die Forschung: Was Mitte der 1970er-Jahre mit einzelnen Studien begann, meist durchgeführt von Forschern, die selbst meditierten, hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem Boom ausgewachsen, der die verschiedensten Disziplinen erobert hat. Die Hirnforscher und Psychologen Richard J. Davidson und Daniel Goleman gehörten zu den ersten, die meditierende Probanden verkabelten und alles prüften, was sie finden konnten. Sie hatten – übrigens bei Vipassana-Kursen in Indien, geleitet von S. N. Goenka persönlich – das faszinierende Potenzial von Meditation am eigenen Leib erlebt und wollten den wissenschaftlichen Beweis erbringen, dass Meditation wirkt. In den frühen 1970ern gab es noch keine funktionellen Magnetresonanztomografien (fMRTs) und keine Elektroenzephalogramme (EEGs). Goleman untersuchte in seinen ersten Studien Herz- und Atemfrequenz sowie Schweißreaktionen der Probanden. Diese frühen Studien und ihre vielversprechenden Ergebnisse waren Ausgangspunkte für eine Vielzahl neuer Fragen und Pionierschritte einer Forschungsrichtung, die seit den 2000er-Jahren exponentiell wächst. Im Jahr 2020 erschienen allein im englischsprachigen Raum mehr als 10 000 Veröffentlichungen zum Thema.* Die Doktoranden von damals sind heute gefeierte Bestsellerautoren, ihr Forschungsfeld ist heute als »Kontemplative Neurowissenschaft« bekannt. Davidson wurde für seine Hirnscan-Experimente mit meditierenden Mönchen weltbekannt. Im Jahr 2006 zählte das Time Magazine11 ihn zu den 100 einflussreichsten Menschen der Erde.

Was bewirkt Meditation? – Jede Menge, suggerieren Medien und Onlinekurse, und immer genau das, was man gerade braucht. Meditation ist gut für und gegen alles, so die landläufige Botschaft. Der Dalai Lama, befragt nach dem Potenzial von Meditation für die Gesundheit, federte die übermäßige Erwartung mit dem für ihn typischen Humor allerdings doch ein wenig ab: »Wenn Meditation für alle Gesundheitsprobleme gleichermaßen gut wäre, dann hätte ich keine Schmerzen im Knie.«12

Wer genauer hinschaut, stellt schnell fest: Die Studienlage ist unübersichtlich, es mangelt an Vergleichbarkeit und Kontrollgruppen.13 Randomisierte Doppelblindstudien durchzuführen, also den Goldstandard naturwissenschaftlicher Forschung einzuhalten, ist in diesem Feld herausfordernd bis unmöglich. Häufig werden Studien zum Thema Meditation von Forschern durchgeführt, die selbst meditieren – ihnen kann man leicht vorwerfen, dass sie geneigt sind, zu den Ergebnissen zu kommen, die sie für richtig halten. In anderen Fällen haben nichtmeditierende Studienleiter so wenig Ahnung von der Materie, die sie untersuchen, dass sie nicht wirklich in der Lage sind, die Ergebnisse gewinnbringend auszuwerten. Die Studienteilnehmer repräsentieren in den meisten Fällen eine Minderheit: Sie sind überwiegend weiß, gut ausgebildet, ökonomisch abgesichert und stammen aus industrialisierten, demokratischen Kulturen.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass selbst die Koryphäen Goleman und Davidson im Jahr 2018 zu dem Schluss kamen: »Angesichts des Hypes um Meditation als gesundheitsförderndes Mittel waren wir überrascht, wie wenig wir eigentlich sicher sagen können.«14

Sicher ist, dass regelmäßige Meditation Struktur und Aktivität des Gehirns verändert, und das teilweise schon nach relativ kurzer Zeit. Meditation hat positive Effekte auf eine ganze Reihe körperlicher Symptome. Dieses Kapitel ist der Versuch, einen Überblick zu schaffen und zusammenzutragen, was derzeit gesichert scheint.

Meditation – ist das nicht MBSR? Ein Missverständnis

Die am besten erforschte Form der Meditation ist »Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion« (Mindfulness-Based Stress Reduction), bekannt unter dem Kürzel »MBSR«. Genau genommen handelt es sich bei dieser Meditationsform um eine Kombination mehrerer Meditations- oder Achtsamkeitstechniken, entwickelt vom US-Amerikaner Jon Kabat-Zinn in den späten 1970er-Jahren. Sein Ziel war es, Patienten mit unheilbaren oder chronischen Krankheiten dabei zu helfen, ihr Leiden an der Krankheit zu mindern. Die Methode kombiniert Elemente achtsamkeitsbasierter Techniken, die sich aus den Traditionen des Vipassana, Zen und Yoga speisen: Meditation auf den Atem, eine spezielle Art des Bodyscans sowie achtsamen Umgang mit Gefühlen und Gedanken.15 Kabat-Zinn entwickelte aus diesen Bestandteilen ein Acht-Wochen-Programm, das heute in Kliniken auf der ganzen Welt gelehrt wird. In Deutschland übernehmen seit einigen Jahren gesetzliche Krankenkassen einen Teil der Kurskosten – indiziert bei chronischen Schmerzzuständen, häufigen Infektionskrankheiten, Ängsten oder Panikattacken, Depressionen, Hauterkrankungen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Migräne, Magenproblemen und Burn-out. Selbst das US-Militär nutzt MBSR-Programme, um Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu unterstützen.

