Wishkeeper, Band 1: Das Land der verborgenen Wünsche (Wunschwesen-Fantasy von der Mitternachtskatzen-Autorin für Kinder ab 9 Jahren) - Barbara Laban - E-Book

Wishkeeper, Band 1: Das Land der verborgenen Wünsche (Wunschwesen-Fantasy von der Mitternachtskatzen-Autorin für Kinder ab 9 Jahren) E-Book

Barbara Laban

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Beschreibung

Stellt euch vor, es gibt ein Land, in dem die unerfüllten Wünsche der Menschen gehütet werden. Kommt zusammen mit Lexi und Milo nach Everwish! Wünsche, die sich nicht erfüllen, gleichen wunderschönen Schmetterlingen und sind für die meisten Menschen unsichtbar. Nur Wishkeeper wie Lexi und Milo können sie sehen. Sie folgen ihnen aus London in das Land Everwish und wohnen einer wundersamen Verwandlung bei: Aus den Wunschschmetterlingen werden Lumix, Fireflashs, Neverlinge und Crimsons. Doch diese fantastischen Wesen brauchen Lexis und Milos Hilfe, denn Everwish ist in großer Gefahr. Entdecke alle fantastischen Abenteuer der Wishkeeper: Band 1: Das Land der verborgenen Wünsche Band 2: Die Reise nach Silversands Band 3: In der Eiswelt von Eterna Ebenfalls von Barbara Laban: Mitternachtskatzen Band 1: Die Schule der Felidix Band 2: Die Hüter des Smaragdsterns Band 3: Der König der Federträger Band 4: Der Geisterkater von Bakerloo Adventskalender: Mr Mallorys magisches Weihnachtsgeheimnis

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Seitenzahl: 268

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag GmbH © 2024, Ravensburger Verlag GmbH

Text © 2024 Barbara Laban Originalausgabe Cover- und Innenillustrationen: Alessia Trunfio Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51245-4

ravensburger.com/service

1

Lexi hatte den Jungen zunächst nicht bemerkt. Er stand vor dem Zeitungsregal und blätterte völlig versunken in einem der Comichefte. Selbst als sie ihm im Vorbeigehen versehentlich auf den Fuß trat, sah er nicht einmal auf.

Direkt neben der Kasse von Mr Pawar türmten sich die Süßigkeiten. Der freundliche Ladenbesitzer lächelte Lexi zu und rief: „Das neue Magazin ist gerade angekommen. Liegt noch auf dem großen Stapel hinten bei der Tür!“

Lexi lächelte und zuckte mit den Schultern. Ihre Mutter würde sich über die Zeitschrift freuen, aber sie hatte nur Geld für die Milch dabei und die war jetzt wichtiger. Zu Hause würde sie zwei große Tassen Kakao kochen und es sich dann auf dem Sofa neben Mama gemütlich machen.

Während Lexi den schmalen Gang mit den Kühlregalen entlanglief, klimperte sie mit den Münzen in ihrer Tasche. Mr Pawars kleiner Laden war so vollgestellt und unübersichtlich, dass man immer Gefahr lief, auf unterwartete Hindernisse zu stoßen. So erging es Lexi heute. Ein bunter Buggy verstellte ihr den Weg. Das Kind darin konnte Lexi zwar nicht sehen, dafür aber umso deutlicher hören: „Dolly!!!“, schrie es wütend und ein kleiner runder Arm schoss aus dem Buggy nach oben. „Ich will Dolly!!!“

Die Puppe, die Mr Pawar im obersten Regalfach zwischen zwei riesige Container mit weißer Farbe und ein orangefarbenes Teeservice gequetscht hatte, hieß tatsächlich Dolly. So stand es zumindest in fünf dicken roten Buchstaben auf dem Karton, in dem sie sich befand.

„Wow“, sagte Lexi zu der jungen Frau, die sich über den Buggy beugte und versuchte, das Kind zu beruhigen, „Ihre Tochter kann schon lesen?“

Die Frau hob den Kopf und lächelte Lexi an. „Sie ist noch nicht mal drei, aber sie kennt schon alle Buchstaben. Die Puppe sieht sie jedes Mal, wenn wir hierherkommen.“ Der Rest ihrer Worte ging in lautem Gebrüll unter. Lexi hielt sich die Hände auf die Ohren. Als das kleine Mädchen für einen Moment verstummte, sagte seine Mutter: „Ich kann Dolly leider nicht kaufen. Das habe ich dir doch schon gesagt. Hier im Laden bei den ganzen anderen Sachen fühlt sie sich sicher wohl. Das ist ja ihr Zuhause.“

Lexi fand die Ausrede ziemlich lahm, doch sie war ihr nicht fremd. Sie erinnerte sich an die Zeit, in der ihre Mutter noch zusammen mit ihr in Mr Pawars Laden gekommen war. Ein blauer Hund aus weichem Stoff mit riesigen Schlappohren hatte es Lexi angetan.

Mama war damals ehrlich gewesen. Es war Monatsende und sie hatten kein Geld, um den Hund zu kaufen. Sie hatte Lexi versprochen, dass sie in ein paar Tagen zurückkommen würden, wenn sie ihn sich leisten konnten. Doch da war der Hund schon nicht mehr da gewesen.

