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Die CDU unter Angela Merkel hat sich in den letzten Jahren als eine äußerst wandlungsfähige Partei erwiesen. Beispielhaft dafür stehen die familienpolitischen Änderungen unter Ursula von der Leyen und die Hamburger Schulreformen des Ole von Beust – allesamt Eingriffe an jahrzehntelangen Eckpfeilern der Parteiidentität. Umso mehr drängen sich nun die Fragen auf, wie ein solcher Wandel am Kern der Identität zustande kommen konnte und was es für eine Partei bedeutet, wenn sich derartige Traditionslinien verändern. Sören Messinger und Yvonne Wypchol blicken auf die Schulstrukturpolitik und das Familienbild der CDU, zeichnen historische Entwicklungen und programmatische Traditionen in diesen Bereichen nach, um abschließend die aktuellen Positionen im gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Die beiden Teilstudien suchen dabei stets nach Antworten auf die Frage: Ist die CDU eine zeitgemäße Partei?
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Seitenzahl: 424
Veröffentlichungsjahr: 2014
ibidem-Verlag, Stuttgart
Robert Lorenz / Matthias Micus
Die beiden dem vorliegenden Buch zugrunde liegenden Analysen von Sören Messinger und Yvonne Wypchol über den Wandel christdemokratischer Positionen in der Schul- und Familienpolitik befassen sich gleichermaßen mit der Modernisierung der CDU in der Ära Angela Merkel. Modernisierung ist natürlich ein äußerst schwammiger Begriff. In einem denkbar weit gefassten Verständnis fällt darunter mit Blick auf Parteien – oder auch Organisationenim Allgemeinen– die Gesamtheit der programmatischen, organisatorischen und auch personellen Anpassungen an veränderte, einem zeitlichen Wandel unterliegende und mithin neue Verhältnisse. Insofern kann man genauso gut von Organisationslernen sprechen.
Was versteht man nun unter Organisationslernen?Organisationslernen im engeren Sinne bedeutet den „intendierten Wandel struktureller und kognitiver Organisationsvariablen“[1], d.h. Organisationslernen besteht aus spezifischen Wandlungshandlungen (change acts), die von konkreten Wandlungsakteuren (change agents) initiiert und begangen werden. Ein solcherart verstandenes Organisationslernen ist nichtalleinvon externen Anreizen abhängig;die Lernimpulse können auch von innen, aus der Organisation selbst kommen.
Dieses selbstgesteuerte Organisationslernen im engeren Sinne entspricht dem, was von manchen Organisationsforschern „komplexes Lernen“ genannt wird. Komplexes Lernen bezieht sich auf das Kernwissen, das Orientierungssystem der Organisation, es tangiert die Identität und Kontinuität verbürgenden Kernüberzeugungen, die kognitiven Grundannahmen und normativen Prämissen, letztlich die zentralen Ziele der betreffenden Organisation.„Einfaches Lernen“–vom komplexeren Organisationslernensemantisch bisweilen auch durch den Begriff Organisationswandelabgegrenzt–erschöpft sich ineher unkreativen organisatorischen Anpassungsprozessen an eine sich wandelnde Umwelt. Und es zielt auf Veränderungen bei den Mitteln – und nicht, wie bei komplexem Lernen, den Zwecken –, mit denen die feststehenden Ziele, die ihrerseits vom Wandel unberührt bleiben, effektiver erreicht werden sollen.[2]
Einfaches Lernen richtet sich daher zumeist auf die formalen Regeln einer Organisation, die an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst oder – noch charakteristischer – einfach nur strikter befolgt werden sollen. Das Erfolgskriterium einfachen Lernens, so könnte man sagen, ist insofern Normkonformität. Und während das Problem des komplexen LernensinseinerhohenIrrtumsanfälligkeit vor allem durch den Mangel an zuverlässigen Informationen über die Implikationen und Wechselwirkungen des sozialen, politischen und kulturellen Wandels und die Verzerrungen bei der Übersetzung von Umweltereignissen in individuelle Wahrnehmungenbesteht, führt das „einfache Lernen“ mit seiner „konservativen Reaktion auf negative Folgen der Regelbefolgung“ dazu, dass unzweckmäßige Handlungen mit umso größerer Entschiedenheit reproduziert werden.[3]
Inden beiden Analysen dieses Bucheswird ein weiter, einfache und komplexe Lernleistungen gleichermaßen umfassender Begriff des Organisationslernens verwendet–nicht zuletzt deshalb, weil der reale, empirisch beobachtbare Organisationswandel bei Parteien in der Vergangenheit eine Mischform darstellte zwischen einfachem und komplexem Lernen. Das vorherrschende Muster war (und ist?) das eines schleichenden Wandels, der zwar von einigen Akteuren befördert werden mag, der sich aber im Wesentlichen exogenen Faktoren verdankt: dem Wertewandel und Generationswechsel, dem Wandel der Ressourcenpotentiale und Veränderungen der Aufgabenstruktur.[4]
Injedem Fallist Erfahrungslernen ein weit verbreitetes Phänomen, gerade in langlebigen Organisationen mit stolzer Traditionwie der CDU. „Jede Entscheidungsregel“, so James March und Johan Olsen, „die zu irgendeinem Zeitpunkt zu einem erwünschten Zustand geführt hat, wird in der Zukunft mit größerer Wahrscheinlichkeit wieder verwendet werden als in der Vergangenheit.“[5]Bloß hat sich die Annahme als irrig erwiesen, dass eine Übereinstimmung bestehe zwischen der Situation, in der die Regeln angewandt werden, und derjenigen, in der sie entwickelt worden sind.[6]Erfahrungslernen zeitigt folglich eine Vielzahl von Problemen:Es führt erstens nicht nur zur Konservierung historischer, mittlerweile aus der Zeit gefallener Interpretationsmuster, sondern birgt auch das Risiko einer Kompetenzfalle, weil mäßige Ergebnisse, die mit suboptimalen Verfahren erzielt werden, diese vermeintlich bestätigen und von der Suche nach besseren Verfahren ablenken.[7]Dass Erfahrungslernen zweitens das Tempo und die Bereitschaft zum Organisationslernen verringert, darauf verweist die negative Korrelation zwischen Organisationsalter und Organisationslernen. Hier gilt für Kollektive dasselbe wie für Individuen:Junge sind anpassungsfähiger und veränderungsbereiter als Alte–schon allein deshalb, weil erstere unvorbelastet Neues lernen, während die Alten das früher Gelernte erst vergessen müssen, ehe sie sich das Neue einprägen können. Erinnern sie sich dabei auch noch sehnsuchtsvoll der eigenen Jugend, so sind sie erst recht abgeneigt, es auch nur zu versuchen.[8]
Die Lernverweigerung kann bis zu dem Punkt gehen, an dem – wie es der Publizist Johannes Gross genannt hat – eine Organisation „parasitär“ wird, d.h. „von einer Organisation bloß das organisatorische Gehäuse bleibt, der Glaube aber seine Gläubigen und die Ideologie ihre Kraft verloren hat“[9]. Dies ist dann der Fall, wenn das organisatorische Gehäuse bloß noch durch Privilegien und Machtmittel abgestützt wird; wenn überkommene Ansprüche überdauern, aber keine gesellschaftsstabilisierende Funktion mehr von der Organisation ausgeht, sie auch keinen Begriff vom Sinn des Lebens und der Geschichte mehr hat und sich bloß noch von der Gesellschaft unterhalten lässt, ohne Nutzen zu bieten; wenn sie also im schlimmsten Fall nicht nur nutzlos sondernauch nochschädlich geworden ist, weil nötige Anpassungen und Lernvorgänge verhindert werden und Organisationsstabilität über Effektivität gestellt wird. In solchen Fällen sprechen Organisationssoziologen auch von „pathologischem Lernen“[10]. Pathologisch ist ein Lernen dann, wenn irrige Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Erfahrungslernen zu Handlungen führen, die einen bestehenden Fehler noch verschlimmern, und wenn Anpassungshandlungen bzw. Reformmaßnahmen die Leistungsfähigkeit einer Organisation verringern statt verbessern.
