Mittendrin - aussortiert ? - Yvonne Simmert - E-Book

Mittendrin - aussortiert ? E-Book

Yvonne Simmert

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Beschreibung

Unser Kind ist schwerhörig! Na und? Trotzdem wird es später einmal ein selbständiges und vor allem selbstbestimmtes Leben führen können. Zu dieser Erkenntnis sind wir gekommen, nachdem wir den ersten Schock über die Diagnose „an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit“, die wir für unser eben erst geborenes zweites Kind erhielten, überstanden hatten. Dass es mit der Selbstbestimmung nicht so einfach ist, wenn man ein Kind mit einer Behinderung hat, erfuhren wir recht schnell. Plötzlich waren es andere, die nur noch wissen wollten, was für unser Kind gut sein sollte. Insbesondere als unser Sohn ins Schulalter kam, schienen wir alle Rechte über sein Wohl entscheiden zu dürfen, endgültig verloren zu haben – es wurde von Ämtern und Fachleuten für ihn bestimmt, weil natürlich nur sie seine Lage am besten einschätzen könnten. Da wir Eltern dies anders sehen und uns unermüdlich für das eingesetzt haben, was wir für das Beste für unseren Sohn empfanden, entwickelte sich seine Grundschulzeit für uns vom Schulalltag zum Alltagskrimi. Warum habe ich unsere Geschichte aufgeschrieben? Zum einen war es die Summe an unglaublichen Begebenheiten und Vorfällen, die am Ende nahezu jeden Schultag prägten. Zum anderen, weil wir nicht allein waren, sondern Menschen hatten, die an unseren Weg, besonders aber an unser Kind geglaubt haben. Wir blicken auf eine der bewegendsten Zeiten als Familie zurück, aber dennoch eine, deren Herausforderungen wir immer wieder annehmen würden.

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Auch aus Steinen,

die einem in den Weg gelegt werden,

kann man Schönes bauen.

________________________________

J. W. von Goethe

Inhaltsverzeichnis

________________________________________________________

Vorwort: Alles hat seine Zeit

7 ½ Jahre vorher

Wie sollte es nun weitergehen?

Alltag mit Hörgeräten

Gemeinsam stark für unsere Kinder

Mit Hörgeräten in einem normalen Kindergarten?

Rafaels Voraussetzungen für ein Cochlea Implantat

Rafaels erste CI-Operation

Hören mit CI

Es muss sich etwas ändern und zwar schnell

Geteiltes Leid ist halbes Leid – geteilte Freude ist doppelte Freude

Sechs Wochen Sprachheilklinik

Rafael bekommt sein zweites CI

Die Erstanpassung seines zweiten CIs und die Reha-Jahre

Rafaels Kindergartenzeit

Die Entscheidung Regelschule oder Förderschule

„Wenn ich groß bin, brauche ich meine Ohren nicht mehr“

Die Entscheidung, Rafael und uns Zeit zu geben

Feststellung des Sonderpädagog. Förderbedarfs – zum Zweiten

Ein Integrationshelfer für die 1. Klasse

Rafaels Start in der Grundschule in unserem Ort

Schulalltag mit Hörschädigung

Die 1. Klasse ist geschafft

Begegnungstag der Selbsthilfegruppe

Pferdefreizeit mit Schwerpunkt Heilpädagogisches Reiten

Das erste Halbjahr der 2. Klasse

Das Februargespräch

Aus hoffnungslosem Optimismus wird optimistischer Realismus

Unser Integrationshelfer möchte sich beruflich verändern

Was nicht passt, muss weg?

Es ist nicht wichtig Recht zu haben, sondern Recht zu bekommen

Wie ein helles Licht in diesen Monaten - Rafaels Erstkommunion

Inklusion – auch in Sachsen möglich?

Rafael soll später seinen Weg gehen können

Das Gespräch mit der Bildungsagentur

Leben – Einfach mal wieder (einen Tag) genießen

Unser Integrationshelfer geht

Meine Zeit als Integrationshelferin

Neues Schuljahr – neue Chance?

Sozialamt und Gehörlosenschule

Wie war es in der Schule?

7 Jahre Reha nach CI-Anpassung sollten zu Ende gehen

Gebärdensprache für Rafael?

Erster Begegnungstag mit Gebärdendolmetschern

Kompetenztest Deutsch

Ein weiterer Rückschlag

Mit Hoffnung in die Zukunft

Beginn Klasse 4

Bürokratie

Fortführung der Integration – Teil 1

Rafael ist für eine Woche Fünftklässler

Ein Déjà-vu

Diskriminiert und scheinbar entmündigt

Weihnachten – das sind nicht die Geschenke, sondern die kleinen und großen Wunder

Fortführung der Integration – Teil 2

Wie wird es weitergehen?

Schlusswort

Danksagung

Vorwort

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Alles hat seine Zeit

„Ein jegliches hat seine Zeit,

und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:

[…]

weinen hat seine Zeit

lachen hat seine Zeit

klagen hat seine Zeit

tanzen hat seine Zeit

[…]

herzen hat seine Zeit

aufhören zu herzen hat seine Zeit

suchen hat seine Zeit

verlieren hat seine Zeit

behalten hat seine Zeit

wegwerfen hat seine Zeit

[…]

schweigen hat seine Zeit

reden hat seine Zeit,

lieben hat seine Zeit,

hassen hat seine Zeit,

Streit hat seine Zeit,

Friede hat seine Zeit.

