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Im Namen der Katzenkönigin Nova und Henry sind Felidix, Katzenbeschützer, und sie sind höchst alarmiert, als sie von den Plänen des grausamen schottischen Katzenkönigs Fergus Finnigan erfahren: Er strebt die Macht über alle Königreiche auf den Britischen Inseln an und will dafür den Smaragdstern, das Symbol für den Frieden unter den Katzen, in die Pfoten bekommen und zerstören. Aber der kostbare Edelstein scheint spurlos verschwunden zu sein. Gelingt es Nova und Henry, ihn vor Fergus zu finden? Alle Abenteuer mit den Mitternachtskatzen: Band 1: Die Schule der Felidix Band 2: Die Hüter des Smaragdsterns Band 3: Der König der Federträger Band 4: Der Geisterkater von Bakerloo Adventskalender: Mr Mallorys magisches Weihnachtsgeheimnis
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2022
Als Ravensburger E-Book erschienen 2022Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2022, Ravensburger VerlagText © 2022 Barbara LabanOriginalausgabeCover- und Innenillustrationen: Jérôme PélissierAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51140-2ravensburger.com
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Henry faltete das Papier schnell auseinander. Mit schwarzer Tinte waren darauf tatsächlich nur zwei leicht gebogene Striche gezeichnet. Vor wenigen Wochen hatte Königin Quinn ihnen die Bedeutung von Symbolen in der Katzenwelt erklärt. Die Krone zum Beispiel war das Symbol der königlichen Katzen und wurde am Hof überall verwendet. Nova verstand also sofort, was die Zeichnung bedeutete.
„Fischgräte heißt, ein Mitglied der königlichen Familie ist in Gefahr.“ Pablo sprach aus, was die anderen dachten.
„Als wir Ruby und Rick gefunden haben, war auch eine Fischgräte in ihrem Korb.“ Nova sah zu Henry.
„Eine Warnung an die Königin natürlich“, sagte Henry. „Immerhin hat Penelope Euch ja auch entführt.“
„Und ihr habt mich befreit.“ Quinn sah nachdenklich aus. „Doch warum schickt jetzt jemand zwei Fischgräten?“
„Wir müssen herausfinden, woher die Botschaften kommen. Jemand will Euch anscheinend warnen, traut sich aber nicht, mit Euch zu sprechen.“ Nova nahm Ruby auf den Arm und streichelte über ihre kleinen Pfötchen. Ruby schnurrte und drückte ihren Kopf gegen Novas Hand.
Edison nickte zustimmend. „Die Botschaft befand sich in einer Packung mit Lachskeksen, die Königin Quinn zu ihrem Geburtstag bekommen hat. Wir wissen nicht, wer sie geschickt hat. Ich habe all meine Kontakte unter den Straßenkatzen genutzt, aber keiner konnte weiterhelfen.“
Von den anderen unbemerkt war Rick zu Quinn auf den Thron gesprungen und kuschelte sich an das weiche Fell der Königin. Quinn leckte Rick, dessen Augen bereits zugefallen waren, freundlich über die Ohren, als wäre es selbstverständlich für kleine Katzen, es sich auf ihrem Thron bequem zu machen.
„Ich habe also beschlossen, dass es gut wäre, die Zahl der Mitternachtskatzen zu verdoppeln. Edison will schließlich nicht ewig hier im Palast wohnen, auch wenn ich mich sehr viel sicherer fühle, wenn er hier ist“, erklärte die Königin.
Wenn Katzen rot werden könnten, sähe Edison jetzt aus wie eine Tomate, dachte Nova, als der Kater neben ihr zu stammeln begann: „Ich … äh … bleibe gern auch länger.“
„Jedenfalls müssen wir auf der Hut sein“, sagte Quinn. „Doch jetzt sind andere Dinge wichtig. Nova, Henry, könntet ihr bitte die Tür öffnen? Und, Pablo, wenn du möchtest, kannst du den großen Gong schlagen, damit der Hofstaat sich versammelt.“
Erst jetzt bemerkte Nova die runde Metallscheibe, die nur wenige Meter neben dem Thron hing. Über dem Gong befand sich ein Podest, auf welchem eine Kugel lag. Diese war an einem Seil befestigt. Es kostete Pablo jede Menge Kraft, sie von dem Podest zu schieben, sodass sie gegen den Gong schlug. Der ganze Raum schien zu erbeben, doch Ruby und Rick öffneten jeweils nur müde ein Auge. Henry nahm Rick schnell vom Thron, um ihn auf ein weiches geblümtes Kissen auf dem Boden zu legen.
Nova hatte die Flügeltüren aus Glas kaum aufgeschoben, da drängten sich schon die Katzen an ihr vorbei. Sie erkannte Harriet und Holly vom Eingang, umgeben von zahlreichen weiteren Langhaarkatzen, eine prächtiger als die andere. Es folgten Zia und einige weitere Siamkatzen sowie eine Sphinxkatze ohne Fell, vor der Pablo respektvoll zurückwich. Vier Bengalkatzen stürmten herein und sprangen sofort über ein Gerüst aus dünnen Baumstämmen auf einen Balken, der dicht unter der Kuppel an zwei Seilen hing. Eine riesige, hohe Schaukel, dachte Nova. Allerdings war das nur etwas für Leute, die schwindelfrei waren, oder eben für Katzen.
