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Ihre Leidenschaft: seine Welt. Sein Ziel: ihr Herz. Motorenöl und quietschende Reifen – für Karla gibt es nichts Schöneres! Früher ist sie leidenschaftlich Kart gefahren, bis ihre Eltern sich das kostspielige Hobby nicht mehr leisten konnten. Doch ein unerwartetes Angebot katapultiert sie zurück in die Welt des Motorsports: Sie soll die Freundin des aufstrebenden Formel-2-Stars Henning Kiefer spielen. Mit einem Schlag wäre Karla all ihre Geldprobleme los – und Aufreißer Henning mit einer festen Freundin endlich sein Bad-Boy-Image. Aber was ist, wenn aus einer Fake-Beziehung plötzlich Ernst wird? +++ Spiegel-Bestseller +++ Lass dich mitreißen von dieser halsbrecherischen Liebesgeschichte! Der abschließende Band der Vielleicht-Trilogie hält für die dritte Mitbewohnerin der München-WG einen unverhofften Deal in der turbulenten Welt des Motorsports bereit. Auf humorvolle und tiefgründige Weise zeigt Carolin Wahl mit Karlas Geschichte, dass man gleichzeitig unabhängig sein und sich emotional auf einen anderen Menschen einlassen kann.
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Seitenzahl: 452
Inhalt
Playlist
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Для бабушки – я тебя очень люблю, спасибо за все сказки.
Und für alle, die bei einer Einführungsrunde Herzrasen bekommen.
Playlist
Astrid S – Hurts So Good
BLANCO – Blu Celeste
BLANCO & Sfera Ebbasta – MI FAI IMPAZZIRE
Cannons – Fire For You
Destiny’s Child – Bills, Bills, Bills
Ed Sheeran – Shivers
Holly Humberstone – The Walls Are Way Too Thin
JAWNY – Honeypie
Jaz Karis – Mistake
Jaz Karis & Big Tobz – What You Need
Jocelyn B. Smith, Ute Becker, Sabine Hettlich, Jasmin Tabatabai & Gundula Ulbrich & Tina Schitto – Ich will keinen Mann
Katy Perry – Harleys in Hawaii
Lennon Stella – Like Everybody Else
Lianne La Havas – What You Don’t Do
Liv Dawson – Trust Issues
MACE, BLANCO & Salmo – LA CANZONE NOSTRA
Måneskin – Zitti E Buoni
Nightly feat. Charli Adams – the movies
NIKI – lowkey
Olivia Rodrigo – drivers license
Sam Hunt – Take Your Time
SAYGRACE – You Don’t Own Me (feat. G-Eazy)
Surf Mesa (feat. Alexa Danielle) – Taken Away
Tori Kelly – Should’ve Been Us
The Weeknd – In Your Eyes
Wincent Weiss – Vielleicht Irgendwann
Kapitel 1
Das Schicksal war ein gewaltiges Miststück, und wenn es sich zeigte, dann am liebsten von seiner nackten Kehrseite. Und die war gigantisch.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte ich auf die leuchtenden Worte, die wie ein Fleischmesser in meinen Eingeweiden herumstocherten. Einmal ringsherum.
Zahlung abgebrochen. Bezahlvorgang nicht möglich.
»Tut mir leid, aber die Karte funktioniert leider nicht«, säuselte die Verkäuferin mit dem auftoupierten Haarknoten in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, was sie eigentlich dachte – oder sagen wollte. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie täglich mit diesen Fällen zu tun hatte und es einfach leid war. Verständlicherweise.
Frustriert presste ich die Lippen aufeinander und dachte krampfhaft darüber nach, wie viel Geld sich noch auf meinem Konto befand. Wenn mich nicht alles täuschte, hätte es reichen müssen. Für den Einkauf auf jeden Fall, schließlich war auch noch die Miete fällig.
Oder war sie schon abgebucht worden?
Mist! Ich war mir nicht sicher.
Prompt bekam ich einen Schweißausbruch, der sich anfühlte, als hätte ich mich in einem Winteranzug in die Sauna gezwängt. Mein Blick sprang zu der vollen Schlange hinter mir: eine ältere Dame, die mich mit einem mitleidigen Lächeln betrachtete, eine gestresste Zweifach-Mami, die genervt in meine Richtung schaute, und ein Mann mit Filzhut, den gar nichts aus der Ruhe zu bringen schien, so stoisch war seine Miene. Dann sah ich auf den bereits gepackten Beutel vor mir. Na toll. Meine Ohren glühten wie zwei Lavastückchen.
»Könnten Sie das Toilettenpapier wieder ins Regal stellen?«, raunte ich halblaut und ärgerte mich über meine piepsige Stimme, während sich meine Gedanken überschlugen.
Meine Stimme war alles, nur nicht piepsig. Manchmal etwas zu schrill, etwas zu laut, energisch, aber ganz sicher nicht piepsig. Denn ich war nicht unsicher. Oder ließ mich schnell einschüchtern.
Normalerweise nahm ich jede Situation so, wie sie sich mir stellte, und fühlte mich dabei wie ein weiblicher Ritter auf Drachenjagd. Unbezwingbar.
Keine Kontrolle über die Situation zu haben, gab mir das Gefühl, ein Niemand zu sein, und das irritierte mich gewaltig. Dabei war ich es gewohnt, im Chaos zu schwimmen. Das war mein Element, ich das personifizierte Chaos, aber das hier war etwas ganz anderes. Als würde ich mich in einem gewaltigen Kuhfladen wälzen. Buchstäblich.
Ich räusperte mich und drückte den Rücken durch, um meinen wandelnden Meter in Kampfposition zu bringen.
»Sind Sie sich sicher?« Schmale Lippen, irritierter Blick. Und das wird reichen?
»Ja«, knurrte ich.
Vielsagend schaute die Kassiererin auf die wartenden Menschen, was mich noch eine Spur unruhiger werden ließ, denn ich fühlte mich auf der Stelle in meine Schulzeit zurückversetzt. Als Herr Klingenberg, einer der letzten echten Urgestein-Lehrer, mich vor der versammelten Klasse nach vorn zitiert hatte, damit ich am Whiteboard eine binomische Formel löse.
Oder auch nicht.
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, holte ich aus dem Jutebeutel noch die Rumflasche heraus. Die Kassiererin griff mit verkniffenem Mund zum Mikrofon. »Storno Kasse zwei, Storno Kasse zwei«, tönte ihre Stimme dröhnend durch den Markt, sodass selbst ein schwerhöriger Opa sie verstanden hätte.
Keine zwei Minuten später – mir kam es vor wie eine halbe Ewigkeit – erschien ein Typ mit einem magischen Schlüssel, maß mich mit einem knappen Blick und brachte den gestockten Kassenvorgang wieder ins Rollen. In der Zwischenzeit kramte ich in meinem Geldbeutel den passenden Betrag zusammen.
Fluchend und hocherhobenen Hauptes stampfte ich kurz darauf in die Tiefgarage, wo ich meinen heiß geliebten VW Golf abgestellt hatte, der schon viel zu viele Kilometer auf dem Buckel hatte. Sofort verspürte ich wieder einen Hauch von Besorgnis in mir aufkeimen, während ich den Einkaufsbeutel im Kofferraum verstaute und Mary Poppins einen flüchtigen Blick zuwarf. Die Dachbox hatte mir auch schon grandiose Dienste geleistet, aber so langsam beschlich mich das Gefühl, dass sich unsere gemeinsame Zeit dem Ende zuneigte.
Bevor ich losfuhr, tippte ich eine Nachricht an Anabelle, die Personalleiterin der Cateringfirma Leckerste, für die ich gelegentlich jobbte, um mir mein Studium in München leisten zu können.
Ist demnächst zufällig noch etwas zu vergeben?
Ihre Antwort erfolgte innerhalb weniger Sekunden.
Du hast Glück, Oxana ist heute abgesprungen, ich suche gerade Ersatz.
Wann? Wo?
Beginn 19:00Uhr. Ich schick dir die Informationen per E-Mail. Du kannst sie aber auch online im Portal einsehen.
Super! Danke.
Zufrieden stöpselte ich das Ladekabel ins Handy und ließ mich von der zufälligen Wiedergabe irgendeiner Playlist berieseln. Drivers license von Olivia Rodrigo plärrte aus den Lautsprechern, während ich mich mühelos in den Nachmittagsverkehr von München einfädelte, bis es sich an der Prinzregenten wie üblich staute. Der Motor unter mir surrte nicht mehr ganz so frisch, wirkte abgekämpft, als ob ihn etwas beschäftigte. Ich runzelte die Stirn. Spätestens morgen würde ich mal einen Blick unter die Haube werfen müssen.