[…]“

Prediger 3, 1-8

(Text nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung

von 1984)

Alles hat seine Zeit …

Unser zweites Kind ist schwerhörig in eine normalhörende Familie geboren worden. Wie sieht das Leben eines Schwerhörigen aus? Was wird er später einmal können und wo wird er an seine Grenzen stoßen? Was können oder müssen wir für ihn tun? Und wann? Tausende Fragen, die uns gerade in den ersten Monaten und Jahren beschäftigten. Wir kannten damals niemanden mit Hörproblemen. Wen konnten wir also fragen? In dieser Zeit habe ich viel gelesen, am meisten geholfen haben autobiografische Bücher. In den darin beschriebenen Erfahrungen, Ängsten und Freuden der Betroffenen haben wir unsere eigenen Gefühle wiedergefunden. Damit wurden zwar teilweise auch unsere Befürchtungen bestätigt, aber sie gaben gleichzeitig eine bestimmte Gewissheit, die uns auf das vorbereitet haben, was auf uns zukommen sollte. Sie ließen Wege erkennen und machten Ziele sichtbar. Das wiederum hat uns Hoffnung und Kraft gegeben.

Deshalb war der Gedanke selbst, ein Buch zu schreiben und auch unsere Erfahrungen schriftlich festzuhalten, schon vor einigen Jahren geboren. Damals war die Motivation die Erkenntnis darüber, dass jedes Jahr viele schwerhörige Kinder zur Welt kommen und das Unverständnis darüber, dass scheinbar jeder gerade in den Anfängen seinen Weg allein suchen und gehen muss. Dabei wäre es soviel einfacher, wenn man von und mit den Erfahrungen anderer die Herausforderung in Angriff nehmen könnte. Ich wollte Eltern, die die Diagnose erhalten haben, Mut machen. Wie so oft im Leben kam es anders. Ich bekam ein lukratives Jobangebot und bin eher wieder arbeiten gegangen als gedacht. Da blieb keine Zeit mehr für die Verwirklichung des Gedanken.

Nun, viele Jahre später, wurde ich innerhalb kürzester Zeit gleich dreimal gefragt, ob ich schon einmal daran gedacht hätte, über unsere Erlebnisse in einem Buch zu berichten. Ja, hatte ich und vielleicht war gerade jetzt der richtige Moment dazu, den Gedanken wieder aufzugreifen? Da wir uns in den letzten Jahren bei der Durchsetzung der Interessen unseres Sohnes nicht immer Freunde gemacht haben, beschlichen mich aber gleichzeitig Zweifel. Die Befürchtung, dass sich vielleicht einige Personen durch das Buch angegriffen fühlen könnten, drängte sich auf. Genau das wollte ich nicht! Das ist auch der Grund, warum wir in dem Buch alles weitestgehend anonymisiert, letztendlich auf jegliche Fotos verzichtet und auch die Namen unserer Kinder geändert haben. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass die folgenden Darstellungen die subjektiven Betrachtungen von uns Eltern sind. Sie stellen keine Wertungen der Arbeit der Einzelnen dar! Wir achten die Meinungen aller Beteiligten, auch wenn diese sich oft gar nicht oder nur minimal mit unserer Einstellung deckten und wir daraus unsere entsprechenden Konsequenzen gezogen haben.

Um Nachsicht bitte ich bei der Beschreibung von technischen Details. Ich bin mir ziemlich sicher, dort als Laie nicht immer die Formulierungen getroffen zu haben, die sich der Fachmann gewünscht hätte. Ich bin kein Experte – und möchte diesbezüglich auch keiner sein – sondern gebe das Wissen nur so an, wie wir es in Bezug auf unser Kind verstanden haben. Deshalb betrachten Sie diese Beschreibungen bitte lediglich als laienhafte Hintergrundinformationen.

Morag Clark hat einmal gesagt: „A deaf child has special needs, but these are not for something different, but for more of normality“ – Hörgeschädigte Kinder haben besondere Bedürfnisse, sie brauchen aber nicht etwas Spezielles, sondern mehr vom Normalen. Diese Normalität wollten wir auch für Rafael. Was für uns selbstverständlich ist, war und ist für andere undenkbar. Wir wollten, dass er seine Kindheit im Kindergarten und in der Grundschule im Heimatort verbringt, lernt sich in die hörende Welt zu integrieren und Hörende gleichzeitig die Chance bekommen zu erfahren mit Schwerhörigen umzugehen. Andere Personen waren der Meinung, dass Rafaels beste Förderung darin bestand, ihn von den normalen Kindern zu separieren. Einerseits, weil er dort nicht genug gefördert wäre, andererseits weil er die Normalen behindern könnte. Diese beiden Welten prallten im Alltag immer wieder aufeinander. So stellte die folgende Situation schon in Rafaels noch jungem Leben einen großen Erfolg für uns dar: „Diese Zuckertüte ist für Rafael“, sagt Paul, als er seinem kleinen Bruder die Zuckertüte auf der Bühne überreicht und ihn somit als Schüler der ersten Klasse in unserem Dorf willkommen heißt. Wer von uns allen in diesem Moment am glücklichsten ist, lässt sich kaum sagen. Rafael strahlt von seiner Zuckertüte zu seinem großen Bruder und wieder zurück. Eine Zuckertüte mit einem richtigen kleinen Traktor drauf! So wie er es sich gewünscht hatte. Und Paul? Er ist unendlich erleichtert, dass er in dem Programm für die Schulanfänger durch alle Textpassagen erfolgreich hindurchgekommen ist, denn die Aufregung bei den Viertklässlern war groß. Was nur wir Eltern wissen, gleichzeitig erfüllt sich hier auch ein Herzenswunsch für ihn. Er wollte so gern, dass Rafael auch in „seine“ Schule geht. Paul wusste, wie viel Spaß Rafael mit seinen Freunden immer im Kindergarten hatte und wünschte ihm, dass sie weiterhin zusammen spielen und lernen können. Und wir Eltern? Meine Hand ruht in der meines Mannes und er drückt sie ganz fest. Nach allem, was die letzten Jahre, besonders aber die letzten Monate hinter uns lag, war es alles andere als selbstverständlich, dass wir genau den Moment jetzt miterleben durften. Die Erleichterung war groß: Rafael ist mitten unter seinen Freunden, er ist einer von ihnen.