An der Gegenüberstellung und den unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten, die nicht selten gerade zwischenalten und jungen, traditionsreichen und geschichtsarmen Organisationenbestehen,zeigt sich, dass Lernen auch ganz wesentlich „Entlernen“ ist und für Kompetenzgewinne Akte des Vergessens notwendig sind. „Wissen und Lernen“, argumentiert der Organisationsberater Fritz B. Simon, „sind Gegensätze. Wo Wissen bewahrt wird, wird Lernen verhindert.“ Wissen, so Simon weiter, mache „lernbehindert“.[11]Dasselbe gilt im Übrigen für zurückliegende Erfolge. Lernbedarf wird durch Misserfolge, Niedergang, Erfahrungen des Scheiterns bewusst. Vergangene Erfolge und die Erinnerung daran dagegen tendieren dazu, die Erkenntnis von Reformerfordernissen zu blockieren. Gaston Bachelard spricht in diesem Zusammenhang von Wissensbeständen als „obstacles épistémologiques“[12].
Wissen lähmt, weil die für kühne Initiativen notwendige Unschuld und Rücksichtslosigkeit verloren gehen. Die Erfahrung zeigt, dass eine Ausweitung der gesellschaftlichen Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung nicht zu einer gesteigerten politischen Steuerungsfähigkeit führt.[13]Weitere Hindernisse für organisatorisches Lernen sind zum einen die Bestandsinteressen und der daraus sich ableitende Strukturkonservatismus mindestens der etablierten Organisationen. Einen Großteil der individuellen Potentiale für komplexes Lernen können Organisationen infolgedessen nicht abrufen. Zum anderen fördert im Falle von Mitgliederorganisationen auch die Mitgliedschaft die Lernbereitschaft oftmals nicht, eher im Gegenteil. Jedenfalls sofern ihr Anschluss auf Freiwilligkeit basiert und ausgedehnte Partizipationsgelegenheiten bestehen. Konflikte aufzulösen etwa stellt in politischen Parteien mit ihren freiwilligen, werteorientierten Mitgliedschaften ein erheblich schwerwiegenderes Problem dar als in Unternehmen, wo es eindeutige Entscheidungsordnungen gibt, klare Regeln für die Auflösung von Konflikten, nicht zuletzt auch effektive Sanktionsmöglichkeiten.[14]
Und schließlich ergeben sich erhebliche Hemmnisse für Organisationslernen aus der fundamentalen Gebrochenheit und den mannigfaltigen Ambivalenzen im Verhältnis, in den wechselseitigen Einflüssen und Bedingungen zwischen den Organisationen auf der einen und ihren Umwelten auf der anderen Seite. Schon die Logik der Organisation widerspricht der Vorstellung von einem reibungslosen Verhältnis von Organisation und Umwelt–besteht doch der funktionale Sinn des Organisierens eben darin, bestimmte Sinnfiguren, Ablaufschemata und Kommunikationsformen gegen allfällige Umweltvarianzen zu stabilisieren. Organisationen müssen ein Set von Strukturmerkmalen und Sinnprämissen gegen unmittelbare Umwelteinflüsse immunisieren. Einerseits. Andererseits darf sich die Organisationaber auchkeine selbstschädigende Umweltignoranz leisten, die ihre gesellschaftliche Verwurzelung und mithin ihre Funktion als intermediäre Organisation gefährden würde. Der Organisationsprozess ist insofern – und das erschwert Organisationslernen ungemein, in die eine ebenso wie in die andere Richtung – eine Gratwanderung zwischen sturer Routinisierung und veränderungsresistenter Erstarrung einerseits und dem Risiko des Identitätsverlustes infolge allzu bereiter Umweltanpassung und allzu rascher, erratischer Kurssprünge andererseits. Jedenfalls: Nicht nur langsames Lernen kann sich als Manko herausstellen. Auch über- oder vor-schnelles Lernen ist eine riskante Strategie, da es zu Überreaktionen auf Umweltvariationen tendiert und das für das Auffinden guter Alternativen unerlässliche Experimentieren verhindert.
Ganz allgemein ist das Umweltverhältnis von Organisationen kontingent. Die Umwelt bleibt zwar auch beim komplexen Lernen die wichtigste Bezugsgröße organisatorischer Veränderungsansätze,sie hat also sehr wohl Auswirkungen auf organisationsinterne Strukturen und Abläufe, aber sie determiniert sie nicht. Nicht zuletzt deshalb, weilsämtlicheUmwelteinflüsse auf dem Weg in das Bewusstsein der handelnden Akteure in den Organisationen zunächst durch die subjektiven Wahrnehmungsfilter hindurch müssen. Welche Entwicklungen, was für Veränderungen als relevant betrachtet werden, heißt das, hängt auch von den Prädispositionen, von den Interessen, Werthaltungen und der Problemwahrnehmung der Entscheidungsträger in den Organisationen – und in unserem Falle den Parteien – ab. Dem Eigenleben und den spezifischen Gesetzmäßigkeiten formaler Organisationen kommt folglich eine unabhängige kausale Bedeutung zu.[15]
Aus den Brüchen im Wechselverhältnis zwischen Organisationen und ihren Umwelten, aus den Wahrnehmungsverzerrungen und Informationsdefiziten der Organisationsmitglieder über die externen Rahmenbedingungen resultiert ein Gutteil der Schwierigkeiten und Irrtümer beim Organisationslernen sowie der nicht-antizipierten Konsequenzen von Organisationshandeln. Auch hier haben wir es wieder mit einem schmalen Grat zu tun:Sowohl wenn sich Organisationen langsamer als die Umwelt wandeln,als auch wenn sie sich antizipativ gleichsam im Vorgriff ändern, kann der Transformationsprozess leicht seinen Anspruch auf Vernünftigkeit verlieren.„Werden Kausalverknüpfungen ignoriert[oder missverstanden, Anm.d.Verf.], weil sie neu sind, weil sie in der Vergangenheit nutzbringende Auswirkungen hatten oder weil auch der Welt Komplexität inhärent ist, so können Veränderungen […]unvorhergesehene oder verwirrende Konsequenzen haben.“[16]
So können beispielsweise Parteiführungen aus rückläufigen Stammwähleranteilen und der mindestens partiellen Entkoppelung von Parteien und Gesellschaft die Schlussfolgerung ziehen, sich umso stärker an demoskopischen Erhebungen, tagespolitischen Stimmungen und einer als ungebunden perzipierten sozialen Mitte zu orientieren;wohingegen die potentiellen Anhänger ihre Kritik gerade an der mangelnden Berechenbarkeit des Parteikurses und fehlenden Glaubwürdigkeit der Spitzenpolitiker festmachen und eine Renaissance handlungsanleitender Werte, benennbarer normativer Fluchtpunkte und unterscheidbarer langfristiger Ziele erwarten.[17]
Und nicht nur das. Erst recht können mehrere paralleleProzesse, selbst wenn jeder für sich vernünftig erscheint, zusammen und gemeinsam zu Ergebnissen führen, die von niemandem beabsichtigt sind und den involvierten Interessen konträr entgegenstehen.
