Larsson Legacy (Crumbling Hearts, Band 3) - Carolin Wahl - E-Book
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Larsson Legacy (Crumbling Hearts, Band 3) E-Book

Carolin Wahl

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Beschreibung

Er ist loyal seiner Familie gegenüber. Sie ist die Enkelin des Erzfeindes. Prunkvolle Feste und repräsentative Veranstaltungen sind Alltag für Theodor Skogen. Bis er auf einem Maskenball Lovisa trifft, die in einer Nacht sein ganzes Leben auf den Kopf stellt. Er setzt alles daran, sie wiederzufinden. Das Problem: Lovisa will nicht gefunden werden. Denn sie ist die Erbin von KOSGENs größtem Konkurrenten. Und die Person, die wie Theo für das Sponsoring im Familienunternehmen verantwortlich ist. Ob bei der Premier League in London, der Formel 1 in Morena oder beim Eishockey in Oslo – die beiden befinden sich in einem ständigen Wettkampf. Doch je häufiger sie einander begegnen, umso größer wird die verbotene Anziehungskraft zwischen dem Keksprinzen und der Schokoladenprinzessin … Eine verboten süße Enemies-to-Lovers-Romance Enemies to Lovers in der Osloer High Society: Im Abschluss ihrer Wohlfühlreihe rund um das Keksimperium KOSGEN lässt SPIEGEL-Bestsellerautorin Carolin Wahl ihre Love Interests wie Romeo und Julia aufeinandertreffen – eine Forbidden Love zwischen Fußballlogen, Eissporthallen und Rennstrecken.

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Seitenzahl: 453

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Inhalt

PLAYLIST

1THEOAuf der Beerdigung …

2LOVISA»Bitte was? So …

3THEODie dunkle Limousine …

4LOVISANach knapp vier …

5THEO»Warte«, hörte ich …

6LOVISAIch klammerte mich …

7THEOWo zum Teufel …

8LOVISAIch hastete den …

9THEOEin Jahr späterDas Eis knirschte …

10LOVISA»Ihr habt gesagt, …

11THEO»Wer fliegt nächste …

12LOVISAEr war hier. …

13THEOChamonix wurde als …

14LOVISANachdem ich geduscht, …

15THEOAuf der Fahrt …

16LOVISAAls ich unten …

17THEODrei Wochen und …

18LOVISA»O mein Gott, …

19THEO»Spinnst du?«, zischte …

20LOVISAGedankenverloren saß ich …

21THEOWährend der kompletten …

22LOVISAIch betrat die …

23THEOHenning belegte im …

24LOVISADer Verrat brannte …

25THEOElli hatte mir …

26LOVISA»Lovisa«, erklang in …

27THEODieses Mal war …

28LOVISADie nächste Woche …

29THEOLovisas Wohnung befand …

30LOVISAWollte nur …

31THEODie Karaokebar befand …

32LOVISA»Moment … Moment«, …

33THEO»Ich muss euch …

34LOVISAEs war seltsam, …

35THEODie letzten Sonnenstrahlen …

DANKSAGUNG

TRIGGERWARNUNG

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese beinhaltet Spoiler für die gesamte Geschichte!

Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.

Für alle, die sich schon mal unverstanden gefühlt haben:

Irgendjemand blickt immer hinter die Fassade und wird es verstehen.

Und für meine Familie. Weil es dieses Buch ohne euch nicht gäbe.

PLAYLIST

Natasha Bedingfield – Unwritten

Silly Boy Blue – The Fight

Benson Boone – Beautiful Things

Sabrina Carpenter – Espresso

Ida Corr & Fedde Le Grand – Let Me Think About It (Radio Edit)

Cults – Gilded Lily

Nena Daconte – Tenía Tanto Que Darte

Billie Eilish – BLUE

Billie Eilish – CHIHIRO

Sophie Ellis-Bextor – Murder On The Dancefloor

Flume – Never Be Like You (feat. Kai)

Nelly Furtado – Maneater

Gorillaz – Dare

The Killers – Mr.Brightside

Lorde – Royals

Louane – Avenir

Mareux – The Perfect Girl

Frank Ocean – Lost

Joey Pecoraro – Threat (feat. valentina cy)

Lana Del Rey – Gods & Monsters

Chappell Roan – Good Luck, Babe!

Chappell Roan – My Kink Is Karma

Rihanna – Breaking Dishes

Jorja Smith – I Am

Taylor Swift – Cruel Summer

The Weeknd – Loft Music

1

THEO

Auf der Beerdigung meines Großvaters regnete es in Strömen. Melodramatisch. Seifenopermäßig. Genau wie er es bestellt hätte, damit alle seinen großen Showabgang bewundern konnten.

Ein zynisches Lächeln umspielte meine Mundwinkel, meine Hand lag fest um den Griff des Regenschirms. Der monotone Klang der peitschenden Tropfen begleitete die Rede des Pfarrers wie ein leises Sinfonieorchester. Dabei spürte ich die Blicke der unzähligen Menschen wie tausend winzige Nadelstiche im Nacken und war froh, ganz vorn zu stehen. So konnte niemand in meinem Gesicht nach einem Anzeichen von Schwäche suchen. Eigentlich war ich verdammt gut darin, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen, denn in den letzten Jahren hatte ich mir eine Schutzrüstung aus Unnahbarkeit zugelegt. Aus … Gründen. Doch jetzt versteckte ich meine Trauer nicht gut genug. Vermutlich, weil die Erinnerungen und die Vergänglichkeit des Lebens mir deutlich machten, dass auch ich nicht unsterblich war. Denn heute wurde nicht nur ein Geschäftsmann und einflussreicher Mensch unter die Erde gebracht, sondern mein Großvater.

Bilder blitzten durch mein Bewusstsein, vergrabene Erinnerungen, das Gefühl einer warmen Umarmung an bedingungslose Liebe geknüpft. Die Schwere in meiner Brust schmerzte. Es tat weh, wenn aus einem vielleicht später ein nie mehr wurde.

Wenn man unbewusst eine Nummer wählte, weil man vergessen hatte, dass die andere Person nicht mehr ans Telefon gehen konnte.

Wenn man begriff, dass der Klang der Stimme nur noch im Kopf existierte, man nicht mehr den vertrauten Geruch einatmen, nie mehr einen Schulterklopfer spüren würde.

Wenn sich gelebte Augenblicke in ausgebrannte Sterne verwandelten, ihr Leuchten erlosch und sie einfach aus dem Bewusstsein der Welt verschwanden.

Tränen brannten hinter meinen Lidern. Ich räusperte mich und straffte die Schultern, schüttelte alles ab und versuchte, mich auf die Rede zu konzentrieren.

Elli, meine ältere Schwester, hakte sich bei mir unter, sodass sich unsere in Mäntel gehüllten Schultern streiften. Sie schenkte mir einen mitfühlenden Blick, als würde sie spüren, was in mir vorging. Wahrscheinlich war sie die einzige Person, die mich wie ein offenes Buch las. Etwas, das ich abgrundtief verabscheute. Kein Wunder, dass ich sie oft unnötig ruppig von mir stieß. Ich wollte nicht gesehen und verstanden werden.

Aber in diesem Moment ließ ich es zu. Ihre Nähe. Ihre beschützende Geste. Vielleicht, weil ich in ihren wolkengrauen Augen ebenso die Tränen registrierte und sich ein Funke Mitleid in meiner Dunkelheit regte. Vielleicht auch, weil ihr Freund Lucas nur zwei Reihen hinter uns stand und ich mir auch seiner Aufmerksamkeit überdeutlich bewusst war. Lucas war niemand, dem ich ans Bein pinkeln wollte. Dafür respektierte ich ihn zu sehr. Seit er mit Elli zusammen war, hatte er KOSGEN den Rücken zugewandt und sich wieder seiner Kunst gewidmet. Er war zu einem wesentlichen Bestandteil in Ellis Leben geworden und ließ nichts über sie kommen.

Erst recht nicht meine Arschlochart, die ich mir molekülartig aufgebaut hatte. Es war besser, wenn die Leute einen respektierten – und seltsamerweise hatten sie mehr Respekt, wenn man ihnen direkt klarmachte, dass man sich nicht verarschen ließ.

Ein Schluchzen unterbrach meinen Gedankenstrom und ich schielte zu meinem Onkel und dessen Frau hinüber. Sogar meine beiden Cousins waren gekommen, obwohl wir kaum Kontakt hatten. Schnee im Sommer war nur eine der vielen Headlines gewesen, die vor einigen Jahrzehnten für Skandale um meinen Onkel gesorgt hatten. Klar, der heutige Auftritt auf der Beerdigung würde medienwirksam ausgeschlachtet werden, um möglichst viel Profit daraus zu schlagen. Keine Ahnung, was dann noch alles in der Presse landen würde, weil jemand aus dem Familienzweig meines Onkels ein Exklusivinterview gab. Ein Grund mehr, nicht mit ihnen zu sprechen.