Manche Gegenstände in Mr Pawars Laden hielten sich ziemlich lang, andere waren bereits nach kurzer Zeit wieder verschwunden. Papa hatte dann später auf einer seiner Reisen einen ähnlichen Stoffhund aufgetrieben, aber es war eben nicht der gewesen, den sich Lexi gewünscht hatte.

Lexi seufzte. Sie lehnte sich ein wenig über den Griff des Buggys, um einen Blick auf das kleine Mädchen zu werfen, das inzwischen nur noch ab und zu aufschluchzte. „Dolly …“

Weiter vorn im Laden ertönte die Klingel über der Eingangstür. Lexi wollte schnell zurück zu ihrer Mutter. Noch mehr Kunden im Laden würden das verhindern. Mr Pawar war dafür bekannt, dass er schon mal zehn Minuten lang mit jemandem über das letzte Fußballspiel oder den ausbleibenden Sommerregen sprach.

„Könntest du ganz kurz aufpassen?“, fragte die junge Frau und sah ängstlich auf ihre Uhr. „Ich muss schnell ein neues Parkticket ziehen.“

„Eigentlich …“, wandte Lexi ein, aber die Frau lief schon los.

„Dolly!!!“, brüllte das kleine Mädchen wieder.

„Nein!“, sagte die Frau und drehte sich noch einmal zum Buggy um. „Du kannst Dolly nicht haben.“ Dann rief sie noch: „Mama ist gleich wieder da!“

Das kleine Mädchen blieb einen Augenblick stumm – fassungslos darüber, dass ihr nicht nur die Puppe verwehrt wurde, sondern jetzt auch noch ihre Mutter verschwand. Dann setzte das Schreien wieder ein.

Lexi wusste nicht, was sie tun sollte. Warum kam Mr Pawar ihr nicht zu Hilfe? Sie spähte zur Kasse und sah, dass er und Mrs Moore die Köpfe über einem Lottoschein zusammensteckten. Lexi versuchte, den Buggy beruhigend hin und her zu rollen.

Die Worte des Mädchens vermischten sich nun zu einem großen Durcheinander: „Ich will Dolly … wo ist Mama … nach Hause …“

Als Lexi den vertrauten hellen Ton in der Luft hörte, atmete sie erleichtert auf. Sie beugte sich weit über den Buggy, sodass sie jetzt die schwarzen abstehenden Zöpfe des Mädchens und sein hellgrünes Kleid sehen konnte. „Alles in Ordnung!“, rief sie ihm von oben zu.

Tatsächlich, vor dem Buggy glitzerte es. Lexi musste nur ein paar Sekunden warten, dann würde sich ihr Problem in Luft auflösen. Das Mädchen schrie weiter und rieb sich mit den Fäusten die Augen.

Als das Glitzern vor dem Buggy stärker wurde, machte Lexi sich bereit.

Da war ein winziger goldener Schmetterling, der langsam nach oben stieg. Erst flatterte er vor den Knien des Mädchens, dann vor seinem Kopf. Gleich müsste sie nur noch danach greifen, dachte Lexi. Die Schmetterlinge waren wendig und der ein oder andere war ihr schon entwischt. Deshalb kniff sie die Augen zusammen und konzentrierte sich. Wenn ihr bloß der Buggy nicht im Weg stünde!

Als es so weit war, beugte Lexi sich ganz nach vorn, streckte die Hand aus und griff – ins Leere! Jemand war ihr zuvorgekommen und hatte den Schmetterling gefangen!

„Was?!“, rief sie und blickte auf einmal in das Gesicht des Jungen mit den braunen Haaren vom Zeitungsregal. Er sah ernst aus und erstaunt und so, als hätte er tausend Fragen.

Doch dann blickte er auf seine Hand. Er ging in die Knie, direkt vor dem schluchzenden Mädchen. „Schau mal!“, sagte er. „Für dich!“

Er öffnete seine Hand und der Schmetterling kam zum Vorschein: ruhig und glitzernd. Er war wirklich wunderschön. Das Mädchen streckte seinen Arm aus und der goldene Schmetterling flog darauf. Lexi hörte es kichern und glucksen.

Hinter dem Jungen tauchte die Mutter des Mädchens wieder auf. Sie drängte sich zum Buggy durch und zog ihn in ihre Richtung. „Danke!“, rief sie Lexi zu und blickte fröhlich auf das kleine Mädchen. „Wie schön, dass Amira wieder so gut gelaunt ist.“ Den Schmetterling sah sie natürlich nicht.

Lexi griff ins Kühlregal und zog in aller Eile eine Milchpackung heraus. Mr Pawar war gerade frei. Sie hastete zur Kasse und legte das abgezählte Geld auf die Theke. Mr Pawar wünschte ihr noch einen schönen Tag, da war sie schon fast aus dem Laden gerannt.

Sie hörte gerade noch die Stimme des unbekannten Jungen hinter sich rufen: „Warte mal! Wie heißt du eigentlich?“

Doch Lexi drehte sich nicht einmal um und rannte, so schnell sie konnte, nach Hause.

