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Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt?
Und dann ist da trotzdem die Furcht, feige gewesen zu sein, zu lange gezögert und etwas verpasst zu haben, ein besseres Ich, ein größeres Glück, die lustigeren Haustiere und Partner.
Saša Stanišić führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen.
So wie die Reinigungskraft, die beschließt, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der Justiziar, der bereit ist zu betrügen, um endlich gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory zu gewinnen. Und so wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um dort festzustellen, dass er schon einmal auf Helgoland gewesen ist.
Am besten wäre ja, man könnte ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt.
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Seitenzahl: 247
Zum Buch
Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt?
Und dann ist da trotzdem die Furcht, feige gewesen zu sein, zu lange gezögert und etwas verpasst zu haben, ein besseres Ich, ein größeres Glück, die lustigeren Haustiere und Partner.
Saša Stanišić führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen.
So wie die Reinigungskraft, die beschließt, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der Justiziar, der bereit ist zu betrügen, um endlich gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory zu gewinnen. Und so wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um dort festzustellen, dass er schon einmal auf Helgoland gewesen ist.
Am besten wäre ja, man könnte ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt.
Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Seine Werke wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und viele Male ausgezeichnet. Saša Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg. Er ist dort Fußballtrainer einer F-Jugend.
Saša Stanišić
Luchterhand
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Copyright © 2024 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Motivs von © mauritius images / Quagga Media / Alamy / Alamy Stock Photos
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31679-2V004
www.luchterhand-literaturverlag.de
facebook.com/luchterhandverlag
Time is what keeps everything from happening at once.
Ray Cummings, »The Girl in the Golden Atom«
Bitte der Reihe nach lesen.
Saša Stanišić
INHALT
Neue Heimat
Traumnovelle
Gegen das Kind in Memory gewinnen
Gegen das Kind in Memory verlieren
Gegen das Kind in Memory unentschieden holen
Es pfeift der Wind bei hohler See, nicht Mond, nicht Stern ist in der Höh’; doch halten fest wir im Gesicht auf fernem Turm der Heimat Licht, wohin wir oft uns fanden
Gründe einer Verspätung
Mo, der Panther und Petra, der Funker
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
Der Hochsitz
Anprobe
Neue Heimat
An einem heißen Weinbergnachmittag im Juni 1994 warf Fatih einen Stein in die Luft, und wir anderen versuchten, seinen Stein mit unseren Steinen zu treffen, und Fatih sagte, »Wartet mal kurz«, und die Steine prasselten zu Boden. »Wie super wäre es«, fuhr er fort, »wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? Wie bei Deichmann, nur nicht mit Schuhen, sondern mit dem Schicksal. Kostenpunkt: hundertdreißig Mark.
Falls dir dann gefällt, was du siehst, kannst du es direkt einloggen und dich gleich drauf freuen, weil diese zehn Minuten, diewerden hundertpro irgendwann kommen. Das Einloggen kostet hundertdreißigtausend Mark.«
Hitze in einem Weinberg ist nie so krass wie Hitze in den Straßen, normal. Hitze in unserem Viertel direkt oberhalb vom Weinberg, die ist ungelogen gleich gefühlte zehn Grad krasser. Das kommt, weil die bei der Planung des Viertels die Bäume vergessen hatten. Nein, im Ernst. Die Bäume, die hier vorher waren, machten sie platt, pflanzten aber kaum neue, und als der Großvater von Piero (behauptet Piero) bei so einer Bürgerstunde höflich (behauptet Piero) nachgefragt hat, was ist eigentlich mit den Bäumen, wo bleiben die Bäume denn?, wechselten die Planer und Architekten und Bauherren und eine städtische Alkoholfahne so Blicke auf dem Podium, die kannst du nicht beschreiben (behauptet Piero), da musst du dabei gewesen sein bei der Bürgerstunde.
Nach einer kurzen Beratung hat der kräftigste Mann auf dem Podium das verkündet: »Die Bäume, die sind vor allem im Wald.«
Das stimmte inhaltlich zu einhundert Prozent, und in der Nähe gab es auch einen Wald. Das musste man aber nicht weiter erörtern, und das war auch nicht die Frage gewesen. Die Frage war gewesen: Wo sind die Bäume im Beton? Also stellte Pieros Großvater sie noch mal konkret genau so, denn vielleicht tat das Podium nicht, als wäre es doof, sondern das Podium war wirklich doof: »Wo sind die Bäume im Beton?«, also.
