Mitternachtskatzen, Band 1 - Die Schule der Felidix - Barbara Laban - E-Book

Mitternachtskatzen, Band 1 - Die Schule der Felidix E-Book

Barbara Laban

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Beschreibung

Bist du bereit für die Schule der Katzenflüsterer? Nova und Henry haben eine besondere Gabe: Sie können mit Katzen sprechen. Aber nicht nur das! Sie sind Felidix, Katzenbeschützer, und müssen ein fellsträubendes Verbrechen verhindern: Die Siamkatze Penelope hat die rechtmäßige Katzenkönigin von England entführt und hält sie gefangen. Nun muss sie nur noch alle Mitternachtskatzen – die Leibgarde der Königin – aus dem Weg schaffen und die Katzenkrone gehört ihr! Für Nova und Henry beginnt ein Abenteuer, das sie durch ganz London führt. Alle Abenteuer mit den Mitternachtskatzen: Band 1: Die Schule der Felidix Band 2: Die Hüter des Smaragdsterns Band 3: Der König der Federträger Band 4: Der Geisterkater von Bakerloo Adventskalender: Mr Mallorys magisches Weihnachtsgeheimnis

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Seitenzahl: 277

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2022 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2022, Ravensburger Verlag Text © 2022 Barbara Laban Originalausgabe Cover- und Innenillustrationen: Jérôme Pélissier Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-51104-4www.ravensburger.de

1

Nova schob Henry unter dem Tisch einen Zettel zu. „Los“, sagte sie, „mach schon. Schaffst du nie!“

Henry grinste und hielt sich das weiße Stück Papier unter die Nase. Erst verzog er kurz das Gesicht, dann kniff er die Augen zusammen. „Ist doch klar“, flüsterte er. „Die Bank hinter der Westmauer, neben dem Hotdog-Verkäufer, da, wo morgens immer der alte Jogger sitzt. Riecht echt streng. Nach Schweißfüßen, Senf und Tauben.“

Obwohl Henry nicht zum ersten Mal seinen außerordentlichen Geruchssinn bewies, stand Nova der Mund offen. Sie hatte gestern Nacht das Papier, mit einem Stein beschwert, tatsächlich unter die Bank an der Themse gelegt. Vor dem Unterricht hatte sie es schnell abgeholt.

„Genial!“, staunte sie und griff sich an ihre Stupsnase. „Du solltest beim Zirkus arbeiten.“

„Henry, Nova“, ertönte die warnende Stimme von Horatio, ihrem Lehrer, der gerade in einem Haufen von Papieren auf seinem Schreibtisch wühlte. Daneben stieg Dampf aus einer riesigen Tasse mit milchig braunem Tee auf, Horatios Lieblingsgetränk.

Vielleicht suchte ihr Lehrer mal wieder die Schulhefte der Kinder, die er in einem anderen Zimmer liegen gelassen hatte. Horatio war sehr vergesslich. „Ich nehme an, was ihr da besprecht, hat nichts mit Mathematik zu tun.“

Nova nickte heftig, sodass ihr die braunen Haare ins Gesicht fielen. „Das stimmt, aber du hast ja selbst gesagt, dass Mathe nicht so wichtig ist.“

Der Rest der Schüler murmelte zustimmend und Horatio seufzte tief. Es war ein offenes Geheimnis, dass er den Mathematikunterricht nur widerwillig abhielt und froh war, wenn die Kinder sich gegenseitig bei den Aufgaben halfen, weil er sie manchmal selbst nicht erklären konnte. Wenn Nova es richtig verstanden hatte, war der richtige Mathelehrer gerade krank und mit ihm auch noch andere Lehrer. Deshalb musste Horatio im Moment alle Fächer unterrichten.

„Also, sehen wir uns die Frage doch noch mal genauer an.“ Horatio ging zur Tafel, fuhr sich mit der Hand über seinen braunen Schnurrbart und unterstrich mit einem Stück Kreide den Text.

Auf dem Schreibtisch schlief ein dicker rot-weißer Kater. Vom Kreidequietschen gestört, wachte er auf und fauchte kurz in Horatios Richtung. Horatio streichelte dem Kater beschwichtigend über den Kopf. „Tut mir leid, Hector. Ich weiß ja, wie empfindlich deine Ohren sind.“ Er griff in seine Tasche und hielt dem Kater einen Thunfischkeks hin, den Hector gnädig akzeptierte.

Horatio und Hector teilten ihre Leidenschaft für gutes Essen und beide konnten jederzeit damit besänftigt werden, so viel hatte Nova in den letzten zwei Wochen schon festgestellt.

„Lea hat viermal mehr Bonbons als Hugo und gibt ihm zwei Bonbons ab. Jetzt hat sie nur noch dreimal mehr Bonbons als Hugo. Wie viele Bonbons hatte sie am Anfang?“, fuhr Horatio mit dem Unterricht fort.