Jedenfalls: Die lange Zeit gültigen Grundannahmen über organisatorisches Wahlverhalten, denen zufolge Entscheidungsprozesse erstens intentional, zweitens folgerichtig und drittens optimierend verlaufen würden–dass Entscheidungen also auf spezifischen Präferenzen, Werten und Zielen basierten, sodann auf konkreten Erwartungen über Ergebnisse in Verbindung mit der Wahl der Handlungsalternative und schließlich auf der Wahl der besten Handlungsalternative–, haben sich als weitgehend falsch herausgestellt. Der geschlossene Zyklus organisatorischen Wahlverhaltens ist eine Illusion. Subjektive Wahrnehmungen und Präferenzen von Individuen beeinflussen nicht einschränkungslos ihr Verhalten, das Verhalten von Individuen steuert nicht unvermittelt die organisatorischen Aktivitäten, letztere lösen nicht planmäßig entsprechende Reaktionen der Umwelt aus und Ereignisse in der Organisationsumwelt schlagen sich nicht ungefiltert in den subjektiven Wahrnehmungen und Präferenzen der Individuen nieder.[18]
Organisationen lernen also unter Bedingungen, in denen Ziele, Erfolg, Misserfolg ungewiss sind. Jede Erfahrung bedarf der Interpretation. „Die Welt des Absurden“,sobilanzieren James March und Johan Olsen ihre organisationssoziologischen Forschungen, „ist für unser Verständnis organisatorischer Phänomene manchmal relevanter als die Vorstellung einer engen Verbindung zwischen Handlung und Reaktion.“[19]Und sie fahren fort: „Wir benötigen deshalb Modelle der Entwicklung von Überzeugungen, die nicht notwendigerweise von einer Dominanz der Ereignisse oder der ‚objektiven Realität‘ ausgehen.“
Dies ist umso drängender, als Organisationswandel keineswegs eine Seltenheit, sondern ganz im Gegenteil alltäglich ist. Organisationen müssen sich ständig wandeln, um ihren Fortbestand in einer permanent sich verändernden Umwelt zu sichern.Dies gilt zumal für die christ- und sozialdemokratischen Volksparteien, deren Ursprünge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen, die in ihrer Geschichte mit einem fundamentalen Wandel allerorten konfrontiert waren, mit wiederholten Systemwechseln, einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel von der Agrar- über die Industrie- bis hin zur heutigen Wissensgesellschaft, die zahlreiche Krisen, Inflationen, enorme demografische Veränderungen erlebten und nicht zuletzt auch mit zyklischen Debatten über Parteienverdrossenheit konfrontiert waren – und die dies alles als Parteien bzw. Parteifamilien erstaunlich stabil überdauerten. Sodass die Schlussfolgerung nicht unzulässig ist, „daß Organisationen bemerkenswert anpassungsfähige, dauerhafte Institutionen sind, die auf variierende Umweltbedingungen routinemäßig und mühelos, wenn auch nicht immer in optimaler Weise reagieren“[20].
Dies zeigt sich auch bei der zeitgenössischen CDU. Seit der Übernahme des Vorsitzes durch Angela Merkel hat die Partei zum einen ihre Organisationsstrukturen reformiert. Die diesbezüglichen Parolen lauten: Dezentralisierung und mehr Basisbeteiligung in Form von Mitgliederbefragungen sowie Regionalkonferenzen. Und auch inhaltlich wurden erhebliche Innovationen initialisiert, die gemeinhin wiederum schlagwortartig auf die Begriffe Sozialdemokratisierung, Liberalisierung und Abwurf konservativen Ballasts verkürzt werden.
Die hier vonSörenMessinger undYvonneWypchol vorliegenden Fallstudien stellen einen ersten Schritt auf dem Weg zur Entwicklung des oben geforderten Modells zum Organisationslernen dar. Denn eben daran mangelte es in den bisherigen Arbeiten zum Organisationslernen.Seit den 1980er Jahrenbesteht zwar ein gesteigertes Interesse anOrganisationen als (kollektiven) Akteuren.Dennoch besitzt bis heute der Befund Gültigkeit, dass dasForschungsfeld Organisationslernen im Hinblick auf vergleichende Untersuchungen einen weißen Fleck aufweise. So wird allgemein gefordert, es brauche„systematische Vergleichsstudien – am besten nach dem Muster der humanbiographischen Zwillingsforschung“[21].
SörenMessinger untersucht dabei in seiner Arbeit den Wandel des programmatischen Selbstverständnisses der CDU in der Schulpolitiksowiedie Folgen, die sich aus dem Abschied von der doktrinären Dreigliedrigkeit des Schulsystems ergeben. Konkret interessieren ihn drei Fragen: Erstens, wie Parteien Veränderungen in zentralen und identitätsstiftenden Bereichen einleiten und bewältigen? Zweitens, worin der Wandel konkret besteht, oder anders gesagt:Welches Ausmaß er annimmt, ob er vor allem an der Oberfläche, d.h. rhetorisch und strategisch, stattfindet oder in veränderten Überzeugungen gründet? Und drittens fragternach den gesellschaftlichen Interessen in Bezug auf die Schulstruktur und wie weit die Forderung nach einem dreigliedrigen Schulsystem im christdemokratischen Elektorat noch verbreitet ist?
Aus seinen Fragestellungen leitet Messinger einen ebenfalls dreigliedrigen Aufbau seiner Arbeit ab. Zunächst stellt er die historischen Positionen der CDU zur Schulstrukturfrage dar. Dann analysiert er die aktuelle Schulpolitik der Christdemokraten im Nachklang der ersten Pisa-Studie. Und schließlich widmet er sich ausführlich den Einstellungen und Präferenzen, die bezüglich der verschiedenen Schulformen in der deutschen Gesellschaft kursieren.
Heraus kommt eine kluge, durchdachte Studie, die luzide den Wandel der christdemokratischen Positionen in der Schulstrukturfrage analysiert. Dabei zeigt sich, dass sich die Schulpolitik der CDU in der deutschen Nachkriegsgeschichte beständig wandelte. Ferner, dass für die Schulpolitik im Speziellen gilt, was auch für die CDU im Allgemeinen kennzeichnend ist: dass sich nämlich die innerparteiliche Meinungsvielfalt durch eine weitgehende Autonomie der Landesverbände unter dem organisatorischen Dach der Union miteinander vereinbaren lässt.
Letztlich kommtder Autorzu dem Ergebnis, dass der jüngste Wandel zum einen so weitreichend wie vielfach angenommen gar nicht ist, da er nicht durch einen „grundsätzlichen Einstellungswandel innerhalb der CDU“ fundamentiert wird. Und zum anderen korrespondiert er in seiner Halbherzigkeit bzw. Ambivalenz mit den Erwartungen der bildungsbürgerlichen Wählerklientel der Christdemokraten, die zwar gegen Gemeinschaftsschulen an und für sich nicht mehr viel einzuwenden haben–jedenfalls dann nicht, wenn daneben das Gymnasium als exklusive Schulform unangetastet bleibt. Eben das ist die Linie der CDU in der Schulpolitik, die Messinger „pragmatisch“ nennt und die seiner Darstellung zufolge nicht auf einer neuen, durchdachten und in sich schlüssigen schulpolitischen Erzählung basiert. Doch eben darin, in dieser kurzfristig so verdeckten wie erfolgreichen Neujustierung sieht er mittelfristig ein Problem auf die CDU zukommen, da ihr dadurch die Möglichkeit verloren gehe, „ein bestimmtes, vorhandenes, soziales Interesse effektiv für sich zu nutzen“.