Elli folgte meinem Blick und seufzte leise, während ihre Mundwinkel sich wie ein Halbmond nach unten bogen. »Wie oft hat Großvater die anderen gesehen? Fünf Mal?«

»Sechs. Wenn du diese eine Hochzeit und die Beerdigung von Oma mitzählst«, brummte ich angewidert.

»Glaubst du, es hätte ihm gefallen?«

»Er hätte es gehasst«, erwiderte Sander, mein großer Bruder, der auf Ellis anderer Seite stand, ohne uns anzusehen. Wie auch ich trug er einen schwarzen Anzug, einen Wollmantel und dazu passend Schal und Mütze. Er sagte es leise genug, damit nur wir ihn hörten. »Jede Sekunde davon«, fügte er hinzu. »Und genau deswegen hätte er sich den Regen gewünscht. Die perfekte Inszenierung für seinen Abgang.«

The crown must always win.

Ich warf einen Blick über die Schulter auf die anderen Trauergäste, die eher teilnahmslos als bedrückt oder traurig wirkten. Als wären sie Statisten in einem Theaterstück. Mehr nicht.

Dabei war es beinahe ein Staatsbegräbnis, wenn man die Sicherheitsvorkehrungen, die Security, die versteckten Presseleute an den Zäunen des Friedhofs und die Persönlichkeiten aus der Finanz- und Wirtschaftswelt betrachtete. Sogar die norwegische Präsidentin hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich aufzukreuzen und nicht nur eine anteilnehmende Trauerkarte zu schicken.

Eine Scharade für die Öffentlichkeit.

Aasmund Skogen hatte sich sein Leben lang darum bemüht, alle Menschen auf eine Armlänge Abstand zu halten.

Kein Wunder. Kein Wunder, dass es ihnen nicht um den Menschen Aasmund Skogen ging, sondern um das, was er dargestellt hatte.

Von uns Enkeln war ich derjenige mit der engsten Bindung zu ihm gewesen. Weil ich ihm vermutlich am ähnlichsten war. Ich sah zu Elli und Sander, die ich in den letzten Monaten so gut wie gar nicht zu Gesicht bekommen hatte, da ich für meinen Master in den USA gewesen war. Ivy League. Die perfekte Vorbereitung für den Job, der bei KOSGEN auf mich wartete.

Als die Rede endete und die Totengräber den Sarg in die Tiefe gleiten ließen, spürte ich kaum noch meine Fingerspitzen. Alles war taub und kribbelte, als hätte ich während eines Schneesturms keine Handschuhe angehabt.

Konsterniert starrte ich auf den edlen Sarg und fragte mich, wann ich meinen Großvater das letzte Mal bewusst gesprochen hatte. Weihnachten? Da war er schon ein Schatten seiner selbst gewesen, wortkarg und zurückgezogen, die fortschreitende Demenz im Nacken, der verklärte Blick, die geistige Abwesenheit als ständiger Begleiter. Nein, es war letzten Sommer gewesen, in einem seiner klaren Momente, als ich extra hergeflogen war, weil Ellis Nachricht mich beunruhigt hatte. Ich hatte niemandem davon erzählt, dass ich fast zehn Tage bei ihm gewesen war, um ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen.

»Theodor?« Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken und ich trat einen Schritt zur Seite, damit die nächsten Trauernden Abschied nehmen konnten.

Anschließend reihte ich mich neben meinen Geschwistern ein, um die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Hände schütteln, kollektives Seufzen, Nicken.

Meine Füße waren eiskalt, mein Handgelenk schmerzte. Aber ich behielt eine neutrale Miene bei, bis sich auch der letzte Wegbegleiter meines Großvaters verabschiedet hatte. Mit einer kleinen Verschnaufpause gelang es mir besser, meine Gefühle zu verbergen.

»Kommst du?«, fragte mich Elli leise, aber ich schüttelte den Kopf. »Fahrt schon mal vor, Gustav soll mich später abholen.«

»Sicher?«

Ich nickte. »Ja. Ich möchte noch einen Moment allein sein.«

Voller Zuneigung sah mich meine Schwester an und kurz fragte ich mich, womit ich ihre Liebe verdient hatte.

»Wie du magst. Schön, dass du wieder da bist.« Zu meiner Überraschung klang Elli aufrichtig.

»So schnell werdet ihr mich nicht wieder los«, erwiderte ich und legte den Kopf schief. »Ich freue mich auf die anstehenden Herausforderungen.«

»Ich bin froh, dass du dich fürs Sponsoring entschieden hast. Ich glaube, das könnte dein Ding sein. Aber lass uns später darüber reden. Bis nachher, ja?« Liebevoll drückte Elli meinen Arm, dann hakte sie sich bei Lucas unter, der mir über ihren Kopf hinweg einen durchdringenden Blick zuwarf. Tu ihr weh und ich bring dich um, schien er zu sagen, aber ich war nicht mit der Absicht nach Oslo zurückgekehrt, um die Familienharmonie zu zerstören, sondern um ernsthaft etwas zu bewegen. So wie ich mich in den letzten Jahren verhalten hatte, war seine Reaktion auf meine Anwesenheit jedoch nicht verwunderlich.

Nachdenklich beobachtete ich, wie die Trauergemeinschaft zum Ausgang des Friedhofs ging, wo bereits eine Kolonne schwarzer Limousinen mit laufenden Motoren darauf wartete, sie zur Location für den Leichenschmaus zu fahren.

Als ich mich wieder dem Grab zuwandte, regnete es noch stärker. Ich spürte die Anspannung in meinem Nacken und den Schultern. Meine Muskeln fühlten sich an, als hätte es mich auf dem Eis zerlegt, und in meiner Brust dröhnte ein dumpfes Gefühl von Trauer. Wie das fern verklingende Donnergrollen eines Gewitters.

Seltsam.

Müde wischte ich mir einmal über das Gesicht, schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und dachte an die Worte meines Großvaters aus seinem letzten Brief an mich: Theo, mach nicht den gleichen Fehler wie ich. Vertreibe nicht alle, die dich lieben. Ich werde bald einschlafen und nicht mehr aufwachen. Und wenn ich das tue … ist es okay. Ich hatte ein langes Leben. Aber für dich würde ich mir vor allem eine Sache wünschen: dass du glücklich bist. Glücklich.

Ich war mir nicht sicher, ob ich dazu fähig war.

Aber hier stand ich. Und plötzlich heulte ich, als wäre ich fünf Jahre alt, bis ich jedes Zeitgefühl verlor. Bis meine Glieder steif gefroren waren und die Dunkelheit über Oslo hereinkroch. Bis ich das Gefühl hatte, innerlich völlig leer zu sein.

Aus dem Nichts tauchte ein Taschentuch neben mir auf, und als ich nach rechts schaute, stand da eine elegante Dame. Unverkennbar teuer gekleidet, das schlohweiße Haar perfekt frisiert, aber es war ihr Blick, voller Verständnis und Trauer, der irgendetwas in mir berührte.

Eigentlich wollte ich sie anherrschen, ihr sagen, dass sie mich in Ruhe lassen sollte. Dass dieser Moment mir gehörte und es unhöflich war, sich einfach so anzuschleichen.

Aber war es das wirklich?

»Danke«, sagte ich stattdessen, wobei ich mich anhörte, als hätte ich einen Frosch verschluckt.

»Sehr gerne.«

Ich schnäuzte mir die Nase, steckte das Taschentuch ein und trat einen Schritt nach hinten. Mein Blick fiel abermals auf ihr Gesicht, das mir vage bekannt vorkam, aber ich konnte es nicht zuordnen. Dabei hatte ich ein verdammt gutes Gedächtnis.

Wo hatte ich sie schon einmal gesehen?

»Ich wollte sowieso gerade gehen.« Keine Ahnung, weshalb ich diese Erklärung abgab. Normalerweise tat ich das nicht. Ich erklärte mich niemandem. Aber diesmal hatte ich irgendwie das Bedürfnis dazu.

Während ich mich umdrehte und hölzern auf den Ausgang zusteuerte, blieb die ältere Dame klein und zerbrechlich am Grab zurück. Ich sah mich noch einmal zu ihr um und runzelte die Stirn, weil mich der Anblick an etwas erinnerte. Dabei hatte ich nicht den blassesten Schimmer, was es war. Wie eine dunkel schimmernde Silhouette stand sie unter ihrem großen Schirm und ihre Lippen schienen sich zu bewegen. Eine Reihe von Emotionen gingen von ihr aus. Sehnsucht. Traurigkeit. Eine tiefe Art von Schmerz.

Und dann wusste ich plötzlich, wieso mir ihr Anblick so naheging. Im Gegensatz zu den meisten anderen Trauergästen fühlte sich ihr Gesichtsausdruck echt an.