„Spielt doch keine Rolle“, sagte Nova. „Die Sache ist total unfair! Wieso teilt sie das Ganze denn nicht halbe-halbe auf? Alles, was man aus dieser Aufgabe lernen kann, ist, dass Lea total egoistisch ist!“

„Genau“, pflichtete Henry ihr bei und malte mit dem Finger unsichtbare Zahlen auf den breiten, alten Holztisch, den er sich mit Nova teilte. „Das geht ja wohl gar nicht, dass einer einen ganzen Haufen Bonbons vor sich hat und der andere nur ein paar! Die Antwort ist übrigens zweiunddreißig.“

Horatio atmete erleichtert auf. Henry hatte nicht nur einen prima Geruchssinn, er konnte auch richtig gut rechnen. „Ich vermute, Henry hat recht“, sagte der Lehrer glücklich und suchte auf seinem Kopf nach der Brille, die irgendwo in seinen lockigen Haaren verschwunden war. „Damit können wir den Matheunterricht für heute beenden und uns wichtigeren Dingen widmen.“

„Zum Glück!“, flüsterte Nova.

An der Tür war ein Kratzen zu hören. Nova sprang auf, bevor ihr jemand zuvorkommen konnte. Sie zog an der Klinke der alten Holztür, die gewaltig knarzte und meistens einen Spalt offen stand. Das hatte heute jemand vergessen. Drei Katzen spazierten ins Klassenzimmer. Eine davon hatte hellblaue Augen und weiße Pfoten, die sich wie Socken von ihrem grauen Fell abhoben. Sie sah Nova bettelnd an.

„Schon gut.“ Nova hob die Katze auf ihren Schoß, während eine der anderen zu Henry hochsprang. Die dritte Katze beschäftigte sich damit, ihre Krallen in einer Ecke des Zimmers an dem roten Teppichboden zu wetzen. Dieser sah schon ziemlich mitgenommen aus.

„Ich hoffe, Nova, du kannst dich mit einer Katze auf deinem Schoß besser konzentrieren.“ Horatio sah sie so prüfend an, dass seine grünen Augen unter den dichten Augenbrauen kaum noch sichtbar waren. „Damit sind wir vollständig und können uns wieder der Geschichte des englischen Königshauses und seiner Katzen widmen. Wir waren gerade mit der Nachfolgefrage von König James dem Zweiten beschäftigt. Ihr erinnert euch? Er war immer in Begleitung einer Katze namens Henrietta, wie wir an den Porträts der beiden sehen können, die in der Nationalgalerie hängen.“

Hector, der Kater, hob interessiert den Kopf und blinzelte.

Henry, Nova und ihre vier Mitschüler nickten. Ria hatte einen Bleistift herausgeholt und malte etwas, was wie ein verwunschenes Schloss aussah. Bernie bastelte ein Papierflugzeug. Ed und Said steckten ihre Köpfe zusammen, die nicht unterschiedlicher aussehen konnten. Eds Haare standen wie kurze rote Stacheln von seinem Kopf ab, Saids dagegen fielen sanft und pechschwarz so weit in sein Gesicht, dass davon fast nichts mehr zu sehen war. Die beiden spielten irgendein Spiel mit Zahnstochern.

Horatio störte das nicht. Er sagte häufig, es sei lehrreich, beim Zuhören auch seine Hände zu beschäftigen. Nova und Henry, die beide erst seit zwei Wochen den Unterricht bei Horatio besuchten, fanden das prima. Am besten allerdings gefiel beiden die Sache mit den Katzen im Klassenzimmer. So nutzten sie jede Gelegenheit, das weiche Fell der Tiere zu streicheln und sie ausgiebig unter dem Kinn zu kraulen, was die Katzen zu einem sanften Schnurren brachte.

„Die waren gerade draußen unter einem Lieferauto, das Bananen geladen hatte“, flüsterte Henry, der an seiner Katze schnupperte. Nova nickte anerkennend.

Dann lauschten sie den Geschichten, die Horatio zu erzählen hatte – von Königinnen und Königen, Rittern, Kämpfen und alten Schlössern. Fast hörte es sich an wie ein Theaterstück, so sehr verstellte Horatio seine Stimme. Dabei wanderte er durch den Raum, blieb vor den Kindern stehen und wandte sich dann wieder ab. Nova hätte schwören können, dass auch die Katzen seinen Vortrag aufmerksam verfolgten.

Als die Stunde zu Ende war, bat Horatio seine Schüler, noch kurz sitzen zu bleiben. „Bernie und ich hätten da noch eine Neuigkeit“, sagte er bedächtig. „Möchtest du vielleicht selbst?“, fragte er und sah zu Bernie.

Der schüttelte nur den Kopf. Nova sah, wie er das Papierflugzeug in seiner Hand zerknitterte.

„Also, es sind gute Nachrichten“, sagte Horatio. „Bernies Mutter ist vor zwei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Es geht ihr gut. Jetzt sind ja bald Ferien, aber Bernie wird uns schon heute verlassen und zu seiner Mutter fahren. Nach den Sommerferien wird er dann in eine neue Schule gehen, nahe an seinem Zuhause.“

Ria stieß einen kleinen spitzen Schrei aus und umarmte Bernie, was dem Armen offensichtlich total peinlich war. Auch die anderen drängten sich um Bernie, um ihm zu gratulieren. Alle außer Nova.

Bis vor Kurzem hatte es nicht so ausgesehen, als würde Bernies Mutter so schnell aus dem Krankenhaus kommen. Nova biss sich auf die Lippe. Klar freute sie sich für Bernie, aber der hatte seine Mutter ja wenigstens dauernd besuchen können. Und jetzt würde er wieder zu ihr zurückkehren können. Glückspilz!