Im Gegensatz zu vielen meiner Kommilitonen bekam ich nicht am Anfang des Monats einen Betrag von meinen Eltern aufs Konto überwiesen, damit ich mich aufs Lernen und Feiern konzentrieren konnte. Das sollte nicht heißen, dass ich ihnen ihre Freiheiten nicht gönnte, schließlich konnte niemand etwas für seine familiäre Situation. Für BAföG waren auch wir ein bisschen zu wohlhabend, deswegen jobbte ich regelmäßig, um mir meinen Unterhalt und ein kleines bisschen Lebensstandard zu sichern. Aber selbst das reichte in einer Stadt wie München kaum aus, zumindest nicht, wenn man sich ab und zu ein kleines bisschen Luxus leisten wollte. Auswärts essen. Feiern. Lebensgefühl trinken, wie Brie, meine brasilianische Mitbewohnerin und Freundin, mir neulich vermittelt hatte.
Bei dem Gedanken an sie bewegten sich meine Mundwinkel wie von Schnüren gezogen nach oben. Das war meistens so, wenn mir Brie in den Sinn kam. Gemeinsam mit meiner besten Freundin Joana bewohnten wir eine Dachgeschosswohnung in der Kaiserstraße im Herzen Schwabings.
Die Sonne stand tief und ich öffnete ein wenig das Fenster, ließ die frische Frühlingsluft um meine Nase wirbeln. Für Anfang März war es erstaunlich warm, allein in der letzten Woche hatte ich morgens an drei Tagen Saharastaub von der Windschutzscheibe wischen müssen.
Als ich wenig später den mageren Einkauf in unsere WG schleppte, empfing mich im Flur bereits das lautstarke Geplänkel von Kilian und Anton, die sich über Kultfilme der Achtziger- und Neunzigerjahre stritten. Genau genommen hatten sie damit schon am Samstag angefangen, als wir Jojos Geburtstag im kleinen Kreis nachgefeiert hatten. Ihre Diskussion ließ mich das Erlebnis im Einkaufszentrum vergessen, auch wenn ich spürte, wie das unangenehme Gefühl des Versagens am Rand meines Bewusstseins schabte.
»Sie werden sich in diesem Leben nicht mehr einigen, oder?«, fragte ich Jojo, die in diesem Moment aus dem Bad kam und kopfschüttelnd die Lippen schürzte.
Für einen kurzen Moment gestattete ich mir, sie zu mustern. Inzwischen trug sie ihr blondes Haar schulterlang und hatte sich heute hübsche Locken gestylt, während ihre Augen auf diese ganz bestimmte Weise leuchteten, wie es nur bei Frischverliebten der Fall war. Normalerweise hätte mich das nur ein müdes Lächeln gekostet, denn mit Frischverliebten konnte ich genauso viel anfangen wie mit dem Thema Hochzeit und Kinder. Aber es war Jojo. Und Jojo hatte jede noch so kleine Freude der Welt verdient, nachdem sie sich jahrelang selbst gegeißelt hatte.
Seit sie es vor ein paar Wochen geschafft hatte, über ihren eigenen Schatten zu springen und sich den Dämonen ihrer Vergangenheit zu stellen, war sie wie ausgewechselt. Auch wenn die neue Beziehung zwischen ihr und meinem Bruder einer der Hauptgründe für die Veränderung war und ich mich einfach noch daran gewöhnen musste, freute ich mich abgöttisch für sie.
Wie so oft war sie perfekt geschminkt, aber immer häufiger ließ sie auch mal ihre Sommersprossen durchblitzen, was ihr eine süße Ausstrahlung verlieh.
»Aktuell sind sie bei Lethal Weapon und Beverly Hills Cop angekommen.«
»Ach du Schande. Wer ist wofür?«
»Toni schwört auf Eddie Murphy und Kilian würde sich den Arm für Mel Gibson ausreißen.«
Ausnahmsweise fiel mir darauf kein passender Spruch ein, was ich auf die Nachwirkungen des kleinen Zwischenfalls im Supermarkt schob. Allein bei dem Gedanken daran verknotete sich mein Magen. Großartig. Ich zwang mich, eine gleichgültige Miene aufzusetzen, und zum Glück bemerkte Jojo nicht, dass mich etwas beschäftigte.
Die tiefen Stimmen im Wohnzimmer wurden lauter und energischer. Das klang mittlerweile hitzig.
»Gleich holen sie das Kriegsbeil heraus«, kommentierte ich trocken.
»Ich habe vorsichtshalber die Spülmaschine alleine ausgeräumt. Dann war ich im Bad. Die Diskussion geht schon eine halbe Ewigkeit.«
Ich lachte, was selbst in meinen Ohren ein wenig künstlich klang, und zog mir die Vans von den Füßen, um sie in die Schuhablage zu stellen.
Jojo quittierte meinen kleinen Aufräumeinsatz mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«
»Apropos Wunder: Es grenzt an eines, dass sie sich nicht gegenseitig vor den Fernseher zerren und einen Filmmarathon einlegen, um zu beweisen, dass der jeweils andere im Unrecht ist.«
»Nicht so laut«, murmelte Jojo eindringlich und zupfte an ihrer azurblauen Bluse, die ihre sportliche Figur betonte und an den Ärmeln etwas weiter ausfiel. »Sonst bekomme ich Kilian die nächsten Tage nicht mehr aus der Wohnung, weil er sich irgendetwas beweisen muss. Dabei wollten wir morgen unseren Urlaub buchen.«
Stimmt. Die erste gemeinsame Reise in trauter Zweisamkeit. »Willst du dann eigentlich deinen Gutschein mit dem Fallschirmsprung einlösen? Ihr wollt doch an die Adria, oder?«
Jojo wurde erstaunlich blass um die Nase, reckte jedoch tapfer das Kinn und erinnerte mich damit plötzlich an eine Kriegerprinzessin. »Ich will es zumindest versuchen. Kilian hat mir versprochen, das Base-Jumping eine Zeit lang zurückzustellen. Mal schauen, vielleicht findet er etwas anderes, das nicht ganz so …«, sie schluckte, weil es ihr noch immer sichtlich schwerfiel, es auszusprechen, »halsbrecherisch ist.«
Auch mich ließ die Tatsache nicht kalt, dass mein Bruder einen tödlichen Extremsport zu seinem Lieblingshobby erklärt hatte. Ich nickte. »Wann wollt ihr denn fahren?«
»In zwei Wochen, damit wir rechtzeitig vor Semesterbeginn zurück sind.« Ein seliges Lächeln legte sich um ihren vollen Mund. »Also bitte bring ihn lieber nicht dazu, mit Toni irgendwelche Filme anzuschauen.«
»Ich gebe mein Bestes. Aber du weißt, wie die beiden Sturköpfe sind.«
Jojos veilchenblaue Augen glitzerten spöttisch. »Sagst ausgerechnet du? Liegt wohl auch ein wenig in der Familie, was?«
»Schuldig im Sinne der Anklage.« In einer abwehrenden Geste hob ich die Hände und griff anschließend nach dem Einkaufsbeutel, den ich achtlos auf dem Parkettboden abgestellt hatte.
»Sturköpfe?«, fragte in diesem Augenblick eine helle Stimme vom Ende des Flurs. Brie kam um die Ecke, in Jogginghose und einem weißen Tanktop. Sie trug ihr lockiges Haar offen und ihre goldenen Creolen bewegten sich wie ein Windspiel bei jedem ihrer Schritte. Ein verwirrter Ausdruck lag auf ihren hübschen Zügen.
»Oder Dickschädel«, fügte ich erklärend hinzu, doch sie sah immer noch so aus, als wollte ich ihr den Weg zum Mond erklären. »Beide beharren auf ihrer Meinung und fühlen sich im Recht. Keiner möchte nachgeben.«
»Ah«, machte Brie und grinste. »Dann trifft es Sturköpfe sehr gut.« Sie sah zwischen uns hin und her. »Das gilt übrigens für euch alle.«
Ich lächelte und wir wechselten noch ein paar Sätze miteinander. Wenig später stellte ich in der Küche die Einkaufstüte auf den Tresen und begrüßte die beiden Jungs, die auf dem Sofa hockten und kaum Notiz von mir nahmen. In Antons Anwesenheit wirkte alles ein bisschen enger und kleiner, aber das brachte seine Größe mit sich, während mein Bruder den Raum mit seiner unverwechselbaren Präsenz einnahm. Der Dreitagebart verlieh ihm eine draufgängerische Ausstrahlung und ließ ihn gleichzeitig erwachsener wirken, als er es womöglich im Herzen war. Wobei Jojos Einfluss in den letzten Wochen deutlich dazu beigetragen hatte, Kilian ein bisschen zu erden.