Es waren wahre Empfindungen. Kein Schauspiel für die Massen.

Ich wandte mich ab und wusste nicht, was mich mehr beunruhigte: die Tatsache, dass ich emotional so abgestumpft war, dass mich eine alte Dame mehr berührte als meine eigene Familie, oder dass ich überhaupt so viele Gefühle zuließ.

Rasch gab ich mich wieder emotionslos. Spürte, wie mein Ausdruck hart wurde, wie mein Mund sich in eine schmale Linie verwandelte. Ich ließ all die Empfindungen auf dem Friedhof, während ich mich im Stillen von meinem Großvater verabschiedete und auf den schwarzen Mercedes zuhielt, aus dem Gustav ausstieg, sobald ich mich näherte.

Ich war Theodor Skogen.

Und ich würde meine Seele verkaufen, wirklich alles dafür tun, um in die Fußstapfen meines Großvaters zu treten.

2

LOVISA

»Bitte was? So ein Arschloch?!«, fluchte meine Freundin Mariella, eine Spur zu laut und eine Spur zu heftig, sodass sich einige der anderen Anwesenden des TEAROOM Oslo stirnrunzelnd zu ihr umdrehten. Elsa, die Dritte im Bunde, die gerade ihr Beziehungsdrama losgeworden war, sank wie ein eingefallenes Soufflé in dem weichen Polster zusammen, als wollte sie zwischen den Kissen verschwinden.

Sofort legte sich in mir ein Schalter um. Ich sprang in den Verteidigungsmodus, lächelte liebreizend in Richtung der Gaffer und legte freundlich, aber angriffslustig den Kopf schief. Meine Freundinnen würde ich mit meinem Leben verteidigen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich ein älteres Paar, das sich hinter dem sündhaft teuren Porzellan am Nachbartisch verbarrikadierte und besonders penetrant herüberstarrte. Dann erkannte ich sie. Dieses Mal war mein Lächeln ehrlich, denn im Gegensatz zu den meisten Leuten in unseren Kreisen waren sie immer sehr unvoreingenommen gewesen. Mir und meinen drei Geschwistern gegenüber.

»Hendrik, Solveig, wie schön, euch zu sehen! Wie geht’s denn der Familie, wie war Singapur?«

Ihre Mienen hellten sich auf. Wir tauschten ein paar belanglose Sätze, dann wandten sie sich wieder ihrer Unterhaltung zu und ich meinen Freundinnen, die in der Zwischenzeit weitergeredet hatten.

Mariella schnaubte leise und schickte einen Fluch hinterher. Wahrscheinlich war sie immer noch gedanklich dabei, Elsas Ex die Haut abzuziehen, denn auf ihrem ovalen Gesicht stand ein mörderischer Ausdruck und ihre Wangen waren vor Wut gerötet. Dabei achtete sie nicht darauf, dass wir an einem der exklusivsten Orte der Stadt waren und ihr verbaler Ausbruch meine verstorbenen Verwandten vermutlich im Grab rotieren ließ. Wobei, Anabell Lovisa Larsson, meine verstorbene Urgroßmutter, würde uns sehr wahrscheinlich eher ganz Mulan-ahnenfamilienlike anfeuern.

Da es draußen in Strömen regnete, hatten wir uns spontan für das TEAROOM entschieden. Wir hatten viel zu erzählen, denn üblicherweise befanden wir uns selten auf demselben Kontinent, geschweige denn im selben Land.

Wehmut erfüllte mich. Ich vermisste meine Freundinnen die meiste Zeit. Vor ihnen konnte ich einfach ich selbst sein. Sie verstanden und nahmen mich so, wie ich war. Mit all meinen kleinen Ecken und Kanten.

Dabei hatten wir nie wirklich viel Zeit miteinander gehabt, selbst während meiner Karriere. Selbst als ich die Schlittschuhe noch nicht an den Nagel gehängt und mich nach einer … Alternative umgesehen hatte.

Es schmerzte mich körperlich, sie nicht ständig um mich zu haben, und seit ich endgültig nach Oslo gezogen war, um mir in der Firma meiner Familie eine respektable Position zu erkämpfen, waren gemeinsame Treffen noch viel stressiger geworden.

Aber das gehörte wohl dazu, wenn man erwachsen wurde. Plötzlich verwandelte sich Zeit in Treibsand, und ehe man sich’s versah, war mit einem Fingerschnippen ein ganzes Jahr vergangen.

»Ehrlich, so ein Arsch, ich kann es einfach nicht glauben«, schäumte Mariella und klemmte sich routiniert die vorderen Strähnen ihrer zu Wellen gestylten champagnerfarbenen Haare mit einer Spange nach hinten. Ihre ungewöhnlich blauen Augen sprühten vor unterdrücktem Zorn und ich spürte exakt dasselbe, gemischt mit einem Hauch von Machtlosigkeit.

Hätten wir es früher gewusst, hätten wir einschreiten können. Und ehrlich gesagt juckte es mich in den Fingern, genau das zu tun.

»Wenn du willst, dass er verschwindet, musst du es nur sagen«, sagte ich und rührte in meinem Darjeeling, ehe ich ihn in das edle Service goss, das perfekt zu den moosgrünen Sofas, dem dunkel gehaltenen Interieur mit den voluminösen Kronleuchtern und der Musik von Vivaldi im Hintergrund passte. Vielleicht zog ich mich deswegen immer so gern hierher zurück. Weil dieser Ort wie in der Zeit stehengeblieben wirkte. Manche Dinge änderten sich nie.

»Es ist mir so schon peinlich genug«, flüsterte Elsa heiser, wobei Tränen in ihren warmen Augen schimmerten.

»Nein, aber im Ernst«, fuhr ich fort und spürte, wie die Worte förmlich in mir hochsprudelten, als hätte ich einen Kochtopf auf der Herdplatte stehen lassen. »Was bildet sich dieser Weichspüler eigentlich ein? Wenn ich geahnt hätte, wie scheiße er dich behandelt, hätte ich ihm seinen Schrumpelpenis höchstpersönlich abgeschnitten.«

Elsa und Mariella sahen erst mich und dann sich gegenseitig entsetzt an. Trotz der ernsten Situation hielten sie sich dann die Hände vor den Mund und unterdrückten ein Prusten, was den Anflug eines Grinsens bei mir hervorrief.

»Ist doch wahr«, verteidigte ich mich achselzuckend. »Tut mir leid.«

»O Gott, Lovisa, dafür liebe ich dich gerade ein kleines bisschen mehr.« Elsa wischte sich am unteren Wimpernkranz entlang, aber ihr wasserfestes Make-up saß immer noch perfekt.

Sie so todunglücklich zu sehen, schnürte mir die Kehle zu, denn sie war der Sonnenschein in unserer Runde. Der Inbegriff von das Glas ist halbvoll, immer enthusiastisch und warmherzig.

»Ich meine das ernst«, erwiderte ich.

»Ich auch.« Sie lächelte mich so dankbar an, dass ich spontan nach ihrer Hand griff und sie einmal fest drückte. Sie war kalt, schwitzig, und erneut stieg Wut in mir auf, weil dieser Mistkerl einen so tollen Menschen wie Elsa für sein kümmerliches Ego missbraucht hatte. Auf so vielen Ebenen.

»Du hättest es uns sagen können. Jederzeit. Wir hätten dich niemals verurteilt.«

»Ich weiß«, murmelte Elsa erstickt und sah zwischen uns hin und her. »Aber es ist mir immer noch so unangenehm. Weil es mir einfach nicht ähnlich sieht. Ich verstehe es nicht einmal selbst. Eigentlich kann ich ganz gut Grenzen setzen, aber mit Sverre …«

»Er hat dein Selbstbewusstsein zerstört«, meinte ich mitfühlend und fischte wie im trüben Wasser nach den richtigen Worten, um sie nicht zu verletzen. »Stück für Stück. Und du bist jedem seiner Schritte gefolgt, hast dich immer mehr angestrengt. Dadurch ist dieses Ungleichgewicht entstanden. Ein klassischer Narzisst durch und durch, ganz einfach«, endete ich und trank einen Schluck Tee. Sofort wärmte er mich von innen, ein Gefühl von Ruhe erfüllte mich.

»Dass er dir die Schuld gibt, wenn er keinen hochkriegt, ist echt die Höhe«, knurrte Mariella und nippte an ihrem Moccachino. »Ehrlich. Ich werde das nie verstehen. Ich sage T auch nicht, dass meine Vertrauensprobleme mit ihm zu tun haben, denn das liegt ganz allein an mir.«

Wir hatten irgendwann damit angefangen, nur den Anfangsbuchstaben für unsere bessere Hälfte zu verwenden – es sei denn, sie waren Geschichte. Dass aus S inzwischen Sverre geworden war, nannte ich glückliche Fügung des Schicksals.

