11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €
SPIEGEL-Bestseller Focus-Bestseller Neuer Rekord auf vorablesen.de: Roman mit den meisten Leseeindrücken #BookTok Bestseller Er will seinem Erbe entfliehen. Sie will ihres finden. Pferderennen in Ascot, Studium in Cambridge, Formel 1 in Monaco: Aleksander Skogen führt ein Luxusleben. Bis er nach einem skandalösen Video für eine Weile untertauchen muss. Gezwungenermaßen nimmt er daher an einer Trekkingtour durch die Wildnis Norwegens teil. Geführt wird diese von Norah, deren Leben so ziemlich das komplette Gegenteil von Sanders ist. Was passiert, wenn die beiden kollidieren? Können Sie der Wucht des Aufpralls standhalten oder werden ihre so unterschiedlichen Welten von Grund auf erschüttert? Erlebe unvergessliche Herzschlagaugenblicke in Norwegen In ihrem unvergleichlichen Wohlfühlstil verknüpft SPIEGEL-BestsellerautorinCarolin Wahl in ihrer neuen New Adult-Trilogie Crumbling Hearts rund um das norwegische Keksimperium KOSGEN die Verpflichtungen und Vorzüge des High-Society-Lebens mit den großen Fragen: Was ist Familie? Und wie lassen sich Luxus und Liebe miteinander vereinen? Eine herzerwärmende Slow-Burn-Romance mit viel Natur in Norwegen, High-Society-Glamour, Spice und der großen Liebe. Klimaneutrales Produkt – Wir unterstützen ausgewählte Klimaprojekte!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 481
Inhalt
PLAYLIST
1SANDERNormalerweise hatte es …
2NORAHAuch wenn ich …
3SANDERIch schulterte meinen …
4NORAH»Oh, das ist …
5SANDERVerblüfft beobachtete ich, …
6NORAHVerdrießlich nagte ich …
7SANDERMein echter Name …
8NORAHAls ich am …
9SANDERWas zum Teufel …
10NORAHDrei Tage auf …
11SANDERPokker. Selbst mit …
12NORAHAm übernächsten Tag …
13SANDERHallo Arschgesicht, hast …
14NORAHWenn ich ehrlich …
15SANDERAm nächsten Tag …
16NORAHOhne es verhindern …
17SANDERVerschwunden. Geisterhaft waberte …
18NORAHIn meinem Kopf …
19SANDEREs war gefühlt …
20NORAHSiebenundzwanzig Patches und …
21SANDER»Es ist nicht …
22NORAHSchwarze Klauen gruben …
23SANDERSeit wir bei …
24NORAHWährend die Teilnehmenden …
25SANDERDieses leise, sich …
26NORAHNein, nein, nein, …
27SANDERIch fiel in …
28NORAH»Das war alles«, …
29SANDERDie Türglocke über …
30NORAHAdas Glätteisen hatte …
31SANDERNorah sog alles …
32NORAHNach der Oper …
33SANDERAls ich am …
34NORAHIch freue mich …
35SANDERInmitten der Menschen, …
36NORAHLøren Ice Rink …
37SANDERIch verlor sie …
38NORAHWie in einem …
DANKSAGUNG
TRIGGERWARNUNG
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese beinhaltet Spoiler für die gesamte Geschichte!
Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.
Für alle, die eine Familie im Herzen tragen.
PLAYLIST
ABBA – Chiquitita
Gracie Abrams – 21
Chloe Adams – Dirty Thoughts
Cigarettes After Sex – Apocalypse
Madgalena Bay – Killshot
Alec Benjamin – If We Have Each Other
Montserrat Caballé – O mio babbino caro (Giacomo Puccini)
Lewis Capaldi – Pointless
Elley Duhé – LOST MY MIND
EDEN – Sex
EZI – Take My Breath Away
Billie Eilish – Happier Than Ever (Edit)
The Fray – How to Save a Life
Keane – Somewhere Only We Know
Mr.Kitty – After Dark
Emma Louise – Boy
The Neighbourhood – Sweater Wheather
Cloudy June – FU In My Head
Ivy Levan – Best DamnThing
Pixies – Where Is My Mind?
