Mittsommerwind– Idas Entscheidung - Nicola Förg - E-Book

Mittsommerwind– Idas Entscheidung E-Book

Nicola Förg

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Beschreibung

Als Ida nach Schweden reist, hat sie gemischte Gefühle. Seit einem halben Jahr lebt ihre Mutter auf einen Pferdehof bei Nyköping, wo sie Reiterferien für Kinder anbieten will. Nun soll Ida sich entscheiden, ob auch sie dort leben möchte. Natürlich freut sie sich, endlich ihre Isländerstute Stjärnfall wiederzusehen. Aber so weit weg von ihrer Familie und den Freunden in Bayern? Das kann sich Ida nicht vorstellen. Dann zieht auch noch Larissa auf den Hof: Ein Jahr älter als Ida und eine totale Zicke. Zum Glück kommen kurz darauf auch schon die ersten Feriengäste, darunter Paul, bei dem Ida jedes Mal Herzklopfen bekommt. Doch schon bald gibt es größere Probleme als Konkurrenz und Herzklopfen: ein nahegelegenes Wikingergrab soll einem Bauprojekt zum Opfer fallen. Nun müssen sich die Drei zusammentun, um den Zauber ihres Pferdehofes zu erhalten.  

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Kapitel 1

»Alles klar bei dir?«, fragte die Stewardess.

»Sicher«, sagte Ida. Wobei im Moment längst nicht alles klar war.

Sie war schon dreimal geflogen. Einmal mit Oma und Opa nach La Palma, einmal mit ihren Eltern nach Sardinien und einmal mit Mama nach Vancouver im Westen Kanadas. Es hatte über den Rocky Mountains ganz schön gerüttelt, und sie hatte ihre Cola verschüttet, aber eigentlich keine Angst gehabt. Es hatte sich ein wenig so angefühlt, als säße sie auf einem bockenden Pferd. Heute flog sie allein. Sie war ja auch schon fast vierzehn. Hoffentlich kam die Stewardess jetzt nicht mit einem Malbuch an. Das wäre ja voll peinlich.

Ida saß am Fenster, der Platz in der Mitte der Dreierreihe war frei, und am Gang hatte sich eine Dame hingesetzt, die sich wohl verpflichtet fühlte, etwas zu sagen. »Wo fliegst du denn hin?«

»Nach Stockholm«, sagte Ida zögerlich. Sie saßen im Flugzeug nach Stockholm, was sollte die Frage?

Die Dame hatte die Stirn gerunzelt. »Ich meinte eher, ob du in die Ferien fliegst oder so.«

»Ja, in die Ferien, auf einen Reiterhof«, sagte Ida und sah aus dem Fenster. Wahrscheinlich hielt die Dame sie jetzt für unhöflich oder dumm, aber so einfach war die Frage nicht zu beantworten.

Sie flog zu ihrer Mutter nach Schweden auf einen Reiterhof. So weit stimmte das alles. Aber dann ging es schon los: Ihre Ferien waren zwei Wochen länger als bei den anderen. Sie hatte eine Sondergenehmigung des Rektors bekommen, die Schule zwei Wochen vor dem offiziellen Ferienbeginn zu verlassen. Und ihre Mutter hatte sie seit Mai nicht mehr gesehen. Seitdem lebte ihre Mama Andrea nämlich in Schweden. Sie hatten telefoniert, geschrieben, geskypt, sich aber seit über zwei Monaten nicht mehr live gesehen.

Ida war bei ihren Großeltern geblieben, in einem Dorf zwischen Augsburg und München. Oma und Opa hatten ein großes Haus mit Platz für zwei Familien. Nach der Trennung ihrer Eltern vor drei Jahren war Ida mit ihrer Mutter zu ihnen ins obere Stockwerk gezogen. Und im Mai war Mama dann nach Schweden gegangen. Es fühlte sich für Ida so an, als würde die Familie immer kleiner werden.

Was aber das Schlimmste war: Sie hatte die Pferde mitgenommen, ihre geliebten Isländer. Die Wallache Laxi und Faxi und die Stuten Frenja und Stjärnfall. Ida musste schlucken. Jetzt bloß nicht weinen, was würden die anderen Passagiere sonst denken?

Immer wenn sie an Stjärnfall dachte, wurde sie traurig. Sie hatten das Fohlen mit der Flasche aufgezogen, weil seine Mutter Frenja es nicht angenommen hatte. Die ersten Tage mussten sie sehr um sein Leben kämpfen, denn Stjärnfall wollte nicht trinken, und auch der Tierarzt hatte keinen Rat gewusst. Ida war damals sieben gewesen und dem Fohlen nicht mehr von der Seite gewichen. Und dann hatte es doch die Flasche genommen, aber nur von ihr! Es war ein Schimmel, in dessen Fell sich das Mondlicht manchmal so spiegelte, als seien Diamanten darübergestreut. Als sie damals einen Namen gesucht hatten, wollte Ida, dass es Sternschnuppe hieß. Sie hatten das isländische Wort dafür nachgeschlagen, aber weil in ihren Ohren »Stjörnuhrap« komisch klang, waren sie irgendwie auf die Idee gekommen, das schwedische Wort für Sternschnuppe zu nehmen, und »Stjärnfall« hatte Ida gut gefallen.