Daraufhin hat das Podium allen Ernstes alle Bäume aufgezählt, die nicht plattgemacht worden waren. Fehlte nur, dass die denen Namen gaben. »Und am Parkplatz vor dem Augustinum stehen noch Karsten und Birgit.«
Jeder weiß doch: Baust du, bau mit Grünzeug! Grünzeug macht weniger aggro, Grünzeug gibt dir das Gefühl, glücklicher zu sein, als du es eigentlich bist. Der Anblick einer Baumkrone in einer Straße, das weiß man sogar statistisch, der macht, dass du diese Straße schöner findest als jede Straße ohne Baumkrone, auch eine, in der die Häuser hundertmal schöner sind. Und Grünzeug, vor allem Bäume mit ihren Schatten, kühlt den Beton ein bisschen ab zumindest, womit wir wieder beim Thema Hitze wären.
Jetzt fragst du dich, und zwar zu Recht, wieso dieser Abstecher nötig war. Erstens, weil ich so die Lage unseres Heimatbetons skizzieren konnte, idyllisch, zwischen Weinberg und Wald. Und zweitens, weil es exakt so lange gedauert hat nach Fatihs Vortrag wie der Abstecher, dass in der angenehmen Hitze des Weinbergs niemand was gesagt hat.
Und warum hat niemand was gesagt? Ja, weil die Idee mit dem Proberaum so eine super Idee war, sogar mit einem Ansatz von einem guten Geschäftsplan, da sagst du nicht sofort was, wie du es bei dummen Ideen und Geschäftsplänen tun würdest, wo deine bürgerliche Pflicht als Kumpel lautet: Sofort was sagen.
Fatih warf einen weiteren Stein. »Kann natürlich sein«, sagte er, und wir ballerten unsere Steine hinterher, »der Proberaum gibt dir eine Kackzukunft nach der anderen. Ist für die meisten leider sogar wahrscheinlich, oder?
Wir vier zum Beispiel. Ausländer in Deutschland. Ja, auch du, Nico, deine Mutter ist DDR, das zählt doppelt.. Die Eltern also mit Kackjobs oder gar keinem Job, wie dein Vater, Saša. Und, ja, Nicos Mutter, gleich zwei Jobs, und dabei allein. Über Schule brauchen wir gar nicht reden, wie viele von uns schaffen es mit gutem Abschluss da raus? Auf solche wie uns warten doch statistisch eher beschissene Leben als unbeschissene, oder?
Aber hörst du auf, in den Proberaum zu gehen, nachdem du beschissene zehn Minuten bekommen hast und noch mal zehn? Natürlich nicht. Und warum nicht? Weil die nächsten zehn Minuten trotzdem gut sein könnten! Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie ein Leben verlaufen kann! Und dass jemand, auch so jemand wie wir, niemals gute zehn Minuten erleben wird, das kann einfach nicht sein. Für manche ist das Glück bloß umständehalber spärlicher gesät.«
Wir sagten weiterhin nichts. Dachten vielleicht nach. Ich dachte darüber nach, wie super der Satz gerade war – »Für manche ist das Glück bloß umständehalber spärlicher gesät«. Nico dachte vielleicht nach über die wahrscheinliche Beschissenheit seiner Zukunft, und Piero vielleicht darüber, was er in den zehn Minuten am liebsten sehen würde, angenommen, er hätte hundertdreißig Mark übrig, wobei Fatih uns bestimmt einen Rabatt gibt.
Der legte auf unser Nachdenken jetzt noch mehr nachdenkenswertes Zeug drauf. »Man muss schon aufpassen«, sagte er, »Suchtgefahr. So Filmchen von deinem noch gar nicht gelebten Leben zu sehen, die meisten würden davon nicht genug kriegen, und ruckzuck bist du verschuldet. Oder deprimiert: Gerade hundertdreißigtausend für eine gute Zukunft zusammengekratzt, die ganze Familie hat was dazugelegt, du süchtelst aber weiter und kriegst direkt eine viel fettere: geileres Auto, eine Olivenplantage, deine Mama endlich Lehrerin, hier gab es nur das Fließband und so weiter. Aber du hast keine Kohle mehr, um das einzuloggen.«
Jetzt spätestens musste auch von uns was kommen, allein, weil Fatih direkt fragte: »Sag mal, lan, was isn hier los, was guckt ihr nur so dumm?«
Als Erster fand Nico Worte sowie einen guten Stein, den er in den Himmel haute, und ich sage nicht umsonst »Himmel«. Nico konnte werfen, das war irre. Hätte der eine Probe bei Fatih gemacht, ich wette, eine seiner Zukünfte wäre diese: Nico, der Diskuswerfer, Olympische Spiele in Tokio, vierter Platz vor dem letzten Versuch. Und Nico macht diese Diskusdrehung, weißt du, die Hände weiß vom Kalk oder Kokain, oder was die da nehmen, damit der Diskus nicht rutscht, und Nico bolzt das Teil in die abendliche Sommerstimmung, vielleicht ist es auch Shanghai, zack, Silbermedaille, Freudentränen, Nico auf der Ehrenrunde mit der deutschen Fahne und einer Fahne von AC/DCum die Schultern.