Es war nicht leicht bis hierher und es wird gewiss in Zukunft nicht leichter werden. Aber er ist ein Kämpfer und besitzt eine unglaubliche Lebensfreude. Gemeinsam haben wir schon viele schwere Momente in seinem Leben gemeistert.

Worte können nicht ausdrücken die Freude über neues Leben. (Hermann Hesse)

________________________________________________________

7 ½ Jahre vorher

Es war ein sommerlicher Frühlingstag, an dem es unser zweites Kind plötzlich eilig hatte, das Licht der Welt zu erblicken. Ein unbeschreiblicher Augenblick, wenn der erste Schrei des eigenen Kindes in die Stille dringt. Die Zeit scheint still zu stehen, während wir dieses kleine Bündel Leben betrachten: Die Augen noch zu, die kleine Nase, der Mund, aus dem das zarte Schreien dringt, erste zaghafte Bewegungen, fünf Finger, fünf Zehen, alles so vollkommen – ein kleines Wunder namens Rafael.

Am nächsten Tag erfuhren wir, dass seit Kurzem das Neugeborenen-Screening an einigen Klinken angeboten wird. Unsere gehörte dazu und so wurde bei Rafael ein Hörtest, der sogenannte OAE-Test, durchgeführt. Ergebnis: negativ. Was bedeutete das? Wir sollten uns keine Sorgen machen. Eine andere Schwester wurde hinzugezogen, die schon etwas mehr Erfahrung im Umgang mit dem noch neuen Verfahren hatte. Ergebnis: negativ. Und jetzt? Das Gerät sollte über Nacht nochmals geladen und der Test am kommenden Tag erneut durchgeführt werden. Beunruhigte uns das? Nein. Warum eigentlich nicht? Wir waren überglücklich, dass die Schwangerschaft diesmal ohne vorzeitige Wehen, wochenlanges Liegen und andere Komplikationen abgelaufen war. Außerdem hatten wir so gehofft, dass unserem zweiten Kind nicht per Kaiserschnitt auf die Welt geholfen werden musste und auch dieser Wunsch hatte sich erfüllt. Mit etwas Abstand betrachtet war es aber eher die damalige Erleichterung, dass wir ein scheinbar gesundes Kind bekommen hatten. Dieses Selbstverständnis wurde uns nämlich im fünften Schwangerschaftsmonat jäh genommen: Es war damals zwei Wochen vor Weihnachten. Routinemäßig stand die Feindiagnostik im Kalender, die wir gemeinsam wahrnahmen. Im Vorfeld erklärte uns die Ärztin, dass sie uns darauf aufmerksam machen müsse, dass diese Untersuchung dazu dient, Krankheiten bei dem Kind vorzeitig zu erkennen. Überrascht sahen wir uns an. Sind wir nicht hier, um uns sozusagen bestätigen zu lassen, dass unser Kind gesund ist? Unter der neuen Betrachtung wollte ich von der Untersuchung Abstand nehmen. Mit den Worten, dass wir sie bei unserem großen Kind auch haben durchführen lassen und bei ihm schließlich alles in Ordnung war, hat mich mein Mann überzeugt. Eine Stunde später verließen wir verunsichert die Klinik. Bei der Untersuchung hatte sich eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit gezeigt, dass unser Kind mit dem Down-Syndrom geboren werden könnte. Auch wenn unser Sohn nun in dieser Hinsicht gesund auf die Welt gekommen war, hatten wir doch in der verbliebenen Zeit der Schwangerschaft gelernt, die Ruhe zu bewahren und optimistisch nach vorn zu schauen. Nicht zuletzt, weil wir genau das unserem Paul schuldig waren – sich unbeschwert und gemeinsam auf das Geschwisterchen freuen, was da in Mamas Bauch wuchs.

Einen Tag später wurde der OAE-Test erneut wiederholt. Negativ. Auch hierfür wurden mögliche Ursachen genannt, wie z. B. noch verbliebenes Fruchtwasser in den Gehörgängen. Deshalb wurden wir zur Wiedervorstellung in drei Wochen in die Klinik gebeten.

Die Geburt unseres ersten Kindes lag lediglich zwei Jahre zurück. Deshalb waren wir uns relativ schnell sicher, dass die Tests die Wahrheit sprachen und Rafael wirklich nicht (richtig) hörte. Während wir bei Paul förmlich durch die Räume schwebten, um ihn ja nicht zu erschrecken oder ihn zu wecken, merkte ich, dass wir uns beide bei Rafael anders verhielten. Erst waren wir ähnlich behutsam leise. Schnell ließ diese Achtsamkeit nach, und wir verursachten zunehmend Geräusche in einer Lautstärke, die für ein Umfeld mit einem Neugeborenen eher untypisch sind. Das steigerte sich, bis im Nebenraum „versehentlich“ etwas laut krachte oder die Tür des Zimmers plauzte. Keine Reaktion bei Rafael. Nicht einmal, als wir eines Tages den Fernseher erst langsam immer lauter machten, stumm schalteten und dann mit voller Lautstärke wieder zurückholten. Rafael schlummerte selig weiter.