Das lag jetzt schon viele Jahre zurück. War es Zufall, dass sie in diesem Moment in einem Flugzeug saß, das sie nach Schweden bringen sollte? Gab es solche Zufälle? Ida nahm einen Schluck von ihrem Wasser. Sie hatte Stjärnfall fast mehr vermisst als ihre Mutter, aber das durfte sie natürlich nicht laut sagen. Anna kam ihr in den Sinn, ihre BFF, best friend forever. Anna, die noch in der Schule sitzen musste. Es gab wie jedes Jahr am Ende eine Projektwoche. Anna hatte gemeint, das wäre nur deshalb so, weil die Lehrer keine Lust mehr hätten. Anna konnte sich so was erlauben. Sie war Klassensprecherin und hatte immer gute Noten, ohne eine Streberin zu sein. Anna fehlte ihr jetzt schon, wie cool wäre es gewesen, wenn sie mitgekonnt hätte nach Schweden.

Die Dame auf dem Gangplatz las inzwischen eine Zeitung, während Ida weiter aus dem Fenster sah. So einfach war das alles nicht. Es waren ja auch keine ganz normalen Ferien, denn am Ende des Sommers musste sie eine wichtige Entscheidung treffen …

Die Stimme aus dem Lautsprecher verkündete, dass sie sich nun im Landeanflug auf Stockholm befanden. Unter Ida lagen viele, viele graue Inselchen in glitzerndem Wasser. Sie sah Schiffe, die ganz klein waren und eine schnurgerade Spur zogen. Das Wetter war herrlich, und die wenigen Wattewolken, an denen sie vorbeiflogen, sahen aus, als könne man in sie hineingreifen. Der Kapitän setzte sanft auf, Idas Magen machte dennoch einen Hüpfer.

Am Gate wurde sie von einer netten jungen Frau in Empfang genommen, die sie zum Gepäckband begleitete. Ida war froh, denn der Flughafen war riesig und unübersichtlich. Auf einem Schild stand Ankomst, das klang lustig. Dann bedeutete Avgångar wohl Abflug. Vielleicht war Schwedisch gar nicht so schwer?

Ida schickte der Oma eine kurze WhatsApp, das hatte die Oma sich gewünscht.

 

Bin gut gelandet! Du kannst auch mal fliegen, ist echt nicht schlimm. LG Ida

Ihr Koffer kam, sie hob ihn vom Band und folgte dann zusammen mit der jungen Frau den Menschen, die eilig dem Ausgang zustrebten.

Draußen sah sie sich um. Und entdeckte schließlich ihre Mutter, die wie wild winkte. »Hej då«, verabschiedete sich die junge Frau und warf ihr einen aufmunternden Blick zu. Ida lief los, den Koffer im Schlepptau. Mama und sie umarmten sich, und Ida fand, dass sich alles so unwirklich anfühlte.

»Schatz, endlich bist du da! Alle freuen sich so, dass du kommst! Sie sind schon ganz gespannt«, sagte Mama.

»Ich freu mich auch.«

Es war warm draußen, und sie liefen eine Weile, bis sie am Auto angekommen waren, das sich als ziemlich großer Volvo entpuppte. Ein Kombi, in dem der Koffer ganz winzig aussah.

Während sie auf die Autobahn einbogen, erzählte Ida von der Schule und von Oma und Opa. Aus dem Radio ertönten schwedische Stimmen. Idas Mutter deutete nach links. »Da ist eine Pferdeklinik.«

Hästklinik, stand dort. Häst hieß Pferd, das wusste Ida schon.

»Tierärzte sind hier ein echtes Problem. Schwer zu finden und dann wahnsinnig teuer«, klagte ihre Mutter.

Du wolltest hierher, dachte Ida, sagte aber nichts. Sie fuhren nun durch Stockholm. Es ging zäh voran, auch nicht anders als in München. Immer wieder überquerten sie Wasser, auf den Felsen klebten Häuser. Als sie Stockholm etwa zwanzig Kilometer hinter sich gelassen hatten, wurde es ruhiger. Der Volvo brummte, die Straße war gesäumt von Felsen und Kiefern. Ida fand, dass es schon ziemlich anders aussah als in Bayern.

»Hast du Hunger? Magst du ein Sandwich?«, fragte ihre Mutter. »Schau mal, auf der Rückbank ist eine Tüte.«

Ida drehte sich um und griff nach einem Sandwich mit Käse und Mayo. So etwas gab es bei ihrer gesundheitsbewussten Mama?

»Ich sehe es an deinem Blick. Ist ungesund, ja! Aber die Schweden schmieren auf alles Zitronenmayonnaise«, meinte ihre Mutter und lachte.

Die Schweden waren doch recht sympathisch, fand Ida.

Sie bogen von der Autobahn ab, fuhren durch einen Ort und dann durch riesige Getreidefelder. Immer wieder zweigten Schotterwege ins Nirgendwo ab. Ihre Mutter wurde langsamer. Ein kleines blaues Schild wies nach rechts: Rävberga, 2 km. An einem Pfahl war zusätzlich ein Holzschild befestigt: Drömhäst Ranch. Daneben ein grinsendes Pferd mit einer Blume im Maul.

»Wer hat das gemacht?«, fragte Ida.

»Ingrid. Unsere Perle. Unsere Allerbeste. Sie kommt ursprünglich von einem Hof in der Nähe. Ingrid ist großartig. Sie kocht und putzt und macht noch vieles mehr. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne sie täte.«

Der Weg hatte Schlaglöcher, weshalb man sehr langsam fahren musste. Nun stieg er ein wenig an, der Wald lichtete sich, und links von ihnen erschien ein Bauernhof mit einer großen roten Scheune.