»Damit müsste er sich aber eine Schwäche eingestehen. Und in seiner Welt ist er perfekt«, erwiderte ich und streichelte weiter Elsas Hand, denn ich spürte ihr Zittern, das mich tief berührte. Wie konnte ein einzelner Mensch ihr einfach das Sonnenlicht stehlen?

In diesem Augenblick vibrierte mein Handy auf dem Tisch. Zuerst wollte ich es ignorieren, doch als ich den Namen auf dem Display sah, griff ich danach.

»Mist, da muss ich rangehen«, meinte ich und stand auf. Ich entfernte mich einige Schritte von meinen Freundinnen und verschanzte mich im luxuriösen Flur, dessen Wände aus dunklem Mahagoniholz bestanden. »Alles gut?«

»Wie schnell kannst du hier sein?«

»Oh, ich freue mich auch, von dir zu hören, Schwesterlein. Dir geht’s also gut, mir auch, danke der Nachfrage«, antwortete ich meiner älteren Schwester Linea, die etwas Unverständliches in den Hörer murmelte, bevor sie sagte: »Schwing deinen sexy Hintern ins Büro. Es ist dringend.«

»Du weißt, dass du mich nicht mit versteckten Komplimenten kaufen kannst, oder?«

»Lovisa. Dringend. Jetzt.«

»Ich habe gar kein Zauberwort gehört?«

Linea stöhnte. »Ich bitte dich doch nicht, deinen Job zu machen.«

Bei ihren Worten wurde ich hellhörig. Normalerweise gab es im Sponsoring nichts, was sich nicht aufschieben ließe. Außerdem klang Linea nicht so, als würde Knåd in Flammen stehen, denn seit sie zur Geschäftsführung gehörte, war immer etwas dringend, wichtig oder durfte unter keinen Umständen aufgeschoben werden. Trotzdem spürte ich eine gewisse Nervosität, wie bei allem, was mit unserem Familienunternehmen zu tun hatte. Schließlich riss ich mir meinen sexy Hintern auf, um endlich anerkannt oder zumindest als ernsthafte Person wahrgenommen zu werden. Dabei trat ich selbstbewusst auf, war schlagfertig und konnte einstecken – wenn ich denn musste.

»Das war ein Scherz, natürlich mache ich mich auf den Weg«, antwortete ich schließlich.

»Wo bist du?« Wahrscheinlich wollte sie abschätzen, wie lange ich brauchen würde.

Natürlich nutzte ich die Steilvorlage. »Brazilian Waxing. Ich habe allerdings erst eine Hälfte geschafft.«

»Lou, ich schwö-«

»Schon gut.« Ein Lachen kitzelte in meiner Kehle. »Zwanzig Minuten. Bis gleich.«

Ich ging zu meinen Freundinnen zurück und verabschiedete mich mit Bedauern von ihnen. Eigentlich hätte ich gern behauptet, dass es nichts Wichtigeres gab, als mit ihnen Zeit zu verbringen. Aber die simple Wahrheit war: Es gab nichts, das über die Firma ging. Mit ihr stand und fiel meine komplette Existenz. Die Existenz meiner Familie. Und ich würde alles, sprichwörtlich alles dafür tun, damit das auch so blieb. Und die Arbeit in der Firma war der beste Ersatz für das Eislaufen.

Schweren Herzens ging ich ins Parkhaus und betätigte mit dem Schlüssel die Entriegelung meines Shatron Noir, dem einzigen Auto, das ich jemals hatte besitzen wollen, nachdem ich es auf der legendären Rennstrecke auf Morena in der Boxengasse gesehen hatte. Der Wagen glänzte in einem British Racing Green, custom-made, 730 PS. Seit wir das Sponsoring für Shatron übernommen hatten, war ich stolze Besitzerin des Wagens. Dabei waren die Wartelisten unendlich lang und man kam auch nur ganz selten an die Autos. Mit viel Glück – oder den richtigen Kontakten. Ganz Oslo hatte nur drei Neuwagen des aktuellen Modells zugeteilt bekommen, in Norwegen waren es insgesamt zwölf.

Als ich genau achtzehn Minuten später auf den Firmenparkplatz fuhr und auf dem Stellplatz meiner Mutter anhielt, brach die Sonne hinter der Wolkendecke hervor und ließ die Pfützen wie Diamanten funkeln. Es roch nach salziger Meeresluft, nach Wind und Regen, und ich genoss kurz dieses Gefühl absoluten Seins, was ich mir viel zu selten gestattete. Dabei liebte ich Oslo genau aus diesem Grund: mein Herzensort, meine Wahlheimat, ein bisschen stürmisch, wechselhaft, voller Möglichkeiten und trotzdem so herrlich normal. Vielleicht hielt mir keine andere Stadt der Welt so sehr den Spiegel vor, ließ mich so zur Ruhe kommen.

Ich schnappte mir meine Handtasche vom Beifahrersitz und ging in Richtung des Hauptgebäudes, einem dunklen Monstrum aus Glasfronten. Innen war es dafür lichtdurchflutet und ich mochte die Büros, auch wenn sie nicht mit ganz so vielen Erinnerungen verbunden waren wie das in die Jahre gekommene Gebäude, in dem die Geschäftsführung vor dem großen Umzug ansässig gewesen war und mit dem ich noch immer den intensiven Duft von warmen Schokoladenpralinen verband oder wie ich auf dem Schoß meines Großvaters gesessen hatte, um neue Geschmacksrichtungen zu testen.

»Hi, Ole«, begrüßte ich den Sicherheitsmann an der Pforte, ehe ich meinen Weg fortsetzte.

Obwohl sich Knåd in den letzten Jahrzehnten zu einem der größten Namen in der internationalen Süßwarenbranche gemausert hatte, blieb es für mich ein Familienunternehmen. Wir hatten oft Sankt Hans – Mittsommerfeste – auf dem Firmengelände gefeiert, viele langjährige Angestellte kannten mich seit meiner Geburt.

Als sich die automatischen Türen bei meinem Näherkommen öffneten, fiel mir zuerst das Banner mit dem fetten Unternehmenslogo auf – der dunkelbraune Knåd-Schriftzug, über dem eine goldene, geöffnete Kakaobohne schwebte. Nicht besonders spektakulär, aber einprägsam.

»Hast du heute nicht frei?«, fragte mich Ulla, die Empfangsdame und gute Seele des Unternehmens.

»Wenn meine Schwester ruft, komme ich geflogen«, gab ich zum Besten und fuhr in den sechsten Stock hinauf, wo ich auf die verglasten, mit milchigen Sichtschutzstreifen versehenen Büroräume von Linea zusteuerte. Ein kurzes Anklopfen, dann trat ich ein.

»Das waren zweiundzwanzig Minuten.«

»Ich dich auch«, erwiderte ich lachend und zog die Tür hinter mir zu, während sie mich von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch aus mit Grabesmiene anstarrte. Dabei fiel mir auf, wie hübsch sie heute aussah. Linea hatte – im Gegensatz zu uns anderen Geschwistern Alva, Ludvig und mir – in dem Moment den Genpooljackpot geknackt, als sie ihre haselnussbraunen Augen aufgeschlagen und alle mit ihrem süßen Lächeln verzaubert hatte. Bei der Namensnennung hatten meine Eltern aber danebengegriffen, denn Linea hasste ihren Namen Klara abgrundtief und hatte sich deswegen dazu entschlossen, ihren zweiten Vornamen als Rufnamen zu verwenden.

»Also … was ist los?«, fragte ich.

»Setz dich.«

Himmel, sie hörte sich an, als würde sie mir gleich verkünden, dass KOSGEN unsere kompletten Anteile gekauft hatte.

»Bevor ich dir sage, worum es sich handelt, brauche ich dein Wort, dass die Information diesen Raum vorerst nicht verlassen wird.«

Ich runzelte die Stirn und drehte an einem der mit Steinen besetzten Ringe an meinen Fingern. »Das versteht sich von selbst.«

»Ich meine es todernst. Es darf niemand davon erfahren.« Linea senkte verschwörerisch die Stimme und strich sich eine kastanienbraune Haarsträhne hinters Ohr. Vermutlich die einzige Ähnlichkeit zwischen uns beiden. »Niemand, Lovisa. Kein: Woopsie, das ist mir rausgerutscht. Kein: Oh, ich hab es doch nur Mariella und Elsa erzählt. Absolutes Stillschweigen, okay?«

Wow, was sie wohl von mir denkt … In mir staute sich ein unangenehmes Gefühl an, ein Knoten voller Worte, der nach oben schießen wollte, aber ich schluckte alles herunter und nickte brav. »Meine Lippen sind versiegelt.«

»Gut, ich habe nämlich keine Lust, in Zukunft von diesen dämlichen Vertraulichkeitsklauseln Gebrauch machen zu müssen.«

Nun platzte der Knoten doch. »Ich habe keine Ahnung, wie du darauf kommst, dass ich irgendetwas einfach leichtfertig weitererzählen würde, also könntest du diese Seitenhiebe mal zurückschrauben?«, schnappte ich wütend. »Ich hab schon kapiert, dass du mir vertrauliche Informationen um die Ohren hauen willst, aber geez … Linea. Schalt mal ein paar Gänge runter.«

Langsam lehnte sie sich in ihrem überproportionalen Schreibtischstuhl zurück und taxierte mich mit einem kühlen Blick. »Und genau das ist der Grund, weshalb du nicht in der oberen Liga mitspielst, sondern nur das Sponsoring bekommen hast. Du lässt dich wirklich viel zu leicht aus der Reserve locken und hast dein Temperament nicht unter Kontrolle. Du bist dreiundzwanzig, keine fünfzehn mehr.«

Ich knirschte mit den Zähnen. Boah, meine Schwester wusste wirklich genau, was sie sagen musste, damit ich zum eruptierenden Vulkan mutierte.