Ganz zum Schluss kamen die Mitternachtskatzen. Novas Herz klopfte schneller. Shayan, ihr Anführer, lief voran. Sein graues Fell war in sanfte Wellen gekämmt. Es folgten ihre Freunde Fox und Leandro, dahinter neun weitere Katzen, die alle in Dreierreihen und im Gleichschritt liefen. Sie stellten sich im Spalier direkt vor dem Thron auf.
„Liebe Freunde“, begann Königin Quinn, „es hat sich sicher schon herumgesprochen, warum ich euch heute hier versammle. Katzen sind Meister im Hüten von Geheimnissen, solange sie allen anderen Katzen davon berichten können.“
Einige der Langhaarkatzen begannen zu kichern. Erst verstand Nova nicht, was so lustig war, aber als sie Hollys Blick nach oben folgte, sah sie, dass einer der Bengalkater nur noch mit einer Pfote am Balken hing. Die Katze neben ihm grinste. Der Bengalkater zog sich geschickt wieder hoch und zeigte dabei seinen wunderschönen sandfarbenen Bauch mit den braunen Tupfen.
Auch Königin Quinn hatte den Aufruhr bemerkt, sprach aber trotzdem weiter. „Ihr denkt vielleicht, ich breche mit der Tradition, wenn ich weitere Mitternachtskatzen an den Hof berufe. Doch ich habe meine Gründe. Unser Hof, unser Königreich, unser ganzes Land und die Art, wie wir leben, sind in Gefahr. Fast hätte Penelope uns besiegt und nur durch die Hilfe der Felidix konnte das Schlimmste verhindert werden. Penelope ist jedoch nicht die einzige Bedrohung für den Frieden unter den Katzen. Ich habe gehört, sie sucht Unterstützung in anderen Teilen der Britischen Inseln.“
Nova fühlte, wie Pablo aufgeregt um ihre Beine strich.
„In einer Woche werden die Prüfungen beginnen“, fuhr Königin Quinn fort. „Bis dahin können sich Kandidaten bei mir melden. Die Straßenkatzen werden die Botschaft im ganzen Land verbreiten. Jede Katze, egal woher sie kommt, darf an den Prüfungen teilnehmen. Wir werden zwölf neue Mitternachtskatzen aufnehmen.“
Ein Raunen ging durch den Raum. Die Siamkatzen begannen, aufgeregt zu flüstern, und auch die Bengalkatzen hoch über ihnen folgten Königin Quinns Worten nun gespannt.
Die Königin wartete ab, bis sich ihr Publikum beruhigt hatte. „Einladungen an alle Katzen, die bei den Prüfungen zusehen wollen, werden bereits verschickt. Gerade habe ich gehört, dass sich Sir Cormac aus Irland in London befindet. Es sieht also so aus, als hätten wir auch Zuschauer aus einem anderen Königreich unter uns.“
Holly hob den Kopf und rief: „Stimmt es, dass der schottische Katzenkönig in London ist?“
Hatten die Katzen gerade noch geraschelt und geflüstert, war es jetzt auf einmal totenstill. Alle Augen starrten auf Königin Quinn.
„König Fergus ist tatsächlich gerade in der Nähe und ich habe ihn und seinen Hofstaat bereits in den Palast und zu den Prüfungen eingeladen.“ Quinns Stimme klang auf einmal müde und gequält.
Im Raum brach Unruhe aus. „Aber warum?“, rief eine der Bengalkatzen.
„Keine Pfote sollte er nach England setzen!“, rief die Siamkatze neben Zia und ihre gelben Augen blitzten wütend. „Wir wissen doch alle, dass Fergus ein Freund von Penelope ist.“
„Ruhe!“, brüllte Shayan. „Es ist Zeit, der Königin zuzuhören.“
Doch selbst die Mitternachtskatzen beachteten ihn nicht und tuschelten aufgeregt miteinander.
„Wir müssen in Frieden mit unseren Nachbarn leben“, sagte Königin Quinn schließlich. „Dazu gehört, dass wir sie treffen und mit ihnen sprechen. Wir sind es auch den Katzen in Schottland schuldig, dass wir die Verbindung zu ihnen nicht aufgeben.“ Sie machte eine kleine Pause. Dann fragte sie: „Nun, gibt es hier jemanden, der an den Prüfungen teilnehmen möchte?“
Eine der Langhaarkatzen trat ein paar Schritte nach vorn. Sie trug eine große blaue Schleife um ihren hellbraunen Hals, die genau zur Farbe ihrer Augen passte. „Ich würde es gern versuchen, Königin Quinn.“
„Sehr gern, Stella“, schnurrte die Königin.
Drei Siamkatzen, die allesamt die gleiche gezackte Zeichnung über der Nase trugen, waren die Nächsten, die sich anmeldeten. Es folgte eine kleine Glückskatze mit einer erstaunlich tiefen Stimme. Eine schwarz-weiße Hauskatze schloss sich an. Edison raunte Nova zu, dass sie englische Meisterin im Katzenboxen war.
Die Bengalkatzen schienen die ganze Prozedur nicht besonders aufmerksam zu verfolgen. Immer wenn Nova nach oben sah, versuchten sie, sich gegenseitig vom Balken zu stoßen. Schließlich gelang es ihnen, den Kater, der bereits zu Beginn mit nur einer Pfote am Holz gehangen hatte, hinunterzuschubsen. Er landete geschickt auf seinen Pfoten, genau vor dem Thron. Trotz seines muskulösen Körpers sah er etwas nervös aus.
„Benji will auch mitmachen!“, rief einer der verbliebenen Bengalkater von oben.
„Stimmt das?“, fragte Königin Quinn.
Benji nickte.