»Hier wohnt unser einziger Nachbar Erik mit seiner Familie«, erklärte Idas Mutter.

Nur ein Nachbar? Zu Hause lebten sie an der Dorfstraße. Da gab es auf allen Seiten Nachbarn, nette und auch weniger nette wie den grimmigen alten Habersetzer. Oder die furchtbare Frau Maier mit ihrem fetten Beagle, der immer genau vor den Eingang von Opas Haus kackte.

Wieder fuhren sie durch ein kleines Waldstück, bogen nach rechts ab, fuhren einen Hügel hinauf – und dann öffnete sich der Blick. Am Ende einer bestimmt fünfhundert Meter langen Auffahrt lag weit hinten ein großes Haus, das Ida eher wie ein Schloss vorkam. Das musste das Herrenhaus sein. Sie näherten sich, bis sie auf einem gekiesten Platz angekommen waren. Links von ihnen stand ein riesiger Stall, rechts von ihnen befand sich ein Reitplatz, der auch nicht gerade klein war.

»Wir sind da. Komm!«

Ihre Mutter stellte das Auto auf einem Parkplatz an der Stirnseite des Reitplatzes ab, und Ida stieg fast zögerlich aus. Ein leichter Wind zerzauste ihr Haar. Sie ließ den Blick schweifen. Die Zufahrt zum großen Haus war von Bäumen gesäumt, weiter hinten spitzte ein weiteres Gebäude heraus, ein typisches Schwedenhaus mit einer Veranda. Und links von der Baumreihe waren vier Häuschen über die Wiese gestreut. Sie sahen niedlich aus mit ihren weißen Fensterrahmen. Das Tollste aber war, dass hinter den Häuschen, weiter unten, ein wunderschöner See lag. Als sie wieder nach rechts blickte, entdeckte sie ein paar Pferde, die neben dem Reitplatz hervorkamen und neugierig an den Zaun trabten. Idas Herz macht einen gewaltigen Satz, und dann rannte sie los. »Stjärnfall, mein Sternchen!«

Schon war sie unter dem Zaun hindurchgeklettert. Die Stute gab ein tiefes brummendes Schnobern von sich. Ida drückte das Gesicht in ihre Mähne. Tränen liefen. Irgendwann stupste ihr etwas in den Rücken. Es war Frenja, die auch beachtet werden wollte. Ida hatte keine Ahnung, wie lange sie dagestanden hatte, aber als sie aufblickte, stellte sie fest, dass sich am Zaun einige Menschen aufgereiht hatten.

»Nachdem du schon mal die wichtigsten Personen begrüßt hast, wären hier noch ein paar, die dich kennenlernen wollen«, meinte ihre Mutter lächelnd.

»Oh ja, Entschuldigung.« Ida kroch unter dem Zaun durch und sah in lachende Gesichter.

»Hej!«, sagte eine Frau, die sich als Ingrid vorstellte. Sie war ungefähr sechzig, hatte eine bunte Strickjacke und weite Jeans an, und ihre Haare, die früher rotblond gewesen sein mussten, waren von vielen grauen Strähnen durchzogen. Ihre Augen waren ungeheuer blau, und sie lachte Ida an. »Ich bin Ingrid. Mit mir muss man sich gut stellen, ich habe die Hoheit über Eis und Pudding.« Ihr Akzent klang lustig, und Ida schloss sie augenblicklich ins Herz.

Sie spürte, wie ihr etwas in die Kniekehlen sprang. Ida drehte sich um und sah in gelblich braune Augen.

»Fossman, du sollst die Leute nicht immer so anspringen«, meinte Ingrid.

Ida streichelte den Hund. »Der ist ja total süß!« Er war weiß-braun gefleckt und sein Gesicht zweigeteilt – die eine Hälfte weiß, die andere hellbraun, was sehr witzig aussah.

»Das ist meiner. Ein Norrbottenspitz«, erklärte Ingrid. »Er ist unerziehbar.«

Ida lachte, und ein Mann mit Latzhose und Basecap streckte ihr die Hand hin. »Hej. Kristoffer. I’m pleased to meet you.«

Oje, er sprach kein Deutsch. »I’m pleased to meet you, too«, sagte Ida und hoffte, dass das korrekt gewesen war.

Eine Frau um die dreißig kam lächelnd auf sie zu. Sie hatte einen Pferdschwanz und trug Reithosen. »Hallo Ida, ich bin Steffi und komme aus Deutschland. Ich lerne gerade erst Schwedisch.«

»Steffi ist unsere Reitlehrerin. Sie unterstützt uns den Sommer über«, sagte Idas Mutter.

»Und jetzt bringen wir Idas Gepäck ins Haus«, sagte Ingrid. »In einer halben Stunde gibt es Essen.«

Kristoffer trug ihren Koffer die lange gekieste Auffahrt entlang bis zum Hauptgebäude. Er machte eine einladende Handbewegung, fast so, als wäre sie eine Prinzessin, dachte Ida. Das Haus war wirklich herrschaftlich. Sie kamen in einen Eingangsbereich, wo sich links die Rezeption befand. Eine breite Treppe aus Stein führte nach oben. Ida folgte ihrer Mutter in den Speisesaal. Die Möbel waren weiß, die Wände hellblau, Ölgemälde zeigten das Haus mit der umliegenden Landschaft, wie es früher ausgesehen haben musste. Es gab noch ein zweites, kleineres Esszimmer mit der Aufschrift Privat. Dahinter befand sich eine riesige Küche.