2

Zwei Stunden später war Lexi wieder draußen unterwegs. Ihre Mutter war nach dem Kakao gleich eingeschlafen. Also hatte Lexi nach ihrem Rucksack gegriffen und sich auf den Weg gemacht – wie fast an jedem Nachmittag in diesen Sommerferien.

Als sie an Mr Pawars Laden vorbeilief, schoss der Ladenbesitzer zur Tür hinaus. „Lexi!“, rief er. „Ich hab da was für dich!“

Lexi lächelte. Mr Pawar schenkte ihr gern die verrücktesten Sachen, die er im Laden nicht mehr brauchte. Seifenblasen, deren Verpackung schon alt und verblasst war, oder neulich einen Schneebesen, bei dem der Griff abgebrochen war. Sie war gespannt, was er heute für sie hatte.

Leider hielt er ihr jedoch nur ein zerfleddertes Notizbuch mit abgegriffenen Seiten entgegen. Lexi war ein bisschen enttäuscht.

„Toll – oder?“, fragte Mr Pawar erwartungsvoll. Das graue Buch verströmte einen leichten Geruch, der entfernt an Kräutertee erinnerte.

Lexi schaute den Zeitungshändler an und versuchte, ein erfreutes Gesicht zu machen.

„Siehst du nicht?“, fragte Mr Pawar und zeigte mit seinen langen Fingern auf die Vorderseite des Notizbuchs. „Jemand hat es für dich vor die Tür gelegt!“

„Ich verstehe nicht …“, sagte Lexi.

Mr Pawar zog seine Hand zurück und betrachtete das dünne Buch. „Das gibt’s ja gar nicht“, murmelte er und sagte dann etwas lauter: „Da stand es ganz groß drauf, in richtig schöner Schrift. Gold und so. Hat mich wirklich gewundert.“

„Was stand drauf?“, fragte Lexi.

„Na ja: Für Lexi und Milo. Ganz deutlich. Aber jetzt ist die Schrift weg! Wie komisch …“ Mr Pawar blätterte durch die wenigen leeren Seiten des Hefts. Er sah sehr enttäuscht aus. „Muss wohl irgendein komischer Zufall sein“, murmelte er ratlos.

„Es gibt keine Zufälle!“, rief Lexi genau wie das Mädchen in dem Buch, aus dem ihr Mr Pawar manchmal ein paar Zeilen vorgelesen hatte, als sie noch jünger gewesen war.

Mr Pawar lachte. „Vielleicht willst du das Buch ja trotzdem behalten“, sagte er.

Lexi zuckte mit den Schultern.

Mr Pawar durchwühlte seine Tasche und zog ein pink verpacktes Kaubonbon hervor. „Hier!“, sagte er strahlend. „Das kannst du auch haben!“

Lexi freute sich. Sie mochte die pinken Bonbons. Sie wickelte es aus und steckte es in ihren Mund, bevor sie das Notizbuch in ihren Rucksack stopfte. Dann bedankte sie sich bei Mr Pawar und lief los.

Der Spielplatz im Hyde Park war riesengroß. Er wurde von einem Mann in neongelber Weste bewacht, der Lexi kannte und sie einfach durchwinkte. Der Eintritt war zwar nur Kindern in Begleitung von Erwachsenen erlaubt, aber der Parkwächter mochte Lexi. Sie hatten sich einmal darüber unterhalten, wie traurig Lexis Mutter oft war. Der Parkwächter hatte von seiner Schwester erzählt, die in einem anderen Land wohnte und sich häufig einsam fühlte. Seither stellte er Lexi keinen Fragen mehr. Vor allem fragte er nicht, ob sie nicht eigentlich zu alt für diesen Ort wäre.

Jedes Mal wenn Lexi über den weichen Boden mit den Holzspänen lief und das riesige Piratenschiff erblickte, auf dem jede Menge Kinder herumkletterten, fühlte sie sich fröhlich und es war so, als ob die Luft auf einmal frischer und lebendiger wäre. Seit sie denken konnte, kam sie häufig hierher. Früher immer mit Mama oder Papa, aber schon seit über zwei Jahren allein.

Lexi sah auf das Gewimmel an einem Klettergerüst und erinnerte sich an die Zeiten, als sie selbst dort oben gewesen war und ihre Eltern sie von unten beim Klettern ermutigt hatten. Sie war so in Gedanken, dass sie auf einmal über etwas stolperte.

Sie spürte einen dumpfen Schmerz an ihrem Schienbein und landete kopfüber in einer Sandgrube.

Lexi setzte sich auf und rieb sich mit sandverschmierten Händen das Bein.

Ein kleines Mädchen mit roten Locken rief: „Du bist über Ducky gefallen!“, und fing an, sich kaputtzulachen. Andere Kinder im Sandkasten stimmten mit ein und Lexi sah verärgert auf die kleine Wippe mit Entenkopf am Rand des Sandkastens.

„Das war so lustig!“, schrie das Mädchen. „Mach’s noch mal!“

Lexi fühlte ihre Wangen heiß werden und ihre Beine kalt. Jetzt schauten auch noch ein paar Eltern von den nahen Bänken mitfühlend in ihre Richtung. Wie schrecklich peinlich!