In diesem Moment hörte Nova, wie Pablo hinter ihr tief Luft holte. Er trat nach vorn neben Benji, der ungefähr doppelt so groß war wie er selbst, und sagte: „Ich möchte auch eine Mitternachtskatze werden.“
Pablos Ankündigung löste im Saal einiges Gelächter aus. Vor allem bei den Bengalkatzen, die eine hervorragende Sicht auf den kleinen Kater hatten.
„Natürlich“, sagte Königin Quinn. „Ich freue mich sehr, dass du es versuchen möchtest, Pablo.“
Pablo drehte sich zu Nova um und strahlte.
„Wenn sich jetzt alle Kandidaten aus dem Saal gemeldet haben“, sagte Königin Quinn, „können wir mit den Vorbereitungen beginnen. Shayan wird mir helfen, eine Liste von Bewerbern zu erstellen. In den nächsten Tagen werden sicher noch viele hinzukommen. Immerhin sind alle Katzen Englands zur Prüfung eingeladen.“ Sie erhob sich und trat an den Rand des Throns, um hinunterzuspringen, als eine weitere Stimme ertönte.
„Wartet, bitte.“ Es war Zia. Sie ging dicht an den Thron heran und hob ihren Kopf zu Quinn. Ihre spitzen Ohren zuckten, als sie sprach. „Ich habe lange darüber nachgedacht. Kann ich bitte auch an den Prüfungen teilnehmen?“
Henry stieß Nova an. Er zeigte verstohlen auf Edison, der ein paar Meter neben ihnen saß. Dem Kater stand das Maul offen. Er starrte Zia an, als hätte sie gerade verkündet, sie würde für immer an den Nordpol ziehen. Alle Spannung war aus seinem Körper gewichen und Nova hätte schwören können, dass er nicht einmal mehr atmete. Sie wusste, dass Katzen nicht weinten, doch auf einmal glaubte sie, in einem von Edisons türkisblauen Augen eine Träne zu sehen.
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Nova würde natürlich versuchen, Horatio bei nächster Gelegenheit weitere Informationen über ihre Mutter zu entlocken. Versprechen hin oder her. Glaubte Horatio wirklich, Nova würde sich mit ein paar Angaben über ihre Herkunft zufriedengeben, jetzt wo sie auf die Schule der Felidix ging? Keine Chance! Jeder hatte ein Recht darauf, zu erfahren, woher er kam.
Nova wusste nicht, ob es allein an dem Brief ihrer Mutter lag, den Horatio ihr vor den Ferien gegeben hatte oder an dem Foto, das sie gerade im Palast gesehen hatte: Irgendetwas sagte ihr, dass sie ihrer Mutter im Moment näher war als jemals zuvor in den letzten Jahren. Das war ein gutes Gefühl, aber es beunruhigte sie auch.
„Edison, wo sind die Kätzchen?“, rief sie, als sie den Kater draußen allein vorfand.
„Schlummern bei den Rosenbüschen“, rief er, „komm lieber her und schau dir das an!“
Henry und Ria standen weit voneinander entfernt auf einem der Wege in Horatios verwunschenem Garten. Es musste so ziemlich die längste gerade Strecke sein, die zwischen all den Beeten und Hecken zu finden war. Auf dem Weg sauste Pablo hin und her. Statt anzuhalten, krallte er sich jeweils an Henrys Jeans oder dem Saum von Rias Kleid fest, bevor er umdrehte und in die andere Richtung lief. Ria schien es nichts auszumachen, dass der untere Rand ihres Kleids sich langsam in einen schmutzig verfärbten Fetzen verwandelte.
Ria liebte Pablo, seit er das erste Mal den Turm betreten hatte. Zugegeben, mit seinen großen Ohren und Augen und der fiepsigen Stimme war er einer der niedlichsten Kater, die Nova kannte. Und sein Bauch war unfassbar flauschig. Schnell war er deshalb aber noch lange nicht.
„Renn, Pablo! Du schaffst es!“, feuerte Ria ihn an, während der Kater schon ziemlich außer Atem von links nach rechts galoppierte.
Edison schüttelte den Kopf. „Viel zu langsam! Und Ausdauer hat er auch keine. Er wird mit Sicherheit Letzter! Ich habe keine Ahnung, warum er sich das antun will.“
„Die erste Prüfung ist ein Wettrennen im Glockenturm von Big Ben, richtig?“, fragte Nova.
„Dreihundertvierunddreißig Stufen nach oben“, bestätigte Edison, „und dann noch zehn weitere bis zu den Glocken. Die ersten achtundvierzig Katzen, die dort ankommen, schaffen es in die nächste Runde.“
„Und wie viele Katzen werden an dieser ersten Prüfung teilnehmen?“, fragte Nova.
„Hunderte!“, entgegnete Edison. „Es gibt ja jede Menge Verrückte, die denken, sie seien zu etwas Höherem berufen. Die meisten davon sind groß und kräftig. Sie drängeln sich an der Startlinie nach vorn. Und sie wischen dir schon mal eins mit der Pfote aus, wenn du nicht aufpasst. Auch Ohren oder Nasen werden attackiert. Wenn dann das Startmiau gerufen wird, gibt es schon jede Menge Verletzte. Das Ganze ist nichts für Weichlinge.“
Edison blickte zur Seite. Nova war daran gewöhnt, dass der Kater abfällige Bemerkungen machte, vor allem über die Mitternachtskatzen. Aber heute lag etwas anderes in seiner schönen Stimme. Er klang traurig.