»Das ist Ingrids Reich«, sagte Idas Mutter. »Jetzt lass uns erst mal hochgehen.«

Ida war beeindruckt. »Und wo schlafe ich?«, fragte sie dann.

»Im ersten Stock sind die Gästezimmer, die zweite Etage ist dann unsere«, sagte ihre Mutter.

Als sie oben waren, zog Idas Mutter die Schuhe aus. »Wir in Schweden ziehen immer die Schuhe aus, wenn wir eine Wohnung betreten.«

Wir in Schweden? Ida zog die Schuhe aus, und sie gingen einen Gang entlang, an dessen Ende ihre Mutter eine Tür öffnete.

»Deins«, sagte sie.

Das Zimmer war groß, nein, riesig. An den hellgelb gestrichenen Wänden hingen gerahmte Bilder der Isländer, darunter auch eins von Stjärnfall als Fohlen. Es gab ein Bett, ein Sofa mit einem Tischchen, einen hübschen weißen Schrank und einen Schreibtisch. So toll war ihr Zimmer zu Hause nicht – und doch fühlte Ida sich irgendwie unter Druck gesetzt.

»Du hast ein eigenes Bad«, sagte ihre Mutter. »Pack doch einfach schon mal aus und komm dann runter zum Essen.«

Ihr Koffer stand bereits da. Ida tapste vorsichtig durch das Zimmer zum Bad. Wow! Es hatte eine Dusche und eine süße altmodische Wanne, die auf Füßen stand. Der Raum war ganz hell und mit flauschigen blauen Handtüchern bestückt. Idas Zimmer hatte drei Fenster, von denen zwei nach vorne hinausgingen. Sie konnte die Einfahrt, den Reitplatz und eine Pferdekoppel überblicken, auf der ihr Sternchen stand. Ida zählte nach. Es waren insgesamt zwölf Pferde. Neben den vier Isländern grasten da vier Fjordpferde, zwei gescheckte Shettys und zwei größere Pferde, die wunderschön aussahen. Was war das nur für eine Rasse? Vom anderen Fenster aus blickte sie auf Wald und Felder und das nette kleine Haus mit der Veranda, das ihr schon vorhin aufgefallen war.

Inzwischen war es vier Uhr, und Ida hatte wirklich Hunger. Oma und Opa hätte es missfallen, am Nachmittag zu essen. Bei ihnen aß man immer mittags warm, wobei sie montags bis donnerstags in der Schulmensa aß und nur freitags und am Wochenende daheim. Um Punkt sechs Uhr stand bei den Großeltern eine Brotzeit mit Brot und Käse auf dem Tisch, es gab Aufstriche mit Quark und nur ab und zu ein Paar Landjäger.

Ida ging ins Bad und sah in den Spiegel. Sie kämmte sich die Haare, die sie zu dünn fand. Außerdem war die Farbe langweilig. Ein ödes Hellbraun.

Plötzlich fiel es ihr auf. Sie hatte gar nicht nach Magnus gefragt. Dabei war Magnus eigentlich an allem schuld.

Nach der Trennung ihrer Eltern hatte ihre Mutter sich zuerst wie wahnsinnig in die Arbeit gestürzt. Sie hatte Tag und Nacht gearbeitet. Ida war damals schon häufig bei den Großeltern gewesen. »Das Kind braucht regelmäßiges Essen und jemanden, der sich Zeit für sie nimmt«, hatte die Oma gesagt.

Idas Mutter war Reiseverkehrskauffrau und besaß ein kleines Reisebüro, das sich auf Skandinavienreisen spezialisiert hatte. Sie organisierte für ihre Kunden maßgeschneiderte Reisen und war sehr gut in dem, was sie tat. Wahrscheinlich auch, weil sie so viel arbeitete. Auf einer Reisemesse hat sie Magnus kennengelernt, einen schwedischen Tierfotografen und Tierfilmer. Ida wurde er vor zwei Jahren vorgestellt, und sie hatte ihn ganz nett gefunden, aber nicht begriffen, dass es so ernst war.

Magnus lebte in Stockholm, war aber wegen seiner Filmerei weltweit unterwegs und hatte auch mal eine Zeit lang in Deutschland gelebt, weshalb er fließend Deutsch sprach. Ida wusste, dass er und ihre Mutter sich immer wieder getroffen hatten. Mal in München, mal in anderen Städten. Mama hatte ihr auch einmal ein Buch über Elche geschenkt, für das Magnus die Fotos gemacht hatte. Sehr schöne Bilder. Soweit Ida das beurteilen konnte, waren die Fotos richtig gut.

Eines Tages hatte Mama ihr die große Neuigkeit verkündet. Es war im März gewesen, und draußen lag Neuschnee. Die Isländer hatten ausgesehen, als trügen sie dicke Wattedecken, und das Sternchen hatte man in dem ganzen Weiß kaum gesehen. Wobei der Opa immer behauptete, Stjärnfall sei gelblich und würde sich daher sehr wohl vom Schnee abheben. Ida hatte den Opa in den Arm geboxt. Gelblich, also wirklich!