Yvonne Wypchol wiederum analysiert die Veränderungen des Familienbildes der CDU. Konkret gilt ihr Interesse dem Prozess, in dessen Verlauf das christdemokratische Familienbild gewandelten sozialen Verhältnissen angepasst wurde und die offizielle Parteilinie der CDU von traditionellen bürgerlichen Vorstellungen über Familie, Ehe, und der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern Abstand nahm. Ihre Fragestellung umfasst daher im Wesentlichen die Suche nach datierbaren Zäsuren dieses Modernisierungsprozesses, sie beinhaltetaber auchdie Ambition, die wichtigsten Protagonisten und AntipodendiesesWandels zu identifizieren, schließlich den Versuch, die Argumente und Motive für die familienpolitische Neuausrichtung zu gewichten.Zeitlich beschränkt sichdie Autorinauf die Zeit zwischen dem Machtverlust der CDU im Bund im Jahr 1998 und dem Ende der Großen Koalition 2009. Bemerkenswert ist außerdem, dass sie ihre Argumentation nicht bloß auf Zeitungsartikel, Programmtexte und die vorhandene wissenschaftliche Sekundärliteratur gründet, sondern zusätzlich eine Reihe von Interviews mit – wie sie es nennt – „feldinternen Experten“ geführt hat.
Wypchol gelingt es, zwei zentrale Daten auf dem Weg der CDU zu einem neuen Familienbild nach 1998 zu benennen. Zum einendas Jahr 1999, welches den BeginnderprogrammatischenErneuerungmarkiert,undzum anderendenAmtsantritt Ursula von der Leyens als Familienministerin im Jahr 2005, derdie praktisch-politische Kurskorrektur markiert. Sehr überzeugend betont die Autorin die Bedeutung, welche neben der Absicht zur Erneuerung auch den steten Anspielungen und Rückbezügen auf den Traditionsbestand des christdemokratischen Familienbildes für den Erfolg der Modernisierer zukam. Aus diesem Umstand leitet sich die Zentralstellung des Begriffes der „Wahlfreiheit“ zur Legitimation des modernisierten Familienbildes ab, da dieser sich sowohl in die Traditionslinie der Subsidiaritätsforderungen der klassischen katholischen Soziallehre stellen lässt als auch eine zukunftsgewandte Öffnung des Familienbegriffes für eine neue Vielfalt der Formen des Zusammenlebens nahelegt. Das Erfordernis, für den Erfolg der familienpolitischen Neujustierung Modernität und Traditionalität zu verknüpfen, begründete auch die SchlüsselrolleUrsulavon der Leyens, die stärker als die anderen zeitgenössischen Parteispitzen der CDU ein „traditionell geprägtes Familienbild[verkörperte]“ und die durch ihre ganze Erscheinung jene unverzichtbare Orientierung bot, die Angela Merkel in ihrem Verzicht auf jede grundsätzliche Erklärung zu stiften nicht imstande war.
Wypcholgelingtdamiteine differenzierte Erklärung für den Erfolg der familienpolitischen Neupositionierung der CDU: Angela Merkel unterstütztedie Reformen, Ursula von der Leyen fungierteals „Gesicht“ der Modernisierung des Familienbildes, den innerparteilichen Gegnern mangeltees an schlüssigen Gegenkonzepten, zudem warensie hin-und hergerissen zwischen einem traditionellen Familienbild und einer liberalen Wirtschaftsauffassung, derzufolge eine erhöhte Erwerbsbeteiligung von Frauen und ein möglichst schneller Wiedereinstieg in den Beruf nach Schwangerschaftspausengrundsätzlichsinnvollseien.
In einem vorläufigen Fazitlässt sich,mithinganz unvollständig,festhalten, dass die Modernisierung (partei-)politischer Organisationen von günstigen Umständen oder auch Gelegenheitsstrukturen abhängt. Mit Blick auf die Schulpolitik sind die Probleme seit denPISA-Studien offenkundig;unzweifelhaft ist auch die Halbierung des Anteils von Arbeiterkindern, die es bis zum Studium schaffen,und mithin die verschärfte soziale Selektion des Bildungswesens. Und im Hinblick auf den Wandel in der Schulpolitik ist der Bedeutungsverlust der Katholiken und der katholischenKircheauf die Kursbestimmung der CDU eine wesentliche Bedingung. DieCDU verbietet sich mittlerweile scharf Einmischungen der Kirche in ihre Belange. Mit dem Wegzug aus dem katholischenBonn ins antiklerikale Berlin ist der religiöse Bezug vieler Abgeordneter undMinisterialer verlorengegangen. Durch die Wiedervereinigung wurde die CDUinsgesamtprotestantischer und konfessionsloser,das Verhältnis zwischenihrunddenProtestantenhattesichaber bereits in den 1960er und 1970er Jahren im Zuge von Frauenfrage und Friedensbewegung abgekühlt.Überhaupt ist das „C“als Bindegliedfür die Christdemokratieentbehrlich geworden, seitdemdasgegenseitigeMisstrauen zwischen Katholiken und Protestanten in der Bundesrepublikgeschwundenist. Ganz unabhängig davon, dass der Lebenswandel der Unverheirateten, Geschiedenen undPatchwork-Familien an der Parteispitzemit konservativ-klerikalen Dogmen schwerlich vereinbarist.
Günstige Gelegenheiten stellen Chancen dar. Diese müssen freilichaberauch genutzt werden. Denngegen weitreichende Reformabsichten formieren sich immer auch gegenläufige, veränderungsskeptische Strömungen, im Fall der jüngsten inhaltlichen Neubestimmungen der CDU ist dies etwa dasseit einiger Zeit verstärkteBedürfnisweiter Teile der CDU-BasisnachideologischerReinheitundAbgrenzung vom politischen Gegner. Hieraus erklärt sich die immer wieder aufflackernde Binnenkritikan derPrinzipienlosigkeit der Kanzlerin und Parteivorsitzenden Merkel. Dies spiegelt sich auchim neuen CDU-Programm, in demweichere Formulierungen, etwa zum EU-Beitritt der Türkei, schärferenAbsichtsbekundungen weichen mussten; desWeiteren in dereindeutigenMitgliederpräferenz pro Schwarz-Gelb;und ebenfalls darin, dass dieMitgliedergruppe der linksmittigen „gesellschaftspolitisch Liberalen“ zuletzt in internen Umfragenzugunsten der„Traditionsbewussten“, „Christlich-Sozialen“ und „Marktwirtschaftlichen“ schrumpfte. Mithin: Zu den günstigen Gelegenheitsstrukturen muss sich Führung hinzugesellen.Die Kennzeichen, Erfordernisse und Möglichkeiten der gewandelten Umfeldbedingungen müssen intuitiv erspürt, Handlungsspielräume illusionslos eingeschätzt, Mehrheiten geschickt gesammelt, Widerstände geduldig überwunden und Entscheidungen mutig vorangetrieben werden.Wie dies im Einzelfall aussieht, darüber informieren schlüssig und gedankenreich die beiden Fallanalysen dieses Buches.