„Es ist eben Pablos größter Wunsch“, sagte sie. „Und wer weiß, vielleicht kann er sich ja durch die ganzen großen Katzen durchschlängeln, so klein und wendig, wie er ist.“
Edison schnaubte und ließ sich auf den Boden fallen. Er begann, sein dichtes Bauchfell zu lecken.
Nova fiel ein schwarzes Band an seiner rechten Vorderpfote auf, der einzigen weißen Stelle an seinem Körper. Es verschwand fast vollständig in seinem Fell, doch sie war sich sicher, dass sie es noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. „Was ist das?“, fragte sie ihn und zeigte auf das Band.
„Trägt man so am Hof“, murmelte er. „Sagt Zia.“ Schon hatte er seine Pfote ans Maul gehoben und zog mit den Zähnen mit einem einzigen Ruck das Band ab. „Albern!“
Auf einmal fiel Nova wieder ein, was Edison so die Laune verdorben hatte. „Das war eine Überraschung heute mit Zia, oder?“, fragte sie leise.
Edison hörte auf, sein Fell zu lecken. Er sah Nova mit seinen türkisblauen Augen an. „Kann man wohl sagen.“
„Wusstest du gar nichts davon?“
Der Kater schüttelte den Kopf. „Sie hat kein Wort davon erwähnt. Natürlich kann Zia selbst entscheiden. Und sie wäre sicherlich eine hervorragende Mitternachtskatze. Das hat sie ja bewiesen, als sie uns geholfen hat, Penelope zu besiegen. Ich hätte allerdings nie gedacht …“ Er brach ab.
Ein weißer Schmetterling flatterte um Edisons Nase und setzte sich mit zuckenden Flügeln vor ihm auf den Boden. Edison hieb mit der Pfote direkt neben den Schmetterling, der sich zitternd in die Luft erhob und verschwand.
Pablo war inzwischen völlig erschöpft auf halber Strecke zwischen Ria und Henry zusammengebrochen. Trotzdem rief er glücklich: „Das war ein prima Training heute! Morgen machen wir weiter!“
Ria lief sofort zu ihm, nahm ihn auf den Arm und lobte überschwänglich: „Die Prüfung wird ein Kinderspiel für dich! Kommst du mit mir essen? Ich kann auch vorher deine Krallen sauber machen.“
Pablo nickte begeistert und Ria verschwand mit ihm nach drinnen. Der Saum ihres dreckigen Kleids schwang um ihre Beine.
„Oh Mann“, stöhnte Henry, „wie sollen wir Pablo nur beibringen, dass es so nichts wird mit der Prüfung? Er ist echt viel zu langsam!“
„Vielleicht hilft ja das Training?“, sagte Nova wenig überzeugt, drehte sich um und hielt sich die Hand über die Augen, um sie vor der tief stehenden Sonne zu schützen. „Lass uns die Kätzchen holen. Es wird langsam Zeit, zum Essen zu gehen.“
Sie liefen den kleinen Schotterweg entlang, vorbei an den meterhohen Sonnenblumen und der alten, halb verrosteten Schubkarre, die Horatio zum Gärtnern benutzte. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fielen auf das Gras direkt vor den Rosenbeeten. Nova sah, wie Henry neben ihr den Kopf drehte, um den Duft der pinken Emanuel-Rosen einzuatmen, den er so mochte.
„Wo sind sie denn?“, fragte Nova und sah sich um. Keine Spur von Rick und Ruby.
„Spielen bestimmt Verstecken“, antwortete Henry und atmete noch einmal tief ein. Er stutzte.
„Hat Horatio wieder Shortbread und Räucherlachs besorgt?“, fragte er. „Das gab es doch schon letzte Woche.“
Nova folgte ihm, als er quer durchs Rosenbeet in Richtung des großen Tors in der Mauer lief, durch welches man das Schulgelände verlassen konnte. Direkt daneben befand sich eine kleine Öffnung, die den Katzen als Ein- und Ausgang diente.
„Ich sehe sie!“, rief Henry.
Nova erschrak. „Ruby, Rick! Wartet! Ihr dürft doch nicht da rauslaufen!“
Sie konnte nicht glauben, dass die Kätzchen tatsächlich allein bis zum Tor gelaufen waren. Jetzt liefen sie zielstrebig, wie von einem unsichtbaren Band gezogen, zum gefährlichen Ausgang. Henry war noch viel zu weit von ihnen entfernt!
Nova holte tief Luft, spannte alle ihre Muskeln an und sprang so weit und hoch, wie sie nur konnte. Drei, vier, fünf mächtige Sprünge, zwischen denen sie den Boden nur kurz und sanft berührte, als federte sie auf einem Trampolin.
Sie hörte Henrys erstauntes Wow! und ein Prima-Technik! von Edison weit hinter sich und landete zielsicher genau neben dem Katzenausgang in der Mauer, den Ruby und Rick gerade erreichten.
Zu ihrer Verblüffung schenkten die Kätzchen ihr jedoch überhaupt keine Beachtung. Sie steuerten weiter die runde Öffnung an, ihre Augen glasig und abwesend, ihre Schritte im gleichmäßigen Trott. Nova hörte ein seltsames Summen, das leise und traurig von der anderen Seite der Mauer zu kommen schien. Sie beugte sich herunter und versuchte zu erkennen, was die Katzen so in seinen Bann zog.
Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie in das runde, von rotbraunem Fell bewachsene Gesicht eines riesigen Katers blickte. Er hatte tief liegende gelbe Augen, deren Pupillen sich nun zu dünnen, schwarzen Strichen verengten. Sein Fell war kurz, nur an den Beinen wuchs es dicht und lang, was ihn so aussehen ließ, als ob er Stiefel trüge. Dann waren da noch die braun und schwarz gestreiften Federn, die hinter seinem Kopf nach oben ragten. Eine von König Fergus’ Katzen!
Als er Nova sah, wich der Kater ein paar Schritte zurück und das Summen, das sie zuvor gehört hatte, verstummte.
„Was machst du hier?“, rief Nova genau in dem Moment, in dem Rick durch die Öffnung marschierte, direkt auf den fremden Kater zu. Novas Hand schoss gerade noch rechtzeitig hinter ihm her. Sie packte Rick im Nacken, während sie Ruby ihr Bein in den Weg stellte.
Der Kater warf Nova einen verblüfften Blick zu, dann drehte er sich um und rannte über die große Wiese in Richtung der alten Kanonen, um die sich ein paar Touristen scharten.
Henry hatte inzwischen das große Tor geöffnet. Zusammen mit Edison sah er dem seltsamen Kater, dessen Federn gleichmäßig im Rhythmus seiner Schritte auf und ab wippten, erstaunt hinterher.
Die Kätzchen wanden sich auf Novas Arm wie frisch aus dem Wasser gezogene Aale.
„So ein Schreck!“, murmelte Nova und fühlte ihr Herz schnell und hektisch bis zum Hals schlagen. „Ihr dürft nicht einfach Fremden hinterherlaufen. Das wisst ihr doch!“
Ruby und Rick schienen keine Ahnung zu haben, wovon Nova sprach. Als sie sich schließlich frei gestrampelt hatten, stürzten sie sich auf Edison. „Dison, Dison!“, schrien sie.
Edison leckte ihnen geistesabwesend mit der Zunge über den Kopf, bis die Kätzchen genug hatten, umdrehten und zurück in den Garten rasten. Henry, Nova und Edison folgten ihnen.
„Habt ihr den Kater gesehen?“, fragte Nova. „Er muss zu den schottischen Katzen gehören, die wir heute im Palast getroffen haben. Diese Federn sehen wirklich seltsam aus. Wer trägt so etwas schon freiwillig?“
„Die Katzen am Hof von Fergus Finnigan dem Vierzehnten, Katzenkönig von Schottland. Man bekommt die Federn für besondere Verdienste und Treue zum König verliehen. Angeblich machen sie diese Federn im Kampf unbesiegbar. Die Federträger in Schottland sind so etwas Ähnliches wie die Mitternachtskatzen in England.“ Edison versuchte, die Kätzchen im Auge zu behalten, die hinter dem riesigen Blatt einer Sonnenblume lauerten – vermutlich, um sich aus dem Hinterhalt auf sie zu stürzen.
„Ah“, sagte Henry. „Das erklärt wohl den Geruch nach Shortbread und Wildlachs. Ich hätte schwören können, der Lachs kam aus den schottischen Highlands. Hat meine Oma nämlich immer gern gegessen, bevor sie Vegetarierin wurde.“
Wie erwartet, stürzten die Kätzchen aus ihrem Versteck hervor, als Edison die Sonnenblumen passierte. Doch statt mit ihnen zu kämpfen, wie er es sonst tat, scheuchte der Kater sie davon.
„Warum versucht denn einer von König Fergus’ Federträgern, Ruby und Rick vom Schulgelände zu locken? Und wie hat er das gemacht?“, fragte Nova, als sie an der verwitterten Holztür des Turms angekommen waren.
Edison setzte sich auf die Hinterpfoten, hob den Kopf und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen eine Reihe von Maulwurfshügeln. „Kleine Kätzchen sind überaus neugierig. Es reicht manchmal schon, wenn sie eine neue Stimme oder ein bisher unbekanntes Geräusch hören. Schon sind sie komplett davon in den Bann gezogen und vergessen die Welt um sich herum. Was genau dieser Kater hier wollte, das kann ich dir auch nicht sagen. Nur eins weiß ich mit Sicherheit: Wenn Federträger ihre Pfoten im Spiel haben, heißt das nichts Gutes!“
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Nova konnte nicht schlafen. Dabei war Ruby heute nach der Aufregung im Garten bereits um acht Uhr eingeschlummert und schnarchte sanft auf ihrem Kopfkissen. Nova atmete den Herbstrosenduft des Kätzchens ein und versuchte es mit fröhlichen Gedanken.
So hatte Papa sie immer zum Einschlafen gebracht. Sie hatten zusammen an Wellenspringen im Ozean oder Schaukeln auf einem der Holzbretter, die er früher hoch in den Bäumen für sie angebracht hatte, gedacht. Manchmal hatte er ihr auch Geschichten vom Zirkus erzählt. Von Trapezkünstlern und Akrobaten oder von Mama, wie sie mit einer Truppe von Wanderkatzen eine Jazztanznummer aufführte – zumindest dann, wenn den Katzen gerade danach war.
Nachdenklich griff Nova nach dem kleinen Tuch mit der Lilienstickerei. Sie hielt es sich unter die Nase, aber sie hatte natürlich nicht Henrys Talent. Trotzdem erinnerte sie der Geruch an etwas. Wieder dachte sie an schwarze Locken, die auf ihrer Haut kitzelten. Und plötzlich kam ihr eine Melodie in den Sinn. Ein Gutenachtlied. Hatte Papa nicht erzählt, dass Mama sie immer mit ihrem Gesang beruhigt hatte, als sie noch klein war?