Mit dem Opa konnte sie gut herumalbern. Vor seiner Rente hatte er einen Agrarmarkt geführt, hatte Traktoren, andere Landmaschinen und Tierfutter verkauft, doch sein größtes Hobby war die Zucht von Süddeutschen Kaltblütern gewesen. Er hatte immer zwei Stuten, und fast jedes Jahr hatte es Fohlen gegeben. Idas Opa hatte sich gerne über »die Zwerge« lustig gemacht. Zwerge! Ihre Isländer waren doch keine Zwerge! Und er hatte sich auch immer schier totgelacht, wenn Frenja im Pass dahinschoss. Wie ein Kamel, sagte er immer. Frenja konnte als Fünfgängerin nicht nur die klassischen Gangarten, sondern auch Tölt und Pass. Zwar war ihr Galopp wirklich nicht so toll, aber dafür konnte sie pfeilschnell passen.

Bei der Brotzeit hatte Mama gesagt, sie müssten »mal reden«. Ida hatte der Oma angesehen, dass sie schon eingeweiht war, der Opa hingegen wusste genauso wenig wie Ida. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen.

»Schatz«, hatte ihre Mutter gesagt, mit diesem besonderen Unterton. Wenn sie »Schatz« so stark betonte, hatte sie ein schlechtes Gewissen. »Magnus hat den Hof seiner Eltern geerbt und wird dort hinziehen. Raus aus Stockholm, hinaus aufs Land. Er hat mich gefragt, ob ich auch hinziehen möchte, und ich habe Ja gesagt. Weißt du, Schatz, ich hätte die Möglichkeit, einen Reiterhof für Kinder zu betreiben und ein kleines Hotel. Du weißt, das war immer schon mein Traum.«

Hatte sie das gewusst? Ihre Mutter hatte einen Trainerschein C und hatte eine Weile drei Nachbarskindern Reitunterricht gegeben. Doch das hatte sie wieder gelassen, als ihr Reisebüro immer besser lief.

»Und ich?«, hatte Ida gefragt.

»Du kommst natürlich mit, Schatz.«

Panik war in ihr aufgestiegen. Umzug. Kisten. Die Freunde verlieren. Oma und Opa nicht mehr sehen. Ihr Papa weit weg. In ihrem Kopf war alles durcheinandergeraten, sie war aufgesprungen und hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Genau dreiundzwanzig Stunden und fünf Minuten lang, dann hatte sie die Oma reingelassen. Nur die Oma! Die Oma hatte ihr Kakao und Donauwellen hingestellt und nichts gesagt. Das war eine Spezialität von ihr: einfach warten und ruhig bleiben. Irgendwann hatte Ida angefangen zu reden.

»Oma, ich hab hier meine Freunde. Anna ist hier. Und ihr! Und die Schule.«

»Die Schule?«, hatte die Oma gefragt und gelächelt.

»Ja, ich geh da nicht so gerne hin, aber ich kann doch nicht in Schweden zur Schule gehen, die versteh ich gar nicht! Und außerdem sehe ich Papa dann gar nicht mehr. Das will Mama doch bloß!«

»Mädele«, hatte die Oma schließlich gesagt. Sie sagte immer »Mädele«, weil sie aus Schwaben stammte. »Wir wollen nicht ungerecht werden. Jetzt wart doch erst mal ab. Die Mama hat uns alle ziemlich überrumpelt. Mich und den Opa auch, der hat sich ziemlich aufgeregt. Aber jetzt musst du erst mal was essen. Dein Gehirn braucht Nahrung.«

Ida hatte gleich drei Donauwellen verschlungen und Kakao getrunken, und es war ihr gleich schon ein kleines bisschen besser gegangen. Dann waren Gespräche gefolgt, Türen wurden geknallt, und ihre Mutter sagte, sie müsse auch mal an sich denken. Es war ihr wirklich ernst mit dem Reiterhof in Schweden. Am Ende war es die Oma gewesen, die einen Kompromiss vorgeschlagen hatte.

»Jetzt lass das Mädele doch mal das Schuljahr hier fertig machen. Du hast da oben sicher genug zu tun, Andrea. Und dann schaut sich Ida den Hof da oben mal an. Ob das ein Zuhause werden kann. Ihr Zuhause werden kann.« Sie hatte Idas Mutter fest angesehen. »Eins sag ich dir aber gleich. Ich fliege auf gar keinen Fall.«

»Man kommt über die Öresundbrücke auch mit dem Auto oder dem Zug nach Schweden. Oder mit der Fähre.«

»Ich steig doch auf kein Schiff!«, hatte sich die Oma entrüstet.

Nur ungern erinnerte sich Ida daran, dass sie an diesem Abend ihre Mutter angebrüllt hatte: »Ich hasse Magnus, diesen blöden Elchknipser!« Denn eigentlich stimmte das ja nicht. Sie hasste nicht ihn, sondern die Tatsache, dass er ihre Mutter mit dem blöden Reiterhof nach Schweden gelockt hatte.

Das war der aktuelle Stand. Ida hatte die Wahl. Sie sollte innerhalb der nächsten vier Wochen entscheiden, was sie tun würde. In Schweden begannen die Sommerferien schon Mitte Juni und endeten Mitte August, bis dahin hatte sie Zeit. Aber sie wollte sich nicht unter Druck setzen, zuerst musste sie das alles auf sich wirken lassen.

Sie schaute noch einmal auf die Weide, doch die Pferde waren nicht mehr da. Also ging sie hinunter, wo es im Speisesaal Spaghetti mit Käsesoße gab. Und hinterher Lakritzeis.