RAYE & 070Shake – Escapism.
Lana Del Rey – Happiness is a butterfly
Lauren Spencer Smith – Fingers Crossed
Southstar – Miss You (Sped Up Version)
Harry Styles – Daylight
Taylor Swift – Gorgeous
The Weeknd & Ariana Grande – Die For You (Remix)
1
SANDER
Normalerweise hatte es etwas Befreiendes, nach Hause zu kommen und meine Lunge mit der frischen Fjordbrise zu füllen. Als würde mich der leicht salzige Geschmack erden, als würde mein Herz dabei Ruhe finden. Allerdings fühlte es sich heute so an, als wäre die Luft mit Säure zersetzt worden. Jeder Atemzug brannte wie Feuer, drückte auf mein Zwerchfell, brandete rumorend in meinem Magen. Jeder einzelne Schritt vor dem Flughafengelände schmerzte wie nach einer anstrengenden Beineinheit im Fitnessstudio. Oder als wäre ich anstelle meiner üblichen zehn Kilometer plötzlich zwanzig gelaufen. Oder als hätte ich mein Schwimmtraining überzogen.
Für Juli war es angenehm warm in Oslo, andererseits wurde es meistens nicht wirklich heiß, ganz anders als an meiner letzten Station in München, wo ich einen Teil meines Masters gemacht und meine Schuld bei Henning, einem meiner engsten Freunde in Deutschland, beglichen hatte. Allein der Gedanke an ihn und den Grund, weshalb ich in meine Heimatstadt zurückgekehrt war, trieb meinen Pulsschlag in die Höhe.
Suchend blickte ich mich um, schielte auf meine silberne Armbanduhr, die schwer an meinem Handgelenk hing und mich daran erinnerte, was auf mich zukommen würde. Abgesehen von diesem Erbstück, das mein Großvater mir zu meinem achtzehnten Geburtstag vermacht hatte, trug ich so gut wie keine Statussymbole. Die Uhr war schlicht, nur ein Kenner würde sie als Breitling einordnen.
Mein Handy klingelte. Stirnrunzelnd registrierte ich den Namen meines besten Freundes Mar.
»Du rufst doch nur an, wenn du etwas willst«, begrüßte ich ihn und die fehlende Leichtigkeit kehrte in meine Brust zurück, sobald ich seine gebrummte Antwort vernahm.
»Woher weißt du, dass ich etwas will?«, fragte er schroff.
»Weil du viel zu faul zum Telefonieren bist. Also, mein Prinz, womit kann ich Euch heute dienen?«
»Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass du das unterlässt?«
Ich verkniff mir das Lächeln, das sich auf meine Lippen stehlen wollte. »Euer Vokabular ist wie immer sehr gewählt, Durchlaucht. Versucht es doch mit einer entsprechenden Unterlassungsklage, Hochwohlgeboren, vielleicht habt Ihr damit mehr Glück.«
»Ach, fick dich, Sander.«
Das Lachen platzte förmlich aus mir heraus und meine Schultern bebten. Es tat so verdammt gut, für einen Moment all die Sorgen zu vergessen und einfach ich selbst sein zu können.
»Wenn ich dazu in der Lage wäre«, kam ich lapidar auf seine Antwort zurück, »müsste ich mir nicht immer jemanden dafür suchen.« Ich erntete eine geknurrte Erwiderung, für die meine Schwester vermutlich bis unter die Haarwurzeln errötet wäre. »Solange deine Armee aus Anwälten nicht unsere Armee aus Anwälten behelligt, wirst du wohl oder übel damit leben müssen, dass ich dir auf die Eier gehe. Und das ziemlich oft. Genau genommen immer dann, wenn du am wenigsten damit rechnest.«
»Kein Staatsfonds der Welt kann mit deinen Ressourcen mithalten, und das weißt du sehr genau«, erwiderte Mar, aber endlich hörte ich, wie die Anspannung aus seiner Stimme wich.