Nova bemerkte, wie Horatio sie mühsam aus seinem runden Gesicht anlächelte. Er sah aus wie ein Teddybär, der sie gern trösten wollte, aber nicht konnte. Es half nichts, im Moment war sie einfach nur traurig. Hier gab es wirklich niemanden, der nicht regelmäßig von seinen Eltern hörte. Niemanden, außer Nova.

Morgen war es genau zwei Wochen her, dass sie hier angekommen war: im Londoner Tower Internat. Zwei Wochen, in denen Horatio ihr jeden Tag versichert hatte, dass sie auf Wunsch ihrer Eltern in seiner Schule war. Zwei Wochen, in denen sie jede Nacht aufbrach, um ihren Vater zu suchen.

2

Der Tower von London hatte jahrhundertelang als Palast der Könige von England gedient. Nova hatte sich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass sie jetzt dort lebte. Das Gelände des Towers war riesig. Überall gab es alte Gebäude, hohe Türme und Mauern mit Schießscharten. Da der größte Teil des alten Schlosses jetzt ein Museum war, wimmelte es nur so von Touristen und Leuten, die dort arbeiteten.

Horatios Turm dagegen lag völlig einsam und versteckt hinter einer hohen Mauer, die von einer dichten Hecke bewachsen war, gegen die selbst Dornröschens Prinz keine Chance gehabt hätte. Wenn man an der Mauer vorbeilief, konnte man noch nicht einmal ahnen, dass Horatios Schule überhaupt existierte.

Vom Turm selbst sah man nur die oberste Spitze, in der einige Steine fehlten und die aussah wie eine Ruine. Horatio hatte um den Turm herum kleine Gänge und Wege angelegt, die sich durch einen dicht bewachsenen kleinen Garten schlängelten. Nova liebte die Sonnenblumen, die ihr fast bis an die Schulter reichten.

In der Nacht wirkten die Büsche, Sträucher und Blumenbeete fast ein wenig unheimlich. Ständig raschelte es und ab und zu fühlte Nova einen Ast an ihrer Schulter oder am Hals, der sie wie ein dünner Finger streichelte. Wie viel freundlicher sah es doch tagsüber hier aus!

Die Schüler besaßen alle einen Schlüssel für das massive Eisentor in der Mauer, denn Horatio wollte nicht, dass sie sich eingesperrt fühlten. Außerdem verlor er seinen eigenen Schlüssel recht häufig. Und so konnte er immer eines der Kinder um Hilfe bitten.

Die Kieselsteine knirschten verräterisch unter Novas Füßen. Es war tiefschwarze Nacht und die kühle Luft kitzelte sie in der Nase. Nova und Henry hatten den ganzen Nachmittag mit den Katzen gespielt und waren dann zum Abendessen gegangen. Jetzt schlummerte Henry selig in seinem Bett. Er liebte seinen Schlaf. Einmal hatte Nova versucht, ihn nachts mitzunehmen, aber Henry lag still wie ein Sack Kartoffeln unter seiner Decke und drehte sich nicht einmal auf die andere Seite, selbst als sie ihm Wasser ins Gesicht und auf den Hals spritzte. Er flüsterte nur etwas, was wie „Tod den Schlafräubern“ klang.

Abgesehen von den nächtlichen Ausflügen unternahmen Nova und Henry alles gemeinsam. Schon am ersten Tag in dieser für sie beide neuen Schule hatten sie sich zusammen über die seltsame Broschüre gewundert, in der alles über Horatios Internat im Turm stand und die sie mit der Post erhalten hatten.

Henrys Eltern hatten ihn gerade bei seiner Großmutter besucht, die in einem winzigen Reihenhaus in Liverpool wohnte, in dem auch Henrys Vater aufgewachsen war. Seine Eltern waren Umweltforscher und fast zehn Monate im Jahr auf ihrem eigenen Expeditionsschiff unterwegs. Henry lebte deshalb bei seiner Oma. Stipendium für Henry Morgan am Tower Internat in London, hatte in dem Brief gestanden.

Novas Pflegemutter hatte ihr das dicke Papier, das sich schwer in der Hand anfühlte und mit schwarz-weißen Fotos bedruckt war, mit verächtlicher Miene unter die Nase gehalten. „Sieh mal an, Nova Loxley. Dein flüchtiger Vater und deine geheimnisvolle Mutter haben beschlossen, dass du auf diese Schule gehen sollst. Was für ein Glück mit dem Stipendium – wenn man bedenkt, wie viel ein Internat sonst kosten würde!“

Nova hatte keine weiteren Fragen gestellt. Sie wollte ihrer Pflegemutter keine Gelegenheit geben, noch mehr auf Papa zu schimpfen. Wenn er wollte, dass sie auf dieses seltsame Internat ging, das aussah wie eine Mischung aus Rapunzelturm und Katzenpension, musste es daran liegen, dass sich ihr Vater irgendwo in der Nähe der Schule aufhielt. Das war sonnenklar! Schon vier Mal hatte sie in den letzten Jahren die Pflegefamilie gewechselt und kurz darauf war immer auf einmal Papa aufgetaucht, um sie zu sehen. Auch diesmal hatte er sicher wieder einen Plan.