»Ist das euer Ernst? Lakritzeis?«

»Klar, es gibt auch Hering mit Lakritz«, erwiderte Ingrid grinsend.

»Igitt!«

»Lasst uns rausgehen, die Pferde ansehen«, sagte ihre Mutter nach dem Essen.

Die Pferde hatten einen Offenstall. Es gab einen Liegebereich, der mit dicken Plastikfolienstreifen abgezäunt war, und einen Paddock unter einem Schleppdach, das Schutz vor Regen und Sonne bot. Was die äußeren Umstände betraf, hatten sich die Pferde natürlich verbessert. Beim Opa hatte es zwar riesige Boxen gegeben, einen kleinen Paddock und natürlich auch eine Koppel, aber die Isländer konnten nicht wie die Kaltblüter den ganzen Sommer stundenlang auf der Koppel fressen. Sie durften nur stundenweise ins Gras. Da hatte es immer eine Diskussion mit dem Opa gegeben.

»Das geht mit den Kaltblütern, aber nicht mit den Isländern. Die kriegen Hufrehe, wenn du sie zu lange im Gras lässt!«, hatte Mama geschimpft.

Hier war das optimal gelöst, denn in der Mitte der beiden Paddocks gab es je eine runde Heuraufe.

Stjärnfall kam sofort wieder zu Ida, während die anderen lieber weiterfraßen.

»Und wie heißen die ganzen Pferde?«, fragte Ida.

»Unsere Isländer kennst du ja. Vielleicht kaufe ich noch zwei Isis dazu. Die Fjordis da drüben sind Elsa und Ebba und Olsen und Olaf. Die Shettys heißen Pit und Punkt.«

»Punkt?«

»Ja, genau«, sagte Mama und zeigte auf das weiße Shetlandpony mit den schwarzen Punkten. »Ist ja auch ein Tigerschecke.«

Ida lachte. »Und die beiden?« Sie zeigte auf die größeren Pferde.

»Die Isabellfarbene ist Lotte, und der Braune heißt Lars«, antwortete ihre Mutter.

»Total schön. Sie haben so hübsche Köpfe und so große Augen. Das sind doch Kaltblüter, oder?«

»Ja, das sind Dölepferde. Wir haben sie in Norwegen gekauft. Mit den Dölepferden ist es so ähnlich wie in Bayern mit dem Süddeutschen Kaltblut. Sie wurden nicht mehr als Arbeitstiere gebraucht, als die ganzen modernen Maschinen in der Landwirtschaft kamen, und sind deshalb fast ausgestorben. In Deutschland ist es Züchtern wie Opa zu verdanken, dass diese Pferderasse gerettet werden konnte.«

Ida nickte.

»Die Dölepferde werden im Sommer traditionell ins Gebirge geschickt, wo es Bergkräuter gibt und wo die Pferde natürlich extrem trittsicher werden«, erzählte Idas Mutter. »Lotte und Lars waren letzten Sommer auch in den Bergen. Sie sind jetzt fünf Jahre alt, und wir reiten sie an. Das wäre doch was für dich.«

Ob sie das konnte? Der Wallach Lars war ein Brauner mit schwarzer Mähne, die Stute Lotte isabellfarben mit einer silbrigen Mähne. Sie waren lange nicht so massiv wie die Süddeutschen, aber es waren doch große Tiere. Ida schätzte sie auf eins fünfundfünfzig Stockmaß.

»Dölepferde sind sanft und immer freundlich«, sagte eine Stimme neben ihr. »Hej Ida!« Magnus lächelte sie an. »Schön, dass du da bist. Dölepferde sind wunderbar. Ich habe als Kind gelernt, dass Fjordis stur sind und beißen, während die Dölepferde die sanften Geschöpfe der Berge sind.«

»Quatsch«, mischte sich Ingrid ein. »Fjordis sind die Besten.«

Ida musste lachen, jeder hatte hier also eine Lieblingsrasse. »Und wer verteidigt die beiden Shettys?«, fragte sie.

»Kristoffer, der fährt mit ihnen Kutsche, auch auf Turnieren. Das musst du sehen, unglaublich! Das sind kleine Kraftpakete.«

»Echt?«

»Ja, er ist sogar schon zweimal auf den Weltmeisterschaften der Ponyfahrer gestartet und kam zweimal in die Top Ten.«

»Mit Shettys?«

»Die sind wahnsinnig wendig«, erzählte Ingrid. »Du hast sicher noch Gelegenheit, ihm beim Training zuzusehen und mal mitzufahren.«

Opa hatte auch eingespannt, und sie waren ein paar Mal gemütlich in den Biergarten von Schloss Blumenthal gefahren, aber eine Weltmeisterschaft! Ida staunte. Das war eine ganz neue Welt. Hier auf dem Hof gab es nicht nur Süddeutsche Kaltblüter und Isländer wie zu Hause, sondern auch Fjordis und Dölepferde und weltmeisterliche Shetlandponys.

»Pit und Punkt sind aber ganz schön groß für Shettys, oder?«, fragte Ida.

»Das sind Deutsche Partbred Shetlandponys. Kristoffer hat sie von einem Züchter in Norddeutschland. Sie sind genauso genügsam wie die Originalrasse. Alle Farben sind zugelassen und ein Stockmaß bis 112 Zentimeter«, erklärte Magnus. »Unser Punkt hier ist genau 112 Zentimeter groß – zumindest wenn der Hufschmied da war und er ordentlich ausgekratzt ist. Sonst misst er 113.« Er lachte.

