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Drei Tage ohne Dusche, Deo und Co. und als Zugabe anstrengende Wanderrouten, unkomfortable Schlafgelegenheiten und kreuchende Insekten - das von der Schule organisierte GPS-Wochenende im Erzgebirge klingt für Lene alles andere als verlockend. Normalerweise nimmt die 16-Jährige kein Blatt vor den Mund und macht nichts, was ihr nicht passt, doch den Überredungskünsten ihrer besten Freundin Pia kann sie einfach nicht widerstehen. Ein weiterer Trost für Lene: Tobias, der coole Typ, der mit ihr im selben Bus fährt und mit dem sie sich neuerdings ausgesprochen gut versteht, wird ebenfalls dabei sein. Wenn sie wenigstens mit ihm in eines der Zweierteams kommen würde, die am Ende des Wettkampf mit einem Gutschein über 100 Euro für Sportkleidung gekürt werden, wäre vielleicht alles gar nicht so schlimm. Und wer weiß, was sonst noch passieren könnte, immerhin sieht es in Lenes Liebesleben - im Gegensatz zu dem von Pia - alles andere als aufregend aus. Als der Tag der Auslosung da ist, kann Lene ihr Pech kaum fassen. Statt mit Tobias kommt sie mit dem arrogantesten Typen der Schule in eine Gruppe: Ferdinand. Der absolute Horror, sie kann ihn nicht ausstehen. Das Wochenende ist schneller da, als es Lene lieb ist, die ersten Stunden der Wanderung verstreichen nur langsam. Doch allmählich merkt sie, dass der arrogante Schulschwarm gar nicht so schrecklich ist, wie sie dachte. MONDSCHEINKÜSSE HALTEN LÄNGER ist ein humorvoller und mitreißender Mädchen-Roman, authentisch und lebendig erzählt von der erst 20-jährigen Autorin Carolin Wahl.
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Seitenzahl: 259
Carolin Wahl
Für Juli, mein geliebtes Sweetheart. Und für Karim.
1. KAPITEL
»Liebe ist nicht das, was man erwartet zu bekommen, sondern das, was man bereit ist zu geben.«
Katharine Hepburn
Keuchend kam ich zum Stehen und rang japsend nach Luft. Ich war kein Pessimist. Zumindest nicht grundlegend und nicht einer dieser Das-Leben-ist-immer-scheiße-du-kannst-nichts-daran-ändern-Pessimisten. Aber als sich in diesem Augenblick die Türen des Busses vor meiner Nase schlossen und ich die vor Schadenfreude feixenden Gesichter sah, war ich kurz davor, mein Schicksal zu verfluchen. Dieses kaltherzige Biest!
Nein, ich war kein Pessimist, aber ich würde es nicht rechtzeitig zur ersten Schulstunde schaffen. Und dies würde eine unwiderrufliche Kette an bejammernswerten Ereignissen ins Rollen bringen: Herr Maier, mit dem sowieso nicht gut Kirschen essen war, würde mir einen Eintrag ins Schulbuch verpassen, den dritten innerhalb von zwei Wochen. Entweder würde ich infolgedessen zum Rektor zitiert werden oder man informierte direkt meine Eltern über mein Fehlverhalten. Nicht besonders günstig, denn es war Donnerstag, ein Tag vor Freitag, ein Tag vor dem lang ersehnten Wochenende. Würde Ma von einem meiner Lehrer erfahren, dass ich bereits mit drei Klassenbucheinträgen gesegnet war, könnte ich mein Wochenende streichen. All das schoss in Kurzform durch meinen Kopf, als der Bus sich mit einem lauten Röhren in Bewegung setzte.
Ma gehörte im Grunde gar nicht zu den streng konservativen Eltern dieser Welt, umgab sich allerdings mit zu vielen Freundinnen dieser Sorte. Und das beeinflusste. Deren Kinder rannten mit Nickelbrille durch die Gegend, kannten nur Lernen und Schule und waren mit ihren sechzehn Jahren bekennende High-School-Musical-Fans. Im Gegensatz zu mir.
Kein Wochenende. Genau darauf würde es hinauslaufen. Verdammt! Und das alles nur, weil die geizigen Verkehrsbetriebe den armen Busfahrern nicht genügend Lohn bezahlten und sie dementsprechend zu sadistischen Monstern mutierten. So erschien es mir in diesem Augenblick zumindest.
Ich stieß ein Knurren aus und trat frustriert gegen den Reifen des langsam davonrollenden Busses – was mich fast aus dem Gleichgewicht brachte und taumeln ließ.
Dabei war ich heute sogar schon beim ersten Weckerklingeln um 6.13 Uhr aufgestanden. Vorbildlich, ohne auf »Schlummern« gedrückt zu haben und mit der festen Absicht, das Haus pünktlich zu verlassen. Mein Vorsatz war jedoch schnell im üblichen morgendlichen Chaos untergegangen. Marvin, mein Bruder, hatte das Bad blockiert. Er war siebzehn und ein Jahr älter als ich, was er mir ständig und überall unter die Nase reiben musste. Seit Marvin ein Bart spross, glaubte er, jeden Morgen die Härchen nachzählen zu müssen, um anschließend am Frühstückstisch stolz verkünden zu können, dass es mittlerweile dreizehn und keine zwölf mehr waren. Und da Ma seit dem neuen Jahr wieder in einer Gemeinschaftspraxis arbeitete, stand sie zeitgleich mit uns auf und hatte das zweite Bad blockiert. Keine günstigen Voraussetzungen, um irgendwelche Vorsätze einzuhalten.