Die Gewissheit wuchs und mit ihr drängten sich mir immer wieder die Worte „Sie hört Musik nur, wenn sie laut ist“ in meinen Kopf. Woher? „… Musik, nur wenn sie laut ist …“ Da fiel es mir wieder ein: Ein Song von Herbert Grönemeyer. Dazu passte der Artikel, den ich vor vielen Jahren in einer Jugendzeitschrift über ein junges Mädchen gelesen hatte und der nun vor meinem inneren Auge wieder Gestalt annahm. Darin ging es um ein gehörloses Mädchen, dass Musik nur über die Vibration der Bässe wahrnehmen konnte. Ihre Lieblingsband waren die New Kids On The Block. Wie konnte sie, ohne die Musik zu hören, sagen, welche Songs ihr am besten gefielen? Ich erinnerte mich, wie sehr mich das damals beeindruckt hatte. Immer noch die Melodie im Kopf suchte ich nach dem Text von Herbert Grönemeyers Lied „Musik, nur wenn sie laut ist“ heraus:

Sie sitzt den ganzen Tag auf ihrer Fensterbank

lässt ihre Beine baumeln zur Musik.

Der Lärm aus ihrem Zimmer macht alle Nachbarn krank,

sie ist beseelt, lächelt vergnügt.

Sie weiß nicht, dass der Schnee lautlos auf die Erde fällt,

merkt nichts vom Klopfen an der Wand.

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist,

das ist alles, was sie hört,

sie mag Musik nur, wenn sie laut ist,

wenn sie ihr in den Magen fährt.

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist,

wenn der Boden unter den Füßen bebt,

dann vergisst sie, dass sie taub ist.

Der Mann ihrer Träume muss ein Bassmann sein

das Kitzeln im Bauch macht sie verrückt,

ihr Mund scheint vor lauter Glück still zu schrei'n

ihr Blick ist der Welt entrückt

ihre Hände wissen nicht, mit wem sie reden sollen

es ist niemand da, der mit ihr spricht.

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist,

das ist alles was sie hört,

sie mag Musik nur, wenn sie laut ist,

wenn sie ihr in den Magen fährt.

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist,

wenn der Boden unter den Füßen bebt,

dann vergisst sie, dass sie taub ist.

(Herbert Grönemeyer)

Glück ist es, wenn sich das, was du denkst, sagst und tust, in Harmonie befindet. (Mahatma Gandhi)

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Wie sollte es nun weitergehen?

„… dann vergisst sie, dass sie taub ist…“

Vergessen, dass er taub ist? Nein, das ging nicht. Immer wieder kreisten die Gedanken. Als wir den erneuten Termin in der Klinik hatten, wurde das Ergebnis, was wir erwartet hatten, bestätigt. Eigentlich war es uns klar, dass nichts anderes herauskommen würde, aber die Hoffnung war trotzdem geblieben. Als ich kurz danach bei einer Freundin ankam, musste ich nichts mehr sagen. Dazu kannte sie mich zu gut. Sie nahm mich in den Arm und ihre Worte „Ach komm, alles wird gut!“ sollten Trost sein und Hoffnung geben. In mir lösten sie aber eher etwas anderes aus. Alles wird gut? Was sollte hier gut werden? Unser Kind hört nicht! Er kann uns nicht verstehen! Und wir? Werden wir ihn je verstehen? Was bedeutet es für ihn? Für unsere Familie? Gebärden? Wer kann das schon. Wir können es lernen, aber was ist mit der ganzen Familie, den Freunden? Sie können nicht alle die Gebärden lernen. Rafael wäre perspektivisch isoliert in seinem eigenen Umfeld.

„Alles wird gut.“ Die Worte verfolgten mich genauso wie die vielen Fragen zur Zukunft. Was ist denn eigentlich „gut“ und was brauchen wir um „glücklich“ zu sein? Wenn wir ehrlich sind, ist das gar nicht so viel. Wir hatten uns, unsere kleine Familie und das war doch schon viel wert. Irgendwann in den ersten Wochen beschlossen wir, nicht mehr über die möglichen Wenn´s und Aber nachzudenken, sondern hoffnungsvoll nach vorn zu schauen und Schritt für Schritt vorwärts zu gehen.

Viel Zeit zum Überlegen blieb in den folgenden Wochen ohnehin nicht, weil ein Termin den nächsten jagte. Etwas befremdlich war dabei, dass bei der Vielzahl der Untersuchungen auch solche dazugehörten, die wir nicht durchführen lassen wollten. Zum Beispiel einen Genetik-Test. Wir haben uns dessen Notwendigkeit erklären lassen. Es ging lediglich darum zu erfahren, warum Rafael schwerhörig ist. Kann sich diese Erkenntnis auf die Therapie auswirken? Nein, wir würden nur vielleicht erfahren, warum es bei ihm so ist und wie hoch die Wahrscheinlichkeit bei weiteren Kindern von uns wäre, dass auch sie schwerhörig sein könnten. Dass wir uns auf dieser Grundlage gegen diesen Test entschieden haben, sorgte gerade bei der Ärztin aus der Genetik für völliges Unverständnis. Unsere Erklärung, dass Rafael jetzt schon mit seinen wenigen Wochen genug Untersuchungen durchlebt hatte, wir ihm nicht noch mehr zumuten wollten, änderte daran ebenso wenig etwas wie unser Argument, dass das Ergebnis ihm für die weitere Behandlung nichts nützt. Ungläubig sagte sie, dass wir es doch aber wissen müssen, warum Rafael nichts hört und wie es bei weiteren Kindern bei uns wäre oder auch für Rafael später, wenn er eigene Kinder haben möchte. Müssen wir das? Warum? Rafael ist schwerhörig - okay. Ein geklärtes Warum hilft weder ihm noch uns. Konzentrieren wir uns lieber auf die wichtigen Dinge. Unsere Entscheidung, weitere Kinder zu bekommen, würde dieser Test auch nicht beeinflussen. Erstens rechnet er nur Wahrscheinlichkeiten aus und zweitens sortieren wir ein Kind nicht wegen einer möglichen Behinderung aus. Schließlich könnte es auch z. B. mit einem Herzfehler auf die Welt kommen oder gar gesund sein und später einen Unfall mit Folgeschäden haben. Was Rafaels eigenen Kinderwunsch betrifft, so soll er als erwachsener Mensch selbst entscheiden dürfen, ob seine Gene seine Entscheidungen beeinflussen sollen. Falls ja, kann er die Tests, die künftig sicher noch genauer und aussagekräftiger sind, immer noch durchführen lassen. Die Ärztin hat uns nicht verstanden.