Studien zeigten, dass Teilnehmer nach acht Wochen MBSR-Training sich besser konzentrieren und Ablenkungen ausblenden können und dass sie körperliche Empfindungen besser wahrnehmen. Am deutlichsten ist die Wirkung auf das Stressempfinden: Nach dreißig Stunden Training, verteilt über acht Wochen, zeigt die Amygdala, ein Knotenpunkt in der Stressverarbeitung des Gehirns, geringere Aktivität.16 Dieser Fund macht MBSR für unsere Zeit besonders interessant. Denn »Stress« ist nicht nur ein individuell empfundenes Gefühl des Überwältigtseins in einer Welt zwischen Pandemie, Homeoffice, Klimawandel und Twitter-Account – selbst die WHO hat Stress zur »Epidemie des 21. Jahrhunderts« erklärt. Nicht umsonst haben Achtsamkeitstrainings Einzug in die Welt der Großkonzerne gehalten. Google zum Beispiel hat ein an MBSR orientiertes Programm aufgelegt und geht mit missionarischem Eifer vor, um es nicht nur im Unternehmen, sondern auch an Schulen weltweit zu verbreiten.

Ist das der vielbeschworene Siegeszug von Meditation? – Jein. Einerseits ist es wunderbar, dass durch die weite Verbreitung von MBSR Achtsamkeitstechniken in gesellschaftliche Schichten vordringen und dort Menschen erreichen, die noch vor wenigen Jahren sonst niemals dazu gefunden hätten. Gefängniskurse, Rehakliniken, Talkshows, Smartphone-Apps – der Zugang zu Meditation wird immer weniger elitär. Andererseits: Zwischen Heilung und Selbstoptimierung liegt ein schmaler, aber existenzieller Grat. In spirituellen Kreisen gibt es aus gutem Grunde die Befürchtung, dass etwas Wesentliches verloren geht, wenn Meditations- und Achtsamkeitstechniken zum Zwecke der Selbstoptimierung eingesetzt werden. Wenn stressgeplagte Individuen sich Zugang zu diesen alten Lehren erkaufen und sich dann ihrer bedienen, um sich für einen entfesselten Neoliberalismus fit zu machen – läuft dann etwas schief? Das Geschäft mit der Achtsamkeit brachte es, so das Time Magazine, im Jahr 2018 allein in den USA auf einen Umfang von 1,1 Milliarden Dollar.17

Die Vipassana-Tradition nach Goenka distanziert sich von MBSR. Sie legt Wert darauf, für das Vermitteln der Technik einen Raum zu schaffen, der frei von den Gesetzen der Marktwirtschaft und der hiermit einhergehenden Verwertungslogik ist, wie wir in Kapitel 3.2 sehen werden. Vipassana ist damit etwas grundlegend anderes als eine Technik oder therapeutische Dienstleistung. Es ist ein Geschenk, das andere einem gewähren, es wird aus einer Haltung des Mitgefühls gegeben und führt im Idealfall dazu, dass in den Beschenkten der Wunsch entsteht, ihrerseits dieses Geschenk weitergeben zu wollen. Vipassana ist nicht denkbar ohne Dankbarkeit und Freigiebigkeit.

(Vipassana-)Meditation und MBSR gleichzusetzen, ist also gleich aus zwei Gründen problematisch. Einerseits stehen in der Praxis unterschiedliche Werte hinter den beiden Techniken. Andererseits ignoriert die Forschung zu MBSR meist den Umstand, dass diese Methode aus einem Mix an Techniken besteht, deren einzelne Bestandteile in ihren Effekten bei der Auswertung durcheinandergeraten. Wer sich für die Effekte von Vipassana interessiert, kann sich an den Ergebnissen dennoch zumindest mit Blick auf die psychophysiologischen Effekte ein wenig orientieren: MBSR beinhaltet zwei wesentliche Aspekte, die auch in die Vipassana-Meditation einfließen: Atemmeditation und Bodyscan.

Die Studienlage, die sich ausschließlich mit Vipassana und den Effekten speziell dieser Meditationstechnik beschäftigt, ist bedauerlicherweise sehr dünn. Interessant ist eine Längsstudie, die die Wirkung eines Zehntageskurses untersucht, der in einem US-amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis durchgeführt wurde.18 Im Hinblick auf emotionale Intelligenz, Impulskontrolle und ein besseres Selbstgefühl der Teilnehmer wurden hier erstaunliche Ergebnisse erzielt. Leider ist die Studie – stellvertretend für viele andere – sehr klein und ohne Kontrollgruppe, es fehlt schlicht an Geldern und Möglichkeiten.