Beim Aufstehen fiel sie dann fast wieder um. Ihr Schuh hatte sich vom Fuß gelöst und steckte im Sand fest. Sie griff danach, aber jemand kam ihr zuvor.

„Ich wusste, dass du hierherkommst“, sagte jemand zu ihr. „Ich hab auch schon welche auf dem Spielplatz gefunden!“

Lexi versuchte zu antworten, aber kein Wort wollte ihren Mund verlassen. Vor ihr mit ihrem blauen Turnschuh in der einen Hand und einem Notizblock in der anderen stand der Junge aus Mr Pawars Laden. Der Junge, der die Schmetterlinge ebenfalls sehen konnte.

3

Die meisten Jungs, die Lexi kannte, redeten nicht besonders viel. Schon gar nicht mit einem Mädchen, das sie gerade erst zum zweiten Mal trafen. Sie fand den Jungen daher überaus seltsam. Er trug eine schwarze Jeans und darüber ein T-Shirt mit einer Art Sonne, die Lexi an das Logo einer Band erinnerte.

Er stand ihr gegenüber und musterte neugierig ihre schmutzigen Knie und Hände.

„Ich hab keine Ahnung, wovon du redest“, sagte Lexi, nahm ihm den Schuh aus der Hand und schlüpfte hinein. Dann lief sie in Richtung der Schaukeln, aber der Junge stellte sich ihr in den Weg. „Bitte geh nicht!“, sagte er. „Es gibt nur ganz wenige Menschen, die die Motten auch sehen können.“

„Motten?“, fragte Lexi empört. „Das sind ja wohl Schmetterlinge! Hast du etwa keinen Biologieunterricht?“ Sie fühlte, wie ihr Herz schneller pochte. Es war eine Sache, jemanden zu treffen, der anscheinend ihr Geheimnis kannte. Eine andere, sich auch noch mit ihm darüber zu unterhalten.

„Hi, Milo!“, brüllte es auf einmal aus einiger Entfernung und der Junge drehte seinen Kopf in Richtung des Zauns, der den Spielplatz umgab. „Ist das etwa deine Freundin?“

Die drei Jungs, die dort standen, trugen Shorts und Fußballshirts. Einer hatte einen Ball unter dem Arm. Ein anderer rüttelte am Zaun. „Wie romantisch – ihr trefft euch auf dem Spielplatz!“

Alle drei brachen in schallendes Gelächter aus und der Junge mit dem Ball verzog sein sommersprossiges Gesicht zu einer Grimasse mit Kussmund. Lexi war sich sicher, die drei schon öfter gesehen zu haben. Allerdings an Schultagen, wenn sie mit frisch gekämmten Haaren, Schuluniform inklusive Krawatte und teuren Rucksäcken mit gesenkten Köpfen in die Schule um die Ecke von Lexis Wohnblock marschierten, die sich nur Familien mit einem hohen Einkommen leisten konnten. In den Ferien benahmen sie sich anscheinend umso schlechter.

Der Junge aus dem Zeitungsladen ließ sich von den dreien nicht aus der Ruhe bringen. Er rief zurück: „Halt besser die Klappe, Thomas, und geh zum Training. Dann schießt du beim nächsten Spiel nicht wieder ein Eigentor.“ Das Gelächter hinter dem Zaun verstummte für einen Augenblick.

Ein Gedanke schoss durch Lexis Kopf: Milo – wo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört? Dann fiel es ihr ein. Sie nahm ihren Rucksack ab, der ihr auf einmal unglaublich schwer vorkam. Hatte sie aus Versehen ein paar Schulbücher darin vergessen? Sie öffnete ihn und sah hinein. Dort lag es, grau und unscheinbar: das Notizbuch. Mr Pawar hatte zu ihr gesagt, das Buch sei für Lexi und Milo!

Der Junge reckte den Hals und sah über Lexis Schulter hinweg. Dann rief er: „Schau mal dahinten!“

Zunächst konnte Lexi nichts erkennen. Bei den Wasserspielen war das Gewimmel von Kindern einfach zu groß. Doch dann sah sie das vertraute Glitzern. Es kam aus einem Kinderwagen.

Sie rannten gleichzeitig los. Milo lief schnell und Lexi hatte Mühe mitzuhalten. Aus dem Kinderwagen stieg nicht nur das geheimnisvolle Glitzern auf, sondern auch ohrenbetäubendes Gebrüll.

„Was hat es denn?“, rief Lexi erstaunt, als sie sich über den grünen Rand des Kinderwagens beugten und das Baby, das darin lag, betrachteten.

Der Schmetterling, der aus dem Kinderwagen aufstieg, war winzig. Er hatte silberne Flügel. Lexi fing ihn so vorsichtig wie möglich ein. Er kribbelte auf ihrer Handfläche. Behutsam setzte sie ihn auf den nackten Arm des Babys.

Mit einem Schlag hörte es auf zu schreien und fing an, friedlich zu gurren.

Milo nickte anerkennend. „Was für eine kleine Motte“, sagte er.

„Vielleicht liegt es daran, dass sie von einem Baby kommt“, entgegnete Lexi nachdenklich. Sie setzten sich neben dem Kinderwagen auf den Boden.