Im Gegensatz zu Henry musste Nova sich nachts nicht einmal den Wecker stellen. Sie wachte immer wie von selbst auf.

Zum Glück nutzte um diese Zeit niemand außer ihr den schmalen Pfad entlang der östlichen Außenmauer, der schon tagsüber stets verlassen war. Das kleine eiserne Tor, das Nova ansteuerte, war vor ihrer Ankunft komplett überwuchert gewesen – so wie die Mauer, die Horatios Turm umgab. Mit großer Mühe hatte Nova erst das schlingpflanzenartige Unkraut und dann den uralten Rost entfernt. Doch nach all der Arbeit hatte sie nun ihren persönlichen Weg aus dem Tower, den sie fast jede Nacht nutzte.

Der schwere Geruch der Themse schlug ihr entgegen. Für Nova roch der Fluss immer gleich nass und trübe, doch Henry hatte ihr erklärt, dass es einen großen Unterschied machte, ob gerade Flut war oder Ebbe, wenn die Themse Kieselsteine und Erde für wenige Stunden freigab.

Nova fühlte ihr Herz schnell und kräftig schlagen. Sie zog sich ihre Kapuze tief ins Gesicht und lief im Schatten der Mauer, leise, fast unsichtbar. Wenn Papa sie nur sehen könnte! Heute würde sie nach dem Keller im Haus in der Mill Lane suchen. Denn das schien ihr Vater zu wollen. Es war die letzte Botschaft gewesen, die sie von Papa erhalten hatte. Sie hatte auf der Innenseite des Papiers eines Schokoriegels gestanden, den jemand am Tag ihrer Abreise aus dem Haus der grässlichen Pflegemutter vor die Eingangstür gelegt hatte:

Jetzt wird alles besser. 18 Mill Lane. Ganz unten.

Nova hatte ein gutes Gefühl.

Der Tower gehörte zu den ältesten Gebäuden Londons und wenn sie dort war, vergaß Nova oft, dass sie sich in einer riesigen Großstadt befand. Jetzt, wo sie die mittelalterlichen Mauern verlassen hatte, sah sie überall hohe moderne Gebäude, deren helle Lichter aufregend schimmerten. Am Himmel konnte Nova vier Flugzeuge zählen.

Sie bog zielsicher in eine Straße mit Reihenhäusern aus braunen Backsteinen ab, die mit ihren rechteckigen, hohen Fenstern alle gleich aussahen, wären da nicht die bunten Türen gewesen: manche blau, manche rot, manche braun.

Hinter ihr lief eine grau getigerte Katze. Das war in letzter Zeit immer so. Es handelte sich aber nicht jedes Mal um dieselbe Katze. Es waren immer andere, manchmal auch zwei oder drei davon. Nova liebte Katzen. Sie war froh, dass es in Horatios Schule so viele davon gab.

Gleich am ersten Tag hatte sie mit Henry darüber gesprochen, was es wohl damit auf sich hatte. In jeder Ecke saßen Katzen und diese hatten es ja sogar in die Schulbroschüre geschafft! Man konnte kaum die Steintreppen, die aus dem Turm führten, hinunterlaufen oder den kleinen Garten durchqueren, ohne dass man über eine Katze stolperte. Dort streckten sie ihre Bäuche in die Sonne oder schärften ihre Krallen an einem der Holzblöcke, die überall verteilt lagen. Beim Durchblättern der Broschüre hatte Novas Pflegemutter gleich schnippisch bemerkt, Horatios Internat werde wahrscheinlich nicht von der Schulbehörde, sondern vom Tierschutzamt kontrolliert.

Doch Henry sagte, seine Großmutter habe ihm versichert, dass Lernen in der Anwesenheit von Tieren eine wunderbare Sache sei und dass sie einen Schulleiter, der neben seinen Schülern auch für jede Menge Katzen sorge, für einen klugen und aufrichtigen Menschen halte.

Die Katze, die sie heute Abend begleitete, schien Nova irgendwie nervös zu sein. Als hätte sie vor etwas Angst, müsste aber trotzdem hinter Nova herlaufen. Wenn Nova stehen blieb, setzte die Katze sich ein paar Meter entfernt von ihr auf die Hinterpfoten und sah sie scharf an. Nova kniff die Augen zusammen. Hatte die Katze an ihrer hellen Pfote tatsächlich eine Markierung, die aussah wie eine kleine Krone?

Nova schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Sie hatte Wichtigeres zu tun. „Die nächste Straße halb links“, murmelte sie und bog in eine kleine Gasse ab. Mülltonnen standen auf beiden Seiten. Die Häuser hier waren auch alle gleich, aber kleiner. Sie hatten schwarze Eisenzäune vor den winzigen Vorgärten und kleine Treppen, die nach oben zu den Hauseingängen führten.

„Mill Lane 18“, murmelte Nova. Es musste genau hier sein. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Irgendwo schlug eine Glocke. Mitternacht.

Nova zog die Taschenlampe heraus, die eigentlich ihrem Vater gehörte und auf der sein Name eingraviert war: Marc Loxley. Ihr Lichtschein war so schwach, dass er von Weitem niemandem auffallen würde, aber er reichte für Novas Zwecke. Sie stieg über den Eisenzaun und entdeckte auf dem Boden vor dem Haus einen eisernen Ring an einer Holzplanke – genau wie auf Papas Karte. Das musste der Eingang zum Keller sein!