Plötzlich blieb der Bus mit einem lauten Quietschen stehen und die Vordertür schwang auf. Mein Herz machte einen Satz. Von wegen sadistische, herzlose Busfahrer, er hatte mich wahrscheinlich einfach nicht angerannt kommen sehen!
Also eilte ich mit einem Strahlen auf die offene Tür zu und lief dem Fahrer, der im selben Moment dort auftauchte, direkt in die Arme; verbissene Miene, die einschüchternden Brauen zu einer einzigen Gewitterwolke über seinen dunklen Augen zusammengezogen und seine wulstigen Arme vor der breiten Brust verschränkt.
»Hast du freches Gör gerade gegen meinen Bus getreten?«, donnerte er mit einer unglaublich tiefen Stimme los, während ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.
Autsch. Memo an Lene: Leg dich nicht mit einem Busfahrer an! Ich wollte mich rechtfertigen, war aber zu überrumpelt von der Situation, um einen halbwegs zusammenhängenden Satz herauszubringen. Nervös knetete ich meine Hände und versuchte, die platt gedrückten Nasen an den Scheiben zu ignorieren.
»Ich habe doch genau gesehen, wie du gegen meinen Bus getreten hast!«, schrie der Fahrer. »Das ist eine absolute Frechheit, du kannst froh sein, dass ich dich nicht anzeige!« Er kam näher, offenbar um den Schaden zu begutachten.
»Ich hab nur gegen den Reifen getreten.« Endlich kehrte meine Stimme zurück.
Der Mann hatte sich gerade zu dem Blech unmittelbar neben dem Reifen gebeugt und fuhr jetzt hoch und funkelte mich hasserfüllt an. Ich schluckte und versuchte, ruhig zu atmen.
»Nur gegen den Reifen? Lüg doch nicht! Ich hab’s im Rückspiegel beobachtet!«
Ich machte einen infantilen Fehler und rollte als Antwort auf seine Aussage mit den Augen. Noch ehe ich den Mund öffnen und etwas erwidern konnte, war der Busfahrer mit einem Satz bei mir und hob seinen dicken Zeigefinger vor mein Gesicht.
Obwohl mein Herz hart gegen meine Rippen klopfte und ein gewaltiger Kloß im Hals mir die Luft abschnürte, wich ich nicht zurück. Der Busfahrer blieb in seiner drohenden Position, ich wagte es nicht, mich zu bewegen.
»Pass auf, du …« Er fand offensichtlich nicht gleich die richtigen Worte, holte dann tief Luft und presste ein »Lüg mich nicht an, Fräulein! Ich bin nicht blind!« hervor.
»Ich lüge nicht«, sagte ich gedämpft, mit einer plötzlichen inneren Ruhe, die mich selbst überraschte.
Die schwarzen Kohleaugen des Fahrers huschten mehrmals hin und her, er rümpfte verächtlich die knollige Nase, an manchen Stellen war der schwarze Bartansatz bereits ergraut. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie es im Bus unruhig wurde. Die meisten der Fahrgäste hatten wohl die Uhr vor Augen und würden ihre Anschlusszüge verpassen.
»Hör mal zu: Ich weiß genau, was ich gesehen habe, ich kenne so Mädchen wie dich … Denk ja nicht, dass du so einfach damit durchkommst! Das wird für dich ein Nachspiel haben.«
»Gut.« Ich nickte knapp. »Es tut mir … leid.« Das hatte mich viel gekostet. Ich gestand nur ungern Fehler ein. »Kann ich jetzt noch mitfahren?«, platzte ich keine Sekunde später heraus. An Dreistigkeit kaum noch zu übertreffen, zugegeben. Sichtlich verblüfft schnappte der Mann nach Luft und starrte mich sprachlos an.
»Geht’s irgendwann auch weiter?«, erklang es zu meiner Rettung aus dem Inneren des Busses und ich wusste, als ich das ungläubige Schnauben des Fahrers vernahm, dass ich gewonnen hatte. Er murrte etwas Unverständliches, drehte mir abrupt den Rücken zu und schritt zurück zur Vordertür. Hastig griff ich nach meiner Tasche, die ich während unserer Auseinandersetzung abgestellt hatte, und eilte ihm hinterher.
»Fahrausweis!«, spie er aus, als ich mich an ihm vorbeizwängen wollte. Ich kramte brav meine Fahrkarte hervor und hielt sie ihm unter die Nase. Kaum hatte er mit verbissener Miene genickt, flitzte ich nach hinten, während mich von allen Seiten abwertende Blicke taxierten. Aber das war egal, denn Hauptsache, ich hatte den Bus noch bekommen. Ich würde keinen Eintrag erhalten und bei Ma würde kein übereifriger Lehrer anrufen. Fazit: Mein Wochenende war gerettet.