„Göttinger Junge Forschung“,unter diesem Titel firmiert eine Publikationsreihe desInstitutes für Demokratieforschung, das am 1. März 2010 an derGeorg-August-Universität Göttingengegründet worden ist. Göttinger Junge Forschung verfolgt drei Anliegen: Erstens ist sie ein Versuch, jungen Nachwuchswissenschaftlern ein Forum zu geben, auf demdiesesich meinungsfreudig und ausdrucksstark der wissenschaftlichen wie auch außeruniversitären Öffentlichkeit präsentieren können. Damit soll erreicht werden, dass sie sich in einem vergleichsweise frühen Stadium ihrer Laufbahn der Kritik der Forschungsgemeinde stellen und dabei im Mut zu pointierten Formulierungen und Thesen bestärkt werden.
Zweitens liegt ein weiterer Schwerpunkt auf der Sprache. Die Klagen über die mangelnde Fähigkeit der Sozialwissenschaften, sich verständlich und originell auszudrücken, sind Legion. So sei der alleinige Fokus auf Forschungsstandards „problematisch“ im Hinblick auf eine „potentiell einhergehende Geringschätzung der Lehr- und der Öffentlichkeitsfunktion der Politikwissenschaft“, durch die „Forschungserkenntnisse der Politikwissenschaft zu einem Arkanwissen werden, das von den Experten in den Nachbarfächern und den Adressaten der Politikberatung, aber kaum mehr vom Publikum der Staatsbürgergesellschaft wahrgenommen wird, geschweige denn verstanden werden kann“.[22]Viel zu häufig schotte sich die Wissenschaft durch „die Kunst des unverständlichen Schreibens“[23]vom Laienpublikum ab.
Mitnichten soll an dieser Stelle behauptet werden, dass die Texte der Reihe den Anspruch auf verständliche und zugleich genussreiche Sprache mit Leichtigkeit erfüllen. Vielmehr soll es an dieser Stelle um das Bewusstsein für Sprache gehen, den Willen, die Forschungsergebnisse auch mit einer angemessenen literarischen Ausdrucksweise zu würdigen und ihre Reichweite – und damit Nützlichkeit – soweit zu erhöhen, wie dies ohne Abstriche für den wissenschaftlichen Gehalt möglich erscheint. Anstatt darunter zu leiden, kann sich die Erkenntniskraft sogar erhöhen, wenn sich die Autoren über die Niederschrift eingehende Gedanken machen, dabei womöglich den einen oder anderen Aspekt noch einmal gründlich reflektieren, die Argumentation glätten, auf abschreckende Wortungetüme, unnötig komplizierte Satzkonstruktionen und langweilige Passagen aufmerksam werden[24]– insgesamt auf einen Wissenschaftsjargon verzichten, wo dies zur Klarheit nicht erforderlich ist. Denn es besteht durchaus die Möglichkeit, einen wissenschaftlichen Text weder zu simplifizieren noch zu verkomplizieren, selbst unter der Berücksichtigung, dass die schwere Verständlichkeit von Wissenschaft aufgrund unvermeidlicher Fachbegriffe vermutlich unausbleiblich ist.[25]
Dies sollte jedoch nicht die Bereitschaft mindern, den Erkenntnistransfer via Sprache zumindest zu versuchen. In der allgemeinverständlichen Expertise sah der österreichische Universalgelehrte Otto Neurath sogar eine unentbehrliche Voraussetzung für die Demokratie, für die Kontrolle von Experten und Politik. Neurath nannte das die „Kooperation zwischen dem Mann von der Straße und dem wissenschaftlichen Experten“[26], aus der sich die Fähigkeit des demokratisch mündigen Bürgers ergebe, sich ein eigenes, wohlinformiertes Urteil über die Geschehnisse der Politik zu bilden. Dass in diesem Bereich ein Defizit der Politikwissenschaft besteht, lässt sich, wie gezeigt, immer häufiger und dringlicher vernehmen. Ein Konsens der Kritiker besteht in dem Plädoyer für eine verstärkte Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in eine interessierte Öffentlichkeit. Hierzu müsse man „Laien dafür interessieren und faszinieren können, was die Wissenschaftler umtreibt und welche Ergebnisse diese Umtriebigkeit hervorbringt“, weshalb „komplexe wissenschaftliche Verfahren und Sachverhalte für Fachfremde und Laien anschaulich und verständlich“ dargestellt werden sollten.[27]
Der Sprache einen ähnlichen Stellenwert für die Qualität einer Studie einzuräumen wie den Forschungsresultaten, mag sich auf den ersten Blick übertrieben anhören. Und wie die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman zu berichten weiß, ist dies zumeist „mühselig, langsam, oft schmerzlich und manchmal eine Qual“, denn es „bedeutet ändern, überarbeiten, erweitern, kürzen, umschreiben“.[28]Doch eröffnet dieser Schritt die Chance, über die engen Grenzen des Campus hinaus Aufmerksamkeit für die Arbeit zu erregen und zudem auch die Qualität und Überzeugungskraft der Argumentation zu verbessern. Kurzum: Abwechslungsreiche und farbige Formulierungen, sorgsam gestreute Metaphern und Anekdoten oder raffiniert herbeigeführte Spannungsbögen müssen nicht gleich die Ernsthaftigkeit und den Erkenntniswert einer wissenschaftlichen Studie schmälern, sondern können sich für die Leserschaft wie auch für die Wissenschaft als Gewinn erweisen.
In den Bänden der Göttingen Jungen Forschung versuchen die Autoren deshalb sowohl nachzuweisen, dass sie die Standards und Techniken wissenschaftlichen Arbeitens beherrschen, als auch eine anregende Lektüre zu bieten. Wie gesagt, mag dies nicht auf Anhieb gelingen. Doch Schreiben, davon sind wir überzeugt, lernt man nur durch die Praxis des Schreibens, somit durch frühzeitiges Publizieren. Insofern strebt die Reihe keineswegs perfektionistisch, sondern perspektivisch die Förderung von Schreib- und Vermittlungstalenten noch während der wissenschaftlichen Ausbildungsphase an.
Freilich soll bei alldem keinesfalls der inhaltliche Gehalt der Studien vernachlässigt werden. Es soll hier nicht ausschließlich um die zuletzt von immer mehr Verlagen praktizierte Maxime gehen, demnach Examensarbeiten nahezu unterschiedslos zu schade sind, um in der sprichwörtlichen Schublade des Gutachters zu verstauben. Die Studien der Reihe sollen vielmehr, drittens, bislang unterbelichtete Themen aufgreifen oder bei hinlänglich bekannten Untersuchungsobjekten neue Akzente setzen, sodass sie nicht nur für die Publikationsliste des Autors, sondern auch für die Forschung eine Bereicherung darstellen. Das thematische Spektrum ist dabei weit gesteckt: von Verschiebungen in der Gesellschaftstektonik über Anatomien von Parteien oder Bewegungen bis hin zu politischen Biografien.
Eine Gemeinsamkeit findet sich dann allerdings doch: Die Studien sollen Momenten nachspüren, in denen politisches Führungsvermögen urplötzlich ungeahnte Gestaltungsmacht entfalten kann, in denen politische Akteure Gelegenheiten wittern, die sie vermittels Instinkt und Weitsicht, Chuzpe, Entschlusskraft und Verhandlungsgeschick zu nutzen verstehen, kurz: in denen der Machtwille und die politische Tatkraft einzelner Akteure den Geschichtsfluss umzuleiten und neue Realitäten zu schaffen vermögen. Anhand von Fallbeispielen sollen Möglichkeiten und Grenzen, biografische Hintergründe und Erfolgsindikatoren politischer Führung untersucht werden. Kulturelle Phänomene, wie bspw. die Formierung, Gestalt und Wirkung gesellschaftlicher Generationen, werden daher ebenso Thema sein, wie klassische Organisationsstudien aus dem Bereich der Parteien- und Verbändeforschung.