Etwas tun sollen oder müssen, was uns völlig widerstrebte? Es war neu für uns, dass uns andere nicht nur erklären wollten, was für unser Kind gut ist und was nicht, sondern es auch noch entscheiden wollten. Eigenartig fanden wir es damals. Heute wissen wir, dass oft Menschen, die das Kind mit der Behinderung nicht kennen, meinen entscheiden zu können, was das einzig Richtig für es ist.

Es kam der Tag, an dem wir die Ergebnisse aller Untersuchungen, die mittlerweile an der Universitätsklinik durchgeführt wurden, erfahren sollten. Angespannt warteten wir auf die Ärztin. Leise flüsterte mein Mann in den Raum: „Kann sie jetzt nicht einfach reinkommen und sagen, dass alles in Ordnung ist?“ Ja, das wäre schön! Aber das tat sie nicht. Im Gegenteil. Kurz und knapp bekamen wir den tatsächlichen Hörverlust unseres Kindes mitgeteilt, die Adressen der Frühförderung für Schwerhörige und von drei Pädakustikern sowie einen Termin für die Sprechstunde in der Uniklinik, die ab jetzt aller halben Jahre für uns stattfinden sollte. Das war alles? Ja. Zwar waren wir froh, nun endlich etwas Gewissheit zu haben, um handeln zu können und trotzdem fühlten wir uns in diesem Moment völlig allein gelassen mit unseren Sorgen um unser Kind.

Wir entschieden uns schließlich für einen der angebotenen Akustiker, meldeten Rafael bei der Frühförderung an und rasch war unser Terminkalender gut gefüllt.

Beim Akustiker erhielten wir als erstes eine Broschüre, in der auch auf die Grenzen der Technik und die Möglichkeit der Gebärden hingewiesen wurde. Mein Magen verkrampfte sich wieder einmal, als ich unser Kind vor meinem inneren Auge einsam und allein sitzen sah, weil keiner mit ihm gebärden konnte. Umso glücklicher waren wir, als Rafael mit seinen Hörgeräten, die er mit knapp vier Monaten bekam, gut zurechtzukommen schien. Er schaute neugierig auf alles, was er hörte und war auch plötzlich mit normal zuklappenden Türen nicht mehr einverstanden. Mit strahlenden, weit aufgerissenen Augen staunte er über Paul, der natürlich auch merkte, dass Rafael jetzt ganz anders auf ihn reagierte und lieferte nun für seinen Bruder begeistert eine Show nach der anderen ab. Ich selbst genoss es zum Beispiel, wie Rafael nach und nach lernte, dass mit „Rafael“ er selbst gemeint ist, wie auch er scheinbar mehr Spaß an allem hatte. Bis dahin war er ein sehr ruhiges Kind. Solange er seine Umgebung nur sehen konnte, war er zufrieden. Lautstark hatte er bis dahin im Kinder- oder Stubenwagen protestiert, wenn er uns nicht mehr sah und damit den Kontakt zu uns verloren hatte. Denn Geräusche, die ihm beruhigend vermitteln konnten, dass wir noch in seiner Nähe sind, hatte er nicht gehört. Auch das änderte sich mit den Hörgeräten und diesbezüglich entspannte sich unser Alltag zusehends.

Es war eine Freude zu erleben, wie Rafael seine neue Welt entdeckte. Mittlerweile war er auch so alt, dass er weniger schlief. In Pauls Augen trotzdem oft noch zu lange. So manches Mal habe ich ihn dabei ertappt, wie er neben seinem schlafenden Bruder stand, um zu schauen, ob er wirklich noch schläft. Nach der eingehenden Kontrolle von Paul war das dann natürlich nicht mehr der Fall.

Nun war ich mir auch ziemlich sicher, dass Rafael schon vor der Geburt nichts gehört hat. War ich in der Schwangerschaft noch der Meinung, dass da ein ausgeglichenes Kind heranwächst, das sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt, erkannte ich jetzt, dass er auf Geräusche und Stimmen gar nicht reagieren konnte, weil er sie nicht vernommen hatte. Aber das war Vergangenheit, jetzt begann sein neues Leben – sein Leben mit Ohren!

Heute ist immer der Tag, an dem die Zukunft beginnt. (Hans Kudszus)

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Alltag mit Hörgeräten

Nach diesem ersten sehr aufregenden Halbjahr in Rafaels Leben kehrte etwas Ruhe in den Alltag ein. Natürlich stand in den letzten Monaten die Sorge und Ungewissheit öfters im Vordergrund. In dieser Zeit haben wir auch erfahren, wer unsere wahren Freunde waren. Von ihnen haben wir Verständnis erfahren, sie haben uns zugehört und mit uns gehofft.

Leider haben wir auch andere Erlebnisse zu verarbeiten gehabt. Selbst innerhalb der Familie mussten wir lernen, mit Sätzen wie „Das Kind hört doch, guck, er hat reagiert“ oder „Jetzt übertreibt mal nicht, das wächst sich schon noch aus“ umzugehen. Am bittersten waren jedoch Äußerungen wie „Ihr wollt doch nur Aufmerksamkeit“. Somit galt es nicht nur mit der Situation an sich klarzukommen, die Balance zwischen Sorge um das eine Kind und der Lebensfreude mit der Familie zu finden, sondern solchen negativen Äußerungen gegenüber möglichst gelassen entgegenzutreten.