Mit einem wohl etwas dümmlichen Grinsen setzte ich mich auf einen der wenigen noch freien Plätze und holte meinen MP3-Player hervor. Gerade als ich mir die Kopfhörer in die Ohren stecken wollte, hörte ich eine warme, sehr sympathisch klingende Stimme neben mir. Ich sah auf und blickte direkt in ein Paar stahlgrauer Augen, die mich mit einem amüsierten Funkeln musterten.
»Starke Aktion, das gerade eben.«
Mein Herz machte einen Satz. Tobias. Tobias Wünsche. Der Kerl, den ich seit Wochen aus der Ferne anschmachtete, wenn er mit seinen verwaschenen Jeans und den gigantischen Kopfhörern auf einem der hinteren Plätze lümmelte. Bisher hatte er mich noch nicht wahrgenommen, geschweige denn jemals in meine Richtung geschaut. Und jetzt stand er direkt neben mir.
Ich sah mich dort sitzen, mit meinem vor Aufregung ganz fleckigen Gesicht, meinen zerzausten Haaren und dem hellbraunen Wollschal, den ich mir heute Morgen in der Hektik etwas halbherzig um den Hals gebunden hatte. Wow. Super erster Eindruck. Unauffällig zupfte ich mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und überlegte angestrengt, was ich antworten konnte. Aber leichter gedacht als getan.
Stattdessen jagte mein Blick weiter an Tobias entlang. Kurz geschnittene blonde Haare, ein voller Mund und Grübchen im Kinn. Wie oft hatte ich diesen Typen aus der Entfernung beobachtet? Er trug am liebsten Sneakers und fuhr meistens im selben Bus wie ich. Das entscheidende Detail meiner Dauerschmachterei der letzten Wochen war jedoch, dass dieser Typ nicht irgendjemand war. Nein, dieser Kerl stand im inoffiziellen Heiße-Typen-Ranking unserer Schule auf dem immerhin fünften Platz. Nicht, dass ich mir besonders viel aus diesem Ranking machte – die meisten der Kerle, die sich auf einem der vorderen Plätze eingenistet hatten, waren größtenteils Idioten – aber auch mein ansonsten für so was ziemlich resistentes Teenie-Herz konnte nicht darüber hinwegsehen, dass es sich bei Tobias um ein sehr ansehnliches Exemplar der Gattung Mann handelte. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch immer nichts geantwortet hatte. Also zwang ich mich zu einem Lächeln, das jedoch eher zu einer grausigen Grimasse als zu einem verführerischen Signal geriet.
»Danke. Manchmal tut man eben das, was einem als Erstes einfällt, ohne groß nachzudenken. Auch wenn es ziemlicher Unsinn ist. Aber es ist besser, man tut irgendwas, als tatenlos dabei zuzusehen, wie ein Busfahrer das Leben einer armen Schülerin zerstört, nur weil er nicht zwei Sekunden länger die Tür offen halten kann …«, ploppte es schließlich aus meinem Mund und ich verdrehte innerlich die Augen. Wirklich, Lene? Wirklich? Das war deine Antwort?
Tobias lachte. Ein tiefes und ehrliches Lachen. Mir wurde plötzlich warm. Sehr warm. Wie auf Befehl stand die Frau neben mir plötzlich auf – und Tobias ließ sich dort nieder. Seine Nähe war beängstigend. »Hast du schon von diesem verrückten GPS-Wochenende im Juli gehört, das während der Projekttage stattfinden soll?«
In meinem Gehirn kamen Tobias’ Worte zwar an, aber sie wurden nicht wirklich weiterverarbeitet. Ich hörte nur eins heraus: Er wusste, dass wir auf die gleiche Schule gingen.
»Äh, tja, also … ja …«, stammelte ich. Das war es dann auch schon wieder. Komm schon, Lene, das kannst du besser, versuchte ich mich zu motivieren.
Pia, meine Jungs jagende Freundin, die hätte jetzt gewusst, was zu tun wäre. Sie war mit ihren Kuller-Reh-Augen und einer Oberweite, die jeden Kerl unserer Stufe in ein nach Luft schnappendes Stielauge verwandelte, eine wahre Schönheit. Und sie gehörte zweifelsohne zu den Flirtköniginnen dieser Welt, eine unangefochtene Meisterin, wenn es darum ging, Jungs um den Finger zu wickeln. Das Problem: Pia war Pia und ich war ich. Ich sprach das aus, was mir in den Kopf kam. Egal, wie unangebracht oder taktlos diese Bemerkung auch sein mochte. Ein diskreter Flirt und kokettes Wimpernschlagen gehörten irgendwie nicht in mein Repertoire.
Als Tobias mich nun mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck anblickte und ich ihm von der Stirn ablesen konnte, wie seltsam er mich fand, ertappte ich mich dabei, wie ich mich in Pias Haut wünschte. Nur für diesen einen Augenblick.
»Gehst du hin?«, wollte ich von ihm wissen und klopfte mir innerlich auf die Schulter. Gut gemacht, Lene.
»Wenn ich reinkomme, ja. Ist schließlich jetzt schon heiß begehrt. Frag mich nicht warum.« Tobias musterte mich. »Wie sieht’s mit dir aus?«
Bei der Aussicht auf drei Tage Wandern, ohne warmes Essen, ohne ein anständiges Bett und ohne eine ordentliche Dusche, verzog ich angewidert das Gesicht. Tobias’ Mundwinkel zuckten verdächtig.