Mar – besser bekannt als Marius Olav, Kronprinz von Norwegen – bewegte sich durchs Leben, als würde eine riesige Gewitterwolke wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf schweben. Vielleicht hatten wir uns deswegen schon nach einer Woche in unserer stinklangweiligen und hyperkonservativen christlichen Schule in Oslo angefreundet. Sechs Jahre alt, Barneskole. Zwei aufgebürdete Schicksale, zwei Nachnamen, die Fluch und gleichzeitig Segen bedeuteten.
»Also, was kann ich für dich tun?«, wollte ich wissen und verlagerte mein Gewicht, während ich mich weiter nach einem vertrauten Gesicht umsah, da ich nicht sicher war, wer mich abholen würde.
»Nichts, ich wollte nur fragen, wie das Gespräch lief.«
Geistesabwesend rieb ich mir mit der Fingerspitze über das unrasierte Kinn, beobachtete, wie eine ältere Dame mit Kopftuch vergeblich um ein Taxi kämpfte und sich gleichzeitig mit ihren zwei monströsen Koffern abmühte. Kein Taxifahrer stieg aus, um ihr zu helfen.
Ich seufzte. »Das Gespräch hat noch nicht stattgefunden.«
»Ich dachte, du bist seit gestern wieder da?«
»Nein. Bin gerade erst gelandet.« Ich konnte den resignierten Tonfall nicht verhindern.
»Oh, Mist.« Mar atmete scharf aus, als würde er die Last spüren, die auf meinen Schultern ruhte. »Dann sag mir Bescheid, wenn du es hinter dich gebracht hast, falls du im Anschluss überhaupt noch lebst.«
»Du musst dir ja wirklich Sorgen machen, wenn du mich deshalb extra anrufst«, scherzte ich, aber Mar blieb ernst.
»Ich hab doch sonst niemanden, der mir auf die Nerven geht. Ohne dich wäre alles ziemlich langweilig.«
»Ist das etwa eine Liebesbekundung, Euer Hoheit?«
»Bild dir bloß nichts ein, Arschgesicht.«
Es war nicht böse gemeint, sondern die Art von Schlagabtausch, die mich wieder auf den Boden zurückholte. Mar konnte das. Mit wenigen Worten dafür sorgen, dass ich mich wie ein Mensch und nicht länger wie eine funktionierende Maschine fühlte. Genau wie ich ihm die manchmal dringend benötigte Portion Unbeschwertheit verpasste.
Wir tauschten noch ein paar belanglose Sätze aus, bis ich schließlich auflegte und aus dem Augenwinkel bemerkte, wie sich die alte Dame noch immer etwas hilflos nach einer Mitfahrgelegenheit umsah.
Apropos … Mit einem kurzen Blick stellte ich fest, dass immer noch kein schwarzes Ungetüm mit getönten Scheiben vorgefahren war – oder alternativ ein unauffälliges Fahrzeug, das keine Aufmerksamkeit erregte.
Ohne zu zögern, trat ich auf die Frau zu. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Brauchen Sie ein Taxi?«
Überrascht hob sie den Kopf und schreckte vermutlich aufgrund meiner Größe zusammen, sodass ich etwas Abstand nahm, denn ich wusste, wie einschüchternd ich wirken konnte. Ihre dunklen Augen blickten mich zunächst leicht verunsichert an, doch mein offenes Lächeln schien ihr die Angst zu nehmen. Mit einer Hand kramte sie einen Zettel mit einer Adresse aus ihrer Jackentasche, deutete entschuldigend darauf und zuckte mit betretener Miene die Schultern.