Seinen Stein traf niemand.
»Wie oft kann man denn rein?«, fragte er.
»Ein Mal am Tag, max. Die Nebenwirkungen sind nicht ohne. Der eine kriegt nur Kopf, der andere könnte aber auch umkippen, normal. Wenn es dich richtig blöd erwischt, gibts Gedächtnisverlust. Und Gedächtnisverlust, das wäre wirklich Pech. Stell dir vor, du hast gerade eine komplett gute Zukunft gesehen, kommst raus aus dem Proberaum und musst wieder Buchstaben lernen.«
»Brutal«, sagte ich.
»Ich krieg bestimmt Ausschlag«, sagte Nico.
»Ich Nasenbluten.« Das war Piero. Er klang richtig traurig. Vermutlich hatte ihn das Stichwort ›Nasenbluten‹ an den Unfall erinnert, seit dem er ständig Nasenbluten kriegte, und damit auch an sein Moped, mit dem er den Unfall hatte, und das Moped wiederum erinnerte ihn an den Totalschaden des Mopeds, und das erinnerte ihn in der Summe, dass er trotzdem, auch den chronischen Schmerzen im Becken und Schädel zum Trotz, so schnell wie möglich wieder Moped fahren wollte, aber keine Kohle für ein neues Moped hatte, und er kriegte, ungelogen, während er vom Nasenbluten sprach, Nasenbluten.
Fatih grätschte dazwischen. »Vergesst doch jetzt mal die Nebenwirkungen, ihr Lappen! Wie findet ihr die Idee überhaupt?«
Das natürlich war die rhetorischste Frage, seit das Fragen erfunden wurde. An jenem heißen Junitag 1994 gab es daher nur eine mögliche Antwort: Wir fanden, dass die Idee des Proberaums die mit Abstand beste Idee war, die Fatih jemals gehabt hatte, also seit er Embryo war und womöglich, je nach Religion, auch schon davor.
Alles an der Idee war das Beste, alles. Wir, drei langhaarige Sechzehnjährige, die in jeder Suppe eine Langhaarfrisur fanden, konnten rein gar nichts daran aussetzen. Die Idee krankte im Grunde nur an einer Sache: Sie war nicht machbar.
Noch nicht! Wie Fatih, sich und dem Innovationsstandort Deutschland vertrauend, anmerkte.
Die enthusiastischen Fatih-Augen! Glühten, während er weitersprach.
»Hier kommt ihr vielleicht selbst drauf: Wieso könnte der Proberaum auch denen was bringen, die zwar gute zehn Minuten kriegen, die aber nicht kaufen können? Weil, bleiben wir mal auf dem Teppich: Wer hat schon hundertdreißigtausend Mark einfach so rumliegen?«
Wir kamen natürlich nicht selbst drauf, also gab Fatih uns einen Tipp, wie so ein anständiger Lehrer: »Ihr könnt euch die Zukunft nicht leisten, wisst aber jetzt, dass sie möglich ist. Also macht ihr was in der Gegenwart …?«
»Wir strengen uns an?« Das war Nico, und die Antwort war richtig und leuchtete allen sofort ein!
»Genau!« Fatih jubelte. »Ihr strengt euch an, ihr Lappen, damit diese Zukunft eine größere Chance hat, einzutreffen! Ihr fresst nur noch Brokkoli und Nüsse und trinkt nur noch Wein und Olivenöl wie die Griechen. Ihr werdet freundlicher zu allen, weil man weiß, weniger assi zu sein, verbessert die Lebensqualität. Schon seid ihr gesünder und glücklicher, ganz ohne den Proberaum!«
»Wieso die Griechen?« Piero runzelte die Stirn.
»Die leben länger als die Türken«, erklärte Fatih.