„Hast du schon viele gesehen?“, fragte Milo.

Lexi nickte. „Ich kann mich gar nicht mehr an den ersten Schmetterling erinnern“, sagte sie und überlegte. „Eine Weile dachte ich, jeder kann sie sehen.“ Sie schluckte. Es war so ein großes Geheimnis, dass es sich komisch anfühlte, es so einfach auszusprechen.

Milo nickte erneut. „Hat bei mir auch lang gedauert. Mein Vater wollte mich schon zum Arzt schicken. Halluzinationen und so. Er kann Dinge nicht ausstehen, die man nicht wissenschaftlich erklären kann. Aber wir sind nicht die Einzigen, weißt du. An meiner Schule gibt es einen Jungen, der …“

Im nächsten Moment stand auf einmal eine Frau hinter ihnen. Es musste die Mutter des Babys sein, denn sie hielt nun den Griff des Kinderwagens fest. Sie sah erschöpft und gleichzeitig erleichtert aus. Sie hatte ein kleines Mädchen auf dem Arm und sagte zu ihm: „Du darfst dich nicht mehr verstecken. Versprich mir das! Ich hab mir solche Sorgen gemacht und Louis hat furchtbar geweint.“

Dann bemerkte sie Lexi und Milo. „Habt ihr ihn beruhigt?“, fragte sie erstaunt. „Vielen Dank! Lotta war verschwunden und ich konnte sie eine Weile nicht mehr finden. Louis wird immer ganz panisch, wenn ich etwas länger weg bin. Aber vorhin hat er noch geschlafen.“ Sie lächelte müde.

„Kein Problem!“, rief Lexi und folgte mit den Augen dem Schmetterling, der jetzt in der Luft über ihnen schwebte und dabei kleine Purzelbäume schlug. Er sah aus wie ein silberner Tupfer, der begann, Richtung Himmel zu gaukeln.

Milo war aufgesprungen. „Wir können ihm folgen!“, rief er. „Komm schon!“

Lexi war zu neugierig, um zurückzubleiben. Sie rief der Frau und ihren Kindern ein kurzes Tschüss! zu und lief hinter dem Jungen her. So schnell wie möglich drängte sie sich durch die Menschentraube am Eingang des Spielplatzes und rannte dann auf die große Wiese davor, die Nase immer in der Luft, die Augen fest auf den silbernen Tupfer geheftet.

Heute war im Park viel los. Überall wurde Fußball gespielt oder Fangen oder einfach nur geredet. Das Gras auf den Wiesen war trocken und braun vom langen warmen Sommer. Lexi hörte es unter ihren Schuhsohlen knistern, während sie rannte.

Wer war dieser Milo nur? Seine Augen blitzten neugierig und er schien ganz schön selbstbewusst zu sein. Lexi wusste wirklich nicht, ob sie ihn nett oder einfach nur komisch finden sollte.

Mittlerweile war das Ende des Parks in Sicht. Man konnte schon die Autos auf der Kensington High Street hören und auf der anderen Straßenseite blitzte die Kuppel der Royal Albert Hall auf. Auf Lexis und Milos Seite stand das goldene Prinz Albert Memorial.

Der Tupfer schien sich jetzt schneller zu bewegen, bis er schließlich anhielt.

Lexi sah mit offenem Mund zur Statue. Dort kreiste eine riesige bunte Wolke und sie bestand – aus Schmetterlingen! In allen Farben und Größen schwebten die Wesen direkt über dem Denkmal, das auf seinem Podest stand, als hätte es nur auf sie gewartet.

Das Denkmal war riesengroß. Die Wolke senkte sich langsam von dem spitzen Dach über der Statue nach unten.

Milo stand staunend an dem Zaun, der das Denkmal umgab. „Er hatte recht!“, murmelte er, als Lexi Schulter an Schulter neben ihm stand.

„Wer hatte recht?“, fragte sie.

„Der Junge in meiner Schule“, erklärte Milo. „Talon Matthews. Nicht besonders gesprächig, aber ich hab mal gesehen, wie er mit einer Motte geredet hat. Na ja, er hat nicht wirklich geredet, aber sie saß auf seiner Hand und er hat sie sogar gefüttert. Er war total überrascht, dass ich die Motte sehen konnte. Und er hat mir verraten, dass viele von ihnen in den Hyde Park fliegen.“

Lexi runzelte verwirrt die Stirn. Wie viele Leute liefen wohl noch in London herum, die ihre geheimnisvollen Schmetterlinge sahen? Von den Passanten im Park blickte zum Glück niemand zu der Wolke über dem Denkmal.

Der Junge nickte ihr zu. „Ich bin übrigens Milo“, sagte er.

Lexi entgegnete nichts. Stattdessen nahm sie ihren Rucksack ab und zog das Notizbuch hervor. Es sah immer noch alt und grau aus, aber was war das? Wie Mr Pawar es ihr beschrieben hatte, stand dort auf einmal in wunderbar glänzender, schnörkeliger Schrift: Für Lexi und Milo.

Milo fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Hast du das gemacht?“, rief er.