Mit Rafaels „neuen Ohren“ begann die nächste Herausforderung. Anfangs mit bloßer Freude, zunehmend aber mit einem gewissen Druck beobachtete ich, wie er hörte, reagierte, was er versuchte zu imitieren … Ich musste aufpassen, uns nicht die Leichtigkeit und den Spaß am Hören zu nehmen. Übrigens eine Herausforderung, die uns bis heute und auch sicher noch in Zukunft begleiten wird, denn Rafael wurde und wird immer daran gemessen, was er kann. Einfach als Kind gesehen zu werden, als Individuum mit seinen ganz persönlichen Stärken und Schwächen – dieses Recht wurde ihm scheinbar mit der Diagnose aberkannt. Seine Leistungen werden am Niveau Normalhörender gemessen. Eine Erfahrung, die uns auch immer wieder andere Eltern bestätigen: unsere hörgeschädigten Kinder stehen dadurch ihr Leben lang zusätzlich unter einem enormen Druck, um den Anforderungen und Erwartungen gerecht werden zu können.

Damals waren es die wöchentlichen Termine in der Frühförderung für Schwerhörige, die mich aus genau dem Grund belastet haben, dass Rafael und damit auch uns sozusagen die Luft für eine spielerische Entwicklung genommen wurde. Zumindest empfanden wir es damals so. Obwohl Rafael eines der jüngsten Kinder war, wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass keine Zeit verloren werden darf, jede Woche zählt – was prinzipiell auch stimmt. Das Verhältnis zwischen natürlicher Mutter-Kind-Beziehung und Mutter als Co-Therapeut musste ich immer wieder ausbalancieren. Hinzu kam, dass ich irgendwie das Gefühl hatte, dass uns die Frühförderung nicht weiterbringt. Es wurde allerdings genauestens beobachtet, welche Fortschritte erreicht wurden. Bei jedem Termin wurde ich gefragt, was ich in der vergangenen Woche mit dem Kind geübt und beobachtet habe. Statt Rechenschaft über mein Handeln abzulegen, gingen meine Erwartungen an die Frühförderung allerdings in eine andere Richtung. Ich wollte Fragen beantwortet bekommen, die sich uns im Alltag mit einem hörgeschädigten Kind stellten, ich wollte lernen, wie ich mein Kind am besten fördern kann und wie seine Entwicklung einzuschätzen ist. Da dies nicht ansatzweise geschah, wurde ich immer frustrierter, wenn der Termin bei der Frühförderung anstand. Anderthalb Stunden Hinfahrt, anderthalb Stunden Rückfahrt und dazwischen sollte ich mich rechtfertigen. Mussten wir uns das weiterhin antun und vor allem wofür? Als wir von einer Logopädin hörten, die auf die Therapie von hörgeschädigten Kindern spezialisiert ist, war unser Interesse geweckt. Wir wollten uns ihre Arbeit einmal anschauen, um wenigstens einen Vergleich zu haben. Leider war es damals noch nicht möglich, beides - Logopädie und Frühförderung - wahrzunehmen, so dass wir uns für eine Therapievariante entscheiden mussten. Wir wechselten nach reiflichen Überlegungen und dem Gefühl, nichts verlieren zu können, zur Logopädin: Die richtige Entscheidung, wie sich schnell herausstellen sollte.

Bei einer der ersten Sitzung fiel der Logopädin auf, was auch mich seit einigen Wochen beschäftigte: Rafaels Reaktionen auf Höreindrücke hatten nachgelassen. Ihre Schlussfolgerung war, dass seine Hörgeräte nicht (mehr) ausreichten. Er brauchte stärkere. Auch konnte sie uns mit den Fragen, die wir zum Alltag mit Rafael hatten, weiterhelfen. Sie war selbst Mutter einer schwerhörigen Tochter. Sie konnte also unsere Ängste, Sorgen aber auch die Freuden ganz anders nachempfinden und uns unterstützen.

Der Pessimist sieht in jeder Chance eine Bedrohung - der Optimist in jeder Bedrohung eine Chance. (Weisheit aus China)

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Gemeinsam stark für unsere Kinder

Aufgrund des Engagements unserer damaligen Logopädin wurde auch der Grundstein für unsere Selbsthilfegruppe gelegt.

Im Herbst 2005 haben unsere Logopädin und die Akustikerin einen Elternabend organisiert, auf dem wir Eltern uns das erste Mal begegnet sind. Wir merkten schnell, dass uns alle die gleichen Themen bewegten und beschäftigten, dass bis jetzt jeder für sich gekämpft hat und wir gemeinsam viel stärker sein können, weil jeder etwas anderes weiß und wir somit einen großen Pool an Informationen besitzen. Außerdem war es für alle interessant zu erfahren, wie andere Eltern mit gleichen oder ähnlichen Problemen im Alltag umgehen und sie lösen. Schnell war der Entschluss gefasst, dass dies keine einmalige Veranstaltung bleiben sollte. So gab mir jeder, der Interesse an weiteren Treffen hatte, seine Kontaktdaten und ich organisierte die folgenden Zusammenkünfte.

Im ersten Jahr unseres Bestehens haben nur wir Eltern uns regelmäßig getroffen. In dieser Zeit gab es zwei Begebenheiten, die mir ganz besonders in Erinnerung geblieben sind und an die ich noch heute oft zurückdenke.