Was die Methodik anbelangt, so ist die Reihe offen für vielerlei Ansätze. Um das für komplexe Probleme charakteristische Zusammenspiel multipler Faktoren (Person, Institution und Umfeld) zu analysieren und die internen Prozesse eines Systems zu verstehen, darüber hinaus der Unberechenbarkeit menschlichen, zumal politischen Handelns und der Macht des Zufalls gerecht zu werden,[29]erlaubt sie ihren Autoren forschungspragmatische Offenheit. Jedenfalls: Am Ende soll die Göttinger Junge Forschung mit Gewinn und – im Idealfall – auch mit Freude gelesen werden.
Sören Messinger/Yvonne Wypchol
Die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) unter Angela Merkel hat sich in den letzten Jahren als eine äußerst wandlungsfähige Partei erwiesen. In vielen Politikbereichen, die zuvor als unveränderbar galten, wurden Kursänderungen vorgenommen. Immer wieder sorgten diese programmatischen Neujustierungen der CDU für Überraschungen: Von der Abkehr von der Atomkraft über die Familienpolitik mit Krippenplatzausbau und Elterngeld, bis hin zur Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften wie auch der Weg zu einer Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem – bei derartigen Themen sorgte die CDU im eigenen Klientel, aber auch andernorts seit einiger Zeit für Erstaunen. Je nach politischer Position der Kommentatoren wurde in den Medien die Modernisierung der Partei gelobt, eineSozialdemokratisierung beklagtoder aber unterstellt, die Parteiführung richte ihre Fahne nur nach dem Wind der Meinungsumfragen.
Sicherlich war die CDU schon immer eine pragmatische Partei. Trotz der Bezeichnung und Selbstbezeichnung als – auch – konservative Partei, war sie stets anpassungsfähig, konnte sich auf neue Herausforderungen einstellen und auf neue Themen einlassen. Dennoch gibt es Werte, Überzeugungen, bestimmte Politikfelder und Konflikte, die im Laufe der Geschichte der Partei einen hohen identitätsstiftenden Wert ausgebildet haben. Ein positiver Bezug auf Heimat, Nation und Familie bildet dabei die abstrakteste Ebene solcher Werte. In der konkreten Politik wiederum waren es nicht zuletzt die beiden Themen Dreigliedrigkeit des Schulsystems und ein traditionell geprägtes Familienbild, die über Jahrzehnte hinweg identitätsstiftende Eckpfeiler der CDU darstellten. Stets war klar, welche Position die Partei hierbei präsentierte,und sie grenzte sich damit scharf vom linken Parteienspektrum ab. Dass es eben unter anderem in diesen beiden Bereichen zu Wandlungen kommt, sorgt somit nicht ohne Grund für Aufmerksamkeit.
Umso mehr drängen sich nun die Fragen auf, wie ein Wandel am Kern der Identität zustande kommen konnte und was es für eine Partei bedeutet, wenn sich derartige Traditionslinien verändern. Deshalb sollen nachfolgend zum einen die Schulstrukturfrage und ihre Bedeutung für die CDU und zum anderen die Wandlungen im Familienbild der CDU analysiert werden. Mit diesen zwei – voneinander unabhängigen – Studien soll zusammengenommen etwas mehr Farbe in das Bild der so wandlungsfähigen CDU-Programmatik gebracht werden. Der Blick auf die Schulstrukturpolitikrichtet sichdabeiaufdie historische Entwicklung der CDU und zeichnet die programmatischen Traditionslinien der Partei in diesem Bereich nach. Diese werden genutzt,umanschließendzu einer Betrachtung und Einordnung der aktuellen programmatischen und politikpraktischen Positionen der Partei zu dieser Frage zu kommen und sie mit gesellschaftlichen Entwicklungen in Beziehung zu setzen.Imzweiten Teildieses Buches,zum Familienbild der CDU,wird vor allem die Bedeutung der Personen Angela Merkel und Ursula von der Leyen für den Wandel mit Hilfe von Interviews und einer Rekonstruktion der innerparteilichen Debatten herausgearbeitet.
Dabei wird deutlich: Wenn auch Veränderungen in beiden Bereichen zu erkennen sind und in beiden die CDU sich durchaus von der klassischen konservativen Position entfernt, vollziehtdie ParteidieseAbweichungendurchaus in je spezifischer Weise. Nicht zuletzt weil Schulstrukturpolitik vor allem Ländersache ist, während Familienpolitik dem Bund zufällt,müssen bestimmte Prozesse anders verlaufen. Allerdings unterscheiden sich auch die gesellschaftlichen Dynamiken, in die der Wandel jeweils eingebettet ist. Gemeinsam ist jedoch beiden Entwicklungen, dass eben ein solcher gesellschaftlicher Wandel zur Erklärung des programmatischen Wandels zentral ist. Auch fällt es der CDU in beiden Fällen offensichtlich schwer, die Neuerungen in derselben Weise identitär aufzuladen, wie es in den Politikbereichen früher der Fall war. Die notwendige Anpassung ist somit eben auch die Verlustgeschichte von mobilisierender und sinnstiftender Parteiidentität.
Sören Messinger
BLKBund-Länder-Kommission für Bildungsplanung
CDUChristlich Demokratische Union Deutschlands
DADeutscher Ausschuss für das Erziehungs- und
Bildungswesen
FDPFreie Demokratische Partei
GALGrüne Alternative Liste Hamburg
GEWGewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
KMKStändige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland
SMBSchule mit mehreren Bildungsgängen
NEVNiedersächsischer Elternverein
OSOrientierungsstufe
Die deutsche Schulstruktur befindet sich mitten in dem größten Wandel seit der Einführung der Gesamtschulen in den 1960er und 1970er Jahren. Überall werden Schulformen eingeführt, die in mehr oder weniger integrierter Form Haupt- und Realschulen ablösen. Anders als die Gesamtschulen früherer Reformen ersetzen die neuen Gemeinschafts-, Regional-, Ober- und Stadtteilschulen somit tatsächlich in vielen Fällen Teile der hergebrachten Schulformen. Deutschland scheint auf dem Weg zu einem zweigliedrigen Schulsystem zu sein. Erstaunlich ist daran die aktive Mitwirkung der CDU, die bisher stets die Dreigliedrigkeit als ideales Organisationsprinzip des deutschen Bildungssystems hochgehalten hat. Sicherlich war die CDU schon immer eine pragmatische Partei und doch war aber eben gerade der Streit um die deutsche Schulstruktur eine feste Größe in ihrer Identitätsbildung. Hier bezog die CDU seit ihrer Gründung Stellung und kämpfte erfolgreich für den (Wieder-)Aufbau und Erhalt des dreigliedrigen Schulsystems und gegen Versuche ein integriertes Schulsystem aufzubauen. Fragt man danach, warum in Deutschland alle Versuche ein Gesamtschulsystem durchzusetzen gescheitert sind, dann spielt die CDU dabei eine zentrale Rolle. Doch seit einigen Jahren akzeptiert und betreibt die CDU Reformen der Schulstruktur, die das Leitbild der Dreigliedrigkeit und damit eine der bisher als unverrückbar erscheinenden Überzeugungen der Partei in Frage stellen.