Ida hatte gar nicht gewusst, dass Magnus Ahnung von Pferden hatte.

»Die sind total hübsch«, sagte sie. Ein Schecke und ein Tigerschecke – genau wie der Kleine Onkel von Pippi Langstrumpf, nur in richtig klein.

Ida bekam noch eine Führung durch den Rest der Anlage, durch den Stall, hinunter zum See und zu den Stugas. Dann war es irgendwann halb acht, und Magnus musste weg.

»Auf Wiedersehen, Ida. Achte darauf, was du in der ersten Nacht träumst.«

»Okay.«

Ingrid verabschiedete sich auch, und Ida ging mit ihrer Mutter zum Herrenhaus zurück.

»Und was sagst du?«

»Es ist sehr schön hier. Und alle sind sehr lieb. Wirklich.«

»Magnus hat sich so gefreut, dass du kommst.«

Ida sagte nichts. Ihre Mutter sah auf ihr Handy. Ida kannte den Blick schon.

»Wenn du noch arbeiten musst, mach ruhig. Ich bin echt müde.«

»Magst du noch was essen?«

»Nein, ich bin noch total satt von vorhin.«

Schweden hatte natürlich noch einen Vorteil. Ihre Mutter konnte nicht kochen. Da war man mit Ingrid schon sehr gut bedient. Die Oma konnte auch gut kochen, aber eben eher traditionell bayerisch-schwäbisch.

Ihre Mutter gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut. Wenn du Lust hast, nimm ruhig noch ein Bad.«

Das war eine gute Idee. Ida ließ Wasser ein und entschied sich für einen Badezusatz mit Lavendel, der das Wasser blau machte. Hinterher war ihr ganz wohlig zumute, aber richtig müde war sie noch nicht. Sie vermisste Anna, loggte sich ins WLAN ein und schrieb ihr.

 

Hey, wie geht’s? Noch wach?

Anna war sofort online.

 

Ja. Alles gut hier. Morgen fängt die blöde Projektwoche an. In den coolen Trommelworkshop bin ich nicht mehr reingekommen. Jetzt muss ich im Schulgarten rumbuddeln. Und bei dir?

Die Pferde sind alle total cute, die Leute auch. Vor allem Ingrid. Ist schon älter, aber voll cool.

Klingt super, Sis. Sorry, mein Akku ist gleich leer, und ich hab das Ladekabel verschmissen. Such ich morgen. Bis dann!

Von Anna kam nichts mehr. Typisch. Sie verlegte ständig ihr Ladekabel. Ida war immer noch wach.

Auf ihrem Nachttisch lag ein Bildband über Dölepferde. Die Fotos stammten von Magnus. Sie waren hauptsächlich im norwegischen Gebirge aufgenommen. Die Wiesen waren grüner als anderswo, der Schnee dort oben sah weißer aus. Der Himmel bestand aus Graustufen, und mittendrin stand eine falbfarbene Stute mit einem Fuchsfohlen. Beide sahen den Betrachter an und trafen Ida mitten ins Herz. Es gab kurze Texte auf Englisch über die Geschichte der Dölepferde. Bis 1900 waren sie schwere Forstarbeiter gewesen, ab 1900 aber brauchte das Militär leichtere und wendigere Pferde, also wurden andere Pferderassen eingekreuzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Bestand der Dölepferde stark gesunken. Denn die deutschen Soldaten hatten ihre Pferde einfach zurückgelassen, und die konnte man recht billig haben, weshalb man kaum noch vergleichsweise teure heimische Dölepferde kaufte. Wie beim Süddeutschen Kaltblut in Bayern waren es auch in Norwegen die Bauern, die an den alten Rassen festhielten und die Zucht weiterführten. Inzwischen wurden die Pferde sogar auf staatlichen Gestüten gezüchtet. Der sommerliche Auftrieb der Dölepferde ins Gebirge war bis heute Tradition, ein echter Festtag.

Ida blätterte und las. Die Fotos waren wunderschön. Es gab Blauschimmel, Isabellfarbene und Füchse, viele dunkle Braune und Rappen. Nach diesem Abend sah sie Lotte und Lars mit ganz neuen Augen.

Irgendwann wurde sie dann doch müde und machte das Licht aus. Sie lag noch eine Weile da und dachte nach. Wie würden die nächsten Wochen wohl werden? Es war schön gewesen, Mama nach so langer Zeit wiederzusehen, aber auch Ingrid und Steffi waren ihr sehr sympathisch.

Schließlich fielen ihr doch die Augen zu.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen wachte Ida früh auf. Es war ganz still im Haus, auch in der Küche war noch niemand. Sie zog eine Jeans und ein Sweatshirt an, schloss leise die Tür hinter sich und tapste mit den Schuhen in der Hand die Treppe hinunter. Erst draußen schlüpfte sie in ihre Sneakers. Keine Menschenseele war zu sehen. Ida ging zum Stall, wo die Pferde in zwei Gruppen auf je einem Paddock standen. Die Isländer und die Shettys bildeten eine Gruppe, die Fjordis und die Dölepferde die andere. Jede Gruppe hatte Zugang zu einer runden Heuraufe, die mehrere Abteile hatte, in die die Pferde die Köpfe hineinstecken konnten. Der kleine Punkt zwickte das Sternchen gerade in den Po und verscheuchte es vom Heu.

»Hör mal, du hast doch genug Platz und musst niemanden vertreiben«, meinte Ida lachend.