Zu einem Treffen hatten wir uns aus einer anderen Selbsthilfegruppe Eltern eingeladen, deren Kinder schon in die Schule gingen - die meisten davon bereits in die weiterführenden Schulen. Wir fragten sie nun nach Ihren Erfahrungen und baten sie um Ratschläge den Kindergartenalltag betreffend. Sie standen uns Rede und Antwort und gaben uns so manchen hilfreichen Tipp mit auf den Weg. Zum Ende des Gespräches bedankte sich die eine Mutter für die Einladung und den angestrebten Erfahrungsaustausch. Sie bekräftigte uns in unserem Weg und bereitete uns darauf vor, dass die Zukunft noch „interessanter“ werden wird und viele „Überraschungen“ für uns bereit hält. Sinngemäß sagte sie: „Ihr meint jetzt im Kindergarten schon Probleme zu haben. Dies ist jedoch noch nichts verglichen mit dem, was auf euch zukommt, wenn eure Kinder erst einmal in die Schule gehen.“ Kurze Zeit beherrschte Stille den Raum. Dann stürmten unzählige Fragen auf die Frau ein. Denn wir waren stolz auf das, was wir jetzt im Kindergartenalltag bewältigten und meinten viel vollbracht zu haben. Es grenzte etwas an unser damaliges Vorstellungsvermögen, dass es noch wesentlich größere Schwierigkeiten geben könnte. Es war im Endeffekt ein Satz, an den ich mich noch oft erinnern sollte! Geduldig beantwortete sie noch all unsere Fragen, erzählte von Beispielen aus dem Schulalltag, die für uns so absurd klangen. Konnte es so etwas wirklich geben? Hier in Sachsen? Mittlerweile haben wir unsere eigenen Erfahrungen gemacht und die traurige Antwort – selbst einige Jahre später – lautet „ja“.

Die zweite Begebenheit erlebte ich in einer Zeit, wo vieles nicht lief, eigentlich die Kraft für ein Treffen fehlte, mein Mann und ich aber trotzdem aufgebrochen sind, weil uns vielleicht gerade in der aktuellen Situation auch der ein oder andere Elternteil mit ähnlichen Erfahrungen weiterhelfen konnte. Also setzte ich alles daran, mit Hilfe von make-up und Co. meinem Gesicht wenigstens den Anschein zu verleihen, dass es mir gut geht. Als wir beim Treffen ankamen, wurde ich dann sogar von zwei anderen Müttern mit den Worten „Hallo, gut siehst du aus“ begrüßt. Es entlockte mir ein Lächeln, mein Mann warf mir einen vielsagenden Blick zu und ich beglückwünschte mich innerlich, dass sich der Aufwand vor dem Spiegel gelohnt hatte. Wir waren schon eine Weile in die Gespräche vertieft, als mich die Tochter unserer Logopädin ansprach. Sie ist selbst CI-Trägerin und war, wenn es ihr Alltag zuließ, bei den Treffen dabei und hat uns an Ihren Erfahrungen teilhaben lassen. Sinngemäß sagte sie und ohne jegliche Einleitung: „Was ist bei euch passiert? Dir geht´s doch richtig bescheiden!“ Das saß. Genau ins Schwarze getroffen. Die Begrüßung der anderen hatte mich doch gerade noch darin bestätigt, dass meine Fassade gut „gebaut“ war. Doch jetzt? Die Worte trafen mich so unvermittelt, dass sie die Mauer um mich herum zum Einsturz brachte. Es klingt vielleicht absurd, aber noch heute bin ich von ihren Worten fasziniert. Sie haben mir das gezeigt, was ich bis dahin immer nur gehört hatte: Menschen, bei denen ein Sinn nur eingeschränkt funktioniert, nehmen Dinge auf einer anderen Ebene viel intensiver war – sie haben viel feinere „Antennen“. Wie wahr! Eine Fähigkeit, die wir auch bei unserem Sohn später noch öfters erleben durften.

Die größten Ereignisse - das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden. (Friedrich Nietzsche)

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Als Kind mit Hörgeräten in einen normalen Kindergarten?

In meinem beruflichen Leben vor Rafael war ich selbstständig. Als ich einige Zeit nach der Diagnose erkannte, wie viel Zeit die neue Situation benötigte, entschieden wir uns, dass ich die Selbstständigkeit aufgebe und mich vorerst voll und ganz um die Entwicklung der Kinder im Allgemeinen und die von Rafael im Besonderen kümmere. Als Rafael knapp zwei Jahre alt war, bekam ich ein Jobangebot, dass ich nicht ausschlagen wollte, weil sich damit Beruf und Familie gut miteinander vereinbaren ließen. Gleichzeitig bedeutete es, dass er sofort in eine Kindereinrichtung gehen musste und die regelmäßigen Termine neu koordiniert werden müssten. Letzteres war das kleinere Problem. Doch wo so schnell einen Platz in einer Kindereinrichtung finden? Angemeldet war er für das neue Schuljahr in dem Kindergarten, den auch Paul besuchte. Bis dahin war es aber noch ein paar Wochen. Worüber wir uns damals überhaupt keinen Kopf gemacht haben, ist der zweite Teil der heute zu der Fragestellung gehört „eine Kindereinrichtung, die auch unser Kind nimmt“. Deshalb ist es gar nicht hoch genug einzuschätzen, dass Pauls Kindergarten uns angeboten hat, Rafael für die Tage, an denen ich arbeiten war, als Gastkind vorübergehend zu betreuen, bis er zu Beginn des neuen Schuljahres offiziell aufgenommen werden konnte. Schon das Angebot allein war für uns damals ein großes Glück, mit den Erfahrungen von heute gleicht es einem Hauptgewinn. Auch das Rafael Hörgeräte trug, war kein Problem. Er war eins von vielen Kindern. In dieser Zeit hat er unwahrscheinlich viel gelernt. Allein für das Selbstverständnis, mit dem Rafael aufgenommen wurde, gebührt der Einrichtung noch heute unser Dank und unsere Hochachtung! Oft erkennen wir den Wert des Augenblicks erst, wenn er vorüber ist.