Doch bevor ich ihr Konter geben konnte, schoben sich ihre Mundwinkel zu einem frechen Grinsen nach oben. »Erwischt.«

Der ganze Zorn verrauchte innerhalb eines Herzschlags. »Linea!«

»Lass mich ein bisschen die große Schwester raushängen, ja? Es ist manchmal so langweilig. Gänge schalten ist übrigens eine verdammt gute Überleitung.«

Mein Herz klopfte plötzlich schneller. »Hat deine Geheimniskrämerei etwas mit Shatron zu tun? Ich bin gerade noch dabei, den Sponsoringvertrag für die übernächste Saison neu auszuhandeln, deswegen …«

»Wir bekommen eine Formel-1-Rennstrecke.«

Ich blinzelte irritiert, spürte, wie meine Pulsfrequenz stieg. »Was meinst du mit wir?«

»Wir. Norwegen.«

»Doch hoffentlich nicht Rudskogen?«

»Nein, besser.« Linea sah so zufrieden aus, als hätte sie mir eben verkündet, dieses Mal hätten wir die Anteile der Familie Skogen gekauft. »Neuer Circuit. Einstieg nächstes Jahr. Die WAA wird es erst am Beginn dieser Saison verkünden, das gibt uns einen Headstart – wir können noch vor der Konkurrenz an Ideen feilen, konkrete Pläne vorbereiten und schauen, wohin uns das führt und ob wir passende Produkte vor den anderen launchen können. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Vor den Toren von Oslo. Ein Coup, mit dem niemand gerechnet hat.«

»Nein, seitdem Force United Media, also FUM, die Anteile an der Formel 1 übernommen hat und einen völlig anderen, strategischen Kurs fährt, sind so viele alte Rennstrecken aus dem Kalender geflogen, die es sich schlichtweg nicht mehr leisten konnten, gegen saudisches Geld oder amerikanische Neufans anzukommen«, dachte ich laut nach und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Gut für uns, Pech für die Altfans von historischen Rennstrecken.«

»Wie zum Henker haben sie das geschafft? Gibt es eine Subventionierung seitens der norwegischen Regierung?«

Meine Schwester zuckte mit den Achseln. »Ist doch egal, was dazu geführt hat. Wir haben einen riesigen Vorteil: Du hast die neuen Sponsoringverträge so gut wie durch. Unser Name taucht überall auf, vielleicht kriegen wir es auch noch hin, auf der Strecke unser Revier zu markieren und den besten medialen Werbeauftritt hinzulegen, bevor KOSGEN, EST oder – Gott bewahre – Belaghi die Fühler danach ausstrecken.«

Meine Gedanken überschlugen sich.

Mit Shatron hatten wir einen der größten Sponsoringfische an der Angel, denn entgegen der Meinung meines Vaters, der die Formel 1 für längst ausgestorben hielt, boomte der Markt mehr denn je. Social Media, zwei Streamingdienst-Serien und einem fetten Kinofilm sei Dank. Die zwanzig Fahrer waren vermarktungstauglicher als Fußballer, nahbarer. Die Fandoms waren riesig. Mit Henning Kiefer und Hendrick Sandman hatten wir zwei Paddock-Lieblinge an der Hand. Wobei Ersterer ausgerechnet ein guter Freund von Aleksander Skogen war, einem der Erben unseres direkten Konkurrenten KOSGEN. Allerdings hatte sich Aleksander inzwischen weitestgehend aus dem Unternehmen zurückgezogen und baute stattdessen naturverbundene Unterkünfte in ganz Norwegen, um Trekkingtouren anzubieten. Vielleicht würde er uns keinen Strich durch die Rechnung machen.

»Moment …« Die Zahnrädchen in meinem Kopf drehten sich weiter. »Moment, Moment … soll ich mir etwas Besonderes ausdenken? Für Shatron? Oder … nein, halt.« Es machte Klick. »Für die Einführung der Rennstrecke? Ein Produkt? Ein Special?«

Lineas Lächeln bekam etwas Teuflisches. »Hach, ich liebe es, wenn dein Superhirn genauso schnell funktioniert wie meins.«

»Uff.« Mit einem lauten Seufzen entwich mir die Luft, die ich die ganze Zeit angehalten hatte. »Wow. Das ist …«

»Der absolute Wahnsinn«, kam mir meine Schwester zuvor. »Ich weiß. Und jetzt überlegst du dir ein paar hübsche Ideen, damit du in der großen Runde vorbereitet bist.« Bei Lineas Worten purzelte ein warmes Gefühl durch meine Brust, eine Kugel voller Zuneigung. Es tat verdammt gut, eine so aufmerksame Schwester zu haben. Auch wenn sie manchmal genau wusste, welche Knöpfe sie drücken musste, um mich auf die Palme zu bringen. Das Verhältnis zu meinen anderen Geschwistern war etwas distanzierter. Was schlicht und ergreifend daran lag, dass uns jeweils ein Ozean trennte. Außerdem war ich in meiner Jugend kratzbürstiger gewesen, weil ich immer das Gefühl gehabt hatte, nicht in meine Familie zu passen. Andere Vorstellungen, andere Wünsche und Träume hatte. Ich war ein bisschen aus der Rolle gefallen und dadurch auch bei Alva und Ludvig angeeckt, die immer die Vorzeigekinder gewesen waren.

Meine Eltern waren ein anderes Thema. Zwar lebten und arbeiteten sie auch in Oslo, weil hier unser Unternehmenssitz lag, aber Außenwirkung und Repräsentation waren für sie schon immer am wichtigsten gewesen. Solange ich ihren Vorstellungen entsprechend funktionierte, war alles gut. Wich ich hingegen vom Plan ab, herrschte schnell Unverständnis. Aus diesem Grund hatte es immer wieder Reibungspunkte gegeben, doch seit ich im Unternehmen angestellt war, hatten sich die Wogen etwas geglättet. Auch wenn wir immer noch unsere Streitpunkte hatten.

Bei Linea war das anders. Obwohl wir nie darüber gesprochen hatten, schien sie zu ahnen, dass ich mich mehr einbringen wollte. Dinge vorantreiben. Verändern. Dabei sein. Ernst genommen werden.

»Das Produktmanagement wird natürlich mit eigenen Vorschlägen auffahren«, fuhr sie fort und eine tiefe Falte grub sich in ihre Stirn. »Aber in letzter Zeit fehlt der Knaller. Seit KOSGEN das Skyer-Portfolio so erfolgreich um die Himmelsk-Kekse erweitert hat, hängen wir ein bisschen hinterher. Das muss sich ändern.«

Ich nickte knapp, denn das war nichts Neues. Tatsächlich waren mir die Probleme durchaus bekannt. Auch die Sorgenfalten in den Gesichtern meiner Eltern waren mir nicht entgangen. Die Nachrichten waren voll mit schließenden Läden, die Innenstädte starben und auch unser Geschäft stagnierte zunehmend. Ich kannte die Zahlen.

»Ach ja, was ziehst du am Samstag eigentlich an?«, wechselte Linea abrupt das Thema. Im Licht der tief stehenden Sonne wirkten ihre Augen beinahe grün. »Hast du schon ein Kleid?«

Mist. »Der Maskenball.«

»Der Maskenball.«

»Den habe ich vergessen.«

Meine Schwester legte ihren Kopf schief und musterte mich mit einer hochgezogenen Braue, eine Fähigkeit, die ich stundenlang erfolglos vor dem Spiegel geübt hatte, bis ich es schließlich aufgegeben hatte. »Du hast es vergessen? Das gesellschaftliche Ereignis des Jahres?«

»Ehrlich gesagt, ja.«

Mit geschürzten Lippen betrachtete mich Linea so eingehend, als würde sie hinterher ein Kunstwerk anfertigen wollen. »Wie wäre es mit dem Kleid vom Debütantinnenball? Du weißt schon, das fliederfarbene, zu dem du dir das Diadem geliehen hattest?«

Stirnrunzelnd ließ ich meine Hände an meinen Kurven entlangwandern, den Hüften und meiner beeindruckenden Oberweite, die ich gern zeigte, die sich aber auch nicht verstecken ließ. Es sei denn, ich hätte Billie Eilish in ihren oversized Pullovern aus ihren Anfangszeiten Konkurrenz machen wollen.