»Verstehe«, entgegnete er ruhig, doch ich konnte das Schmunzeln heraushören, verschränkte die Arme vor meiner Daunenjacke und blickte verstohlen zu ihm hin. Ich mochte den ebenmäßigen Schwung seiner Nase und die kleine Narbe, die er an der Schläfe hatte. Plötzlich sah mich Tobias direkt an, fast so, als suche er etwas in meinem Gesicht. Vielleicht gefielen ihm ja meine Sommersprossen? Oder mein Froschmund? Doch dann erhellte sich sein Gesicht mit einem Schlag. »Sag mal … bist du die kleine Schwester von Marv?«
Mmpf. Aus der Traum von sexy Sommersprossen und sexy Froschmund.
»Jep.« Noch reservierter konnte man die eigenen Familienangehörigen wohl nicht identifizieren. Woher er Marvin wohl kannte? Der Bus hielt an.
»Also, man sieht sich …«, sagte Tobias plötzlich kurz angebunden, hob die Hand zum Gruß, stand ruckartig auf und schlenderte in Richtung letzter Bank. Da, wo immer die ganz Coolen saßen. Verwundert starrte ich ihm hinterher und konnte Raphael erspähen, der gerade durch den hinteren Eingang in den Bus stieg. Ein engstirniger Idiot aus der Oberstufe. Einer von vielen engstirnigen Idioten. Ich schmachtete Tobias noch eine Weile aus der Ferne an, hörte America’s Suitehearts von Fall Out Boy und genoss die milden Januarsonnenstrahlen im Gesicht, so lange, bis der Busfahrer einen Block vom Erich-Kästner-Gymnasium entfernt anhielt. Immerhin, ich war für Tobias nicht unsichtbar. Das war doch schon mal was.
*
»Er hat was?«, wisperte Pia, formte ihren Schmollmund zu einem lautlosen O und starrte mich an. Ich konnte ihre Reaktion durchaus nachvollziehen. Es war einfach nicht an der Tagesordnung, dass ich von einem Flirt erzählte. Dass ich überhaupt das Thema »Jungs« zur Sprache brachte.
»Ja, dann hat er mich einfach angesprochen«, raunte ich zurück und spürte mein Herz wild klopfen.
»Nachdem du gegen den Reifen von dem Bus getreten hast?« Pia schüttelte ungläubig ihren Kopf.
»Genau.«
»Marlene Stengler!«
Ich zuckte zusammen und duckte mich zwischen mein Buch und den leeren Karoblock, der vor mir lag, doch es war bereits zu spät. Herr Maier kannte keine Gnade, wenn es um das Vorlesen der Lateinhausaufgaben ging. Der Mann gehörte zu der Art von Steinzeit-Lehrern, die sich ihre Autorität mit hartem Durchgreifen und unfairen Methoden verdient hatten. Frontalunterricht der feinsten Sorte. Mit seinen ergrauten Schläfen, dem schmalen, in einem akkurat gebügelten Hemd steckenden Oberkörper und der ordentlichen Mönchs-Halbglatze wirkte er gar nicht so bösartig, wie er sein konnte.
»Marlene, wenn du dich so intensiv mit unserer frommen Pia unterhalten kannst, dann möchtest du der Klasse sicher den nächsten Satz vortragen. Bis zum zweiten Komma, bitte.«
Haha, wahnsinnig witzig. »Pia« leitete sich aus dem lateinischen »Pius«ab und bedeutete »Die Fromme«. Ihre Eltern hatten wohl gehofft, dass der Name ihr während der Pubertät irgendwie Beistand leisten könnte.
Ich schielte auf mein leeres Blatt, um anschließend Pia einen flehenden Blick zuzuwerfen. Doch auch meine Freundin konnte mir nicht weiterhelfen, denn sie war eine noch größere Niete in Latein als ich. Bea, die Dritte unserer kleinen Clique, hatte sich wohlweislich in der achten Klasse für Französisch entschieden. Wieso hatte ich mich von meinem Vater überreden lassen, an einem humanistischen Gymnasium zu lernen? Ehrlich, ich hätte auch einfach auf der Waldorfschule meinen Namen tanzen können, damit hätte ich mir einige nervenaufreibende Stunden mit unaussprechlichen Vokabeln erspart. So stellte ich mir das jedenfalls vor.
Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als aus dem Stegreif zu übersetzen, um einer unterirdisch schlechten Note irgendwie zu entgehen. Die konnte ich mir gerade echt nicht leisten. Also räusperte ich mich lautstark, hielt die Hand vor das leere Blatt und tat so, als würde ich meine Hausaufgaben ablesen: »Wenn derjenige, der über andere herrscht, selbst keiner … Lust … gehorcht und wenn er selbst all diese Dinge begriffen hat …«Ich stoppte beim Komma und sah auf.