Nach Schottland ist sie also gegangen, dachte Nova. Und jetzt war auch Papa in Schottland auf der Suche nach einem Mann, der vielleicht Papas Unschuld beweisen konnte. War das alles Zufall? Horatio hätte vielleicht Antworten auf ihre vielen Fragen, aber er hütete Geheimnisse und war nicht bereit, sie mit ihr zu teilen. Dabei war es doch ihre Familie, um die es ging!
Nova setzte sich auf, wodurch Ruby ein bisschen tiefer ins Kopfkissen rutschte und ihr Atem schneller wurde. Es war keine Nacht für fröhliche Gedanken, fuhr es Nova durch den Kopf. Es war eine Nacht für Antworten und wenn Horatio sie ihr nicht geben wollte, würde sie diese eben allein finden.
Die Holztreppe schwieg heute. Nova kam sie vor wie ein alter Freund, der mit ihr unter einer Decke steckte und ihre Schwäche für nächtliche Ausflüge nicht nur kannte, sondern auch unterstützte.
Die wenigen kleinen Fenster in der Außenmauer des Turms waren kreuzförmig. Fahles Mondlicht schien durch die dünnen Glasscheiben, die nicht verhinderten, dass kalte Herbstluft ihren Weg in die Schule fand.
Nova trug Schwarz, wie immer in der Nacht, und selbst die dünne weiße Katze, die ihr entgegenkam, schien sie nicht zu bemerken. Sich unsichtbar zu machen, lag in ihrer Familie, dachte Nova. Und ihre Mutter hatte anscheinend das größte Talent dazu.
Nova war schon fast im Erdgeschoss angekommen, als Hectors näselnde Stimme von Weitem an ihr Ohr drang.
„Überall, Horatio, wirklich überall! Es gibt keinen Winkel in diesem Turm und dem Garten, keinen Mauerstein, keine Regenrinne und keinen Holunderbusch, den ich nicht eingehend untersucht habe. Nicht zu vergessen den Untergrund! Ich habe so viele Löcher gegraben, dass uns vermutlich bald der Boden unter den Füßen einstürzen wird. Meine Pfoten haben schon keine Krallen mehr und du weißt, wie stolz ich auf meine Krallen bin! Ich habe wirklich alles gegeben.“
Horatio klang verzweifelt, als er antwortete: „Es ist schon so lange her. Ich kann nachts kaum noch schlafen, wenn ich versuche, mich daran zu erinnern. Ich war mir sicher, er wäre einfach irgendwo hinten in der Schreibtischschublade. Was soll ich nur Königin Quinn sagen?“
„Beruhige dich, mein Lieber. Keiner würde jemals an deiner Loyalität zu uns Katzen zweifeln, Horatio. Wir wussten schon immer, dass du etwas vergesslich sein kannst. Die Erinnerung kann nur zurückkommen, wenn du dich entspannst. Deshalb schlage ich vor, wir geben die Suche vorerst auf und konzentrieren uns auf die Schule. Ich nehme an, die Kinder vermissen schon meinen Unterricht“, sagte Hector.
Nova war inzwischen vor Horatios Arbeitszimmer angekommen. Sie drückte sich an die kalte Steinmauer und riskierte einen Blick durch den Türspalt. Hector lag flauschig und groß auf dem Schreibtisch. Ein orange-weißer Fellball mit zuckenden Ohren. Horatio saß dahinter auf seinem Ledersessel und raufte sich die lockigen Haare.
„Sie würden sich sicher freuen, wenn du mit deinem Musikunterricht fortfährst“, sagte Horatio. Dann seufzte er und setzte hinzu: „Danke, mein Freund. Mit dir an meiner Seite fühle ich mich gleich besser!“
Hector stand auf, lief ein paar Schritte über den Tisch und rieb seinen Kopf an Horatio. Nova runzelte die Stirn. Es passte nicht zu Hector, so viel Zuneigung zu zeigen. Es musste Horatio also wirklich schlecht gehen. Doch sie konnte nicht weiter zuhören. Nova hatte großen Respekt vor Hectors gutem Gehör und seinem scharfen Instinkt. Er würde sie jeden Moment entdecken. Besser sie schlich sich davon, solange das noch ging.
Sie war schon einige Meter auf Zehenspitzen gelaufen, als sie Hector sagen hörte: „Wenn wir ihn nicht mehr finden, wird es diesem Sir Cormac auch nicht anders gehen. Ob er tatsächlich denkt, du weißt nicht, dass er uns ausspioniert?“
„Er sucht genau das, was wir auch suchen, Hector“, antwortete Horatio. „Deshalb ist er nach London gekommen. Aber er wird nicht so unverschämt sein und mich direkt danach fragen. Ich mache mir überhaupt keine Sorgen um Sir Cormac. Die irischen Katzen wollen in Frieden leben. Doch wenn es stimmt, dass Fergus Finnigan sich in London aufhält, ist Königin Quinn zu Recht besorgt. Und ich bin ihr leider überhaupt keine Hilfe.“
Aus dem Zimmer ertönte ein so fürchterliches Fauchen, dass einige der Teetassen in der Küche auf ihren Untertassen klirrten. „Sie hätte ihn nicht einladen dürfen!“, rief Hector. „Wir sollten ihn und seine Gefolgschaft aus der Stadt vertreiben, wie in der großen Katzenschlacht von 1774.“
„Königin Quinn hatte keine Wahl.“ Horatio klang jetzt lauter und bestimmter. „Im Moment herrscht Frieden zwischen den Katzenreichen. Hector, du und ich müssen dafür sorgen, dass es auch so bleibt. Vielleicht kannst du dir morgen noch einmal den Keller vornehmen?“
In der Küche schliefen auf allen Sofas, Regalen und Kratzbäumen Katzen. Zumindest diejenigen, die nicht auf der Suche nach Flussratten und Stadtmäusen durch die Nacht schlichen. Ein grauer Kater mit weißem Fleck auf der Stirn hob träge ein Augenlid. Nova beachtete ihn nicht.