Von Äpfeln und Birnen. Meditation ist nicht gleich Meditation

Bis vor wenigen Jahren hat die kontemplative Forschung kaum berücksichtigt, welche Methoden auf ihre Effekte hin untersucht wurden. Im Grunde ist das absurd. Nehmen wir das Forschungsfeld »Sport«: Niemand käme auf die Idee, die Trainingseffekte von Fußball mit denen von Eiskunstlauf oder Boxen zu vergleichen. In Sachen Meditation wurden lange die unterschiedlichsten Techniken über einen Kamm geschoren, ohne sich bewusst zu machen, dass es wenig aussagekräftig ist, Studien zu Zen mit solchen zu Yoga, zu geführten Meditationen oder zu Achtsamkeitstechniken auf den Atem zu vergleichen. Über Jahrzehnte hinweg wurden (und werden) also Äpfel mit Birnen verglichen und daraus Schlüsse gezogen. Was Meditierende seit Jahrtausenden wissen, musste die Forschung erst entdecken: Aufmerksamkeit und mentale Aktivität haben viele Formen und Aspekte. Folglich wirken sich unterschiedliche Meditationsformen auch in unterschiedlicher Weise aus – nicht nur auf den Geist, sondern auch auf den Körper. Der Trainingseffekt ist schlicht ein anderer. Eigentlich ist das eine Binse, es hat schließlich noch niemand Klettern geübt und dadurch Fahrradfahren gelernt.

Erst in neuerer Zeit rückt eine Frage in den Vordergrund, die sich Menschen, die selbst meditieren, vermutlich schon lange stellen oder auch längst selbst beantwortet haben: Inwiefern unterscheiden sich die unterschiedlichen Formen und Techniken von Meditation in ihrer Wirkung? Welchen »Trainingsplan« sollte ich mir aufstellen, wenn ich was erreichen möchte? Goleman und Davidson sind sich sicher: »Jede Variation von Meditation hat ihr eigenes neurologisches Profil.«19

Tania Singer, bis 2018 Leiterin der Forschungsgruppe »Soziale Neurowissenschaften« am Leipziger Max-Planck-Institut, hat sich dieser Frage zugewandt. Sie untersucht zum Beispiel seit 2013 in einer groß angelegten Studie, wie sich speziell Mettā-Meditation, die als Teil von Vipassana gelehrt wird, auf Körper und Geist auswirkt. Dazu mehr in Kapitel 3.2. Es ist eine großangelegte Langzeitstudie über die Effekte mentalen Trainings auf Geist, Gehirn, Verhalten und Gesundheit, eine Suche nach der »Signatur des Mitgefühls«.20 Singer und ihr Team machten dabei eine erstaunliche Entdeckung: Stress, der durch Empathie, also durch Mitfühlen von Angst und Schmerz entsteht, kann durch liebevolles Mitgefühl überlagert werden – das ist trainierbar. Diese Ergebnisse sind hochinteressant für Fragen der Burn-out-Behandlung und Resilienzforschung.

»Gut fürs Gehirn«. Positive Effekte von Meditation

Trotz aller oben genannten Einschränkungen, was die wissenschaftliche Qualität und Übertragbarkeit mancher Studien angeht: Die Empirie spricht für sich. Die Liste der Probleme und Zipperlein, die den typischen Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts plagen und bei denen Meditation von Nutzen sein kann, ist lang. Wir orientieren uns hier an Goleman und Davidson, den beiden Silberrücken der Meditationsforschung, die den Versuch unternommen haben, die Ergebnisse aus fünf Forschungsjahrzehnten zu überprüfen und zu gewichten.

Beginnen wir mit unserem Gehirn und damit, wie wir es nutzen wollen. Die Geißel des digitalen Zeitalters heißt »Multitasking«. Konzentration, voller Fokus auf eine Aufgabe, wird mehr und mehr ein Luxusgut; permanente Ablenkung durch Push-Nachrichten, eintrudelnde E-Mails und Handy-Anrufe sind die Realität. Unser Gehirn aber kann gar nicht »multitasken«, es ist schlicht nicht in der Lage, parallel zwei Prozesse durchführen. Stattdessen schaltet es schnell zwischen verschiedenen Tätigkeiten hin und her. Nach jedem Umschalten ist die Konzentration stark herabgesetzt, oft dauert es mehrere Minuten, bis sie wieder auf dem Level ankommt, wo wir unterbrochen wurden. Das Dumme daran: Dieser Effekt ist selbstverstärkend. Je mehr wir »multitasken«, desto ablenkbarer werden wir. Das geht einher mit schlechterer Konzentration – und, Obacht: mit weniger Empathie. Notorische »Multitasker« »verflachen« regelrecht, stumpfen ab.21 Auch ein schlechtes Gedächtnis ist die Folge – denn was wir nicht aufmerksam wahrnehmen, wird als Datensatz im Gehirn gar nicht erst registriert. Die gute Nachricht: Bereits mit wenig Aufwand lassen sich diese Schäden wiedergutmachen. Schon nach acht Minuten Achtsamkeitstraining wandert der Geist weniger, sind Probanden weniger ablenkbar. Nach zehn Stunden Training über zwei Wochen hinweg verbessert sich nicht nur die Konzentration, sondern auch das Kurzzeitgedächtnis.22