Da fiel auch mir ein konstruktiver Gedanke ein: »Ich glaube«, sagte ich, »ich würde mir auch dann mehr Mühe geben, wenn ich nur blöde Zukünfte kriege. Damit es unwahrscheinlicher ist, dass die kommen. Wisst ihr, was ich meine? Wenn ich zum Beispiel sehe, dass ich an Lungenkrebs verrecken werde, dann reduziere ich auf zehn Kippen am Tag.«
»Hä, du rauchst doch gar nicht«, sagte Piero.
»Jetzt rein theoretisch«, sagte ich.
»Nimm doch ein anderes Beispiel«, sagte Piero.
»Nimm doch selber ein Beispiel, du Beispiel«, sagte ich.
»Fakt ist«, rief Fatih zum Glück dazwischen, »der Proberaum macht dich so oder so zu einem besseren Menschen!«
Er hob einen Stein auf, warf den aber noch nicht, sprach jetzt langsamer. »Die Einzigen, die gar nichts ändern würden, sind die, die locker die hundertdreißigtausend investieren können. Die loggen die Zukunft ein, und weil sie dann wissen, das Schicksal meint es gut mit ihnen, auch wenn sie jemandem in den Mund spucken oder was Bonzen in ihrer Freizeit sonst so machen, lassen sie ihr Leben genau gleich weiterlaufen. Sogar wenn die eine Kackzukunft nach der anderen kriegen – egal: Sie kaufen sich dann eben eine Insel, um sich zu trösten.«
»Ja, lass die Bonzen gar nicht rein, oder?« Schlug Piero vor.
»Später vielleicht. Am Anfang brauch ich die Kohle. Die Forschung, die Geräte. Wisst ihr, was so ein Hirnscanner kostet? Ich will auch eine Ärztin dabeihaben. Ärztinnen sind teuer.
Aber ich hab eine Idee: Jeder, der reinwill, muss seinen Lebenslauf zeigen und ein paar Fragen beantworten. Kostenloses Schulessen für alle, ja oder nein? Bist du Bayern-Fan? Wie findest du den Islam? Womit hat dein Opa ’43 Geld verdient? Sind ja nicht alle Bonzen ätzend.
Wenn ich aber jemanden so richtig ätzend finde, dann tue ich nur so, als würde ich die gute Zukunft einloggen, logge aber irgendeine zufällige ein. Ein bisschen Lotto, hehe. Nur so wird es mit dem Proberaum nicht wie sonst mit allem hier, wo sich nur wenige ihre Träume erfüllen können und die meisten auf ihren sitzen bleiben.«
Wurde unser Fatih auch noch politisch! Taekwondo roter Gürtel, niedriger Körperschwerpunkt! Leitet die Tüftel-AG an der Schule selbst und kann Kopfhörer und Walkman auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, und der Klang ist danach gefühlt besser! Eine Vier in Deutsch, aber eine Eins in Bio! Lieblingstier: kleine Ziegen! Fatih, mein lieber Fatih! Ich habe an dem Tag so sehr gehofft, dass du der Erfinder werden würdest, als welcher du dich im Proberaum deines Kopfes gesehen hast in unseren Weinbergen, die gar nicht unsere waren, sich aber so anfühlten, wenn wir dort Zeit verbrachten.
Es folgten ein paar technische Fragen. Piero erkundigte sich, ob der Proberaum Naturkatastrophen mitberechnete.
Ja, alles: Erdbeben, Vulkane, Liebe.
Ich fragte, was mit dem Zufall sei. Du gehst spazieren im Wald, und ein Jäger glaubt, du bist ein Hirsch.
Kein Problem, der Zufall sei auch nur ein Dings.
Das klang einleuchtend. Nico wollte die Theorie dahinter wissen.
»Für jeden Menschen gibt es viele mögliche Lebensverläufe, je nachdem, welche Entscheidungen du triffst oder was dir so zustößt«, erklärte Fatih.
»Ist also ein anderer Piero jetzt nicht hier bei euch?«, fragte Piero bang.
»Leider ja«, sagte Fatih. »Aber auch der ist bestimmt eine dumme Sau.«
Wir lachten, Piero war erleichtert, Fatih träumte weiter.
Nachdem er genug Geld mit dem ersten Proberaum verdient hätte, würde er mit der Massenproduktion starten. Alles so billig wie möglich. In Stadtteilen wie dem unseren würde es Ausleihproberäume geben. Wie die Stadtbücherei, nur liest du eben kein Buch, sondern deine Zukunft. Damit könnte sich im Grunde jeder einen Proberaum leisten. Weil jeder, also fast jeder, zehn Minuten einer schönen Zukunft verdient hatte.