Lexi schüttelte den Kopf und öffnete das Buch. Die Seiten fühlten sich kühl und glatt an. Und – sie waren nicht mehr leer.

Na endlich!, stand dort.

Milo sah genauso erstaunt wie sie auf die Schrift.

Beeilt euch!, erschien wie von Geisterhand eine neue Zeile im Buch.

Fast hätte Lexi es fallen gelassen, so erschrocken war sie.

Das Portal schließt sich gleich. Folgt den Inklingen!

„Den was?“, fragten Lexi und Milo gleichzeitig.

Motten, Schmetterlinge – keine Ahnung, wie ihr sie sonst noch nennt. Ihr zwei seid wirklich ein bisschen schwer von Begriff.

Lexi schnappte nach Luft. Konnte es wirklich sein, dass sie gerade von einem Buch beleidigt worden war?

Dann passt mal gut auf, erschienen mehr Worte in dem Buch. Stellt euch vor, es gibt ein Land, in dem die verlorenen Wünsche der Menschen überleben. Kleine und große Wünsche, wichtige und alberne, nützliche und völlig verrückte. Sie warten dort darauf, ob sie jemals wieder gebraucht werden. Und ihr beide könntet dabei helfen, auf sie aufzupassen und sie irgendwann wieder zu ihren Besitzern zurückzubringen. Na, wie klingt das?

Völlig unglaublich klingt das!, dachte Lexi. Jemand machte sich einen Spaß mit ihnen. Sie wusste nicht, wie es funktionierte, aber was auch immer hinter diesem Buch steckte, es war sicher ein Trick.

Doch trotzdem fühlten sich die Worte, die sie las, irgendwie bedeutsam an. Sie erinnerten Lexi an ihre Mutter. An die Zeit, in der Mama sich noch Sachen gewünscht hatte: ein neues Fahrrad, einen Ausflug ans Meer, Sommerferien, in denen Papa nicht die Stadt verlassen musste. Jetzt wünschte Mama sich gar nichts mehr – sie war nur noch traurig.

Lexi merkte, dass ihre Lippen schmerzten. So fest hatte sie sie zusammengepresst.

Milo brauchte offenbar keine weitere Aufforderung. Wie selbstverständlich begann er, über den Zaun zu klettern.

„Hey!“, rief Lexi. „Was machst du denn da? Glaubst du tatsächlich, was hier drin steht?“ Sie hatte das Buch zugeklappt und inspizierte es genau. Verbarg sich daran eine Kamera oder vielleicht sogar ein ganzer Minicomputer? Sie fand jedoch nichts Außergewöhnliches. Es war ein ganz normales, nicht besonders schönes Notizbuch.

„Ich folge den Motten!“, rief Milo ihr zu. „Das wollte ich schon immer machen, denn davon hat mir Talon auch erzählt! Und wenn es stimmt, was in dem Buch steht, dann sehen wir endlich, wo sie hinfliegen.“ Er wandte sich von ihr ab und lief die Stufen hinauf. Als er schon bei der weißen Umrandung des Denkmalsockels angekommen war, rief er: „Das ist der Wahnsinn – komm schnell!“

Lexis Neugierde siegte über ihre Vernunft. Sie stieg über den Zaun und rannte die Stufen hinauf. Jetzt erst sah sie, dass die weiße Umrandung des Denkmals aus kleineren Statuen bestand. Unglaublich vielen davon. Aber ihr blieb keine Zeit, sich genauer umzusehen. Milo war nämlich verschwunden. Und mit ihm die Schmetterlingswolke. Ratlos stand Lexi oben auf dem Denkmal und blickte auf die Wiesen des Parks.

Dann hörte sie ein leises Summen in der Luft und duckte sich. Es war ein kleiner lilafarbener Schmetterling! Er schien ihr mit seinem winzigen Knopfauge zuzuzwinkern und flatterte los. Zwischen den weißen Statuen tat sich ein Spalt auf, der immer größer wurde. Gleißendes Licht strömte daraus hervor. Lexi sah, wie der Schmetterling in das Licht flog. Noch einmal drehte er den Kopf zu ihr.

Der Spalt zwischen den winzigen Statuen war jetzt so groß wie eine Tür. Der Schmetterling verschwand darin und Lexi folgte dem seltsamen Wesen, ohne darüber nachzudenken, was als Nächstes passieren würde.

4

Das Licht um sie herum war auf einmal so hell, dass Lexi die Augen schließen musste. Sie trat einen Schritt nach vorn – und fiel ins Leere! Es war zum Glück nur ein kurzer Fall, aber ihr Körper kam nicht zum Stillstand. Im Gegenteil. Lexi dachte erst, sie wäre auf einer besonders steilen Wasserrutsche gelandet – nur war es überhaupt nicht nass! Sie glitt nach unten, Kurve um Kurve und überschlug sich sogar einmal. Komischerweise tat ihr dabei nichts weh, denn irgendetwas polsterte die rasante Fahrt ab. Wieder und wieder versuchte Lexi die Augen zu öffnen, während das grelle Licht sie blendete, doch es war kaum etwas zu erkennen.