»Da passe ich seit gefühlt drei Jahren nicht mehr rein.« Was eigentlich nicht weiter schlimm war, nur dass ich jetzt daran denken musste, weshalb sich mein Körper so verändert hatte. Ein winziger Stich durchfuhr mein Herz wie eine glühend heiße Nadel. Denn seitdem waren ziemlich genau drei Jahre vergangen. Ich spürte, wie ich innerlich verkrampfte. Ich wusste, wann meine Ernährung und meine sportliche Betätigung sich nicht mehr die Waagschale gehalten und meine Proportionen sich verändert hatten: Seit ich mein Training fast komplett eingestellt hatte. Die Zeit auf dem Eis. Aber die Verletzung und die Erinnerung an das, was mir damals genommen worden war, schmerzte noch oft wie eine frisch blutende Wunde. Also vergrub ich diesen Teil tief. So tief, dass niemals auch nur ein Hauch Sonnenlicht ihn erreichen und die giftigen Triebe zum Wachsen bringen konnte.

Jetzt runzelte Linea die Stirn. »Ehrlich? Ich hätte schwören können, dass du es locker tragen kannst.«

»Um mich zum Gespött der erlesenen Gesellschaft zu machen? Ich bitte dich. Und würde ich dich nicht um einen Kopf überragen, hätte ich dich gefragt, ob du mir etwas leihst.« Ich schnalzte mit der Zunge. »Wenn ich etwas für den Ball finde, dann soll es perfekt sein.«

»Du meinst skandalös«, schnaubte Linea und schüttelte lachend den Kopf. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kronprinz Marius letztes Jahr zweimal hingeschaut hat.«

Ich grinste, denn sie hatte recht. »Vielleicht auch das.«

Mit meinen ein Meter achtundsiebzig war ich nicht nur die Größte unter uns Schwestern, ich fiel auch aus der Reihe, weil ich als Einzige den herzförmigen Mund und die karamellfarbenen Augen unserer Mama geerbt hatte. Was mich jedoch nicht daran hinderte, High Heels zu tragen und meinen Körper zu präsentieren. Denn ich mochte ihn, so wie er war. So wie ich war.

»Wo wir schon dabei sind: Hättest du Lust auf einen Shoppingtrip?«, fragte ich meine Schwester.

»Count me in«, erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen, und ich nickte zufrieden.

Ich würde etwas finden. Etwas, das halbwegs vorzeigetauglich war, ohne gleich einen Skandal auszulösen. Okay, wem machte ich eigentlich etwas vor? Zumindest ein klitzekleiner Skandal müsste drin sein.

3

THEO

Die dunkle Limousine hielt am Bordsteinrand der Hauptstraße auf der gegenüberliegenden Seite des Hauptbahnhofs. Ich öffnete die Tür, dankte Gustav mit einem knappen Nicken und trat hinaus in die frostige Kälte, die Oslo in eisernem Griff umklammert hielt.

Was vor dreißig Jahren als einmaliges Event begonnen hatte, war inzwischen zu einem gesellschaftlichen Ereignis geworden. Der Maskenball am ersten Samstagabend im Februar gehörte ganz den wohlhabenden Menschen der Stadt, einschließlich Mitgliedern der Königsfamilie. Natürlich für den guten Zweck. Und um Kontakte zu knüpfen.

Kräftig zerrte der Wind an meinem Smoking, während ich die Maske auf meiner oberen Gesichtshälfte zurechtrückte und meine frisch polierten schwarzen Lederschuhe um den matschigen Untergrund manövrierte.

Ausnahmsweise war ich spät dran. Das Training mit meinem Eishockeyteam hatte heute länger gedauert, der Verkehr war die Hölle gewesen und zu allem Überfluss hatte ich vergessen, meine Fliege einzupacken, was mir normalerweise nicht passierte.

Also hatte ich noch einmal einen kurzen Zwischenstopp einlegen müssen.

Genervt warf ich einen Blick auf meine Patek Philippe, ein Erbstück von Aasmund Skogen, und bei dem Gedanken an meinen Großvater durchfuhr mich ein glühender Schmerz.

Verdammt. Meine Kiefer malmten und ich ballte die Hände zu Fäusten. Seit der Beerdigung, die zwei Wochen zurücklag, hatte ich mir nicht erlaubt, in Erinnerungen zu schwelgen, denn das machte mich angreifbar. Zu einem leichten Ziel. Und ich hasste nichts mehr, als verwundbar zu sein, wenn nur ein leichtes Schaukeln genügte, um mich über Bord kippen zu lassen.

»Du bist zu spät«, tönte die Stimme meines älteren Bruders Aleksander, der überraschend mit langen Schritten näher kam. Augenblicklich verschlechterte sich meine Stimmung noch mehr.

Unter der schwarzen Maske brachte ein gewinnbringendes Lächeln seine attraktiven Züge zum Strahlen. Ein Anblick, der seit ein paar Jahren den heimlichen Wunsch in mir auslöste, es ihm mit einem gezielten Schlag von den Lippen zu wischen. Dabei wusste ich insgeheim, dass es dabei gar nicht um ihn ging, sondern um mein eigenes Problem. Meine Unsicherheit.

Sander konnte nichts dafür. Er war The Golden Boy. Ihm flog alles zu. Während ich um alles kämpfen musste. Anerkennung. Freundschaften. KOSGEN.

»Dich umgibt eine ziemlich pissige Aura, Bruderherz.« Sander lachte in sich hinein.

»Ich hatte gehofft, dass du mich vielleicht nicht erkennst«, erwiderte ich trocken, was ihn lediglich dazu veranlasste, seine ebenmäßigen weißen Zähne noch mehr zu entblößen.

»Wenn du wüsstest, was ich weiß, hättest du definitiv bessere Laune«, frohlockte er.

Ich warf ihm einen misstrauischen Blick zu, während ich weiter auf den Haupteingang zusteuerte, ohne langsamer zu werden. Sander hatte zu mir aufgeschlossen und hielt mühelos mit mir Schritt.

»Ich hätte definitiv bessere Laune, wenn du heute Abend so tun könntest, als hättest du mich nicht erkannt.« Ach fuck, manchmal konnte ich ein richtiger Arsch sein, besonders meinem Bruder gegenüber. Aber die Wahrheit war, dass mich niemand mehr an meine eigenen Unzulänglichkeiten erinnerte als er, denn im Gegensatz zu mir war er nur hier, weil es von ihm verlangt wurde. Und trotzdem schaffte er es, sein komplettes Leben mühelos aussehen zu lassen.

»Willst du nicht fragen, was es ist?«

Ich machte ein finsteres Gesicht, obwohl er es vermutlich sowieso nicht sah. »Ehrlich gesagt, nein.« Allerdings hatte mich Sander extra dafür abgefangen. Also musste es wichtig sein.

»Ich weiß, dass dich Großvaters Tod besonders mitnimmt, weil ihr ein enges Verhältnis hattet. Aber es ist nicht schlimm, Gefühle zuzulassen.«

Gott, wie ich es hasste, wenn Sander in mich hineinsehen konnte, als würde ich aus Glas bestehen.

»Du könntest mit der sentimentalen Scheiße aufhören und einfach zum Punkt kommen.«

Mit Genugtuung stellte ich fest, wie Sanders Lächeln endlich bröckelte. Mein Blick schwenkte zum rettenden Eingang. Noch zwanzig Meter.

»Getroffene Hunde bellen«, seufzte er zu allem Überfluss und ich zählte innerlich bis drei, damit ich nichts Unüberlegtes sagte oder tat. »Aber ich mach es kurz und schmerzlos, Theo«, fuhr er fort. »Norwegen bekommt eine Rennstrecke für die übernächste Saison.«

Abrupt blieb ich stehen, mein Herzschlag verdreifachte sich. »Was hast du gesagt?«

Sander folgte meinem Beispiel und vergrub die Hände in seiner Anzugshose. »Wir bekommen eine Rennstrecke für übernächstes Jahr.«

»Woher weißt …?« Ich unterbrach mich, als der Groschen fiel. »Henning.«

»Ja.« Trotz der spärlichen Beleuchtung der Außenanlagen vor der eindrucksvollen Oper und dem schwankenden Lichtermeer der Boote auf dem Fjord erkannte ich den mörderischen Ausdruck in seinen blauen Augen, die sich nicht nur der Farbe wegen so sehr von meinen unterschieden. »Deswegen wäre ich dir sehr verbunden, wenn das unser kleines Geheimnis bliebe.«

Die Tatsache, dass er ernsthaft glaubte, ich würde irgendetwas tun, um der Firma zu schaden und den Sponsoren- oder Werbedeal zu gefährden, brachte mein Blut zum Kochen. »Mach dir da mal keine Sorgen«, knurrte ich deswegen.