Der Kampf um die Schulstruktur besitzt dabei eine deutlich längere Geschichte als die CDU selbst. Schon in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 stritten sich liberale und konservative Abgeordnete um die Frage, ob es eine Schule für alle, oder aber ein gegliedertes Schulsystem geben solle[30]. Bald mischten auch die Sozialisten in der Frage mit, da sie das gegliederte Schulsystem als eine Form der Klassenherrschaft verstanden. Der politische Katholizismus hatte ebenso ein starkes Interesse an der Schulstruktur, musste er doch um die Bekenntnisschulen fürchten, wenn sich säkulare Liberale und Sozialisten durchgesetzt hätten. Das Thema beschäftigte die Politik zur Reichsgründung 1871 ebenso, wie zu Zeiten der Weimarer Republik. Dabei war der einzige Erfolg der BefürworterInnen der Einheitsschule die vierjährige Grundschule, die sie sich im Weimarer Schulkompromiss von 1920 erkämpften.
Das die CDU die Verteidigung des gegliederten Schulsystems in der Bundesrepublik übernahm, lag nicht zuletzt daran, dass sie sowohl die katholischen, als auch die protestantisch-konservativen Kräfte in sich vereinte und so zwei Quellen für eine klare Positionierung in der Schulstrukturfrage besaß. Ausbuchstabiert wurde die Position als Dreigliedrigkeit: Nach der vierjährigen Grundschule sollten die SchülerInnen, je nach ihren Begabungen, aufgeteilt werden in Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Jede Schulform besaß dabei eine sehr enge Bindung an einen spezifischen Abschluss und berechtigte so zu unterschiedlichen Arten von weiterer Ausbildung oder Studium und somit wiederum zu unterschiedlichen Berufen. Von dieser Grundposition für die Konzeption der Sekundarstufe I und II schien die CDU nicht abweichen zu wollen und war immer zur Stelle, wenn es Versuche gab, im Namen von ökonomischen oder sozialen Argumenten an dem Arrangement etwas zu ändern.
Schon der Gründungsprozess der CDU war geprägt von den politischen Auseinandersetzungen um die richtige Schulstruktur für die Bundesrepublik. Sowohl die amerikanische Militärregierung als auch die SPD und Teile der FDP versuchten den Neuanfang nach 1945 für große Reformen an der Schulstruktur zu nutzen. Diese frühen Auseinandersetzungen und der letztlich errungene Erfolg prägten die CDU und ihre Haltung zur Bildungspolitik nachhaltig. Etwa zwei Jahrzehnte später stritt sich die deutsche Politik wieder um die Schulformen. Unter dem Schlagwort der Gesamtschule versuchten die SPD, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und viele ErziehungswissenschaftlerInnenund PädagogInnen, die deutsche Schulstruktur erneut grundlegend zu reformieren. Doch wieder waren es die CDU und ihre Verbündeten, die verhinderten, dass sich die Reformer durchsetzen konnten. Das dreigliedrige System blieb erhalten, je nach Bundesland um einige oder viele Gesamtschulen ergänzt. Die CDU hatte stets, so scheint es, eine klare Vorstellung von der Schulstruktur und konnte sich mit dieser Vorstellung weitgehend durchsetzen. Gleichzeitig bildete diese Frage eine wesentliche Trennlinie zwischen den politischen Lagern und damit auch immer die Möglichkeit, eine politische Identität aufzubauen.
Nach den großen Debatten um die Gesamtschule schien das Thema ab den späten 1980er Jahren lange Zeit von der großen politischen Bühne verschwunden zu sein und niemand erwartete, dass sich die Schulstruktur in Deutschland nochmal fundamental wandeln könnte. Nicht zuletzt weil die CDU dies zu verhindern wissen würde. Doch seit mit der PISA-Studie von 2001 eine neue Reformära in der Bildungspolitik angebrochen ist, hat sie sich schrittweise, Bundesland für Bundesland, tiefgreifend geändert, obwohl gerade die Schulstruktur nicht Ziel der reformerischen Aktivitäten nach PISA hatte sein sollen. In nahezu allen Bundesländern, außer Bayern, ist von der klassischen Dreigliedrigkeit immer weniger übrig. Besonders die Zusammenlegung der Hauptschulen und Realschulen zu höchst unterschiedlich bezeichneten integrierten Schulformen stellt dabei die klassische Position der CDU in Frage.
Anders aber als im Verlauf der bisherigen Geschichte der CDU und noch direkt zu Beginn der Reformära nach PISA, wehrt sich die CDU immer weniger gegen den stattfindenden Wandel. Zum Teil trägt sie ihn sogar selbst mit. Anders aber als der Wandel der Familienpolitik, der innerparteilich nicht zuletzt durch den Verweis auf die große Unterstützung für diesen in der Bevölkerung legitimiert wurde, ist der Wandel der Bildungspolitik aber schwerer mit einem Verweis auf einen klaren Willen des Volkes zu legitimieren. Das Scheitern wesentlicher Teile der Schulreformen in Hamburg 2008-2010 steht wohl am auffälligsten für den Widerstand den es in Teilen der Bevölkerung gibt. Der Abwehrkampf, der in Hamburg gegen die Primarschule geführt wurde, von den Bürgern gegen ein Bündnis aus allen in der Bürgerschaft vertretenen Parteien und allen relevanten gesellschaftlichen Organisationen, Verbänden und Kirchen deutet auf eine weiterhin vorhandene soziale Verankerung klassischer Vorstellungen in der Schulstrukturpolitik hin. Die konservativen Teile der CDU, die sich gegen diese Wandel ebenso murrend wehren, wie gegen den Wandel in der Familienpolitik, finden also bei der Frage der Schulstruktur eine Resonanz in bestimmten Bevölkerungsschichten, die ihr in anderen Debatten gefehlt hat.
In den folgenden Kapiteln soll ein Bild davon gezeichnet werden, was es für die CDU bedeutet, sich von der Dreigliedrigkeit als programmatischer und politikpraktischer Position zu verabschieden. Wie ist ein Wandel in einem so aufgeladenen Themenbereich überhaupt möglich und wie geht eine Partei damit um? Worin besteht die besondere Bedeutung dieser politischen Frage für die CDU? Aus welchen Gründen konnte sie zu einer solchen Bedeutung für die Identität der Partei aufsteigen? Ist die Position im Verlauf der Geschichte der CDU konstant geblieben oder hat es nicht doch auch in dieser Frage immer wieder Wandlungen gegeben? Das hat für den hier behandelten Fall erstens eine historische Dimension, die zunächst mit einem Gang durch die Geschichte der Beziehung von CDU und Dreigliedrigkeit bearbeitet werden soll.
Auf dieser Basis kann dann zweitens die aktuelle Position der CDU betrachtet werden: Was hat sich tatsächlich gewandelt? Warum kommt es zu dem Wandel innerhalb der Politik der CDU? Muss sich die CDU Sachzwängen beugen oder haben sich grundlegende Überzeugungen geändert? Wie setzt sich eine neue Position innerhalb der Partei in einem für die eigene Parteiidentität wichtigen Themenbereich durch? Wird mit der alten Überzeugung klar gebrochen, oder versucht man eine Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen zu ziehen, um den Übergang zu erleichtern?Diese Fragen sollen mit Hilfe von kleinen Fallstudien zu verschiedenen schulstrukturpolitischen Entscheidungen der CDU seit PISA bearbeitet werden.