Einmal blickte sie kurz auf ihre Hand und sah dort den lilafarbenen Schmetterling sitzen. Er schaute sie ruhig und friedlich an, so als würden sie nicht gerade mit atemberaubender Geschwindigkeit in eine unbekannte Tiefe rutschen. Und seltsamerweise fühlte auch Lexi sich ganz entspannt.

So rasant, wie die Fahrt begonnen hatte, war sie auf einmal zu Ende. Lexi landete sitzend auf einer elastischen Unterlage und fühlte, wie sie hochgeschleudert wurde. War sie auf einer Art Trampolin gelandet?

Und tatsächlich, boing, boing, boing, landete sie und flog danach wieder und wieder in die Luft. Aber sosehr Lexi das Trampolinspringen normalerweise gefiel, so sehr wünschte sie sich jetzt, es würde aufhören.

Sie fiel erneut herunter und – blieb sitzen! So als wäre ihr Wunsch plötzlich Wirklichkeit geworden. Verwirrt tastete sie den Boden ab. Warum war er mit einem Mal so weich und flauschig geworden und sah gleichzeitig aus wie eine helle Marmorfläche? Lexi richtete ihren Blick nach oben und ein Schreck durchfuhr sie. Um sie herum standen Statuen, die denen des Denkmals verblüffend ähnelten. Doch diese Statuen waren so groß wie echte Menschen, nicht winzig klein wie die des Denkmals.

„Die Landung“, sagte eine Stimme etwas entfernt von ihr, „die Landung war ausgezeichnet! Viel besser als Milos.“

Lexi stand auf und sah sich um. Warmes Sonnenlicht schien auf eine Landschaft, die sie irgendwie an Italien erinnerte: ein paar gelbe Felder, dahinter grüne Hügel mit einigen Bäumen darauf. Wie war sie nur hierhergekommen?

„Milo!“, rief sie erleichtert. Er stand neben einem großen Baum und hielt die Hand über seine Augen, um sie vor der Sonne zu schützen. Lexi fand eine Lücke zwischen zwei Statuen und lief zu ihm. „Wo sind wir?“, rief sie dabei und klopfte ihre Jeans ab, an der ein paar kleine Steinchen klebten. „Was ist passiert? Ich verstehe überhaupt nicht …“

Milo wollte antworten. Er runzelte die Stirn und senkte die Hand, aber jemand in seiner Nähe, den Lexi nicht sehen konnte, begann zu sprechen: „Willkommen in Everwish, Lexi! Land der Longing Mountains und Wishing Tree Woods. Heimat der Neverlinge, Lumix, Fireflashs und Crimsons. Ewiges Zuhause der Flippanti, Irritati, Confussler und Horroxer. Aber dazu kommen wir gleich! Milo kann es ebenfalls kaum erwarten, mehr über unsere wundervolle Welt zu erfahren. Du hast ihn ja eine ganze Weile warten lassen.“

Die Stimme war weich und tief. Sie erinnerte Lexi an die Töne des Cellos ihrer Nachbarin Mrs Walters, die jeden Abend um sechs Uhr bis in ihr Wohnzimmer drangen. Doch zu wem gehörte die Stimme? Außer Milo konnte Lexi weit und breit keine Menschenseele erblicken. Und Lexi begriff auch nicht, was die Stimme gesagt hatte. Wie konnte Milo schon länger auf sie warten? Er war doch genau vor ihr durch den komischen Spalt zwischen den Statuen verschwunden.

Milo selbst erklärte nichts und sah sie einfach mit großen Augen an. Dabei zeigte er fast schüchtern auf den Baum.

Der Baum war beeindruckend. Er war größer als alle Bäume, die Lexi jemals in London gesehen hatte. Mit seinen Ästen und Zweigen, die bis auf den Boden hingen, bildete er einen perfekten Halbkreis. Die Blätter waren herzförmig und strahlten in hellen Farben – gelb und orange. Auf der Rinde befand sich teilweise eine Art Moos. Zu Lexis Verwunderung war es orange mit gelben Punkten. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

„Das ist Cascadia. Sie spricht“, murmelte Milo endlich. „Ich weiß, das ist total seltsam …“

„Entschuldige bitte, Milo“, sagte die Stimme. Lexi war sich jetzt sicher, dass sie zu einer Frau gehörte. „Was an mir ist denn seltsam? Wunderbar, bezaubernd, magisch – wäre das nicht vielleicht eine bessere Beschreibung?“

Die Stimme kam auf jeden Fall aus dem Baum. Lexi trat vorsichtig an den Stamm heran und streckte ihre Hand aus. Sie berührte die Rinde, die ihr außergewöhnlich warm vorkam, mit den Fingerspitzen. „Ich verstehe nicht, was hier los ist!“, rief sie Milo zu. „Versteckt sich jemand in dem Baum?“

„Nein“, antwortete Milo, „ich habe nachgesehen. Da ist keiner. Der Baum spricht!“

Als die Stimme wieder ertönte, sah Lexi es: Dicht über ihrem Kopf war ein Spalt in der Rinde, der auf- und zuging wie ein Mund. Und an zwei Ästen darüber, in die sich der Stamm teilte, sah sie zwei augenförmige Löcher. Sie glitzerten hellbraun und an ihren Rändern konnte Lexi sogar lange braune Wimpern erkennen. Überhaupt verzog sich die gesamte Rinde um Mund und Augen herum, wenn die Stimme erklang.