Kurz huschte mein Blick durch den aufgeräumten Wohn-Essbereich, dessen Sauberkeit größtenteils ebenfalls Jojo zu verdanken war. Ich liebte unsere Wohnung mit den Dachschrägen, den gemütlichen Ecken und Nischen, die Jojo mit unzähligen Zimmerpflanzen in verschiedenen Töpfen zugestellt hatte und die der kompletten Bude einen heimeligen Charakter verliehen. Es war mein ganz persönlicher Dschungel. Auch wenn ich mich davor drückte, mich um die Pflanzen zu kümmern, denn andernfalls würden sie mit größter Wahrscheinlichkeit wie Helmut enden, jener verwelkten Palme, die wir meinem Bruder vor ein paar Monaten zur Einweihung geschenkt hatten.
»Karla, wir brauchen dein neutrales Urteil«, tönte Kilian vom Sofa, während ich die letzten Kühlsachen verstaute. Als ich zu den Hitzköpfen hinübersah, bemerkte ich ein unterschwelliges Brodeln in der Luft.
Mein Bruder sah aus, als würde er sich im nächsten Moment auf Toni stürzen, dessen Miene so undurchdringlich war, dass er wie eine Statue wirkte. Lediglich ein Muskel an seinem markanten Kiefer zuckte verdächtig. Inzwischen kannte ich ihn aber gut genug, um zu wissen, dass es unter der kühlen Oberfläche gewaltig schwelte.
Seufzend schloss ich den Kühlschrank und schlenderte mit verschränkten Armen zu den beiden, um mich auf den leeren Couchtisch zwischen ihnen zu setzen, der mein Fliegengewicht mühelos hielt.
»Lethal Weapon oder Beverly Hills Cop? Welche Filmreihe ist deiner Meinung nach besser?«
Sofort hob ich einen Finger. »Lethal Weapon ist nur wegen der Freundschaft zu Murtaugh so genial, das Zusammenspiel der Figuren passt einfach.« Ein zweiter Finger. »Im Gegensatz zu Beverly Hills Cop sind allerdings alle drei Teile wirklich gelungen.« Noch ein Finger. »Eddie Murphy trägt die kompletten Dialoge und die Story, tut mir leid, aber da ist mein Urteil eindeutig: Mein Herz schlägt für Riggs, auch wenn Foley absolut großartig ist.«
»Ich habe nur die Hälfte verstanden«, hörte ich Brie sagen, und als ich flüchtig in Richtung Tür blickte, sah ich meine beiden Freundinnen dort stehen.
»Und ich gar nichts«, erwiderte Jojo, um anschließend stirnrunzelnd auf den halb ausgeräumten Beutel zu schielen. »Sag mal, hast du das Toilettenpapier mitgebracht?«
Sofort schlug meine Stimmung wieder um, denn insgeheim hatte ich gehofft, um dieses Gespräch herumzukommen.
»Oh, hab ich vergessen«, log ich mit Unschuldsmiene.
»Ach, Karla«, seufzte Jojo, als wäre ich ein kleines Kind, das von seiner Mutter getadelt wurde. »Ich hab dich dreimal daran erinnert und dir extra eine Nachricht geschickt.«
Hatte sie in der Tat. Prompt meldete sich das schlechte Gewissen. Ich wurde unruhig, aber ich konnte und wollte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Die XXL-Toilettenpapierpackung und der Rum waren am teuersten gewesen und ja, wahrscheinlich hätte ich auf ein kleines Viererpack umschwenken können, aber dafür hatten mir am Ende schlicht die Nerven gefehlt. Denn das Bedürfnis, den Laden schnellstmöglich hinter mir zu lassen, war so präsent gewesen, dass ich mich nicht hatte dagegen wehren können.
»Das kann doch wirklich jedem passieren. Sorry.« Mühsam rang ich mir einen möglichst lockeren Tonfall ab und zwang meine Mundwinkel, in der erhobenen Position zu verharren.
»Ja, aber dir passiert das dauernd. Immer vergisst du etwas, worum ich dich bitte. Letzte Woche war es das Brot. Davor das Müsli. Man kann sich einfach nicht auf dich verlassen, wenn es um so etwas geht.« Es fehlte nicht viel und sie hätte die Lefzen gehoben und nach mir geschnappt.
»Alles, was ich sage, klingt wie eine kaputte Schallplatte. Aber es ist die Wahrheit. Keine Absicht, entschuldige.«
»Du könntest dich wenigstens einmal ins Zeug legen. Man hat den Eindruck, dir ist das einfach egal.«
Wow, okay.
Normalerweise hielt sich Jojo mit dieser Art von Diskussion im Beisein anderer zurück, aber anscheinend hatten wir einen Punkt erreicht, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Und ich konnte sie durchaus verstehen. Ja, ich war ein Schussel. Ich hinterließ Chaos, wo ich nur hinkam. Auf der anderen Seite würde ich mich für sie vor ein Auto werfen, wenn es sein musste.
Letztendlich spielte es aber keine Rolle. Sie hatte mich mehrfach um etwas gebeten und ich hatte es nicht erledigt, sondern einfach vergeigt. Aus welchen Gründen auch immer.
»Ehrlicherweise hätten wir das Toilettenpapier gut gebrauchen können«, mischte sich Kilian mit einem Schulterzucken ein.
Großartig, fiel der Kerl mir jetzt auch in den Rücken!
Toni räusperte sich. »Ich will ja nichts sagen, aber das wäre durchaus notwendig gewesen.«
»Ich hab’s kapiert. Ihr braucht alle Toilettenpapier. Es tut mir leid, okay? Das war keine verdammte Absicht.« Entnervt riss ich die Arme in die Luft. »Was macht ihr Kerle eigentlich so lange auf dem Klo? Ihr verschwindet jedes Mal für eine geschlagene halbe Stunde. Das ist wie so ein Paarungsritual, nur dass ihr der Kloschüssel den Hof macht.«
Brie, die gerade einen Schluck von ihrem frisch eingegossenen Kaffee genommen hatte, hielt sich hektisch die Hand vor den Mund und kämpfte dagegen an, das Getränk wieder auszuprusten. Auch Toni und Kilian wirkten etwas entspannter. Einzig Jojo verzog keine Miene, sie schien noch immer sauer zu sein.
Das war ihr gutes Recht.
»Was macht ihr eigentlich alle hier?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.
Jojo blickte mich verständnislos an und auch die anderen wirkten etwas verwundert, als wäre meine Frage völlig aus der Luft gegriffen. Dann fiel es mir siedend heiß ein und mein Mund wurde trocken.
Marvel-Filmnacht im Mathäser. Vier Filme am Stück.
Tatsächlich hatte ich es total vergessen.
Bockmist.
»Sag nicht …«, begann Jojo mit einer hochgezogenen Braue, doch ich fiel ihr schnell ins Wort: »Anabelle hat mich gefragt, ob ich heute Abend für Oxana einspringen kann. Ist ein absoluter Notfall.«
Jojo wirkte irritiert und kräuselte verärgert die Lippen. »Aber wir haben seit Wochen die Tickets vorbestellt.«
»Notfall, wie gesagt«, erwiderte ich achselzuckend, meine Zunge fühlte sich wie verknotet an. Lügen war einfach nicht mein Ding, gleichzeitig nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, dass Kilian mich nachdenklich betrachtete. Es war derselbe Blick, den er mir immer zugeworfen hatte, wenn ich unsere Eltern angeflunkert hatte. Die Art von Kommunikation unter Geschwistern, die keiner Worte bedurfte.
»Da findet sich bestimmt jemand anderes«, versuchte es Jojo erneut.
»Wenn sie muss, dann muss sie«, sprang mir Kilian zu meiner Überraschung bei und warf mir einen wissenden Blick zu, aus dem ich Verständnis herauslas.
Doppelter Bockmist.
Mein Bruder ließ mir meine Notlüge, damit ich das Gesicht wahrte, weil er mich viel zu gut kannte. Auch Jojo hätte das normalerweise durchschaut, wenn sie nicht gerade mit ihrem eigenen Leben beschäftigt wäre. Natürlich würde ich auch bei den anderen auf Verständnis stoßen, wenn ich mit der Sprache herausrücken würde, aber das wollte ich nicht. Ich wollte kein Verständnis, kein Wir halten zusammen, ist doch keine große Sache.
Denn für mich war es das. Für mich war es ein Eingeständnis von Schwäche, ich fühlte mich dann wie eine Versagerin, auch wenn ein rationaler Teil von mir ganz genau wusste, wie albern das eigentlich war.