Nova beugte sich nach unten und nahm das kalte Metall in die Hand. Mit aller Kraft zog sie daran, aber nichts rührte sich.

Ein Geräusch hinter ihr schreckte sie auf. Es war die grau getigerte Katze. Sie stand dicht bei Nova. Ihre Augen waren jetzt riesengroß und schwarz und sie sah überhaupt nicht mehr nur nervös aus, sondern so, als hätte sie furchtbare Angst. Nun hörte Nova noch mehr Geräusche: Fauchen und Zischen, das immer kräftiger wurde. Sie spürte einen seltsamen Luftzug, der durch die Gasse strömte, begleitet von einem scharfen, ihr unbekannten Geruch.

Wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte, sprang sie lautlos auf und presste sich gegen die Mauer neben den Treppenstufen zur Eingangstür des Wohnhauses, die komplett im Schatten lag. Hier war sie kaum zu erkennen. Sie stand stockstill.

Das Fauchen und Zischen wurde lauter und plötzlich sah Nova, wer die Geräusche machte – dicht über den Boden huschende Katzen. Nova zählte mindestens zehn von ihnen. Sie sahen mit ihren schlanken, athletischen Körpern alle ähnlich aus und schienen in einer Formation zu laufen: vorneweg eine Anführerin, dahinter jeweils drei Katzen dicht nebeneinander. Um den Hals trug jede von ihnen ein Band mit einem Anhänger, den Nova in der Dunkelheit nicht gut erkennen konnte. Er hatte die Form eines Dreiecks. Wie seltsam!

Nova hielt den Atem an, als die Tiere den Eingang des Hauses gegenüber passierten. Kurz darauf blieben sie stehen. Das Fauchen wurde lauter und auf einmal von einem jämmerlichen Miauen unterbrochen. Obwohl sie es besser wusste, beugte sich Nova aus dem Schatten hervor und schob ihre Kapuze in den Nacken, um besser sehen zu können.

Was war das? Die Katzenformation hatte die grau getigerte Katze umzingelt. Der Kreis, den sie bildeten, wurde immer enger.

Hatte die gefangene Katze eben noch miaut, senkte sie jetzt demütig den Kopf. Die Katzen formierten sich erneut, nur mit dem Unterschied, dass sich jetzt in ihrer Mitte die graue Katze befand.

Nova trat auf die Straße. Die Katzen wichen zurück und begannen an ihr vorbeizulaufen, dabei schubsten sie die gefangene Katze vorwärts, die ihren Kopf hob und Nova direkt in die Augen blickte. Sie miaute erneut.

Dann ging alles ganz schnell. Die Formation drängte sich zu einem dicken Knäuel zusammen und nahm plötzlich Geschwindigkeit auf. Nova konnte den Katzen kaum mit den Augen folgen. Kurz darauf hatten sie das Ende der Gasse erreicht und bogen in die nächste Straße ab. Das Miauen der gefangenen Katze hörte nicht auf, aber es wurde leiser und kläglicher.

Nova rannte los. Dicht an der Mauer entlang, die Kapuze wieder tief im Gesicht.

Doch es war zu spät. Die Katzen waren nicht mehr zu sehen und das Miauen kam nur noch wie ein schwaches Echo aus einer unbestimmten Richtung. Irgendwo in Novas Kopf verwandelt es sich in Worte. Sie waren leise, aber Nova konnte sie ganz deutlich hören: „Hilf mir, hilf mir!“

3

Am nächsten Tag brannte Nova darauf, Henry alles über ihren Ausflug zu erzählen, doch sie waren nie allein. Am Morgen im Unterricht schickte Horatio sie ständig auf Botengänge, weil er Bücher, Thunfischkekse für den Kater Hector oder seine Brille irgendwo im Turm liegen gelassen hatte.

In der Mittagspause setzte sich Ria zu ihnen, die nicht aufhören konnte, über einen Kater zu reden, der anscheinend keinen Schwanz und nur drei Beine hatte, aber damit schnell wie der Blitz die Treppen des Turms hinaufrannte. Ed unterbrach sie immer wieder und stellte Zwischenfragen. Er blätterte mit erstaunlicher Geschwindigkeit in einem dicken Wälzer, in dem alle Katzenrassen der Welt beschrieben wurden. Ed wusste nicht nur, wie die Katzen aussahen, sondern kannte auch Besonderheiten ihres Temperaments und Charakters. Schließlich sah er auf und fuhr sich triumphierend mit der Hand über die kurzen roten Haarstoppeln auf seinem Kopf. „Ganz klar – eine Manx-Katze“, rief er. „Sie kommen von der Isle of Man, können schnell rennen und werden ohne Schwanz geboren!“

Erst am Abend konnte Nova in Ruhe mit Henry über die seltsamen Ereignisse der letzten Nacht reden. Draußen zwitscherten die Vögel. Die Londoner Luft war im Sommer oft stickig, aber Nova fand, es roch nach Abenteuer. Sie fragte sich, ob es Henry auch so ging. Die beiden saßen auf dem Sofa vor Novas Fenster und hatten die Füße auf die Fensterbank gelegt.

„Wegen gestern Abend …“, sagte Nova.