»Gut. Ich hatte auch nichts anderes angenommen.« Er klang zufrieden.

Meine Gedanken nahmen an Fahrt auf. »Wann wird es offiziell gemacht?«

»In zwei Wochen.«

»Also haben wir einen Vorteil?«

»Wir wollen keine Wettbewerbsverzerrung, aber ja, hoffentlich«, antwortete Sander ernst. »Mach das Beste draus.«

»Darauf kannst du deinen Hintern verwetten.«

»Ich habe nie daran gezweifelt.« Er hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. »Ich bin mir sicher, dass du dir etwas Geniales für das Sponsoring ausdenken wirst. Wie laufen die Verhandlungen mit ED?«

Katastrophal. Ich war erst seit zwei Wochen im Sponsoringteam und sah mich bereits mit der Tatsache konfrontiert, dass wir im Motorsport zu spät dran waren. Alle hatten erkannt, wie groß und populär der Rennsport inzwischen wieder war. Vor fünf Jahren waren sie quasi vor leeren Rängen gefahren. Heute bestand ein ganz anderes globales Interesse daran. Zwar unterstützte KOSGEN einige bekannte Gesichter des Wintersports, ein Premiere-League-Team und einen größeren Eishockeyclub, aber den Rennsport hatten wir verschlafen.

»Das wird«, sagte Sander, obwohl ich noch gar nicht geantwortet hatte, und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.

Verdammt, wann war ich zu einem offenen Buch mutiert? Mein Blick verfing sich an seiner eindrucksvollen Silhouette, der ich inzwischen in nichts mehr nachstand. Zwar waren seine Schultern aufgrund des Schwimmens ein bisschen breiter und er war um ein paar Zentimeter größer als ich, aber das Mannschaftstraining im College-Eishockeyteam hatte sich ausgezahlt.

»Danke.«

Sander grinste. »Überschlag dich nicht gleich vor Dankbarkeit, ja? Und alles für KOSGEN, Bruderherz. Schön, wenn ich dir damit eine Freude machen konnte. Wir sehen uns später. Ich muss noch kurz mit Norah telefonieren.«

»Kommt sie heute nicht?«, hörte ich mich fragen und biss mir anschließend auf die Zunge. Ich mochte Norah, sehr sogar. Seit sie vor knapp drei Jahren Sanders Freundin geworden war, hatte sich viel verändert.

»Nein, aber ich richte ihr gern deine lieben Grüße aus.«

»Du mich auch«, grummelte ich und hob den Mittelfinger, während mir Sanders tiefes Lachen nachwehte, der einfach stehen geblieben war. Ich hatte ohnehin schon zu viel verpasst. Das Begrüßungskonzert des Sinfonieorchesters in der Aula, die Feuershow im großzügigen Außenbereich, der dem Meer zugewandt lag, die Fackelparade …

Wieder warf ich einen Blick aufs Handgelenk und die Schwere umklammerte mein Herz. Keine Ahnung, wann dieses Gefühl besser wurde. Oder komplett verschwand. Aasmund Skogen hatte jedem Enkelkind einen persönlichen Gegenstand vererbt, der ihm auf irgendeine Weise etwas bedeutet hatte. Anders, als man vielleicht vermutete, war die Uhr das letzte Geschenk meiner Oma gewesen, bevor sie verstorben war. Aleksander hatte er seinen ehemaligen Verlobungsring mit den Worten Wenn du bereit bist und Norah fragen möchtest vermacht. »Du musst uns aber Bescheid sagen, wenn du ihr einen Antrag machst!«, hatte Elli mit verträumten Augen gejubelt. Was sie von unserem Großvater bekommen hatte, wusste ich nicht.

Eigentlich war es mir auch egal. Denn noch mehr als die Uhr war mir sein Brief nahegegangen. Nur diese wenigen Zeilen. Nichts Rührseliges. Klar und auf den Punkt. So, wie er eben gewesen war.

Was er wohl mit der neu gewonnenen Information gemacht hätte? Sich vermutlich gleich in die Arbeit gestürzt. Auch in meinem Kopf ratterte es.

Wenn wir das Sponsoring bei ED erhielten, hätten wir gute Karten, für die Rennstrecke etwas Besonderes zu gestalten. Eine spezielle Keks-Variante. Etwas für das Rennteam oder einen Pop-up-Stand vor Ort?

Zwei Angestellte öffneten mir synchron die schweren Doppeltüren und ich trat ins wohlig warme Innere der Osloer Oper. Tatsächlich mochte ich das eindrucksvolle Glasgebäude, wie klischeehaft das auch war. Es lag direkt am Oslofjord, war architektonisch beeindruckend, prägte damit die Stadt und fügte sich trotzdem perfekt ein. Jetzt, in der winterlichen Dunkelheit und von Tausenden Lichtern erstrahlt, wirkte es beinahe magisch.

Daran merkte ich, dass ich eindeutig älter wurde: Mir fiel plötzlich so ein Kitsch auf. Ein zynisches Lächeln legte sich um meinen Mund, während ich mich durch die unzähligen Menschen kämpfte, die mir teilweise vage bekannt vorkamen. Manche von ihnen konnte ich auf Anhieb zuordnen, weil sie ihre Identität kaum verschleierten. Bei anderen wiederum hatte ich nicht den blassesten Schimmer, wer sie waren.

Ich schlüpfte am Blitzlichtgewitter der Fotografen vorbei, die ihre Kameras vermutlich auf sämtliche Gäste richteten. Dieses Mal war es deutlich schwerer, mich zu erkennen, denn die Maske war etwas länger als in den vergangenen Jahren und verdeckte nahezu meine komplette obere Gesichtshälfte.

An der Garderobe gab ich meinen Mantel ab, richtete meine Fliege und ging hinüber zur Bar, wo ich mich an den Tresen setzte. In meinem Kopf fügten sich einzelne Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammen und nach meinem zweiten Bier kritzelte ich ein paar lose Ideen auf einen Unterdeckel. Nichts, womit irgendjemand etwas hätte anfangen können, aber ich konnte besser denken, wenn ich mir Notizen machte.

»Entschuldigung, darf ich kurz?«, fragte eine rauchige weibliche Stimme zu meiner Rechten und ich hielt inne, weil diese eine simple Frage etwas in mir zum Schwingen brachte. Wie eine Gitarrensaite, die kurz angestimmt wurde.

Bedächtig hob ich den Kopf. Im selben Moment streifte mich eine Hand und mein Blick traf auf karamellfarbene Augen hinter einer goldenen Maske. Wach und intelligent funkelten sie mich an. Mein Mund wurde trocken und aus unerklärlichen Gründen begann mein Herz schneller zu schlagen.

Gleichzeitig registrierten meine Sinne den verführerischen Duft der Fremden, herb und intensiv, nach Jasmin und Amber. Nach einem stürmischen Sommerregen. Einem Abenteuer. Einer Versuchung.

Und ihr Lächeln … uff. Ein Kribbeln wanderte von meiner Kopfhaut bis in meine Zehenspitzen. Ihr Lächeln war absolut umwerfend. Einladend und gleichzeitig sinnlich, ohne dass es ihre Absicht wäre zu flirten. Dabei ruhten ihre Finger auf meinem Oberarm, eine vertrauliche, aber nicht aufdringliche Geste.

Oh. Hello.

Sie lachte leise. »Ich wollte mir nur schnell etwas zu trinken schnappen, sorry, wenn ich dich bei …«, sie schaute auf meinen bekritzelten Untersetzer, »der Arbeit störe.«

»Kein Problem«, antwortete ich und starrte sie weiter an, während ich das Bedürfnis verspürte, mich ihr entgegenzulehnen, um sie bei der Lautstärke an der Bar besser verstehen zu können. Beiläufig steckte ich den Bierdeckel in meine Sakkotasche.

Mein Blick verweilte auf dem Schlangentattoo, das sich an ihrem goldenen Neckholder entlangwand, und wanderte dann für einen Sekundenbruchteil zu den mehreren kleinen Symbolen auf ihrem Arm. Zwei davon erkannte ich sofort. Gojō aus Jujutsu Kaisen und Ohngesicht aus Chihiros Reise ins Zauberland.

»Ich hätte vermutlich Haku gewählt«, hörte ich mich leichthin sagen.

In ihre Augen trat ein neugieriges Funkeln. »Ach?«, fragte sie und legte erwartungsvoll den Kopf schief.

Mehr nicht. Aber dieses kleine Wort reichte vollkommen aus, um das Summen in mir zu verstärken. Es war die Art, wie sie die Frage stellte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt auf einmal mir und ich liebte den Blickkontakt. Jede einzelne Sekunde davon. Wie sich ihre Lippen verführerisch verzogen, wie sich ihre langen, stark getuschten Wimpern etwas senkten und sie mich mit neu erwachtem Interesse betrachtete.