Wie großzügig gemeinnützig, bitteschön, war das denn! Mal ehrlich: Wie oft hattest du solche Gedanken? Als Sechzehnjähriger oder überhaupt. Ich als Sechzehnjähriger vielleicht einen halben gemeinnützigen Gedanken alle vierzehn Tage! Mir ging es in dem Augenblick derart engagiert wegen Fatih, ich wollte am liebsten sofort mit einem Schraubenzieher ein Stück Blech irgendwo ranschrauben als Wand für Fatihs Proberaum, so super fand ich das alles.
Etwas später an jenem Nachmittag voller Erfindungen und unreifer Trauben setzten wir uns müde ins Gras. Unter Wolkenlosigkeit und Zecken sprachen wir nun über die bald beginnenden Sommerferien. Wer wohin fuhr, wie lange und ob es geil wird.
Fatih fuhr ans Schwarze Meer, wie jeden Sommer. In einem Dorf namens Kaleköy lebte Onkel Mustafa, und Onkel Mustafa tüftelte den ganzen Tag in einem umgebauten Stall an Geräten, die mal funktioniert hatten und jetzt nicht mehr funktionierten, aber nachdem er an ihnen getüftelt haben würde, wieder funktionieren werden.
Über Onkel Mustafa am Schwarzen Meer, einen Tüftler wie Fatih eines Tages einer werden wollte, wussten wir mehr als über Fatihs Eltern, Emmertsgrundpassage 21. Die Mutter putzte die Villen in der Weststadt und hielt nebenbei das türkische Kulturzentrum am Laufen. Der Vater hatte in der Türkei etwas mit Büchern studiert, also fuhr er hier einen LKW.
Nico fuhr mit seiner Mutter nach Rimini. Fanden wir spektakulär, weil wir Nicos Mutter spektakulär fanden. Spektakulär war, zum Beispiel, wie selbstverständlich sie ab und an dort auftauchte, wo wir waren, und wie sie mit uns rumhing, als gehörte auch ihr der Weinberg. Wie auch sie gern Steine warf, die wir zu treffen versuchten. Wie sie eine rauchte oder drei, und auch wieder wegging, wenn sie sich langweilte oder wir was Anstrengendes vorhatten, Basketball, Hausaufgaben, bei Piero UFO-Enemy Unknown zocken.
Nico schämte sich wegen seiner Mutter nie, und das färbte auf uns ab. Sätze, die wir bei anderen Müttern blöd fanden, waren bei ihr voll okay. Jede andere Mutter, die zu ihrem Sohn sagte: Bleib heute aber nicht so lang weg, war uns und vor allem dem Sohn peinlich. Wenn Nicos Mutter das sagte, dachten wir alle: Ach ja, genau, guter Tipp, lieber mal ausschlafen.
Sie hatte sich auch ehrlich Sorgen um Piero gemacht und ihn mehrfach gewarnt, mit dem Moped zu schnell unterwegs zu sein. Dann bekam sie auch noch mit, dass er mit dem Ding am Hang überholt hatte. In der Kurve! Sie bekam es mit, weil sie es war, die er überholt hatte. Seine Ausrede lautete: Er habe sie mal beim Autofahren von der Seite sehen wollen! Da war aber was los. Piero sofort einsichtig. Versprach, es nie wieder zu tun. Am Ende war es dann auch nicht seine Schuld gewesen. Manchmal willst du alles richtig machen im Leben, und dann übersieht dich ein LKW-Fahrer aus Heilbronn.
Sie wollte uns nicht gefallen, auch das zählte viel. Sie biederte sich nicht an, imitierte nicht, wie wir sprachen, und besorgte später auch kein Bier für uns an der Tanke. Sie trank auch nicht mit, wenn wir welches dabeihatten, allerdings nur deswegen nicht, weil es billigstes Dosenbier war. Wenn wir dumme Tagträume laut äußerten, sagte sie lieb: »You wish …«
Sie war zwanzig, als Nico zur Welt kam, und ein halbes Jahr älter, als sie mit dem Baby aus der DDR weg ist. An einem Spieleabend bei Nico begann sie mitten in einer Runde Monopoly zu erzählen, wie hart es war, alleinerziehend zu sein. Uff, ehrlich. Inhaltlich rafften wir nicht alles, emotional schon. Wir rafften, warum sie ein paar Mal eingeschlafen ist am helllichten Tag in den Weinbergen. Und wie schön sie war, die Nähe zwischen Nico und ihr, eine notwendige Nähe, denke ich heute, wie sanft er sie dann weckte und mit ihr nach Hause ging.