„Du warst wieder draußen“, unterbrach Henry sie. „Deine Haare riechen immer noch nach dieser kleinen Straße hinter der Bäckerei, in der sie den ganzen Tag Spinattaschen backen.“

Nova fuhr sich durch die Haare, roch an der braunen Strähne in ihrer Hand und ließ sie wieder auf ihre Schulter fallen. „Mill Lane“, sagte sie. „Es gibt da ein Haus, in dem mein Vater sicher bald auf mich warten wird. Nummer 18.“

„Klar“, sagte Henry, aber er klang nicht sehr überzeugt.

Nova konnte es ihm nicht übel nehmen. Die meisten Leute hielten Marc Loxley für nicht gerade zuverlässig, und zwar, weil er in ihren Augen nicht nur ein Meister in Gefängnisausbrüchen war, sondern auch ein Meisterdieb. Sie wussten natürlich nicht, dass er eigentlich nicht ins Gefängnis gehörte.

Papa redete nie darüber, wer damals wirklich den Schatz aus dem Museum gestohlen hatte. Die Polizei hätte ihm sowieso nicht geglaubt, denn ein Ring aus dem Einbruch war kurz darauf bei ihnen zu Hause gefunden worden. Papa hatte Nova geschworen, dass er kein Dieb sei, und sie glaubte ihm. Und weil er nicht in ein Gefängnis gehörte, setzte er alles daran, nicht eingesperrt zu bleiben. Er war ein Genie! Seine Ausbrüche waren legendär. Einmal hatte ihn sogar eine Universität zu einem Vortrag eingeladen.

Doch das waren Dinge, die Nova nicht einmal mit Henry besprechen wollte.

„Da war diese Katze“, begann sie.

„Eine von Horatios Katzen?“, fragte Henry.

Nova schüttelte den Kopf. Dabei konnte sie sich nicht sicher sein. Selbst nach ein paar Wochen hatte sie wahrscheinlich noch nicht alle Katzen getroffen, die hier wohnten. Horatio mochte es nicht, wenn man sie als „seine Katzen“ bezeichnete. Er nannte sie „Gäste“.

„Kein Gast, oder zumindest keiner, den ich kenne. Die Katzen, die mir draußen folgen, sehen anders aus. Irgendwie stolz, fast arrogant. Die gestern hatte eine Markierung an der Pfote, die wie eine Krone aussah“, erklärte Nova.

„Dann solltest du unbedingt Horatio fragen!“, sagte Henry. „Wenn es eine Krone war, hat es vielleicht mit den königlichen Katzen zu tun, von denen er immer redet. Falls er sich die Geschichten nicht nur ausdenkt. Die von dem Kater, der so viel gefressen hatte, dass er die Palasttreppen nicht mehr hochkam und immer in einer Sänfte getragen werden musste, fand ich ziemlich witzig. Wenn Hector nicht aufpasst, geht es ihm bald auch so.“ Henry drehte den Kopf zu Nova und pustete seine Backen auf, wodurch seine Sommersprossen noch mehr hervortraten als sonst.

Nova musste lachen, wurde aber schnell wieder ernst. „Weißt du, was verrückt ist?“, fragte sie.

Henry sah sie aufmerksam an.

„Auf einmal kamen so seltsame Katzen mit Halsbändern. Sie haben die Katze mit der Krone mitgenommen. Aber sie wollte nicht, sie konnte sich nur nicht wehren. Und da habe ich, glaube ich …“ Nova stockte. Es klang zu verrückt, um es auszusprechen.

„Was?“, fragte Henry.

„Ich glaube, sie hat um Hilfe gerufen.“

„Mit einem kräftigen Miau?“, fragte Henry und imitierte einen herzzerreißenden Katzenschrei.

Nova stupste ihn in die Rippen. „Das auch. Aber ich habe das Miau verstanden! Es klang wie Hilfe.“

Henry prustete los. „Ja klar“, sagte er. „Jetzt wohnen wir also nicht nur in einer Art Vollpension für Katzen und hören uns die ganze Zeit alles über königliche Katzen an, auf einmal fangen wir auch noch an, mit Katzen zu sprechen.“

„Mit der letzten Sache liegst du falsch, mein Junge“, sagte auf einmal eine sanfte Stimme von der Fensterbank. „Ihr fangt nicht an, mit Katzen zu sprechen. Die Katzen sprechen mit euch. Wenn sie das für richtig halten. Und nach meiner Einschätzung ist das noch viel zu früh! Aber im Moment habe ich wirklich keine andere Wahl.“

Nova und Henry starrten auf die Fensterbank. Direkt neben ihren Füßen saß dort ein pechschwarzer Kater mit zerzaustem Fell und leckte sich seine rechte Vorderpfote – die einzige weiße Stelle an seinem Körper. Erschrocken zogen Nova und Henry ihre Beine nach unten.

„Kommt schon“, der Kater blickte sie gelangweilt aus türkisblauen Augen an. „Hat Horatio euch etwa nicht gesagt, dass ihr auf eine Schule für Kinder geht, die mit Katzen sprechen können? Oha!“ Er machte eine kleine Pause. „Da habe ich wohl ein Geheimnis ausgeplaudert … Gestatten, mein Name ist Edison.“

4

Der Kater saß stocksteif vor ihnen, der schwere türkisblaue Samtvorhang neben Novas Fenster passte exakt zu der Farbe seiner Augen. Henry stand der Mund so weit offen, dass jederzeit ein Flugzeug darin hätte landen können.