Ihr Lächeln vertiefte sich, sobald ihr Blick wieder zu meiner Maske zurückkehrte.

»Ja, als Erinnerung daran, wie wichtig der eigene Name ist.« Oh, wow. Das ging tiefer als beabsichtigt.

Lächelnd deutete sie auf das Ohngesicht auf ihrem Unterarm. Ein schwarzer Geist mit weißer Maske, der mich als Kind immer wahnsinnig erschreckt hatte. »Als Erinnerung daran, wie wichtig es ist, es nicht allen recht zu machen, sondern auch ein bisschen Rückgrat zu besitzen. Und Haku, weil ich den eigenen Namen nie vergessen möchte.« Sie zeigte erst auf ein großes Haku-Tattoo, das ich übersehen hatte, dann auf Satoru Gojō. »Und auf den Typ stehe ich einfach. Staffel 1 Gojō.«

»Ach?«, ahmte ich ihren Tonfall nach, neigte den Kopf und erntete dafür eine andere Art von Lächeln. Eins, das direkt unter die Haut ging.

»Hi«, sagte sie jetzt langsam und reichte mir die Hand. »Ich bin …«

In diesem Augenblick rempelte jemand sie von hinten an, sodass sie ohne Vorwarnung gegen meine Brust gepresst wurde. Automatisch schlang ich beschützend einen Arm um ihre Schultern, durchlöcherte die zwei Typen, die sich mit erhobenen Händen entschuldigten, mit einem warnenden Blick, während mein Herz schneller klopfte.

Eine Welle von unterschiedlichen Gefühlen überrollte mich. Da war so viel. Das Knistern, die Hitze, die Intensität, als würden wir beide plötzlich unter Hochspannung stehen.

Räuspernd löste ich mich von ihr, hielt sie kurz an den Schultern fest und sah ihr in die Augen. »Alles okay?«

Ein freches Grinsen ließ ihre Mundwinkel nach oben springen. »Ja. Absolut.«

Mit einem Kopfnicken deutete ich auf mein halb volles Bier. »Was wolltest du denn bestellen?«

»Irgendetwas, das kickt, damit ich die Veranstaltung über die Bühne kriege und wieder abhauen kann, wenn es gerade am Schönsten ist.«

»Moscow Mule?«

Sie stützte sich mit dem Ellenbogen auf dem Tresen ab und blickte mich mit spitzen Lippen an. Hinter der geheimnisvollen Maske funkelten ihre braunen Augen vor Belustigung. »Okay, ernsthaft. Kennen wir uns, Haku?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Wären wir uns vorher schon begegnet, würde ich mich garantiert daran erinnern. Also bestellte ich den Drink für sie.

»Danke«, sagte sie schlicht.

Ich lächelte. Schief und einnehmend. »Gern geschehen.«

Ihr Blick senkte sich auf meinen Mund und ich sah, wie sie kurz schluckte, als hätte ich sie aus dem Konzept gebracht. Rätselhafterweise wurde mir warm dabei. Ich nippte an meinem Bier, aber es brachte nichts. In mir stand etwas in Flammen und ich fragte mich, wann ich mich das letzte Mal auf diese Weise körperlich zu jemandem hingezogen gefühlt hatte. Es musste Monate her sein. In Boston. Frat party.

»Was hat …« Ihr Handy klingelte in ihrer winzigen, golden funkelnden Clutch, und obwohl ich es nicht sehen konnte, hätte ich schwören können, dass sich ihre Brauen wütend zusammenzogen. »Super unhöflich, aber ich erwarte tatsächlich einen Anruf. Find mich nachher auf der Tanzfläche, Haku«, meinte sie entschuldigend, schnappte sich den Drink, der gerade vor uns abgestellt wurde, und hielt sich mit der anderen das Smartphone ans Ohr.

Stirnrunzelnd sah ich ihr nach, als wäre ich gerade frisch sechzehn geworden, die Hitze wanderte tiefer. Der Rückenausschnitt war für diesen Anlass definitiv gewagt und ich mochte den Anblick der kleinen Tattoos, die an einzelnen Stellen ihres Körpers verteilt fast ein bisschen willkürlich wirkten. Doch zusammen bildeten sie eine Straße aus kleinen Geschichten. Und ich wollte sie alle hören.

Ich beobachtete, wie sich ihre Hüfte einladend zum Takt der Musik bewegte, die am Rand meines Bewusstseins kreiste, folgte dem Verlauf ihrer Kurven und nahm noch einen Schluck von meinem Bier, um den Durst in mir zu löschen, was jedoch eher wie ein verdammter Brandbeschleuniger wirkte.

Etwas in mir erwachte, etwas, das ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Begehren?

Herregud.

Für einen Sekundenbruchteil schloss ich die Augen und atmete tief durch.

»Da bist du ja, ich hab mir schon Sorgen gemacht«, erklang Ellis Stimme zu meiner Linken und sie legte eine Hand auf meinen Arm, ehe sie mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange hauchte. Vermutlich war sie die Einzige, die sich traute, sich mir so ungezwungen zu nähern. Normalerweise hielt ich alles und jeden auf Abstand, weil es sicherer war. Es lenkte nicht ab. Sorgte für Klarheit. Ellis graue Augen wirkten hinter der schwarzen Maske wie zwei silbrige Monde.

Wieso hatte ich eigentlich angenommen, dass mich niemand erkannte? Seufzend nahm ich einen weiteren Schluck aus meinem Glas, spürte die Unruhe noch immer durch mein Inneres wabern. Die Begegnung mit der Fremden hallte in mir nach.

»Sorgen?«, fragte ich mit ein paar Sekunden Verzögerung.

»Du bist doch sonst nicht so spät«, erwiderte sie und winkte jemandem hinter mir zu. »Tiril!«

Augenblicklich versteifte ich mich, mein Herzschlag beschleunigte sich. Wie immer, wenn ich diesen Namen hörte. Seit Jahren schon.

Wahrscheinlich hätte ich es nicht einmal mit vorgehaltener Waffe preisgegeben, aber Ellis beste Freundin war mein erster richtiger Crush gewesen. Dabei bewegte sie sich in einer völlig anderen Umlaufbahn. Nicht nur, weil sie fast drei Jahre älter und deswegen immer außerhalb meiner Reichweite gewesen war, sondern auch, weil es mir peinlich gewesen wäre, wenn sie davon erfahren hätte.

Nervosität flutete mich und ich warf einen verstohlenen Blick auf ihre hübsche Gestalt, die in einem paillettenbesetzten nudefarbenen Kleid steckte, während sie mit tänzelnden Schritten näher kam. Sie hatte dieses ganz besondere Lächeln auf ihrem schönen Mund, das mich bis in meine Träume verfolgt hatte. Hinter der Maske wirkten ihre mandelförmigen Augen geheimnisvoll und blitzten vor Freude, als sie sich zu Elli beugte und sie umarmte. Tiril hatte ihre langen dunklen Haare in Wellen gestylt, die vollen Lippen kirschrot geschminkt und in mir … blieb es still.

Nichts geschah. Nichts.

Weder erhöhte sich meine Pulsfrequenz noch hatte ich das Gefühl, dass meine Welt für einen Augenblick lang den Atem anhielt. Sie drehte sich einfach weiter. Als wäre es eine völlig belanglose Begegnung.

Ich blinzelte. Zu meiner eigenen Überraschung ließ mich Tirils Anblick völlig kalt. Als wäre sie einfach die beste Freundin meiner Schwester, mehr nicht.

In meinen Gedanken blitzte die Frau mit der goldenen Maske auf, dieses Summen in mir verstärkte sich wieder und plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, auf der Tanzfläche nach ihr Ausschau zu halten. Ich wollte sie noch einmal berühren. Noch einmal ihre Stimme hören. Mit ihr sprechen. Herausfinden, wer sie war und was sie mochte.

»Hi, Theo«, wandte sich Tiril mit einem flirtenden Augenzwinkern an mich und ich verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln.

»Hi, Tiril.« Ohne ein weiteres Wort trank ich mein Bier aus, stand auf und ließ meine verdutzte Schwester und ihre beste Freundin stehen, um mich auf die Suche nach der Fremden zu machen.

4

LOVISA

Nach knapp vier Stunden brannten meine Füße höllisch in den sündhaft hohen High Heels, die ich mir in einem Anfall größenwahnsinniger Leichtsinnigkeit angezogen hatte. Mit den Killerschuhen war es, als hätte ich mir Pfauenfedern angesteckt und würde auf einem Bein von Raum zu Raum hüpfen: Bei jeder Bewegung spürte ich die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Also gab ich ihnen die kleine Show, nach der sie lechzten.