Miss Melonia Bridge hatte im Unterricht in Katzenetikette eins klargemacht: Katzen stellen keine dummen Fragen.Sie haben von Natur aus ein untrügliches Gespür dafür, welche Angelegenheiten sie etwas angehen und welche nicht.
Generell waren es also eher Menschen oder Hunde, die sich ungefragt einmischten.
Nova schlich weiter durchs Halbdunkel. Inzwischen kannte sie sich gut aus, was den Inhalt der chaotischen Bücherregale anging, die an sämtliche Wände der Küche gelehnt oder genagelt waren. Die Bücher über Katzenrassen, die sich nicht gerade in Eds und Saids Zimmer befanden, standen genau vor ihr. Auf einem der Stapel hatte sich eine sandfarbene Katze zusammengerollt, deren buschiger Schwanz wie eine Federboa nach unten hing.
Bildbände über die königlichen Katzen und Wälzer über die Geschichte Englands – einige davon handgeschrieben – nahmen fast die gesamte Wand hinter Horatios gestreiftem Lieblingssofa ein. In einem kleinen Erker standen gewöhnliche Schulbücher, Atlanten, Physik- und Chemielehrbücher, Wörterbücher für unzählige Sprachen und jede Menge Übungshefte für Mathematik, die Henry sich manchmal auslieh.
Nova kniete sich auf den Boden. Horatio hatte weder ein Geheimnis daraus gemacht, dass der Turm unterkellert war, noch hatte er ihnen den Eingang verschwiegen. Es war ausreichend gewesen, im Unterricht eine kleine Bemerkung über Ratten, Spinnen, Kellerasseln und andere unterirdische Bewohner zu machen. Dadurch dachte keiner der Schüler auch nur im Traum daran, den Keller zu betreten.
Henry hatte sich beschwert, dass manchmal Schwaden vom Geruch des Klärwassers in die Küche drifteten, die an London zur Zeit des „großen Gestanks“ erinnerten. Doch mit seinem phänomenalen Geruchssinn war er der Einzige, der sich daran störte.
Nova wusste, dass sich die Luke, die in den Keller führte, genau vor den Mathematik-Übungsheften befand und zog den alten, von Katzenkrallen halb zerfetzten Teppich zur Seite. Es gab nicht einmal ein Schloss. Nova öffnete die Luke, schlüpfte hindurch und zog sie wieder hinter sich zu. Sie lächelte.
Horatio hatte gewaltig übertrieben. Das hier war kein vermoderter Schreckensraum voller Staub und Ungeziefer. Im Gegenteil, es sah fast gemütlich aus.
Nova hatte den Schalter der alten Stehlampe mit dem mit Rosen bestickten Schirm schnell gefunden und warmes gelbes Licht erfüllte den Raum. Es fehlte eine Sitzgelegenheit und der Boden bestand nur aus rohem Beton. Doch an den Wänden drängten sich Regale, Schränke und kleine Kommoden mit Schubladen, die allesamt voller Bücher und Papiere waren.
Es handelte sich offensichtlich vor allem um alte Dokumente, für die Horatio in der Küche keinen Platz mehr gefunden hatte. Aber Nova entdeckte auch ein paar wunderschöne Schwarz-Weiß-Fotografien von prächtigen Katzen, die sie gern in ihrem Zimmer aufgehängt hätte.
Von Papa wusste sie, dass sich die wirklich interessanten Dinge oft hinter verschlossenen Türen befinden. Ihr Blick fiel auf eine kleine weiße Kommode mit geschwungenen Beinen und mehreren Schubladen, die alle winzige eiserne Schlösser hatten.
Nova griff in die Tasche ihrer Jeans und zog einen schwarzen Beutel, nicht größer als ihre Hand, mit Werkzeug daraus hervor. Es dauerte keine zehn Sekunden, da hatte sie das erste Schloss geöffnet. Zu ihrer Enttäuschung lagen in der Schublade nur ein paar uralte Strom- und Wasserrechnungen, adressiert an Mr James Mallory, Tower of London.
Das zweite Schloss sträubte sich zunächst gegen die Öffnungsversuche, musste aber bald feststellen, dass es Novas jahrelangem Training im Knacken von Schlössern nicht viel entgegenzusetzen hatte. Die Schublade enthielt eine Reihe loser Zettel, auf denen sich jemand in krakeliger Schrift Notizen gemacht hatte. Sie waren schwer zu entziffern. Nova trat dicht an die Stehlampe heran und hielt eins der Papiere in Richtung der alten, knisternden Glühbirne.
Thomas spielt zu wild mit den Kätzchen. Seine Fähigkeit, zu klettern macht ihn übermütig. Die Außenmauer des Turms zu besteigen, war leichtsinnig und gefährlich, doch es brachte ihm höchsten Respekt auch von den älteren Katzen ein. Zur Rede stellen!!!