Herr Maier hatte mein Spielchen natürlich durchschaut und es schien ihm ganz und gar nicht zu passen, dass ich es auf Anhieb so gut hinbekommen hatte. Er knirschte geradezu hörbar mit den Zähnen und kniff die Augenbrauen zusammen, sodass sich eine steile Falte über seiner Nasenwurzel bildete. Ein stummes Blickduell, dann wandte er sich ergeben in die Runde. Sieg!
»Hat jemand einen Verbesserungsvorschlag?«, wollte er wissen und Anastasia meldete sich, noch während er die Frage stellte. Blöde Kuh. Hätte mir ruhig zur Seite stehen können. Herr Maier nickte in ihre Richtung und schon schnatterte sie los: »Ich halte das Wort Lust für sehr deplatziert in diesem Zusammenhang. Es geht schließlich um …« Schon schalteten meine Ohren auf Durchzug.
»Deine Übersetzungsgabe möchte ich auch mal haben!«, seufzte Pia.
»So schwer war das nicht, wirklich! Ich hab mir da irgendwas aus den Fingern gesogen«, raunte ich zurück und stand innerhalb von wenigen Sekunden wieder auf Herrn Maiers Radarschirm.
»Marlene Stengler, hat es dir nicht gereicht, dass du deine nicht vorhandenen Hausaufgaben vorgetragen hast? Musst du jetzt einfach weiterschwätzen?«
Ich schrumpfte in meinem Stuhl zusammen. Aber Pia sprang für mich ein: »Herr Maier, das ist meine Schuld. Ich habe Lene abgelenkt.« Dabei riss sie ihre Augen weit auf und klimperte mit den Wimpern. Sie machte das verdammt gut und wirkte wie ein verängstigtes Reh, das direkt vor den Lauf eines Gewehrs gestolpert war und den Jäger bat, verschont zu werden.
Herr Maier murmelte etwas und ließ es auf sich beruhen. Glück gehabt. Ich formte mit den Lippen ein »Danke«und lächelte Pia an. Es war gut, eine Freundin zu haben, auf die man sich verlassen konnte.
*
»Er hat was?«, wisperte Bea, exakt wie Pia vor einer Stunde. Pia nickte stürmisch und unterstrich ihre nächsten Worte mit einer theatralischen Geste, während wir unseren Weg zum Klassenzimmer fortsetzten. »Dann hat er sie angesprochen!«
»Tobias Wünsche? Der Tobias Wünsche?« Bea starrte mich mit ihren Bernsteinaugen verwundert an.
»Ja, der Tobias Wünsche«, schnaufte ich missbilligend und trabte neben den beiden durch die Tür im ersten Stock. Hey, mal ehrlich, war es denn sooo abwegig, dass mich ein gut aussehender, unnahbarer Typ ansprach, der zwei Klassen über uns war und noch dazu etwas im Köpfchen hatte?
Das Klassenzimmer war schon gut gefüllt, alles versammelte sich wie immer um den imaginären Thron von Ellie Sanders in der ersten Reihe. Sie war Halbamerikanerin und ließ diese Tatsache nicht nur ständig im Englischunterricht raushängen, sondern auch bei jeder sich sonst bietenden Gelegenheit. Sie liebte den großen Auftritt und selbstverständlich das ganz große Drama, lästerte mit größer Genugtuung und war über alles und jeden bestens informiert.
Schon hatte sie uns entdeckt und taxierte unser Dreiergespann mit ihren veilchenblauen Augen von oben bis unten. Ihre unreine Haut versteckte sie meist unter einer dicken Puderschicht. Meine Haut hingegen war rein wie ein Babypopo. Wenigstens etwas, womit ich auftrumpfen konnte. Ich warf meine braune Ledertasche auf den Boden neben meinem Platz in der letzten Reihe. Bea war meinem verdrießlichen Blick gefolgt, ließ sich jetzt neben mir nieder, während Pia ihre vollen schwarzen Haare zu einem dicken Zopf band. Neidvoll betrachtete ich meine ausgefransten Spitzen.
»Tobias Wünsche!«, warf Bea erneut das Thema dieses Morgens ein und musterte mich und meine Reaktion aufmerksam.
Ich räusperte mich, und zu meinem Glück trat in diesem Augenblick unser Lehrer in den Klassenraum. »Später«, raunte ich Bea zu.
Herr Weinberger war seit diesem Jahr unser neuer Klassenlehrer und regierte mit Wohlwollen unseren wilden Haufen. »Einige unter euch werden sicher schon davon gehört haben, andere möglicherweise noch nicht«, begann er zu sinnieren und schritt dabei, wie er es stets zu tun pflegte, geräuschlos mit hinter dem Rücken verschränkten Armen durch die Tischreihen. »Wie ihr wisst, veranstalten wir dieses Jahr sehr freie Projekttage, in denen viele unterschiedliche Dinge angeboten werden. Das hat einen bestimmten Grund. Unsere Schule wurde für ein Projekt ausgewählt, für das sich mehrere Gymnasien beworben hatten.«
Ich ahnte, worauf das Ganze hinauslaufen würde. Pia hatte ihre Lauscherchen natürlich, wo es nur ging, aufgestellt gehabt und auch Marvin, mein vorpubertärer Bruder, hatte die ein oder andere Bemerkung darüber fallen lassen: das GPS-Wochenende.Das Wochenende, für das sich auch Tobias bewerben würde. Bei dem Gedanken an sein niedliches Grübchen bekam ich schon wieder Herzflattern.