Wir nannten sie nie beim Vornamen, sondern Frau Wolkendorf, weil auch das doch ein superfeiner Name ist. Was hätte Frau Wolkendorf eingeloggt als Zwanzigjährige in Naumburg?
Mit den Sommerferienplänen war Piero dran. Er würde ebenfalls nach Italien fahren. »Leider aber nicht nach Rimini mit deiner Mutter«, sagte er zu Nico, und alle fanden es lustig, auch Nicos Mutter hätte es lustig gefunden, wäre sie dabei gewesen, und ja, genau, solche Witze konntest du vor ihr bringen.
»Dich würd ich sowieso nicht mitnehmen. Nico und ich wollen uns ja entspannen.« So was käme ihrerseits zurück, und auch das hätten alle lustig gefunden, weil Piero brutal anstrengend sein konnte.
»Und du?«, fragte Nico in meine Richtung.
Ich zögerte. Das hier waren meine Freunde. Das waren Fatih, Nico, Piero. Ihre Telefonnummern waren die einzigen, die ich auswendig konnte. Und sie waren die Einzigen, die wussten, dass ich Rike drei Briefe geschrieben hatte, und die darüber natürlich lachten, weil es doch lächerlich war, Briefe! Die trotzdem aber fragten, ob Rike zurückgeschrieben hätte. (Dass ich die Briefe nie abgeschickt hatte, das wussten sie nicht.)
Ich zögerte trotz alledem. Und sagte dann doch mit relativ fester Stimme: »Ich fahre nach Helgoland.«
Ich sah in die Runde, erwartete Fragen. Ich ging stark davon aus, dass jemand fragen würde: Warum denn Helgoland?
Niemand fragte, warum denn Helgoland.
Piero fragte: »Ist das ein Land?«
Fatih sagte: »Holland?«
Nur Nico hatte von Helgoland überhaupt gehört. Ich fand das sofort gut. Es fühlte sich an, als würde ich eine Band mögen, die sonst keiner kennt.
Nico fragte: »Was machst du auf Helgoland?«
Ich sagte aufrichtig: »Kein’ Plan.«
»Ohne Plan ist sowieso am geilsten«, sprach Nico die große Wahrheit aus und lehnte sich zurück, weil man das so tat, nachdem man eine große Wahrheit ausgesprochen hatte in den Weinbergen. Fatih lehnte sich auch zurück und Piero auch, ich lehnte mich auch zurück, und dann lehnte sich, ohne Scheiß, das komplette Neckartal zurück, kurz knirschte der Horizont.
Bald würde es dämmern und mit den Mücken auch wir hungrig werden und zurückkehren in die Wohnungen, die wir Zuhause nennen mussten. Aber noch blieb uns etwas Zeit. Noch zählte nur das Liegen im Weinberg, nur das Gucken in die Himmelröte über Frankreich, als Nico leise, fast zärtlich sagte: »Es müsste, glaube ich, Anproberaum heißen.«
Dass die Zeit stehengeblieben war, hatte Dilek lange gar nicht mitbekommen, und das ärgerte sie im Nachhinein. Weil, wenn die Zeit schon einmal stehenbleibt, dann willst du das ja effektiv nutzen, statt weiter das zu tun, was du bei normal laufender Zeit getan hättest, Heizung abzustauben, jetzt Dilek konkret.
Dilek, Dilek, Dilek… Da ist etwas vorgefallen, etwas nicht gerade Unerhebliches! Und du? Geträumt hast du wieder, Dilek, so vor dich hin.
Dass die Zeit stehengeblieben war, hat Dilek allerdings auch deswegen nicht gleich mitbekommen, weil, seien wir ehrlich: Groß viel Erfahrung mit dem Stehenbleiben von Zeit hast du als Menschheit ja nicht. Wie oft passiert das schon? Auf welche Signale müsste man achten, welche Zeichen, bitte, verstehen? Bloß weil die Vögel auf einmal die Fassung verlieren, glaubt man nicht gleich: Aha, jetzt ist also die Zeit stehengeblieben. Nein, man glaubt, zumindest war das bei Dilek der Fall, dass die sich halt fortpflanzen wollen. Ist ja ihr gutes Recht.