Umso härter traf uns die Nachricht, dass beide Kinder die Einrichtung verlassen müssen, weil sie „Fremdgemeindekinder“ waren und der Bedarf in der eigenen Gemeinde des Kindergartens bestand. Wie jede Medaille, hatte aber auch dieser Einschnitt seine zwei Seiten. Einerseits bedauerten wir sehr, diese familiäre Einrichtung verlassen zu müssen. Andererseits lag der künftige Kindergarten in unserer Gemeinde, das bedeutete beide Kinder würden ab sofort mit den Kindern zusammen den Tag verbringen, die wahrscheinlich später mit ihnen auch einmal die Schulbank drücken würden. Wie groß sich dies als Vorteil insbesondere für Rafael erweisen sollte, würden wir später noch erfahren.

Am schwersten lernt man im Leben, welche Brücken man benutzen und welche man abbrechen soll! (unbekannt)

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Rafaels Voraussetzungen für ein Cochlea Implantat

Erst einmal stand noch eine weitere wichtige Entscheidung an: CI – ja oder nein? Wenn Hörgeräte nicht mehr ausreichen, um einen Menschen am hörenden Leben, besonders an der Sprache, teilhaben zu lassen, gibt es - abhängig von der Art der Schwerhörigkeit - weitere Möglichkeiten. Rafaels Chance auf die hörende Welt war ein sogenanntes Cochlea Implantat (CI). Das ist eine Innenohrprothese, die neben dem Sprachprozessor aus einem Implantat besteht. Während der Sprachprozessor wie ein Hörgerät hinter dem Ohr sitzt, überträgt eine Magnetspule die mit dem Sprachprozessor wahrgenommenen akustischen Signale auf das Implantat. Dieses wird bei einer Operation in ein angelegtes Knochenbett unter der Kopfhaut eingesetzt. Die Elektroden des Implantates werden in der Hörschnecke (Cochlea) platziert.

Da diese Operation nicht nur wie jeder Eingriff Risiken barg, sondern bei den damaligen Operationsmethoden auch das restliche noch verbliebene Hörvermögen endgültig verloren ging, waren wir froh, uns nicht mit dieser Entscheidung auseinandersetzen zu müssen. Bisher genügte Rafael die Anpassung leistungsfähigerer Hörgeräte. Trotz aller technischen Fortschritte gab es aber auch hier Grenzen. Hatten wir diese erreicht und welche Optionen gab es für die Zukunft?

Um den Antworten etwas näher zu kommen, konnten wir auch in diesem Fall zahlreiche Fragen in der Selbsthilfegruppe besprechen. Viele Kinder hatten in dem letzten Jahr bereits ihr CI bekommen. Rafael gehörte bis jetzt nicht zu den möglichen Kandidaten, da sein Hörverlust noch nicht groß genug war. Mit knapp 4 Monaten hatte er seine ersten Hörgeräte bekommen und damit auch gut angefangen zu hören. Allerdings haben weder die ersten noch die weiteren Hörgeräte ausgereicht, um altersgerecht Sprache zu erwerben. Nach jeder Neuversorgung ist es immer erst aufwärts gegangen, bis wir wieder an dem Punkt ankamen, wo es stagnierte und sein Sprachverständnis rückläufig war. Besonders das letzte Jahr haben uns die seine Grenzen diesbezüglich zu schaffen gemacht. Rafael wurde damals von unserer Logopädin nach der AVT (Auditiv-Verbale-Therapie) therapiert. Sie war schon bei vielen Kindern sehr erfolgreich und auch wir wollten diesen Weg mit Rafael gern weitergehen. Allerdings reichte sein aktueller Hörstatus dafür nicht mehr aus. Würden CIs die Situation ändern? Vielleicht. Zumindest stellte es eine Möglichkeit dar.

Wir haben uns mit dieser Entscheidung schwer getan, letztendlich das CI aber als einzige Chance gesehen, um Rafael weiterhin lautsprachlich in seiner normalhörenden Welt teilhaben zu lassen. Wir wurden darauf vorbereitet, dass sowohl das Hören- als auch das Sprechen lernen mit CI viel Geduld erfordert, wir aber sicher davon profitieren werden, dass Rafael schon über Hörerfahrung verfügt und ein sehr gut konditioniertes Kind ist.

So folgte unser erster Krankenhausaufenthalt. Rafael war wie immer gut gelaunt und verfolgte interessiert, was da so alles um ihn herum passierte. Die CI-Voruntersuchung wurde unter Vollnarkose durchgeführt. Im Vorfeld bekam er Tropfen, die müde machen sollten. Kurz nachdem er sie eingenommen hatte, wurde er komisch, schien die Kontrolle über seine Muskeln zu verlieren. Also legte ich ihn in sein Bettchen. Dort fing er an zu kichern und zu lachen. Anfangs war es lustig, nach und nach aber eher beängstigend. Als er von einer Krankenschwester abgeholt wurde, war es ein Gefühl, was wahrscheinlich nur Eltern nachempfinden können, die es selbst schon erlebt haben: Bis zum Fahrstuhl durfte ich ihn begleiten, dann musste ich ihn sich selbst überlassen. So hilflos wie er dort lag, schutzlos und ohne uns Eltern an seiner Seite. Ich hatte das Gefühl ihn im Stich zu lassen. Mit diesem Gefühl allein zurückgeblieben, begann das Warten. Unendlich langes Warten. Die Minuten krochen grausam langsam voran und aus den Minuten wurden Stunden. Es war eine gefühlte Ewigkeit, bis sich die Tür auftat und mein Kind zurückgebracht wurde. Die Krankenschwester entschuldigte sich, dass sie mich doch nicht in den Aufwachraum an seine Seite holen konnten. Das ist Krankenhausalltag und dafür hatte ich natürlich trotz der quälend langen Zeit Verständnis. Mit der Vorstellung, dass nun erst einmal das Schlimmste überstanden sei, kuschelte ich mich zu meinem Kind, um ihm zu signalisieren: „Du bist nicht mehr allein.“ Zu dem Zeitpunkt