»Das sogenannte ›GPS-Wochenende‹wird vermutlich im Erzgebirge ausgetragen, von einem großen Sportgeschäft sowie der Firma GoWild gesponsert …«, fuhr Weinberger trotz des aufkeimenden Getuschels fort. Er war wieder vorne angekommen und wandte sich abermals der Klasse zu: »… und findet im Juli statt, ausschließlich für die Klassenstufen neun bis zwölf interessant, da wir uns auf ein entsprechendes Alter einigen mussten – Ja, Gustav?«
Ein entnervter Ausdruck trat auf sein Gesicht, denn meistens waren Gustavs Beiträge weniger geistreich als hirnverbrannt. Gustav ließ mit einem Grinsen seine Hand sinken und hüstelte: »Heißt das, wir sind nur mit älteren Schülern, ich meine … Schülerinnen dort?«, fragte er und seine Stimme kiekste am Ende des Satzes in die Höhe.
»Ja, Gustav, genau das heißt es. Wenn du mich ausreden lassen würdest, könnte ich es auch etwas genauer erklären.« Herr Weinberger wartete, bis es wieder etwas ruhiger wurde. »Also: Insgesamt gibt es vierundzwanzig freie Plätze, die alle per Losverfahren besetzt werden. Ihr werdet in Zweierteams eingeteilt und startet alle von verschiedenen Orten. Abends trefft ihr in einem Lager ein, jeweils vier Teams, dort wartet ein Lehrer auf euch …« Einige zogen enttäuschte Gesichter. »Ganz richtig bemerkt, das soll kein zweites Schullandheim-Saufgelage werden. Wir haben strenge Regeln, an die sich jeder zu halten hat. Hier«, Herr Weinberger kramte einen Stapel mit dicht beschriebenen Blättern aus seiner Tasche hervor, »wer Interesse hat, kann sich das ja gerne mal mitnehmen.« Er ließ die Blätter herumgeben. Als der Stapel die letzte Reihe erreichte, waren nur noch zwei Stück übrig. Das Wochenende schien, bereits fünf Monate bevor es überhaupt beginnen sollte, der Renner zu sein.
»Für die anderen gibt es die üblichen Aushänge unten an den Pinnwänden. Es haben sich bereits einige interessante Projekte gebildet. Da ist für jeden etwas dabei«, erklang es von vorne, während meine Augen die Angaben überflogen. Schlafsack, keine Dusche, beißende Hitze, Wanderschuhe … Ohne mich! Ich wusste sowieso schon, was ich stattdessen machen würde. Letztes Jahr hatte ich den Hip-Hop-Kurs geleitet, dieses Mal würde ich einfach nur daran teilnehmen. Wenigstens konnte ich auf meine besten Freundinnen zählen, Sportkrüppel genau wie ich. Außer beim Tanzen. Ich drehte meinen Kopf und wollte schon über das Projekt ablästern, als ich Pias Blick und Beas Grinsen bemerkte. Oh, oh. Bitte nicht! Anscheinend konnte ich, was das Alternativprogramm anging, doch nicht so sehr auf die beiden zählen, wie ich dachte.
»So, bitte verstaut die Blätter. Wir kümmern uns jetzt wieder um Louise und Ferdinand und ihre Beziehung zu ihren Eltern! Julian, hast du die Hausaufgaben gemacht?«
Auch wenn ich gerne die Gelegenheit genutzt hätte, mir blieb bei Herrn Weinbergers Tempo leider keine Zeit mehr, meine Freundinnen auf das GPS-Wochenende anzusprechen, schließlich handelte es sich bei Kabale und Liebe um mein absolutes Lieblingsbuch. Nachher würde es noch genug Zeit zum Diskutieren geben.
*
»Das hier … da bin ich dabei.« Ich deutete auf einen der Zettel, die eine der unzähligen Pinnwände im Erdgeschoss unserer Schule zierten. Hinter mir hörte ich Pia verächtlich schnauben, doch ich war noch lange nicht mit meiner spontanen leidenschaftlichen Rede fertig. »Da werde ich meinen Spaß haben! Ohne Blutblasen, ohne fettige Haare, mit leckerem Essen am Mittag und am Abend, einem ausgiebigen Frühstück mit meiner Familie, mit einer schönen heißen Dusche und ganz bestimmt ohne langbeinige Insekten in meinem Zelt«, redete ich mich immer mehr in Rage und tippte mit meinem Finger nach wie vor auf die Ausschreibung zum Hip-Hop-Tanzkurs, der während der angekündigten Projekttage stattfinden sollte. Mit dem befriedigenden Gefühl, überzeugend gewesen zu sein, drehte ich mich zu meinen Freundinnen um und musste in zwei Gesichter blicken, die alles andere als einen überzeugten Eindruck machten. Hallo? Was konnte denn an vierbeinigen, ekelhaften Kriechviechern so toll sein? Hatten die beiden eine rosarote Brille auf, was diesen Trip anging? Egal, was sie jetzt loswerden wollten, ihre Überredungskünste waren im Leben nicht ausgereift genug, um mich umzustimmen.