»Wollen Sie dorthin?«, fragte ich sie auf Norwegisch und, als sie nicht antwortete, auf Englisch. Sie nickte abgehackt. Kurzerhand organisierte ich ein Taxi für sie und sah schließlich dabei zu, wie sie mit einem erleichterten Gesichtsausdruck davonfuhr. Zufrieden steckte ich die Hände in die Hosentaschen.
Warum machte es mir nichts aus, mich um das Seelenheil anderer zu sorgen, während ich bei mir selbst immer wieder alles dafür tat, mich noch tiefer in den Abgrund zu stürzen?
»Aleksander.«
Als ich meinen vollen Namen hörte, versteifte ich mich automatisch, spürte, wie sich meine Muskeln verhärteten und meine Schultern noch mehr verspannten als nach dem dreistündigen Flug. Eigentlich buchte ich am liebsten den Notausgangsitz, wenn ich schon nicht Businessclass flog, da er etwas mehr Beinfreiheit bot, aber als ich das Ticket spontan besorgt hatte, waren alle guten Plätze schon belegt gewesen.
Langsam drehte ich mich um und stand zu meiner großen Überraschung meinem jüngeren Bruder Theodor gegenüber, der einen dunkelgrauen Hoodie, schwarze Shorts sowie passende schneeweiße Sneaker trug, die Sportsocken über die Knöchel gezogen. Damit war er viel legerer gekleidet als sonst, was mich wunderte. Normalerweise steckte sein Oberkörper in einem Hemd. Allem Anschein nach hatte er sich außerdem einen Friseurbesuch gegönnt, denn seine straßenköterblonde Matte mit den hellen Strähnen war an den Seiten kurz geschnitten und oben zu einem perfekt-unperfekten Schlafzimmerlook gestylt.
»Hi«, sagte er und nahm mich in Augenschein, die Mundwinkel leicht nach unten gebogen.
Obwohl ich es hätte wissen können, brachte mich seine Anwesenheit etwas aus dem Konzept und wir musterten uns für einige Sekunden schweigend. Er wirkte genauso überrascht wie ich. Als wäre ich nicht die Person, die er erwartet hatte – und vermutlich war ich das auch nicht. Denn ich wusste, was Theo zu sehen bekam: die Müdigkeit in meinem Gesicht, die fetten Augenringe, die etwas zu lang geratenen Bartstoppeln, die mich älter wirken ließen als meine dreiundzwanzig Jahre, die ausgezehrten Züge, sodass meine Wangenknochen beinahe spitz hervortraten.
Wahrscheinlich würde ich mich auch nie an den erwachsenen Anblick meines kleinen Bruders gewöhnen, der inzwischen fast genauso groß war wie ich, dafür aber nicht ganz so massig. Trotzdem muskulös. Als wäre seine komplette Gestalt in wenigen Monaten in die Höhe geschossen und hätte keine Zeit gehabt, sich mit dem neuen Körperbau zu arrangieren. Wie zwei lose Seile hingen die Arme an seinem schlanken Oberkörper, dafür wirkte alles an ihm geschliffener. Reifer. Älter.
Hatte ich ihn wirklich seit sechs Monaten nicht mehr gesehen?
»Was ist, spielst du kein Eishockey mehr?«, fragte ich.
»Nach der Muskelverletzung habe ich pausiert.«
Meine Lippen teilten sich wie von selbst zu einem ehrlichen Grinsen, während ich den Arm um seine Schultern schlang, die sich noch etwas knochig anfühlten. »Bisschen mehr Spinat würde dir wirklich guttun. Oder einfaches Krafttraining.«
Er versteifte sich unter meiner Berührung, nur flüchtig, aber ich bemerkte es trotzdem.
Es war wie ein Stich ins Herz. Ein kleiner, winziger Stich, der aber genauso tödlich sein konnte, und ich registrierte, wie er sich von mir losmachte, als könnte er den Körperkontakt keine Sekunde länger ertragen. Ein pelziger Geschmack legte sich auf meine Zunge.