„Ich sehe“, sagte der Baum jetzt, „Libros hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Zwei Wishkeeper zur selben Zeit. Wie wunderbar!“

Lexi bohrte ihren Zeigefinger in ihre Handfläche, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Doch was auch immer hier gerade passierte, jemand musste ihre Fragen beantworten, selbst wenn es ein Baum namens Cascadia war. Hastig kramte sie in ihrem Rucksack, fand das Notizbuch und ließ es vor sich auf den Boden fallen. „Redest du von dem hier? Wer hat uns das geschickt?“, fragte sie den Baum. „Warum sind wir hier?“

Das waren nicht alle Fragen, die Lexi hatte, aber es war wenigstens ein Anfang.

„Oh, oh“, sagte der Baum jetzt erschrocken und riss seine Augen erstaunlich weit auf, „Libros wird ziemlich sauer sein.“

Einer der Zweige, die dicht über dem Boden hingen, begann sich zu bewegen. Lexi sprang zu spät zur Seite, doch der Zweig wich geschickt ihren Füßen aus. Als er das Buch erreicht hatte, streichelte er sanft über den Umschlag, bis dieser sich öffnete.

Die Seiten des Buchs waren zunächst leer, aber auf einmal erschienen riesige, kraklige Buchstaben darauf: Unglaublich! Unmöglich! Unfassbar! Was für ein außerordentlich ruppiges und unverschämtes Benehmen!

Der Baum flüsterte jetzt, sodass Lexi sich anstrengen musste, ihn zu verstehen: „Könntest du dich bitte entschuldigen, Lexi? Wenn Libros schlechte Laune hat, wird es manchmal ausfallend …“

„Wofür soll ich mich denn entschuldigen?“, fragte Lexi entrüstet.

Wieder erschienen Worte auf dem Papier. Diesmal waren sie noch krakliger. Natürlich für den Schreck, den du mir eben versetzt hast. Ich bin empfindlich! Und geradezu unverschämt, wie du mich in deinen Rucksack gestopft hast. Darin riecht es nicht besonders gut. Total muffig. Wenn ich dir einen Rat geben darf …

Der Zweig strich erneut über das Buch, diesmal, um es zu schließen. „So beleidigt, wie Libros nun ist, sollten wir ihm ein wenig Zeit geben“, sagte der Baum.

„Das Buch lebt …“, stammelte Milo und starrte mit offenem Mund auf den Boden. „Und es will sich mit uns unterhalten!“

5

„Möchtet ihr etwas trinken?“, fragte der Baum. Es raschelte in den Zweigen und auf einmal standen, angelehnt an ein paar mit Moos bedeckte Wurzeln des Baums, zwei hübsche kleine Tassen vor ihnen, in denen eine warme Flüssigkeit dampfte.

„Nur zu!“, ermutigte sie Cascadia. „Der Tee wird euch helfen, den Schock zu verdauen.“

Milo hob beide Tassen vom Boden auf und reichte Lexi eine davon. „Das ist schon meine zweite Tasse“, murmelte er und trank. „Cascadia nennt es Toffeetee.“

Vorsichtig hob Lexi die Tasse an den Mund. Sie war wirklich durstig. Der Tee schmeckte nach Johannisbeeren und ein wenig nach Zitrone. Er war süß und sauer zugleich und so köstlich, dass Lexi sich tatsächlich ein wenig beruhigte.

„Um deine Frage zu beantworten, Lexi, warum ihr hier seid …“, sagte Cascadia und sie klang wirklich freundlich und so als wäre das, was gerade passierte, völlig normal. „Libros, so heißt das wunderbare Buch vor dir, dachte anscheinend, es wäre an der Zeit, wieder Wishkeeper nach Everwish zu holen. Deshalb seid ihr hier. Eigentlich bekomme ich nur etwa alle zweihundert Jahre neuen Besuch. Und auch niemals von zwei Menschen gleichzeitig. Ich hoffe, es hat nichts mit der Waage zu tun …“

Cascadia raschelte mit ihren Blättern, obwohl überhaupt kein Wind wehte. „Dafür bin ich nämlich verantwortlich. Aber das Gleichgewicht in Everwish ist noch nie gestört worden. Oder fast nie.“ Das Rascheln hörte auf und Lexi glaubte, Cascadia seufzen zu hören. „Ich muss also annehmen, dass es an Talon liegt. Ich habe auch schon angefangen, mir Sorgen zu machen. Manchmal denke ich, ich kann ihn hören, aber sicher bin ich mir nicht.“

Lexi öffnete den Mund, denn statt eine Frage zu beantworten, hatte Cascadia noch ein weiteres Rätsel hinzugefügt. Milo war jedoch schneller als sie: „Du meinst Talon Matthews, stimmt’s?“ In seiner Stimme lag etwas Düsteres.

„Glatte blonde Haare, spitzes Gesicht und nicht besonders redselig“, sagte Cascadia.

Milo nickte ernsthaft. „Er war heute Morgen nicht im Fußballcamp. Alle Trainer haben nach ihm gefragt“, sagte er.