Aber schon ging Punkt zum nächsten Pferd, zwickte es auch und nahm dessen Platz ein. Das machte er so lange, bis er einmal rundherum gegangen war.

»Das ist wie die Reise nach Jerusalem«, sagte eine bekannte Stimme hinter ihr. Magnus hatte wirklich ein Talent, unauffällig aufzutauchen. »Guten Morgen, Ida. Du bist ja früh wach. Hast du schlecht geschlafen?«

»Nein, gar nicht. Aber ich konnte nicht wieder einschlafen. Es ist so früh hell.«

»Das stimmt. Aber daran gewöhnt man sich. Und das Licht gibt viel Energie. Außerdem ist der Morgen immer die beste Zeit des Tages. Was hast du geträumt?«

»Keine Ahnung.«

»Egal. Komm mit! Du hast gestern noch nicht alle Tiere gesehen.«

Sie folgte ihm in Richtung See, dann bog er in den Wald ab. Der Weg wurde schmaler, und Magnus musste ein paar Kiefern zur Seite drücken. Sie trafen auf einen roten Schuppen und einen hohen Zaun. Magnus zog unter einem Stein einen Schlüssel heraus und schloss das schwere Vorhängeschloss auf, öffnete ein Tor und pfiff. Zwei hellbraune Tierchen kamen den Hang hoch.

»Wie süß! Sind das Rehkitze?«

»Nein, das ist Damwild. Die Mutter wurde überfahren, und wir haben die beiden Kälber mit der Flasche aufgezogen. Inzwischen knabbern die beiden Mädchen auch andere Dinge, aber die Flasche brauchen sie sicher noch bis Oktober oder November.« Er zog aus seiner Umhängetasche zwei Flaschen und reichte Ida die eine. »Gib sie der Kleinen. Ich nehm die andere.«

Sie sollte ein Damwildkalb füttern? Magnus war in die Hocke gegangen und hatte dem Tier den Sauger vor die Nase gehalten. Die Flasche hielt er gekippt, und das Kalb trank. Ida macht es nach und war verzückt. Was hatte das staksige Tierchen für wunderschöne Augen! Dazu diese schwarze Nase und diese Wimpern. Es sabberte beim Trinken, ab und zu biss es in den Sauger und rüttelte an der Flasche.

»Hey, nicht so schnell.«

Magnus lächelte. »Wir sind sehr froh, dass sie nun so ordentlich aus der Flasche trinken. Als der Jäger sie uns gebracht hat, waren sie völlig dehydriert, nass und verängstigt. Bambi konnten wir mit der Spritze mühsam etwas Milch geben, außerdem fraß sie schon Grünes. Bei Bimbi klappte das mit der Flasche zwar gleich ganz gut. Dann kam aber der Durchfall, und wir hatten ein – Verzeihung, Ida – völlig verschissenes Kalb, aus dem etwas Spinatähnliches rann. Bimbi bekam Fencheltee und Haferschleim. Das war nicht ganz einfach, schließlich ist so ein Damwildkalb kein kleines Kind, das im Bett liegt und wimmert: ›Mama, ich hab Bauchweh‹, sondern ein Tier, das nicht einfach mal das Maul aufsperrt.«

»Aber ihr habt es geschafft?«, fragte Ida atemlos.

»Ja, zum Glück. Wir haben Blätter in Fencheltee getaucht, damit Bimbi in jedem Fall genug Flüssigkeit zu sich nahm. Auch das spezielle Aufzuchtmilchpulver wird mit Fencheltee angerührt. Bimbi hat pro Tag einen Sauger zerbissen.«

»Bimbi ist das Kleinere, das ich gerade füttere, oder?«, fragte Ida.

»Ja.«

»Und die Namen?«

»Na ja.« Magnus lachte. »Die Namen Bambi und Bimbi kommen von Ingrid. Sie gibt allen Tiergruppen diese Namen, die vom Klang her gut zusammenpassen. Wie Lotte und Lars. Oder Olaf und Olsen. Wobei auch persönliche Vorlieben eine Rolle spielen. Ingrid ist ein großer Fan der Olsenbande.«

»Und wer ist wer von den beiden Kälbern?«, fragte sie.

»Wenn du genau hinsiehst, merkst du, dass Bambi einen dunkleren Kopf hat und die Flecken etwas ausgefranster sind.«

Ida nahm die beiden genauer in Augenschein und konnte sie nun auch unterscheiden. Sie waren so niedlich!

»Übrigens sind das keine echten Bambis«, sagte Magnus.

»Weil sie keine Rehe sind?«

»Ja, das stimmt, aber Bambi war ja auch kein Reh.«

»Wieso?«

»Nun, die Disneyzeichner haben als Vorlage einen Weißwedelhirsch genommen. Im Gegensatz zu Rehen hat Bambi als Weißwedelhirsch einen vergleichsweise längeren, weiß-braunen Schwanz.«

»Echt?«

»Echt. Und deshalb verwechseln die meisten Leute Hirsch und Reh. Bambi wird im Film immer wieder von seinem Vater, einem stattlichen Hirsch, beschützt. Bambi wächst selber zu einem großen Hirsch heran, und die Leute denken nun, der Herr Hirsch ist der Mann von der Frau Reh, dabei sind das ganz unterschiedliche Tierarten.«

Es war schön, Magnus zuzuhören. Man merkte, wie sehr ihn Tiere begeisterten.