»Und du solltest über einen Benimmkurs nachdenken«, sagte Theo mit einigen Sekunden Verzögerung, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkamen.
Meine Gedanken überschlugen sich und mein Magen zog sich schmerzvoll zusammen. Glaubte er etwa, dass ich … Nein. Ich schob alles, was mit diesem Gedankensplitter zusammenhing, so weit wie möglich von mir weg. Das konnte nicht sein. Nicht mein Bruder.
»Du hörst dich an wie Großvater«, versuchte ich es mit einem Scherz, der sich anfühlte, als hätte ich gerade meine erste Stand-up-Comedy-Show. Der Witz zündete nicht und mein Herz donnerte viel zu heftig in meiner Brust.
Missmutig verzog Theo das Gesicht, was er nur dann tat, wenn ich ihn eiskalt erwischte. Ansonsten glich er einer klassizistischen Statue: glatt und schön, zumindest wenn man seinem Snapscore und den dazugehörigen Anfragen Glauben schenken konnte.
»Sag bloß, du bist meine Eskorte?«, wechselte ich abrupt das Thema, um nicht zu zeigen, wie sehr mich seine Reaktion traf. »Kannst du denn inzwischen fahren?«
Theos Blick wurde mörderisch, wie immer, wenn ich ihn nicht für voll nahm, wobei mir auffiel, dass er sogar einen Bartschatten hatte, der im starken Kontrast zu seinen hellbraunen Augen stand und sie in flüssiges Karamell verwandelte. Wann zum Teufel war mein kleiner Bruder so verdammt erwachsen geworden?
»Du weißt genau, dass ich seit Jahren den Führerschein habe.« Ein genervtes Augenrollen. »Du bist ja schlimmer als Mama. Oh, Spatz, du wirst viel zu schnell erwachsen. Gerade gestern bist du noch in Windeln durchs Haus gerannt.«
Bei der Erwähnung unserer Mutter verkrampfte sich etwas in meinem Bauch, aber ich überspielte es mit einem unerschütterlichen Lächeln. »Was hast du erwartet? Du bist das verdammte Küken der Familie. Sie wird nicht wissen wollen, seit wann du Haare am Sack hast.« Die Derbheit meiner Worte war bewusst gewählt, ein ausgeklügelter Schachzug. Ich mochte das nicht einmal besonders, aber es sorgte dafür, dass sich niemand genauer mit mir beschäftigte, sondern nur mit dem, was ich von mir gab.
»Also«, fügte ich hinzu und sah mich auf dem Vorplatz um, wo sich Elektroautos hinter wartenden Taxis reihten. »Wieso holst ausgerechnet du mich ab?«
»Wen hast du denn erwartet?«
»Das Komitee.« Spöttisch hob ich die Brauen und breitete in einer übertriebenen Geste die Arme aus. »Du weißt schon, das volle Programm. Henrik vielleicht. Oder Opa. Auf ihn hätte ich mich besonders gefreut, gleich nach unserem Vater.«
»Das Komitee tagt zu Hause. Elli hielt es für eine gute Idee, dich nicht gleich den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen«, sagte er mit einem vor Sarkasmus triefenden Unterton, der mir sauer aufstieß.
Natürlich, meine Schwester würde selbst einer Fliege einen Regenschirm basteln, um sie vor einem Gewitter zu schützen. Und im Moment war ich die Fliege. Und meine Familie das Gewitter. Oder besser gesagt: der gottverdammte Orkan.
»Sie wollte dich abholen, konnte aber nicht. Deswegen bin ich hier.« Es klang, als müsste er eine Kloschüssel mit der Zahnbürste putzen. Die Feindseligkeit in seinem gesamten Verhalten war niederschmetternd.
»Warum bist du eigentlich wieder zu Hause?«
»Semesterferien.« Als würde das alles erklären.