Also dehnte ich die Wahrheit ein bisschen. »Anabelle klang etwas verzweifelt. Sonst hätte ich die Anfrage natürlich ausgeschlagen.«
»Keiner zwingt dich«, murmelte Jojo. Pure Resignation lag in ihrer Stimme und auch ihre Miene war ausnahmsweise ein offenes Buch, denn die Enttäuschung stand ihr auf die Stirn geschrieben, weil ich die Arbeit einem Abend mit der Clique vorzog.
»Gut.« Ich straffte die Schultern.
»Gut«, sagte sie in demselben Tonfall.
Zu meinem Glück begann mein Bruder wieder eine Unterhaltung mit Toni, während er mich noch einmal kurz musterte und in seinen Augen Mitleid schwamm. Anscheinend hatte er nonverbal kapiert, worum es mir eigentlich ging. In der Hinsicht kannte er meine Pinocchio-Nase etwas zu gut, was wahrscheinlich daran lag, dass ich vor Jojo viel zu selten davon Gebrauch machte.
Fantastisch. Dieser Dackelblick würde mich jetzt den ganzen Abend und anschließend in meinen Albträumen verfolgen.
Wortlos und mit gestrafften Schultern verstaute ich die restlichen Einkäufe, die Stimmung war ohnehin im Eimer. Da nutzte es auch nichts, dass Brie versuchte, alles zu retten, indem sie von ihrer kleinen Schwester und den süßen Fortschritten erzählte, was selbst mein unromantisches Herz schneller schlagen ließ.
Wenig später murmelte ich eine halblaute Verabschiedung und wünschte allen viel Spaß im Kino, ehe ich mich in mein Zimmer zurückzog. Bevor ich die Tür hinter mir schloss, nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, wie mein Bruder einen Arm um Jojos Schultern schlang und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Ich wandte mich ihnen noch einmal flüchtig zu. Jojos Miene wirkte verdrießlich, wurde aber weicher, beinahe zärtlich, als er mit dem Zeigefinger an ihre Nasenspitze tippte, einen Mundwinkel schief verzog und sie dann küsste.
Wenigstens wusste ich, dass meine beste Freundin in den besten Händen war. Und Kilian genauso.
Nur irgendwie hatte ich mir den Tag wirklich anders vorgestellt.
Kapitel 2
Kurze Zeit später stieg ich etwas atemlos und noch immer innerlich brodelnd in mein Auto. Ich schmiss den Rucksack achtlos auf den Beifahrersitz, drehte den Schlüssel im Zündschloss – und erstarrte.
Ratsch. Ratsch. Ratsch.
Das quietschende Geräusch, das mir anstelle eines aufheulenden Motors entgegenschlug, ließ meinen Magen in die Kniekehlen sacken. Ach, Kacke. Nicht auch das noch. Aber bei meinem heutigen Glück war das bestimmt erst die Spitze des Eisbergs.
Zögerlich versuchte ich es ein weiteres Mal – und er sprang ohne Probleme an. Erleichterung durchflutete mich. Wahrscheinlich sollte ich bald mal wieder zur Kontrolle.
Dann stutzte ich, als ich die leichte Schräglage registrierte. Das Auto stand nicht nur schief, es fühlte sich an, als würde ich mit der hinteren rechten Hälfte den Bordstein küssen. Nein. Ich ahnte, was das bedeutete, wagte aber nicht, direkt auszusteigen und nachzusehen.
Ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet heute.
Fluchend ließ ich meine Stirn gegen das kühle Lenkrad sinken, umklammerte es fest mit beiden Händen und atmete mehrfach tief durch. Mit einem schnellen Blick aufs Handy vergewisserte ich mich, dass ich ohnehin zu spät dran war.
Wie war das mit der Kehrseite des Schicksals? Inzwischen war ich davon überzeugt, dass ich mir irgendeinen Karma-Mist eingefangen hatte. Das konnte ja nur ein schlechter Witz auf meine Kosten sein!
Draußen checkte ich den Hinterreifen, der so platt wie ein Pfannkuchen auf dem Asphalt klebte. Natürlich. Frustriert schnappte ich mir meine Sachen, schloss den alten VW ab und stampfte in Richtung U-Bahn, vorbei am Chochinchina – eines meiner liebsten vietnamesischen Restaurants der Stadt, aber leider auch eines der teuersten –, wo gerade das abendliche Schaulaufen begonnen hatte. Auf der Anzeige an der Münchner Freiheit stand eine Minute, bis die U6 in Richtung Großhadern einfuhr. Also sprintete ich die Stufen zur Haltestelle hinunter, vorbei an Feierwütigen, Feierabendpendlern und Großfamilien, und erwischte in allerletzter Sekunde die Bahn, bevor sich die Türen schlossen. Außer Atem suchte ich mir einen freien Platz, lehnte den Kopf gegen die Stütze und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Die kleine Diskussion mit Joana hing mir noch ein wenig in den Knochen. Wie ein leises Bergecho, das nach und nach verklang. Ich hasste es, mich mit meiner besten Freundin in die Haare zu kriegen. Dabei war es eigentlich keine große Sache, zumindest rein objektiv betrachtet. Allerdings würde mir Tante Francesca wahrscheinlich widersprechen. Von wegen la caduta costante logora la pietra – der stete Tropfen höhlt den Stein.
»Fahrausweise bitte.«
Die tiefe Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Plötzliche Hitze überfiel mich vom Scheitel bis in die Zehenspitzen, begleitet von einem kurzen, heftigen Stich ins Herz. Als ich mich blinzelnd umschaute, marschierten drei Kontrolleure in Zivil durch die Gänge, mit so zufriedenen Gesichtern, als hätten sie Gerds Soufflé-Schälchen ausgeleckt.
Dreifacher Bockmist.
Meine Finger verselbstständigten sich, machten sich auf die Suche nach meinem Geldbeutel, auch wenn ich wusste, dass es ohnehin zwecklos war. Ich hatte in der Hektik vergessen, eine Fahrkarte zu kaufen, weil ich meistens ohnehin mit dem Auto unterwegs war. Und mein Semesterticket hatte ich im letzten Halbjahr nicht verlängert, da ich die öffentlichen Verkehrsmittel so selten nutzte.
Als die dunkelhaarige Frau mit der Jeansjacke – warum waren es eigentlich immer Jeansjacken? – bei mir ankam, hatte ich meinen Versuch bereits aufgegeben. Resignation erfüllte mich, während ich meinen Namen und die Adresse herunterrasselte und ihr meinen Personalausweis unter die Nase hielt.
An der nächsten Station stieg ich aus, aber ein kleines bisschen Glück hatte ich trotzdem, denn es war meine Haltestelle.
Die Location befand sich an der Donnersbergerbrücke, ein typisches Industriegebäude: dunkel, voll verglast, unzählige Stockwerke. Ich checkte Google Maps und eilte von der U-Bahn-Haltestelle zum Eingang, wo ich einen weißen Kastenwagen mit dem Leckerste-Logo parken sah. Als ich schließlich völlig verschwitzt am Eingang ankam, erwartete mich bereits Anabelle. Sie steckte in einem hübschen marineblauen Kostüm, hatte ihr dunkelblondes Haar ordentlich bis auf die Schultern frisiert und studierte einige Unterlagen, die an ein Klemmbrett gepinnt waren. Sie schien meine Ankunft zu spüren, denn sie hob den Kopf. In ihrem Blick lag eine Mischung aus Erleichterung und Verärgerung, was höchstwahrscheinlich auf meine Verspätung zurückzuführen war.
»’tschuldigung«, murmelte ich außer Puste, sobald ich vor ihr zum Stehen gekommen war, und verfluchte meine nicht vorhandene Ausdauer, weil sich nach einer Strecke von fünfhundert Metern bereits der Schweiß in meinem Nacken sammelte.
»Ich dachte schon, du tauchst gar nicht mehr auf.« Ein leiser Vorwurf schwang in ihren Worten mit und ich zog ertappt die Schultern hoch.
»War keine Absicht.«
»Ich hatte dir gerade schon geschrieben.«
Mist. Das war mir wohl entgangen.
»Mein Auto hat einen Platten und ich musste auf die Öffentlichen umsatteln, deswegen …«
In diesem Augenblick wurde mir bewusst, wie sehr sich meine Ausrede nach mein Hund hat die Hausaufgaben gefressen anhörte, also klappte ich den Mund wieder zu und ließ den Satz unbeendet.
Anabelles Augenbrauen blieben zusammengezogen und ich versuchte, mich daran zu erinnern, wann ich sie jemals so gesehen hatte. Noch nie? Yep. Heute war eindeutig nicht mein Tag.
»Wie dem auch sei«, sagte sie seufzend. »Die Küche findest du hinter der Garderobe, erste Tür links. Dahinter ist eine Kammer mit Stauraum, da kannst du deine Sachen ablegen und dich umziehen. Elyas hat heute die Teamleitung, Einweisung war schon. Aber du kannst dir alle Infos von ihm abholen.«
Bei der Erwähnung von Elyas schlug mein Herz automatisch schneller, als hätte sich der Beat eines Songs erhöht.