Nova fand zuerst ihre Sprache wieder. „Hallo“, sagte sie immer noch völlig überrascht. „Ich bin Nova und das ist Henry.“

„Angenehm.“ Der Kater hob kurz eine Pfote zum Gruß, senkte sie aber schnell wieder. „Wir sollten uns nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten. Ich weiß natürlich, wer ihr seid. Unter uns Katzen spricht sich immer schnell herum, wen Horatio gerade mal wieder aufgegabelt hat. Mensch oder Tier. Wirklich ganz rührend, wie er sich um alle Lebewesen kümmert!“

Nova ertappte sich dabei, dass jetzt auch ihr Mund offen stand. Der Kater – Edison – besaß eine der schönsten Stimmen, die sie je gehört hatte. Wenn er sprach, klang es wie eine Melodie, man vergaß dabei fast die Worte, die er sagte. Sie fragte sich, ob andere Leute wirklich nur ein Miauen hörten.

„Ich weiß, Horatio hat da so seine eigenen Ansichten“, fuhr Edison fort. Nova beobachtete fasziniert seine langen Schnurrhaare, die zitterten, wenn er redete. „Normalerweise würde ich mich nicht einmischen. Wer bin ich schon, um zu behaupten, dass wir keine Katzenbeschützer brauchen.“

„Katzenbeschützer?“, krächzte es neben Nova. Es war Henry, der endlich wieder ein Wort herausbrachte.

Edison nickte. „Genau! So wird er es euch erklären, auch wenn der richtige Ausdruck für das, was ihr seid, Felidix ist. Ihr geht auf die Schule der Felidix. Horatio findet euch auf unsere Empfehlung, denn die Gabe, uns Katzen zu verstehen, ist selten. Hin und wieder entdecken wir Katzen ein Kind, von dem wir annehmen, es könnte ein Felidix sein. Die Eifrigen von uns wenden sich dann an Horatio, der den Eltern des Kinds daraufhin einen Internatsplatz anbietet. Es ist aber nicht so, dass wir Katzen immer richtig liegen. Oft genug tauchen hier Kinder auf, die überhaupt nicht geeignet sind und stets nur ‚Miau!‘ verstehen. Ihr wisst schon, was ich meine.“ Er legte den Kopf zur Seite.

„Kinder, die euch nicht verstehen, selbst wenn ihr mit ihnen reden wollt?“, fragte Nova.

„Richtig!“, bestätigte Edison. „Oder Kinder, mit denen wir beim besten Willen nicht reden wollen. Auch das kommt vor. Aber oft haben wir Katzen und Horatio den richtigen Riecher. Fast so gut wie deine Nase, mein lieber Henry.“

Henry zuckte nervös zusammen. „Wieso weißt du …“, fing er an, doch der Kater unterbrach ihn mit einem lässigen Pfotenschlag.

„Nichts leichter als das! Katzen sind hervorragende Spione. Sie sind wendig und schnell, verstehen es quasi, sich unsichtbar zu machen. Wie du, Nova. Respekt!“ Edison nickte anerkennend in ihre Richtung. „Nachts auf Dächern, tagsüber in Hauseingängen, auf Mauern, Treppen und Denkmälern, in Wohnzimmern, Küchen und Kellern. Wir sind überall! Meistens werden wir nicht beachtet. Und fast kein Mensch ahnt, dass wir euch verstehen. Was ich schon an komischen und dramatischen Dingen gehört habe … Euch würden selbst die winzigen Härchen in euren seltsam geformten Ohren zu Berge stehen!“ Edison atmete zufrieden aus und legte sich entspannt auf seine Vorderpfoten.

„Dann bist du ein Spion!“, rief Nova aufgeregt. „Wie unglaublich cool. Beobachtest du Menschen und klärst Verbrechen auf?“

Edison starrte sie mit seinen türkisblauen Augen an. „Ich – ein Spion? Aber nicht doch! Ich bin das Gegenteil eines Spions. Ich bin ein freier Straßenkater und stolz darauf. Es käme mir niemals in den Sinn, meine überlegenen Fähigkeiten in den Dienst einer anderen Sache als meines eigenen Vergnügens zu stellen. Na ja, fast niemals.“

Henry und Nova sahen sich an. Nicht weit entfernt läutete die Kirchturmglocke von All Hallows achtmal. Normalerweise würde Henry jetzt verschwinden – in das kleine Zimmer mit den Holzbalken an der Decke direkt neben Novas. Horatio würde bald seine Runde drehen, um ihnen Gute Nacht zu sagen.

„Horatio kommt gleich“, sagte Nova hastig zu Edison. „Wir können ihm dann erzählen, dass wir dich verstehen. Ich bin so aufgeregt! Können wir jetzt auch mit anderen Katzen reden? Ich will unbedingt wissen, wie sich das anhört. Gibt es auch Katzen, die einen Akzent haben oder fremde Sprachen sprechen?“

Edison setzte sich auf und fauchte. „Auf gar keinen Fall könnt ihr Horatio von mir erzählen! Die Sache mit uns muss geheim bleiben. Versteht ihr mich?“ Er sprang zur Seite, formte seinen Rücken zu einem beeindruckenden Katzenbuckel und funkelte Nova und Henry an.