»Mensch, Lene, sei doch nicht so spießig!«, versuchte es Pia und schürzte die Lippen.
Doch dieses Mal zog ihr Dackelblick nicht. Ich hob skeptisch eine Braue und stemmte die Hände in die Hüfte meines dicken, kuschlig warmen Wollpullovers. »Mal ehrlich … ein Wochenende in der Pampa? Wollt ihr euch das ernsthaft antun?«
Pia und Bea warfen sich einen Blick zu und nickten dann keine Sekunde später.
»Lene, wir bekommen die Ausrüstung gestellt, wir erhalten ein GPS-Gerät, die Presse wird da sein und das Gewinnerteam erhält einen Gutschein über einhundert Euro für den Sportladen«, zählte Pia mit leuchtenden Augen auf.
Ich wusste ihren Enthusiasmus mit einem spontanen Gedankenblitz zu stoppen: »Und was ist mit unserer Miss USA, hier?« Ich deutete mit dem Kopf auf Bea, deren Gesichtszüge gleich darauf entgleisten. »Wie wollt ihr euch denn anmelden, wenn sie im Juni in die USA geht?«
»Och Scheiße!«, entfuhr es Pia, die anschließend hastig nach einem Lehrer Ausschau hielt, der sie gehört haben konnte.
Sie hatte schließlich den Ruf eines Unschuldslamms zu verlieren. Das Witzige daran war, dass sie unter uns dreien den unangefochtenen ersten Platz in laut ausgesprochenen Kraftausdrücken belegte.
Bea hatte sich schnell wieder gefangen: »Erstens, ich wurde noch nicht genommen, die Organisation meldet sich erst in einem Monat, und zweitens ist es selbst dann noch nicht sicher, dass ich bei einer Familie unterkomme.«
»Als ob du mit deinem Einser-Durchschnitt, deinem hübschen Gesicht und deinen hervorragenden Sprachkenntnissen keinen Platz bekommen würdest«, spottete ich und fing mir einen sanften Schlag in die Rippen ein. Ich rieb mir die Seite und schmollte.
»Heeey, sei nicht so patzig, nur weil du nicht alleine diesen blöden Hip-Hop-Kurs machen willst«, erwiderte Bea, die Lippen zu einem schiefen Grinsen verzogen.
Sie hatte mich durchschaut, was mir prompt den Wind aus den Segeln meiner einleuchtenden Argumente nahm. Wie ich das hasste! »Macht doch, was ihr wollt. Ich werde die drei Tage genießen. Warmes Wasser, leckeres Essen, langes Ausschlafen …«
»Du vergisst, dass Tobias sich auch anmelden will«, unterbrach mich Pia und zwinkerte mir verschwörerisch zu.
Mein Herz setzte für einen Schlag aus. Oh. Das hatte ich doch tatsächlich vergessen. »Na und?«, gab ich so lässig wie möglich zurück und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich will den Kerl ja nicht heiraten. Das war nur ein kurzer Flirt im Bus.«
Bea und Pia tauschten einen Blick aus, der in mir ein mulmiges Gefühl auslöste. Okay, spätestens jetzt sollte ich mir neue Freunde suchen, die mich nicht wie ein aufgeschlagenes Buch lesen konnten. Ich merkte sehr wohl, wie mir plötzlich heiß wurde, und wandte meinen Blick ab.
Zu meiner Rettung klingelte es in diesem Augenblick zur nächsten Stunde.
2. KAPITEL
»Auch ist das vielleicht nicht eigentlich Liebe, wenn ich sage, dass Du mir das Liebste bist; Liebe ist, dass Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle«.
Franz Kafka
Nein.« Meine Meinung stand fest. Und daran würde Pias ständige Herumquengelei nichts ändern, ganz zu schweigen von ihrem übertrieben traurigen Blick und den unglücklich nach unten gezogenen Lippen. Noch zehn Minuten, bis der Nachmittagsunterricht anfing. Ich sah aus dem Fenster in den wolkenlosen Februarhimmel. Gefühlte minus dreißig Grad. Väterchen Frost hatte einen besonders intensiven Atem.
»Oh, doch! Bitte, bitte, bitte, Lene!« Ein weiterer, verzweifelter Hundeblick.
»Nein!« Dieses Mal wurde meine Stimme etwas lauter. Das war sonst nicht meine Art, von wenigen Ausnahmen abgesehen.
»Lene!«
»NEIN!«
Pia seufzte tief auf. Es war ein Seufzen, das direkt vom Grund ihrer Seele kam und all die Qual ausdrückte, die ich ihr mit meiner Abfuhr bereitete.
»Es sind nur drei Tage! Drei verdammte Tage. Ein Wochenende! Lene!« Pia gab alles. Der nörgelnde Unterton bekam eine neue, bislang noch nicht da gewesene Klangfarbe. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten.