Schon viele hatten es bei ihm versucht und alle waren gescheitert. Und da zählte ich einen sehr betrunkenen Abend nach der Messe in Barcelona letztes Jahr nicht dazu. Oder vielleicht doch. Sein distanziertes Lächeln und das freundschaftliche Schulterklopfen ließen mich immer noch vor Fremdscham zusammenzucken, was mindestens ein Meme wert gewesen wäre.
Vermutlich genoss Elyas die weibliche – und manchmal auch männliche – Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde; aber im Gegensatz zu den meisten meiner Kolleginnen malte ich mir nicht sabbernd das Traumhaus im Grünen irgendwo im Münchner Umland mit ihm aus, sondern Dinge, für die sich nonna mindestens dreimal bekreuzigt hätte.
Also nickte ich brav. »Verstanden.«
Endlich kehrte ein schmales Lächeln auf Anabelles Lippen zurück, das jedoch angestrengt wirkte. Irgendwie konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, heute alle zu enttäuschen. »Viel Spaß trotzdem. Und wenn was ist, du findest mich bis zweiundzwanzig Uhr irgendwo auf dem Gelände.«
»Danke dir.«
Wie angekündigt, befand sich eine kleine Abstellkammer unmittelbar neben der Küche, wo Till und einer der anderen Köche gerade mit dem Anrichten der warmen Gläschen beschäftigt waren. Die würzige Duftnote mit dem Geruch von gebratenen Zwiebeln und Knoblauch ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich traf auch ein paar Logistiker und Servicekräfte, nur Elyas konnte ich nirgends ausmachen. Dafür entdeckte ich zwei Bars, die jeweils an den Kopfseiten des großen Hauptsaals aufgebaut worden waren. In den verwinkelten Sitznischen dazwischen hatten sich bereits die ersten Gäste niedergelassen. Eine Coverband spielte ruhige Musik.
Verstohlen blickte ich mich im Foyer um. Die Lichter waren gedimmt, sodass bereits eine abendliche Atmosphäre herrschte. Die indirekte Beleuchtung in einem kühlen Blauton fiel auf Wände, meterhohe Pflanzen und mit Hussen bestückte Stehtische. Ein paar der anderen Angestellten von Leckerste wuselten bereits in grauen Hemden, schwarzen Schürzen und mit voll beladenen Tabletts durch den Raum, um Aperitifs oder von Till gezauberte Kanapees zu verteilen, die himmlisch rochen. Ich erkannte Pete an der vorderen Bar, Ulla und auch Thao, die erst das dritte Mal mit von der Partie war. Von Elyas fehlte weiterhin jede Spur.
»Suchst du jemand Bestimmtes?«, fragte mich Pete, als ich bei ihm ankam und mich gegen den Tresen lehnte, an dem es noch relativ ruhig war. Wahrscheinlich, weil alle auf eine offizielle Ansprache warteten, bevor die Party richtig losging.
»Elyas. Ich wollte ihn nach dem Ablauf fragen. Also, was ist das heute? Parfüm-Launch? Firmenfeier?«
Jetzt wirkte Pete ehrlich überrascht. Mit einer beiläufigen Geste strich er sich das dunkelblonde Haar aus der Stirn, was meine Aufmerksamkeit auf seine hellen Augen lenkte. »Wie? Das weißt du nicht?«
»Nein, sollte ich denn?«
»Gerade du.«
»Gerade ich?«, echote ich.
»Der Peter-Hartl-Skandal?« Ich musste wohl ziemlich bedröppelt aus der Wäsche schauen, denn Pete fügte mit einem Schmunzeln hinzu, während er sich beinahe liebevoll um das Reinigen der Kaffeemaschine kümmerte: »Seine Cateringfirma muss sich wegen Steuerhinterziehung verantworten und wird deswegen das Catering für diesen einen deutschen Rennstall nicht mehr übernehmen.«
Oh. Der Peter Hartl. Dann erkannte ich den Zusammenhang, den Pete zu mir herstellen wollte. Mein Herz schlug plötzlich sehr schnell und heftig in meiner Brust – Trommelschläge, nur dass sie sich tonnenschwer anfühlten. Dann spürte ich ein ahnungsvolles Ziehen in meinem Bauch und meine Mundhöhle verwandelte sich in eine Staubwüste. War das etwa … ein schmaler Lichtstreifen am Horizont? Ich wagte es nicht zu hoffen.
»Moment. Sagst du mir damit gerade, was ich denke, das du mir sagst?«
»Was denkst du denn?«, fragte Pete augenzwinkernd, die Sängerin wechselte das Lied und die sanften Klänge drangen wie entrückt an mein Ohr.
»Ist das heute so etwas wie ein Probelauf? Bewirbt sich Leckerste anstelle von Hartl-Catering?«
Er neigte den Kopf und schenkte mir ein schiefes Grinsen. »Selbst wenn ich wollte, dürfte ich nicht darüber reden. Du kannst dir aber deinen Teil zusammenreimen.«
»Ach, komm schon«, sagte ich fast schon panisch. Ich brauchte das heute. Den kleinen Hoffnungsschimmer, der aus einem beschissenen Tag einen guten machte. Wie das Frosting eines missglückten Naked Cakes, den man mit viel Mühe noch irgendwie retten konnte.
»Du kannst mich doch nicht beiläufig mit so einer Information füttern und dann hängen lassen!«
»Du weißt …«, begann er, schloss den Mund aber wieder, während sein Blick zu einer Person schräg hinter mir sprang.
»Da bist du.«
Wie aus dem Nichts tauchte Elyas neben mir auf und ich biss mir vor Enttäuschung auf die Zunge, denn jetzt war Petes Gossipstunde endgültig vorbei. Als ich mich nach links wandte, fiel mir auf, wie abgekämpft und müde Elyas wirkte – dunkle Augenringe, ein harter Zug um den Mund –, obwohl er trotzdem einen höchst professionellen Eindruck machte. Wie immer.
Keine Ahnung, woran das lag, aber ich hatte ein Faible für gut gekleidete Männer. Er trug graue Chinos und ein weißes Hemd, das an den Ärmeln hochgekrempelt war und seine natürlich gebräunte Haut betonte. Sein Gesicht war länglich und schmal, aber trotzdem unverwechselbar attraktiv. Allerdings war es vielmehr diese Ernsthaftigkeit, die Art, wie er seine Arbeit priorisierte, was mich irgendwie anmachte. Ich mochte es einfach, wenn Typen wussten, was sie wollten.
»Hey«, erwiderte ich betont locker.
»Du bist etwas spät dran.« Ein schmaler Schatten huschte über seine Züge. »Aber danke … dass du für Oxana einspringst.«
Täuschte ich mich oder wurde Elyas rot?
»Kein Thema, das mache ich gern. Also, was genau steht an, Chef?«
»Hauptsächlich ein Flying Buffet, das zwei Stunden nach dem Willkommensdrink abgeräumt wird. Wir starten damit in fünfzehn Minuten. Ich habe einen Lageplan an den Kücheneingang gehängt, bis einundzwanzig Uhr gibt es auch warme Speisen. Danach freie Getränkewahl und ein Mitternachtsbüfett, das ihr eine Viertelstunde vor zwölf anrichten werdet.«
»Verstanden.«
»Gut. Viel Erfolg heute. Ich bin bis zum Abbau da, falls etwas ist.« Mit diesen Worten nickte er mir knapp zu und rauschte davon, wobei mir bei jeder seiner Bewegungen die Abgeschlagenheit auffiel. Schwerfällige Schritte, hängende Schultern. Als ob ihn etwas schwer beschäftigte.
Seufzend drehte ich mich zu Pete um, der in eine rege Unterhaltung mit einer hübschen Brünetten in einem schwarzen Cocktailkleid mit Tausenden Pailletten vertieft war. Also überließ ich ihn seinem Glück und steuerte die Küche an, um mich dort nützlich zu machen. Die meisten Gerichte waren längst vorbereitet worden und es duftete köstlich nach italienischen Gewürzen und angebratenem Gemüse, sodass mir das Wasser im Mund zusammenlief. In einem Backofen roch es viel zu verdächtig nach pão de queijo – wahrscheinlich nach Bries angepasstem Rezept –, jenen brasilianischen Käsebällchen, die mich wahrscheinlich im Schlaf um den Verstand bringen würden. Vielleicht hatte ich Glück und für mich sprang ein Bällchen ab.
Insgesamt herrschte reger Betrieb, mehrere neue Mädels in Leckerste-Uniform schwirrten umher, denn ich kannte keine von ihnen. Lächelnd stellte ich mich vor, auch wenn ich nicht wirklich bei der Sache war.