Drittens stellt sich die Frage, inwiefern es tatsächlich noch eine gesellschaftliche Verankerung der alten Schulstruktur gibt. Wer hat welche Interessen in Bezug auf die Schulstruktur und wie stark sind diese politisch relevant? Beziehen sich diese Interessen tatsächlich auf die klassische Dreigliedrigkeit oder sind sie unter Umständen spezieller und lassen so Raum für bestimmte Reformen zu? Kommt es somit potenziell zu einer Entfremdung zwischen klassischen CDU-Wählerklientelen und der Partei? Dabei liegt der Fokus auf Grund der Ergebnisse aus den vorherigen Kapiteln bei dem Gymnasium, als Schlüssel zur Frage, welche Reformen von bestimmten gesellschaftlichen Schichten bekämpft werden und welche keinen Widerstand provozieren, der eine gesellschaftliche Resonanz findet. Mit Hilfe der Milieus nach Sinus Sociovision und der auf diesen basierenden Studie „Eltern unter Druck“[31]kann ein differenziertes Bild der Bedeutung der heutigen Schulstruktur für soziostrukturell unterschiedliche Gruppen nachgezeichnet werden. Mit einem Blick auf die Hamburger Schulproteste wird die politische Aktivierbarkeit der Interessen am Erhalt des gegliederten Schulwesens genauer analysiert. Diese Ergebnisse sollen dazu dienen, die Entwicklungen innerhalb der CDU in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen.
Die Frage des deutschen Schulsystems nach dem Zweiten Weltkrieg reproduzierte im Kern die bildungspolitischen Konfliktlinien der Vor- und Zwischenkriegszeit. Einheitsschule gegen gegliedertes Schulsystem nach der vierten Klasse einerseits und die Frage nach der konfessionellen Trennung der Volksschulen andererseits waren erneut die zentralen Themen. Dieser Streit um das Schulsystem wurde zu einem identitätsbildenden Thema im Gründungsprozess der CDU, sowohl gegenüber den anderen politischen Parteien, als auch innerhalb der eigenen Partei. Über alle anderen politischen Differenzen hinweg einig war man sich zu dieser Zeit allerdings noch, dass das deutsche Schulsystem, einmal von den unmittelbaren Kriegsfolgen befreit, in Fragen der Leistungsfähigkeit international konkurrenzfähig war.
„Im Mittelpunkt der bildungspolitischen Diskussionen nach den Zusammenbrüchen von 1918 und 1945 standen daher nicht Modernität und Leistungsfähigkeit, sondern Wertsysteme und ihre bildungsorganisatorischen Konsequenzen:die sozialistische oder sozialliberale Einheitsschule im Dienste republikanisch-demokratischer Gesellschaftsentwicklung, die konfessionell separierte Bekenntnisschule im Dienste christlicher Menschenbildung.“[32]
Letztendlich standen sich in der Nachkriegszeit Befürworter und Gegner des gegliederten Schulsystems in jeweils zwei idealtypischen Argumentationsvarianten gegenüber. Die Gegner verwiesen entweder auf demokratisch-liberale oder auf sozialpolitische Argumente, während die Befürworter sich entweder auf die Elitenbildungsfunktion des Gymnasiums, oder auf die konfessionelle christlich-bildende Funktion der Volksschule beriefen. Damit war sowohl die ständische (jetzt sozialpolitische) als auch die konfessionelle Konfliktlinie, die in Deutschland die Schulstrukturfrage schon seit dem 19. Jahrhundert prägten, in der Bundesrepublik reproduziert. In der CDU sammelten sich schließlich beide Argumentationsmuster für das gegliederte System, während die Gegnerschaft sowohl in den linken Parteien, als auch bei den Liberalen verortet blieb.
In den direkten Nachkriegsjahren war die amerikanische Besatzungsmacht die Hauptkraft hinter Versuchen, das Bildungssystem grundlegend zu reformieren. Sie hatte auf Grundlage eines Bildungsreports die strikte Trennung zwischen den Schulformen stark kritisiert. In ihren Augen stand sie der Modernisierung und Demokratisierung Deutschlands im Wege und musste damit letztlich als eine Bedingung für den Nationalsozialismus betrachtet werden[33]. Sie forderte eine Orientierung an der Konzeption der amerikanischen Highschool und damit die Etablierung einer Einheitsschule[34]. Die Bemühungen der Amerikaner setzten die deutsche Bildungspolitik für einige Jahre unter intensiven Veränderungsdruck, da sie als Besatzungsmacht prinzipiell gestaltend in die deutsche Politik eingreifen konnten. Dennoch widerstand das deutsche Schulsystem den meisten Forderungen, nicht zuletzt durch die Bemühungen der CDU.
Auf der Seite der Befürworter einer weitgehenden Restauration des gegliederten Schulwesen waren im ersten Jahrzehnt nach 1945 zwei Motive für den Widerstand gegen die Bemühungen der Amerikaner zentral: Einerseits kam es aus dem Konflikt um die Frage nach Bekenntnis- oder Konfessionsschulen zu einer Stützung des gegliederten Schulsystems, andererseits wurde das Gymnasiums als zentrales Kulturgut der deutschen Nation verteidigt. Beide Motive waren für die Entwicklung der bildungspolitischen Positionen der CDU von großer Bedeutung, allerdings mit deutlich regionalen und konfessionellen Unterschieden. Während die katholischen Teile an die Bekenntnisschule anknüpften, war den konservativ-protestantischen Teilen das Gymnasium heilig und die Bekenntnisschule meist sogar eher suspekt.
In den katholischen Regionen vertraten die jungen CDU-Gründungen sehr strikt die Position der Bekenntnisschule und traten damit direkt das kulturpolitische Erbe des Zentrums an[35]. Der Streit um konfessionell getrennte Schulen bzw. den konfessionsübergreifenden sog. Gemeinschaftsschulen geht zurück bis zum Kulturkampf der Kaiserzeit. Neue Nahrung erhielt dieser Konflikt aber durch eine spezifische Analyse des Nationalsozialismus, die direkt nach dem Krieg vor allem im politischen Katholizismus Anhänger fand: Nicht die strikte Klassenstruktur der deutschen Gesellschaft, die von den Amerikanern und den linken Kräften in Deutschland als Grundlage des Nationalsozialismus identifiziert worden waren, sondern die Auflösung christlicher und kirchlicher Bindungen waren in dieser Vorstellung zentrale Ursache für den Nationalsozialismus[36]. Ziel der sog. „Rechristianisierung“ war es nun, das deutsche Volk zurück zum christlichen Glauben zu führen und dieses damit vom Nationalsozialismus zu befreien. Dabei war die Schulpolitik zentral, denn als Stätten der öffentlichen Erziehung boten sich die Schulen als Weg der Erziehung des Volkes zu christlichen Werten an[37]. Die symbolische Bedeutung des Schulsystems für die Rechristianisierung wurde auch dadurch erhöht, dass die NationalsozialistInnen der konfessionellen Beschulung der SchülerInnen durch staatliche Interventionen in das Schulwesen ein Ende gemacht hatten. Diese hatten die bekenntnisfreie bzw. –übergreifende Schule zur Regelschule gemacht. Damit war der Beleg erbracht, dass die NationalsozialistInnen eine anti-christliche Schulpolitik betrieben hatten. Jeder weitere Versuch, die Bekenntnisschule in Frage zu stellen, war damit relativ einfach als totalitär zu desavouieren.
Die öffentlichen Gegenpole bildeten, neben der amerikanischen Militärverwaltung, vor allem die SPD und die Liberalen, die beide mit der Trennung von Staat und Kirche argumentierten[38]. Dabei ging es zuvorderst meist um Bekenntnisschule gegen konfessionsübergreifende Gemeinschaftsschule[39]und nicht um die Frage der Trennung zwischen Volks-, Mittelschulen und Gymnasien.[40]