„K-kein Problem“, stotterte Henry.

„Aber warum denn?“, protestierte Nova.

„Weil Horatio sich nicht in die Angelegenheiten von Katzen einmischt. Nicht mehr – sollte ich wohl sagen. Er hat damit schlechte Erfahrungen gemacht. Ihr wisst ja – die Menschen mit dem größten Herzen machen manchmal auch die schlimmsten Dummheiten. Natürlich hilft Horatio immer, wenn es nötig ist, und er hat vielen Katzen sogar das Leben gerettet. Er nimmt heimatlose Katzen auf, gibt ihnen Schutz und füttert sie. Ihr seht ja selbst, wie viele von uns gern bei ihm bleiben. Aber er mag es gar nicht, wenn sich jemand von seinen Schützlingen in Gefahr begibt. Egal ob Mensch oder Katze.“

„Hast du nicht gerade gesagt, Horatio bildet uns hier zu Katzenbeschützern aus? Dann müsste er sich doch riesig freuen, wenn Henry und ich Fortschritte machen!“ Nova sah Edison hoffnungsvoll an. Es konnte doch nicht sein, dass sie Horatio nichts von ihrer großartigen neuen Fähigkeit berichten durfte! Das wäre ja so, als ob man ein tolles neues Fahrrad geschenkt bekäme, aber nur im Hausflur damit fahren dürfte.

Edison stieß einen tiefen Seufzer aus, der seine Schnurrhaare zum Zittern brachte. „Die Betonung liegt auf beschützen. Horatio hat hier mitten in der Stadt einen Zufluchtsort aufgebaut, an dem er sich um bedürftige Katzen kümmert. Er stellt keine Fragen danach, was in der Katzenwelt vor sich geht. Und dasselbe erwartet er von euch.“

Der Kater kniff die Augen zusammen und sah zur Seite, als ob er Novas Blick ausweichen wollte. „Ich fürchte, die Hilfe, um die ich euch bitten werde, hat wenig mit Fellbürsten oder dem Ziehen eines wackligen Zahns zu tun. Es ist nicht die Art von Angelegenheit, die man mit Horatio besprechen kann. Ich bin mir sicher. Ihr müsst mir also vertrauen.“

Nova sah zu Henry. Zum Glück konnte sie dieses riesige Geheimnis wenigstens mit ihm teilen. Henry öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, klopfte es an der Tür. Das musste Horatio sein!

Edison senkte seinen Kopf und flüsterte ihnen hastig zu: „Kommt heute um Mitternacht zur Mondschein. Dann erfahrt ihr mehr. Und vergesst nicht – kein Wort zu Horatio!“ Er warf Nova und Henry einen letzten warnenden Blick zu und verschwand mit einem gewaltigen Satz in der Dämmerung.

Die Tür öffnete sich und Horatio trat ein. Er trug ein langes weißes Hemd und eine Pyjamahose, dazu einen wehenden Schal, was ihn wie einen sehr großen und sehr breiten Opernsänger aussehen ließ. Um Horatios Beine strich Hector, der rot-weiße Kater. Nova vermutete, dass er Horatio deshalb überallhin folgte, um einige der Leckereien zu ergattern, die der Lehrer immer mit sich herumtrug.

„Habt ihr zwei die Kirchturmglocken nicht gehört?“ Horatio schien eher erstaunt als böse zu sein. „Ihr wisst doch: Nach acht Uhr sollt ihr in euren eigenen Zimmern sein. Es macht mir nichts aus, wenn ihr dann noch lest, aber ich will nicht, dass ihr nachts durch die Gänge schleicht.“

Nova nickte betreten. Horatio war immer so nett und verständnisvoll, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie diese Regel jede Nacht brach.

Hector hob den Kopf und sah Nova prüfend an. Sie sprang vom Sofa und lief auf den großen Kater zu. Wenn sie schon eine besondere Fähigkeit hatte, konnte sie diese ja jetzt einmal ausprobieren. „Na, mein Lieber, möchtest du vielleicht einen Cracker?“

Hector betrachtete regungslos sein Spiegelbild in Novas großen braunen Augen.

Sie griff hinter sich in die Tüte, die auf dem Boden stand. „Ja oder nein?“, fragte sie.

Hector blickte sie durchdringend an. Er rührte sich nicht.

„Also?“

„Miau“, sagte Hector mit leiser Stimme.

„Heißt das ja oder nein?“, fragte Nova, ohne die Hand auszustrecken.

„Nova!“ Horatios große Gestalt füllte den gesamten Türrahmen aus. „Hör auf, Hector so hinzuhalten. Du weißt doch, dass er nie Nein zu einem Cracker sagen würde.“

Seufzend öffnete Nova ihre Hand. Schneller, als man es von einem Kater seiner Körpergröße erwarten konnte, schnappte Hector sich den Cracker. Er schlang ihn zufrieden herunter, doch dabei ließ er Nova nicht aus den Augen – als hätte er bemerkt, dass hier etwas nicht stimmte.

„Also, Henry, los geht’s!“ Horatio klimperte mit dem Schlüsselbund in seiner Hand. Er drehte sich um. „Irgendwelche Gäste hier heute Abend, Nova?“