»Guten Abend«, sagte ich zu Till, der kurze Zeit später mit dem Hintern die Tür aufschob, in beiden Händen eine schwarze, verschlossene Transportkiste schleppte und mich ansah, als wären mir plötzlich zehn Köpfe gewachsen. Doch dann erhellte sich seine Miene, während er alles auf die Edelstahlarbeitsplatte neben drei weiteren Kisten abstellte.
Wenigstens einer, der sich freute, mich zu sehen.
»Ah, Karla. Sag mal, sprichst du heute noch mit Gabriella?«
Okay, das erklärte seine freundliche Miene. Fast alle liebten Brie und selbst Tills kurze Zündschnur war in ihrer Gegenwart um einiges länger geworden. Kurz verspürte ich so etwas wie einen kleinen Stich, den ich jedoch wohlweislich ignorierte. »Eventuell. Vielleicht auch nicht, sie ist bis morgen früh im Kino.«
»Bis morgen früh?«, fragte er irritiert.
»Lange Filmnacht.«
»Ach so, verstehe.« Till rieb sich über die Glatze und wirkte auf einmal wieder genauso mürrisch und grüblerisch wie sonst auch.
»Soll ich ihr was ausrichten?«, hakte ich nach.
»Nein, nein, dann schreibe ich ihr einfach.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und plötzlich fühlte ich mich in einem Raum voller Menschen, die alle eine Beschäftigung zu haben schienen, seltsam verloren. Als hätte man mich unsichtbar gemacht.
Also tat ich das, was ich am besten konnte, wenn es mir nicht gut ging: Ich lenkte mich ab. Was für Joana die Joggingrunden und für Brie die Kochextasen waren, war für mich körperliche oder geistige Arbeit, um mich auf andere Gedanken zu bringen: an einem Sonntag um acht Uhr im Historicum einen der heiß begehrten Plätze sichern, weil es sich dort am besten lernte; bis in die frühen Morgenstunden Gesetzestexte pauken; frische Pasta machen oder unsere WG-Küche in ein Backschlachtfeld verwandeln. Früher, als Jugendliche, war es die Werkstatt von Papa gewesen. Der Geruch von Motoröl, heruntergefahrenem Gummi, den kratzigen Overall auf der Haut, den kühlen Griff des Drehmomentschlüssels zwischen den Fingern. Ganz egal, nur Stillstand war eine Katastrophe für mich.
In den nächsten zwei Stunden war ich also damit beschäftigt, Häppchen herumzutragen und leere Minigläschen von den Tischen einzusammeln. Aus den Boxen drang die Musik der Coverband, die genau in der Mitte des großen Saals spielte, und der Beat vibrierte in meinen Fingerspitzen. Wortfetzen drangen an mein Ohr, immer wieder schaute ich mich suchend um, in der Hoffnung, womöglich jemanden aus der Motorsport-Welt zu entdecken, was meine Vermutung für den heutigen Cateringeinsatz nach Petes Bemerkung bestätigen würde. Doch ich hatte Pech. Mir fiel kein bekanntes Gesicht auf, niemand, den ich schon mal über einen Bildschirm hatte flimmern sehen. Aber durch die Arbeit meines Papas wusste ich, dass die meisten Strippenzieher nicht die Personen waren, die man kannte.
Wahrscheinlich wäre es auch zu einfach gewesen.
Als ich schließlich eine kurze Pause machte, spürte ich bereits die ersten Erschöpfungserscheinungen meiner Muskeln, die vorzeitig protestierten.
Mit einem Blick auf meine abgetragenen, schlichten Schuhe wurde mir auch klar, weshalb. Gedanklich machte ich mir eine Notiz, denn ich würde mir spätestens mit der neuen Gehaltsüberweisung dringend neue Arbeitsschuhe besorgen müssen. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie geschwollen sich meine Fußballen anfühlen würden, sobald ich sie aus ihrem Gefängnis entließ. Dann fiel mir ein, dass das vielleicht noch einen weiteren Monat warten musste, schließlich hatte ich keine Ahnung, wie teuer der neue Reifen werden würde.
Meine Hände wurden plötzlich taub, in meinen Ohren dröhnte es. Nicht nachdenken, mahnte ich mich. Das wird schon.
Seufzend griff ich nach der Sprudelflasche, die ich in einem der Abstellregale deponiert und mit meinem Namen versehen hatte.
»So kenne ich dich gar nicht«, erklang Petes Stimme von der Seite, der mit einer großen Kiste voller frisch gespülter Gläser neben mir stehen geblieben war. Eine Falte grub sich in seine Stirn.
»Was meinst du?«
»Du bist so still heute.«
Mit dem Kinn deutete ich auf die Kiste in seinen Händen. »Und du machst neuerdings doppelte Arbeit?«, wechselte ich abrupt das Thema.
»Einer der Logistiker ist krank und wir brauchen dringend Nachschub. Die Stimmung ist viel zu gut. Aber netter Versuch.«
»Mhmm …«, murmelte ich, sagte dann aber nichts mehr, sondern schraubte die Flasche zu, um sie zurückzustellen.
Petes Augenbrauen schossen in die Höhe, Interesse blitzte in seinen dunkelblauen Augen auf, dann bog er seinen schlaksigen Körper zu mir, sodass mich sein maskuliner Duft umfing. »Bist du krank? Hast du Fieber?«
»Heute ist einfach nicht mein Tag.«
»Womit kann ich dich aufmuntern?«, fragte er augenzwinkernd.
»Versorg mich mit ein paar interessanten Infos«, stieg ich auf seinen Tonfall ein, in der Hoffnung, ihm die nötigen Hinweise auf eine mögliche Kooperation mit einem Rennstall zu entlocken. Einen Versuch war es wert.
»Oxana ist schwanger.«
Vor Verblüffung blieb mir der Mund offen stehen, während Pete das Gewicht verlagerte und mir sein jungenhaftes Grinsen schenkte. Das war nicht die Neuigkeit, die ich mir eigentlich erhofft hatte.
»Wie, das weißt du nicht? Du bist doch sonst unsere Gossip-Queen.«
»Oxana ist schwanger?«, wiederholte ich perplex.
»Jupp. Und wie es aussieht, ist wohl niemand Geringeres als Elyas der Vater.«
Eine Welle der Überraschung erfasste mich ohne Vorwarnung. Heftig und unvermittelt.
»Im Ernst?« In meinem Kopf beschwor ich vergangene Bilder und Szenen herauf und versuchte, mich an jede Geste, jeden Blick zwischen den beiden zu erinnern. Dabei fiel mir auch das Meme-würdige Schulterklopfen ein, das Elyas mir letztes Jahr geschenkt hatte.
»Wow.« Im Moment war ich außerstande, etwas Geistreiches hervorzubringen.
»Genug abgelenkt?«
Angestrengt rang ich mir ein Lächeln ab und straffte die Schultern. »Klar. Danke.«
»Dann auf in die Schlacht«, sagte Pete.
Keine zwei Sekunden später war er verschwunden – und ich mit meinen Gedanken und einem absolut bescheuerten Gefühl in der Brust allein. Mein Herz pochte auf einmal viel zu schnell, aber weil ich nicht der Typ war, der alles bis ins kleinste Detail sezierte und auseinandernahm, machte ich mich einfach erneut an die Arbeit.
Schon bald war ich wieder abgelenkt, versank zwischen perfekt sitzenden Anzügen, tief ausgeschnittenen Abendroben und Unterhaltungen, die in halben Sätzen endeten, weil ich bereits zum nächsten Tisch gelaufen war. Die Sängerin der Coverband gab einen Song von Adele zum Besten, den ich wahrscheinlich nicht einmal betrunken an einem Karoke-Abend im Molly Malone’s angestimmt hätte.
»Karla?«
Als ich mich umdrehte, kam Elyas mit langen Schritten näher. Er hatte eine geschäftsmäßige Miene aufgesetzt, doch mein einziger Gedanke war: Du wirst bald Papa?
Der Satz echote so lange in meinem Kopf, bis die Bedeutung zu mir durchsickerte. Das war so kilometerweit von meiner Lebenswirklichkeit entfernt, dass mir ernsthaft die Worte fehlten.
»In zwanzig Minuten soll eine Rede gehalten werden. Würdest du mit ein paar vollen Tabletts herumgehen, damit im Anschluss darauf angestoßen werden kann? Ich habe auch der Bar und den anderen Servicekräften Bescheid gegeben, dann sollte das so weit passen.«
Meine Antwort war ein abgehacktes Nicken, was jedoch nicht weiter auffiel, denn Elyas war bereits wieder um die nächste Ecke gebogen. Also ging ich zur Bar und ließ mir von Pete hübsche halb volle Sektgläser geben, um anschließend meine Runden zu drehen.