Nova blätterte durch die Seiten und bemühte sich, mehr Passagen der verblassten Tintenaufzeichnungen zu lesen. Es waren jedoch nur noch Wortfetzen, die sie entziffern konnte. Aber dann stieß sie auf einen bekannten Namen. „Horatio“, entfuhr es ihr und sie las langsam:
Horatio vergisst manchmal seinen eigenen Kopf. Heute drei im Sturm zerbrochene, auf der Gartenbank hinterlassene Glasschüsseln. Mathematik … hoffnungslos.
Nova grinste.
Doch noch nie genoss ein Schüler mehr Respekt von den Katzen in diesem Turm, wenn nicht sogar in der ganzen Stadt, wäre da nicht Alice.
Nova ließ vor Überraschung das Papier fallen. Es flatterte und drehte sich und lag schließlich zu ihren Füßen auf dem kahlen Boden.
Alice – ihre Mutter – Horatios Mitschülerin. Wenn Mr Mallory sich Notizen zu all seinen Schülern gemacht hatte, dann musste hier auch etwas über sie zu finden sein.
Nova durchwühlte die Zettel. Ihre Hände zitterten und ihre Augen schmerzten, so sehr versuchte sie, sich auf die verblichenen Worte zu konzentrieren.
Sehr aufmerksam, Talent zur Krankenpflege, Verständnis für Katzenpoesie, kann morgens nicht aufstehen, Leseschwäche.
Die Glühbirne fing immer heftiger an zu knistern, dann flackerte sie und schließlich ertönte ein sanftes Summen, mit dem sie vollständig erlosch. Nova seufzte, zog ihre Minitaschenlampe aus der Jeans und begann, den Stapel Papiere unter ihren Pulli zu stopfen. Morgen war auch noch ein Tag.
16
Trotz des nächtlichen Ausflugs und der Aufregung über ihre Entdeckung hatte Nova den Rest der Nacht ruhig und tief geschlafen. Als sie die Augen öffnete, sah sie graues, trübes Herbstlicht auf die in ihrem Zimmer verstreuten bunten Kissen fallen. Sie lauschte angestrengt, um herauszufinden, wo Ruby steckte. Doch weder das vertraute leise Schnurren noch ein Rascheln aus den Ecken oder unter ihrem Bett war zu hören.
Nova sprang auf, zog sich ein paar dicke graue Wollsocken an die Füße und marschierte in ihrer blau gestreiften Pyjamahose auf den Gang und direkt weiter in Henrys Zimmer, ohne anzuklopfen. Sie sah mit einem Blick, dass Gustavs Bett leer war. Zum Glück war Henrys Zimmergenosse also bereits aufgestanden.
Henry hatte für Ruby und Rick eine kleine Landschaft aus Pappkartons gebaut und zu Novas Erleichterung rasten beide Kätzchen wie wild durch den Parcours, wobei Rick immer wieder anhielt und die Ecken der Kisten mit seinen spitzen Zähnchen abkaute.
„Hi“, sagte Henry und wedelte mit einem Stück Papier über den Boden, bis Ruby mit einem kleinen Satz daraufsprang und versuchte, es mit den Krallen zu zerfetzten. „Ruby muss es geschafft haben, beide Zimmertüren zu öffnen. Vor einer Stunde saß sie auf einmal auf meinem Bett. Da konnte ich dann auch nicht mehr weiterschlafen.“
„Das tut mir leid.“ Nova nahm Ruby auf den Arm und streichelte den weichen Bauch der Katze. „Kannst du wirklich schon Türen öffnen? Dann müssen wir ja jetzt noch mehr auf dich aufpassen.“
„Dür!“, rief Ruby begeistert.
Nova und Henry sahen sich an. „Und sie lernt richtig sprechen“, sagten sie gleichzeitig und mussten lachen.
„Dür, Schnuppe“, maunzte Rick, der sein weißes Schnäuzchen stolz nach oben reckte.
„Schnuppe“, schrie Ruby, rannte auf ihren Bruder zu und attackierte seinen Rücken. Sofort befanden sich die beiden in einem ihrer ausgiebigen Geschwisterkämpfe.
„Ich war gestern im Keller“, platzte Nova heraus, die es nicht abwarten konnte, Henry von ihrer Entdeckung zu erzählen.
„Wieso das denn?“, fragte er erstaunt.
Doch bevor Nova antworten konnte, wurde die Tür zu Henrys Zimmer so heftig aufgestoßen, dass sie gegen die Wand donnerte und Rick und Ruby erschrocken voneinander abließen.
Edison stand im Türrahmen. Sein Fell war nass vom Regen und er keuchte heftig. „Kommt schnell in die Küche“, sagte er ohne weitere Erklärung. „Wir müssen mit Horatio sprechen.“
Er war schon um die Ecke verschwunden, als Nova und Henry, jeweils mit einem Kätzchen auf dem Arm, die alte Holztreppe nach unten liefen.
Die Standuhr neben dem Klassenzimmer zeigte bereits zehn Uhr an. Ria, Ed und Said hatten wahrscheinlich schon gefrühstückt. Alle drei gingen am Sonntagmorgen meistens zusammen in die Nationalgalerie, um dort Porträts anzuschauen. Said nahm immer seinen Zeichenblock mit und Nova gefielen die Skizzen, die er von den Porträts zeichnete, besser als die schweren Ölgemälde selbst. Ed und Ria suchten nach versteckten Katzen auf den alten Bildern. Horatio hatte ihnen nämlich erzählt, dass es unter den Katzen sogenannte Kratzmaler gab, die menschliche Bilder auf diese Weise verschönerten. Nur Felidix konnten diese Kunstwerke erkennen.