Mit Ausnahme der Vögel war die Welt stiller geworden. Was für eine laute Spezies der Mensch doch ist. Erst wenn der ganze Stadtkrach verstummt, den so ein Wien an so einem Montag produziert, wenn also von einem Augenblick auf den anderen nichts mehr bohrt und rumort und motort, dann merkt man erst, wie laut. Also du merkst es vielleicht. Dilek aber hat es genau nicht gemerkt.
Wobei. Gemerkt hat Dilek schon was. Darauf reagiert hat sie bloß erst einmal nicht. Weil das, was sie gemerkt hat, das hat mit Frau Sehner zu tun gehabt, auf die Dilek nicht so gern reagiert. Generell nicht. Heute noch mal extra nicht, weil sie, Dilek, mit Wichtigerem beschäftigt war: dem Traum in ihrer Brust und dem Staub in Frau Sehners Heizung.
Es war das Hauen der schlanken Finger von Frau Sehner auf die Tasten ihres schlanken Computers, was Dilek bemerkt hat. Dass es verstummt war, das Klacken nebenan im Arbeitszimmer. Wobei man sagen muss, dass Frau Sehner nicht wirklich arbeitet, das hat sie gar nicht nötig. Bureau nennt sie das Zimmer trotzdem.
Kurz bevor die Zeit stehengeblieben ist, hatte es im Bureau resolut geklackt, heißt: Frau Sehner war unzufrieden mit Österreich. Je unzufriedener Frau Sehner mit Österreich war, desto härter drosch sie in die Tastatur. Frau Sehner schreibt einen wöchentlichen Newsletter für ihre Freundinnen und bestückt, bei wirklich großen Themen, die Zeitung ihres Onkels, Meinungsseite. Innenpolitik, Ibiza, Impfen. Dieses feststeckende Containerschiff im Suezkanal, die toten Flüchtlinge im Burgenland, Klima, der Weinanbau (Herzensthema wegen Weingartenbesitz) – Frau Sehner hat viel Kapazität zum Nachdenken über unser Land.
Genug von Frau Sehner und zurück zur träumenden Dilek mit einer Bürste aus Ziegenhaar. Geträumt hat Dilek von sich als Kind in der Türkei. Genauer: von einer Platane auf einer Wiese in ihrem Dorf. Genauer: vom Blick auf das Meer von unter der Platane. Noch genauer: vom summenden Singen der Fliegen hat Dilek geträumt und vom süßlichen Geruch der Ziegen an einem heißen Sommertag, an dem sie beschlossen hatte, die Ziegen für ein Stündchen sich selbst zu überlassen und ins Meer zu springen, so richtig mit Anlauf rein.
Also nein. Dilek hat diesen Tag doch erlebt, also wirklich gelebt. Eine Erinnerung war das, kein Traum – der heiße, unvernünftige Tag mit dem Sprung ins Meer.
Traumhaft war, wie sich jene Platane und jene Ziegen und jener Sprung ins Meer angefühlt haben: ungewiss. Als könnte sie aus einer Erinnerung in ein anderes Leben erwachen, eines, in dem sie nicht eine Heizkörperbürste aus Ziegenhaar einer Heizung zwischen die Rippen schob.
Der Traum kam mit scharfer Kante daher. Hat ihr einen echten Stich versetzt, hier, hinter der Brust, und Dilek hat die Bürste fallen gelassen.
Jetzt diese Bürste. Sie war ein Geschenk von Frau Sehner, eine Bürste aus Ziegenhaar. Als Frau Sehner Dilek vor Jahren die Bürste überreicht hatte, wollte sie die nicht nur als Geschenk, sondern auch als Witz verpackt wissen: »Die ist mit einer Ziege verwandt!«, hat sie gerufen und ihr Sehnerlachen gelacht – den Sehnerkopf im Nacken. Alle Sehners lachen so, sogar die, die im engeren Sinne gar keine Sehners sind: Herr Feigl, der dritte Gatte von Frau Sehner, lacht so. Sophie-Clementine und Gusti lachen auch so, und – Schmäh ohne – auch Otto, der Mops (Frau Sehner ist literaturinteressiert), lacht so, obwohl der fast gar keinen Nacken hat! Nach all den Jahren in der Sehner-Villa lacht auch Dilek so, allerdings nur, wenn sie etwas besonders unlustig findet.
Bei der Bürste aus Ziegenhaar hat sie sich durchaus amüsiert. Nicht über des Theater mit der Ziegenverwandtschaft, sondern darüber, wie absurd das war, dass Frau Sehner während einer Reise nach Deutschland in einer Stadt namens Marburg extra zu einem »namhaften Bürstenhersteller« geht und eine Heizkörperbürste aus Ziegenhaar kauft, um sie Dilek in Wien feierlich zu überreichen, Mascherl dran und alles. (Das Mascherlbinden hat Dilek ihr beigebracht.)