Es war eine Kunst für sich, die Balance des fehlenden Gewichts auszugleichen, vor allem, wenn es eine unvermittelte Attacke war. An der Art, wie jemand ein Sektglas vom Tablett nahm, konnte ich meistens erkennen, ob die Person schon mal in meinen Schuhen gesteckt hatte oder ich einfach weiterhin unsichtbar blieb. Die Uniform machte mich meistens unsichtbar.
Normalerweise hatte ich keine Probleme damit, wenn jemand von hinten oder aus dem Augenwinkel zugriff und mir eines der Gläser vom Tablett riss. Doch heute war es anders. Heute war alles anders.
»Danke schön«, zwitscherte eine weibliche Stimme direkt an meinem Ohr, und wie in einem dieser dämlichen Zeitlupenmomente sah ich dabei zu, wie sich zwei Hände nach den Sektgläsern ganz links ausstreckten. Eine einzige, schnelle Bewegung. Genauso ruckartig wie das Abziehen eines Warmwachsstreifens.
Und für mich genauso schmerzhaft.
Ich geriet ins Straucheln, das ganze Tablett wackelte. Panisch versuchte ich, den Unfall zu verhindern, doch es war zu spät. Der Schwung war zu groß, auch als ich die zweite Hand zu Hilfe nahm. Die ersten Gläser kippten.
Platsch. Platsch. Platsch.
Der entsetzte Aufschrei der Frau neben mir klingelte in meinen Ohren, während sie einen Satz nach hinten machte. Wie Dominosteine fielen die Gläser auf den Betonboden, zersprangen wie geplatzte Träume. Ein Scherbenregen – und ich stand wie gelähmt mittendrin.
Das ist nicht real. Das ist ein Traum. Das muss ein Traum sein.
Aber das war es selbstverständlich nicht.
Ernüchtert biss ich mir auf die Unterlippe, den Blick auf das heillose Chaos gesenkt, das ich angerichtet hatte. Dann ging ich zitternd in die Knie. Alles zitterte. Meine Hände. Mein Herz.
Als ich nach den nassen Scherben griff, spürte ich einen stechenden Schmerz durch meine Fingerkuppen zucken und riss die Hand zurück. Blut tropfte aus frischen Wunden an Zeige- und Mittelfinger, die sich beide an der Kante geschnitten hatten. Natürlich.
Stöhnend presste ich sie zusammen, um die Blutung zu stoppen, und sah mich nach einer Serviette auf den Stehtischen um.
»Halb so wild. Kann jedem passieren«, hörte ich Anabelle sagen. Schon war sie neben mir in die Hocke gegangen und begann, die großen Scherben einzusammeln. »Ich mach das. Versorg du lieber die Wunden.«
»Halb so wild?« Hysterie kitzelte in meiner Kehle, wollte hinaus, sich breitmachen, und ich konnte hören, wie schrill meine Stimme klang. »Halb so wild? Ich bin heute eine wandelnde Katastrophe!«
Anabelle warf mir einen mitfühlenden Blick zu und klappte den Mund auf, wahrscheinlich um mir zu widersprechen, aber ich schnitt ihr einfach das Wort ab: »Mehr als sonst! Eine wandelnde Vollkatastrophe. Heute geht alles, absolut alles schief und das Schlimmste ist, dass ich noch dazu mein Mojo verloren habe. Wenn selbst die Arbeit mich nicht mehr vor dem Chaos retten kann …«
Normalerweise nahm ich solche Situationen mit Humor, aber irgendetwas in mir war in Schieflage geraten. Meine Kehle schnürte sich zu, ich fühlte einen gewaltigen Kloß im Hals und presste schockiert die Lippen aufeinander. Die Tränen konnte ich trotzdem nicht zurückhalten.
Zehnfacher Bockmist!
Ich war doch sonst nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, aber anscheinend hatte jeder einen Siedepunkt und bei mir war es nun so weit.
»Geh. Wir machen das.« Hinter Anabelle war die Leckerste-Armee aufgetaucht und ihre Mienen waren alle voller Mitleid.
Argh!
»Ich brauche eine Pause«, würgte ich hervor. Dann stolperte ich in Richtung Küche, machte mir zwei Pflaster um die Finger und ignorierte jeden Blick.
Eine Pause. Wahrscheinlich das einzig Vernünftige, was mir jetzt noch helfen konnte.
Kapitel 3
Mit einem tiefen Atemzug trank ich die kühle Luft des Märzabends, spürte, wie ein Frösteln meine Arme überzog, und seufzte leise. Mein Schädel brummte von all den lauten Gesprächsfetzen, dem losen Stimmengewirr und der Hitze, die sich in der Haupthalle gesammelt hatte. Auch meine Augen brannten, lechzten nach einer Pause von den Kontaktlinsen. Inzwischen fühlten sich meine Fußsohlen an, als hätte man sie mit einem Presslufthammer bearbeitet, meine Nackenmuskulatur spannte, genau wie meine Mundwinkel, die sich bis vor ein paar Minuten in einem Dauerlächeln verkeilt hatten. Ich ließ meinen Kopf kreisen, dehnte den Hals von der einen auf die andere Seite und stieß abermals stöhnend die Luft aus.
Nach und nach klang die Aufregung in mir ab, das Adrenalin verließ langsam meinen Körper. Auch die Tränen waren längst versiegt, nur die Schnitte pochten noch ein wenig, aber selbst das ließ allmählich nach. Ich hasste es so sehr, Schwäche zu zeigen, bemitleidet zu werden. Mein ganz persönliches rotes Tuch. Und genau davon hatte ich gerade eine volle Ladung abbekommen, was mich jetzt noch einmal wütend schnauben ließ.
»Scheißabend?«
Eine Stimme wie rauer Sand rieselte in mein Ohr, und als ich nach rechts sah, machte ich die dunkle Silhouette eines jungen Mannes aus, der im Schatten des Gebäudes lehnte. Zumindest hörte er sich jung an. Allerdings blieb sein Gesicht in der Dunkelheit verborgen, denn die Laterne war an der Stelle ausgefallen, doch seine Stimme … seine Stimme war wie das Brechen von Wellen an einem verregneten Herbsttag.
»Wie kommst du darauf?« Ich war erstaunt, wie selbstsicher ich klang, obwohl mein Selbstbewusstsein einen gehörigen Knacks abbekommen hatte.
»Weil du ständig vor dich hin knurrst«, erwiderte der Fremde, ich konnte das Lächeln in seiner Antwort hören. »Und leise fluchst. Oder wahlweise sehr genervt seufzt.«
»Ja, der Abend war das beschissene i-Tüpfelchen am Ende des perfekten Scheißtages.«
Er lachte dröhnend auf und das Geräusch fuhr mir direkt in die Magengrube.
Hoppla.
Interessiert wandte ich mich ganz dem Typen zu, der so unvermittelt aufgetaucht war. Vermutlich stand er auch schon die ganze Zeit hier draußen und ich hatte ihn nur nicht bemerkt, weil ich so sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen war. Ich war nur einige Meter von ihm entfernt, sodass auch er mich nicht richtig erkennen konnte. Oder vielleicht doch? Ich war mir nicht sicher.
Obwohl ich sein Gesicht nicht sah, spürte ich dennoch seine Musterung, seinen Blick auf meiner Haut. Wie er mich betrachtete, meine Erscheinung unter die Lupe nahm, während ich für einen Moment vergaß zu atmen, weil sich das auf einmal sehr intim anfühlte. Wie eine zufällige Berührung, wenn alle Sinne sich nur darauf fokussierten.
»Und was ist mit dir?«, fragte ich, als ich meine Worte wiedergefunden hatte. »Keine Lust auf die Party?«
Er zögerte kurz. »Ehrlich gesagt, nein. Ist nicht meine Welt. Nicht wirklich zumindest.«
»Gutes Essen und freier Alkohol? Stimmt, das wäre auch nicht meine Welt. Nicht wirklich zumindest.« Ich sagte es nicht bissig, sondern mit einem Hauch von Belustigung.
Trotz der Dunkelheit nahm ich schemenhaft wahr, wie er mit den Schultern zuckte. »Nicht, wenn es ein verpflichtender Abend ist und man eigentlich lieber etwas anderes machen würde«, antwortete er kryptisch. »Und du? Was treibt dich nach draußen?«
»Ich muss einfach den Kopf frei kriegen. Wie schon gesagt, heute war nicht mein Tag. Aber manchmal hilft frische Luft, Krönchen richten und weiter geht’s.«
Da war wieder dieses tiefe, heisere Lachen und ich ertappte mich dabei, wie ich mich dem Geräusch entgegenlehnte. Als könnte sich auch meine Laune verbessern, wenn ich ihm nur nah genug war. Ein Heizstrahler aus positiver Energie.
Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie erstaunlich leicht es mir fiel, mich dem Fremden gegenüber zu öffnen. Wahrscheinlich lag es daran, dass wir uns nicht direkt sahen, sondern er einfach nur eine Stimme neben mir war, gesichtslos und ohne Identität. Das machte es irgendwie … einfacher. Als ob wir uns in einem virtuellen Chat befänden.
»Was war denn das perfekte Scheiß-I, wenn der Abend dein beschissenes i-Tüpfelchen war?«, wollte er nun von mir wissen.
Meine Mundwinkel zuckten nach oben. Ich mochte es, wenn jemand Humor besaß. Und das war bei ihm offensichtlich der Fall.
»Wieso fragst du?«
»Weil ich meinen Hintern darauf verwetten würde, dass mein heutiges I um einiges eindrucksvoller ist.«
»Niemals.« Jetzt war ich diejenige, die auflachte.
»Wollen wir wetten?«
Verwundert hob ich die Brauen und kreuzte die Arme. »Was ist dein Einsatz?«
»Hast du einen Wunsch?«
»Einen neuen Hinterreifen«, rutschte es mir prompt mit einem Seufzen heraus, bevor ich auch nur einen Moment darüber nachdenken konnte.
Mein Gegenüber schwieg für einige Sekunden, als würde er ernsthaft überlegen. »Deal«, sagte er dann.
Mein Herz wummerte auf einmal lautstark in meiner Brust. Deal? Einfach so?
»Das war bloß ein Scherz«, presste ich hervor.
»Es wäre kein Problem.«
Noch schlimmer! Unter keinen Umständen würde ich mir von einem fremden Kerl einen neuen Reifen bezahlen lassen, eher würde ich in der Hölle schmoren, als meinen Stolz dermaßen über Bord zu werfen.
Doch bevor ich protestieren konnte, fügte er schmunzelnd hinzu: »Jetzt warte erst einmal ab, vielleicht war mein Tag ja auch eine größere Katastrophe.«
»Also wenn ich gewinne, bekomme ich meinen Reifen. Und was ist dein Preis, falls dein Tag tatsächlich schlimmer war?«
»Dass du mit mir ausgehst.«
Ich erstarrte. »Woher willst du wissen, dass ich das nicht auch so tun würde?«
»Irgendetwas sagt mir, dass du dich normalerweise nicht darauf einlassen würdest.«
Bei seinem neckischen Unterton und dem singenden Klang seiner tiefen Stimme breitete sich ein Kribbeln von meinen Haarwurzeln bis in die Zehenspitzen aus. Plötzlich verspürte ich den dringenden Wunsch, ihn doch sehen zu können, um herauszufinden, ob das Gesicht in meiner Vorstellung zu ihm passte. Zu der Art, wie er sprach, wie er mit Worten jonglierte.
»Okay.« Ich schluckte. »Dann leg die Karten mal auf den Tisch.«
»Du zuerst«, forderte er sanft.
»Du verlierst sowieso.«
»Das werden wir gleich sehen«, antwortete er.
Ich holte tief Luft, weil mich das Eingeständnis so viel kostete.
Alles. Es kostete mich alles.
Verdammt, wie ich es hasste, meine Achillesferse zu offenbaren. Ich hasste nichts mehr als das. Aber hier waren wir, auf dem Hinterhof des Industriegebäudes kurz nach Mitternacht, eingehüllt in die kühle Märznacht, und entblößten uns bis auf die Knochen voreinander.
»Ich bin pleite.« Es war raus. Der erste Satz. »Komplett. So sehr, dass ich heute nicht einmal den Einkauf zahlen konnte, weil mein Konto blank war. Also habe ich das Toilettenpapier und den Alkohol zurückgegeben, aber auf das Toilettenpapier hat meine beste Freundin gewartet.« Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus, eine sengende Glut sammelte sich wie ein gewaltiger Ballon in meiner Magengrube, aber ich machte einfach weiter. Was hatte ich schon zu verlieren? Sehr wahrscheinlich würden wir uns sowieso nie wiedersehen.
»Und dann?«, fragte er.
»Ich hatte ihr versprochen, es mitzubringen, also habe ich sie angelogen. Jetzt denkt sie, dass ich total unzuverlässig bin. Normalerweise bin ich das nicht. Bloß im Moment muss ich ihr da leider zustimmen. Das klingt vielleicht nicht weiter tragisch, aber sie hat es mir wirklich zum Vorwurf gemacht. Und dann war die ganze Stimmung dahin, weil ich auch noch unseren Kinoabend abgesagt habe, um den Job hier anzunehmen und ein bisschen Geld zusammenzukratzen«, rasselte ich herunter und schwieg kurz.
»Ich nehme an, das war noch nicht alles?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf, ein paar Strähnen meines dunkelbraunen Haares hatten sich aus dem strengen Dutt gelöst, den ich mir manchmal für die Arbeit machte. »Als ich mich ins Auto gesetzt habe, kam der platte Reifen dazu. Für einen neuen Reifen fehlt mir das Geld, und den Wagen zu meinem Vater bringen zu lassen, würde wahrscheinlich auch zu viel kosten. Keine Ahnung.« Hilflos riss ich die Arme in die Luft, fühlte aber gleichzeitig, wie der Stein auf meinem Herzen kleiner wurde, mit jedem Wort ein bisschen zu schrumpfen schien.
Ich machte abermals eine Pause und wartete auf eine Reaktion des Fremden, aber er sagte nichts, schien zu ahnen, dass ich noch nicht fertig war. Also redete ich einfach weiter: »In der U-Bahn waren Kontrolleure. Ich hatte natürlich vergessen, mir eine Fahrkarte zu kaufen. Und ein Semesterticket hatte ich mir auch nicht zugelegt. Das macht sechzig Euro, die ich absolut nicht habe. Ach ja, und mein Chef, von dem ich dachte, dass er nichts mit Angestellten anfängt und der mich deswegen vor einem Jahr gekorbt hat, bekommt mit – rate mal – einer Angestellten ein Kind.« Ich lachte. »Und dann ist mir ein komplettes Tablett mit Sektgläsern aus der Hand gerutscht, ich habe mich an den Scherben geschnitten und bin dann auch noch in Tränen ausgebrochen. Ich habe vor versammelter Mannschaft geweint. So, und jetzt sag mir, dass du immer noch mit mir ausgehen willst«, schloss ich und drückte den Rücken durch, weil ich mich so klein fühlte.
Gott, wie erbärmlich. Wie absolut erbärmlich sich das alles anhörte!
Am liebsten wäre ich im Boden versunken, aber selbst dafür war es vermutlich zu spät. Mein Seelenstriptease war vollbracht. Es gab nichts mehr, was ich noch hätte offenlegen können.
Noch immer sagte der Fremde kein Wort, aber ich spürte seinen Blick, der sich in meinen brannte. Keinen Atemzug später setzte er sich in Bewegung und ich hörte das Klacken von Anzugschuhen auf dem Asphalt. Klack, klack, klack.
»Das tut mir leid«, murmelte er rau, während er näher kam. »Aber eigentlich würde ich trotzdem gern mit dir ausgehen, auch wenn ich mir nicht mehr sicher bin, ob mein I tatsächlich größer ist als deins.«
Uns trennten nur noch wenige Meter. Unwillkürlich hielt ich den Atem an, während meine Gedanken rasten und gleichzeitig still verharrten.
Schließlich trat er ins Licht und machte noch ein paar Schritte, bis er unmittelbar vor mir anhielt, die Hände in den Anzughosentaschen vergraben. Er strahlte eine Ruhe und Selbstsicherheit aus, die mich kurz aus der Fassung brachten. Nicht lange, aber lange genug, sodass ich einige Sekunden brauchte, um zu realisieren, wer da vor mir stand.
Meine Augen weiteten sich, als ich ihn erkannte.
Henning Kiefer.
Ein deutscher Formel-2-Fahrer für Natura Racing, einen italienischen Rennstall.
Das letzte und einzige Mal live und in Farbe hatte ich ihn ausgerechnet an meinem Geburtstag Ende November gesehen, als er unverhofft auf der Kartbahn gewesen war und sich mit Toni unterhalten hatte. Natürlich kannten die beiden sich, wie es in den typischen Kreisen immer der Fall war. München war ein einziges großes Dorf, das nahezu jedes Klischee erfüllte.
Nun musste ich jedoch den Kopf heben, um Henning ins Gesicht blicken zu können, und nahm dabei jedes Detail auf, als hätte ich ihn nicht schon unzählige Male auf Social Media oder auf Motorsport.de gesehen.