Um meinen Händen eine Beschäftigung zu geben, holte ich meine Thermoskanne hervor und goss mir den letzten Rest meines Zimt-Vanille-Tees ein. Ich ließ mir alle Zeit der Welt, spannte meine Freundin auf die Folter und verstaute die Utensilien wieder, ehe ich ihr eine Antwort gab: »Du hast dir gerade selbst ein Bein gestellt, liebste Pia. Wochenende. Als ob ich das für so einen Scheiß opfern würde. In der Wildnis!«
»Tu es für mich.«
Ich verfiel in ein tiefes Schweigen und suchte nach einer Sprache, die Pia verstand. Aus den Augenwinkeln nahm ich Bea wahr, die ins Klassenzimmer stürmte. Shit. Zwei gegen einen war unfair.
»Na, hast du die Nuss schon geknackt?«, war das Erste, was Bea über die Lippen brachte, während sie ihren Wintermantel über die Stuhllehne hängte und sich neben uns niederließ.
»Die Nuss hat übrigens sehr gut funktionierende Ohren«, brummte ich.
Bea schenkte mir ihr schiefes Lächeln. Seltsam. Sie würde in die USA verschwinden. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es ohne sie werden würde. Ja, Bea würde nach Amerika gehen. Das hielt sie jedoch keineswegs davon ab, Pia bei ihren Weichklopfversuchen nach bestem Wissen und Gewissen zu unterstützen. Drei Tage ging das nun schon so; seit Bea erfahren hatte, dass sie nach Kalifornien in eine Gastfamilie mit Pool und zwei Jugendlichen in unserem Alter kommen würde. Nein, ich war absolut nicht neidisch. Ich blieb über den Sommer mit meinem zum Mann werdenden Bruder, meiner hormongesteuerten Mutter und meinem an Midlife-Crisis leidenden Vater zurück. Oh nein, ich war nicht neidisch!
»Leider noch nicht«, stieß Pia nahezu wimmernd auf Beas Frage hervor. Gleichzeitig spielte sie an ihren seidigen schwarzen Haaren herum. Ich kannte das alles zur Genüge. Irgendetwas in mir begann überzuschäumen. Etwas, was ich nicht kontrollieren konnte. Und ehe ich wusste, wie mir geschah, brach der Lene-Vulkan auch schon aus:
»Okay, das reicht! Pia«, ich sah sie direkt an, »deine Hundeblick-Nummer zieht vielleicht bei irgendwelchen Typen und unseren männlichen Lehrern, aber nicht bei mir, ja? Ich weiß, es ist scheiße, dass Bea nicht zum GPS-Wochenende kann, weil sie die Zusage aus den Staaten bekommen hat, aber ich bin kein geeigneter Ersatz und ich werde auch nicht mitkommen. Und du«, dabei drehte ich mich zu Bea, die mich verschreckt anstarrte, »versuch ja nicht, mich zu überreden! Ich komm da nicht mit. Punkt, aus, Schluss!«
»Lene …«, ließ sich Bea zögerlich vernehmen.
»Was?«
»Traust du Pia wirklich ein Wochenende in der Wildnis zu? Ohne moralische Unterstützung einer guten, lieben, zuverlässigen Freundin …?«
Wider Willen fiel mein Blick auf Pias ultralange Fingernägel, wanderte zu ihren fein gezupften Augenbrauen und den perfekt geschminkten Bambi-Augen. Nein, Lene, nein!
»Mhmmm …«, gab ich von mir und wusste bereits in dieser Sekunde, dass ich das Spiel verloren hatte. Egal, wie sehr ich mich noch anstrengen mochte, gegen meine Freundinnen war ich einfach machtlos.
»Kannst du dir vorstellen, wie sie durch den Wald irrt, mit irgendjemand Fremdem an der Seite, hilflos über Steine klettert, über Wurzeln stolpert …«
»Okay, okay! Schon gut! Ich hab’s ja kapiert.«
Es war zu spät. Ich war endgültig besiegt.
»Gut, ich melde mich an«, seufzte ich resigniert. Und auch wenn ich es mir nur ungern eingestehen wollte – irgendwie freute ich mich. »Aber das heißt noch lange nicht, dass ich auch wirklich mitkomme! Du kennst mein Glück …«, fügte ich rasch hinzu, um mir nichts anmerken zu lassen.
Bea strahlte mich an und band sich lässig unbeteiligt ihre mokkabraunen Haare zu einem Zopf zusammen. »Du bist die Beste!«
Pia riss ihre Augen auf und stieß ein lautes, schalldurchbrechendes Quietschen aus. »Oh mein Gott! Ich glaub’s nicht! Sagst du etwa wirklich Ja??«
Das Klassenzimmer füllte sich nach und nach, die Letzten trudelten aus der Pause ein. Ich schwieg und dachte angestrengt nach. Warum eigentlich nicht? Was würde ich so kurz vor den Sommerferien noch machen? Ich hatte nichts für das Wochenende geplant, die Arbeiten waren geschrieben, die Referate alle gehalten.
»Ähm …«
»Du sagst also ja!«, unterbrach mich Pia und hüpfte auf ihrem Stuhl auf und ab, während sie begeistert nach meinen Händen griff. »Du bist die allerallerbeste Freundin, die man sich vorstellen kann! Nach Bea natürlich«, fügte sie augenzwinkernd in deren Richtung hinzu und umarmte mich stürmisch.
Was tat man nicht alles für seine Freundinnen? Zumal Bea uns in diesem Irrenhaus im Stich lassen und die Sonnenseite des Lebens genießen würde.