Als sie mit dem Lachen fertig waren, hat Frau Sehner Dilek die Hand auf die Schulter gelegt und geseufzt: »Ach, meine liebe Dilek, heute brauchst das Bureau nicht machen, bitte. Ich werd ein bisserl lesen.«
Wie war aber Frau Sehner überhaupt auf die Idee mit dem Ziegenhaar gekommen, was ist da die Pointe?
Die Pointe beginnt noch vor der Marburg-Reise an einem Tag, als Frau Sehner sich nach zwei Jahrzehnten Beschäftigungsverhältnis mit ihrer Putzfrau zu beschäftigen beginnt. Wobei, was heißt schon »sich beschäftigen«? Sagen wir: Unterhaltungen zu führen, die gehaltvoller sind als »Grüß Gott, Dilek« und »Der Otto hat wieder was von der Straße gefressen und ins Master Bedroom gespieben, fangst, bitte, da an. Danke, Dilek«.
Einsamkeit, Langeweile und etwas Alkohol: die Mischung, das weiß man, macht einen Menschen aggressiv oder kommunikativ. Frau Sehner, zum Glück, nur kommunikativ. Sie redete immer häufiger auf Dilek ein, auch mal schreiend über den Staubsauger hinweg, da kennt die Frau Sehner nichts.
Das jetzt nicht als Kritik verstehen, bitte! Nicht an Frau Sehner, auch nicht an der Ausbeutung von Minderheiten oder den finsteren Bildungsbedingungen in Österreich für Migranten oder was. Das ist nicht die Pointe. Die Pointe ist, dass Dilek ihr geantwortet hat. Und zwar nicht, weil Frau Sehner etwas gefragt hatte – die ist ein Mensch mit vielen Antworten und wenigen Fragen –, sondern weil Dilek selbst und von sich aus etwas erzählen wollte.
An einem Frühlingstag mit Scheuermilch Zitrus in der Luft war das. Dilek putzte den Herd, Frau Sehner trank den Rosé und hatte einige Anmerkungen zu den Chancen und Risiken von ökologischer Landwirtschaft. Sprich: Es ging um irgendwelche Auflagen zu ihrem Weingarten, die sie ungehörig fand.
Nachdem sie fertig war, hat sie geseufzt. Frau Sehner seufzt, wenn sie Unrecht empfindet. Zwischen dem geseufzten Trinken von Wein und dem Schrubben von Keramik hat eine Stille sich ausgedehnt. Und da raus, aus der Stille, hat Dilek loserzählt.
Überraschend für alle! Für Dilek selbst, weil sie nicht wie sonst geschwiegen hat, obwohl sie was zu sagen hatte. Für Frau Sehner, dass Dilek etwas sagte, das, druckte man es als Text, mehrere Absätze gehabt hätte. Für die Induktionsherdplatten wahrscheinlich auch, sie haben das gar nicht gekannt, dass Dilek einmal etwas Persönliches erzählt hat.
Die Sehner’schen Auslassungen über die Landwirtschaft hatten Dilek an ihre Kindheit auf dem Land erinnert. »In Kaleköy.« Dilek hat den Namen des Dorfes wie eine Zauberformel drei Mal aufgesagt, worauf Frau Sehner ihn mit einer Sorgfalt wiederholt hat, als könnte er bei falscher Betonung zerspringen. (Hat sie gar nicht mögen, Frau Sehner, wenn was zersprang.)
Dilek hat erzählt, wie sie morgens als Erstes das Haar ihrer Mutter gekämmt hat. So dichtes Haar – da hat Dilek gelächelt –, dass sie im Winter ihre Hände hineingrub, um sie zu wärmen.
Sie hat von den Ziegen erzählt, wie sie die auf die großzügigen Aktarım-Wiesen oberhalb von Kaleköy getrieben hat, und wie sie die gehütet hat, und dass man von den Wiesen auf das Meer sehen konnte, nah und fern zugleich.
Wie das Meer ausgesehen hat, das hat sie auf Türkisch beschrieben, und es war ihr egal, dass Frau Sehner das nicht verstand. Die hat aber genickt, weil sie vielleicht doch was verstanden hat in der Stimme von Dilek, in ihrem Glanz.
»Derin bir deniz.«