»Gut. Worauf warten wir noch?«
Theos Brauen schossen wie Pfeile in die Höhe, sein Blick wanderte an mir herab zu dem nebelgrauen Rucksack, der das einzige Gepäckstück war, das ich mitgenommen hatte. Alles, was ich brauchte, hatte ich hineingeschmissen. Ich wollte ohnehin nicht länger als nötig bleiben.
»Das ist alles?«, fragte er.
»Ja.«
Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Okay. Dann können wir fahren.«
Wie erwartet, hatte Theo seinen Mercedes EQ ganz vorn in der ersten Reihe geparkt. Das weiche Leder war eine Wohltat für meinen steifen Rücken, genau wie die Stille und der angenehme Duft im modernen Innenraum des Fahrzeugs. Während der Fahrt verloren wir kaum ein Wort, weil Worte in dem engen Zwischenraum keinen Platz gefunden hätten. Die Luft war getränkt von Fragen, aber Theo hielt sich zurück, so wie er es meistens tat. Es war einfach nicht seine Art. Vermutlich hätte er sich eher aus dem rollenden Wagen geworfen, anstatt mit der Sprache herauszurücken. Dafür war er unserer Mutter zu ähnlich. Und auch Vater. Theo verkörperte das, was ich hätte verkörpern sollen. Er verfolgte Ideale. Standhaftigkeit, Gewissenhaftigkeit, Zielstrebigkeit. Er wäre der perfekte älteste Sohn, denn er trug die Bürde unserer Familie, als hätte er vor fünfundachtzig Jahren das Unternehmen mit seinen eigenen Händen gegründet und nicht unser Urgroßvater.
Stattdessen war ich das, wovor sich meine Familie immer gefürchtet hatte: eine Naturgewalt, die unvorhergesehene Ereignisse mit sich brachte.
Das Anwesen meiner Eltern befand sich etwa eine Stunde Fahrt vom Flughafen entfernt, eingebettet zwischen anderen luxuriösen Grundstücken, die einem Ex-Fußballspieler, zahlreichen Prominenten oder Wirtschaftsgrößen gehörten und die man so gut wie nicht einsehen konnte, weil sie auf der Insel Nesøya lagen. Unser Grundstück besaß einen eigenen Bootsanlageplatz mit einer kleinen Jacht. Bei gutem Wetter konnte man kilometerweit über das Wasser des Oslofjords sehen. Am spektakulärsten waren jedoch die Sonnenuntergänge. Einfach unbezahlbar. Für kein Geld der Welt zu kaufen. Und doch waren die besten Plätze für diejenigen reserviert, die hier wohnten.
»Wir sind da.« Theos Stimme klang hölzern, nachdem er den Wagen in der gigantischen Garage geparkt hatte. Neben den fünf Luxuskarosserien, die dort ebenfalls residierten.
»Das sehe ich«, antwortete ich, machte jedoch keine Anstalten, auszusteigen.
Schweigend blieben wir sitzen, bis das automatische Licht in der Garage wieder erlosch. Mir war klar, dass jeder auf dem Anwesen bereits von unserer Ankunft wusste, schließlich hatten sie es entweder auf einem der großen Monitore der Überwachungskameras gesehen oder Henrik hatte es ihnen mitgeteilt. Henrik wusste immer alles. Vermutlich hatte er sogar von dem Video gewusst, noch bevor ich Wind davon bekommen hatte. Er war Opas Bluthund. Seit dreißig Jahren im Dienst der Familie und manchmal fragte ich mich, was er eigentlich genau machte.
»Hör mal …«, setzte ich an, wollte es Theo erklären, bevor der Sturm losging, doch er hob die Hand und schnitt mir das Wort ab.
»Spar dir das.«
»Ich will nur –«
»Lass es«, unterbrach er mich erneut. »Ich kann mir denken, was du loswerden willst, aber ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob ich das hören möchte. Später dann, wenn die anderen dabei sind.« Störrisch schob er das Kinn nach vorn und hatte in diesem Augenblick so viel Ähnlichkeit mit unserem Vater, dass es mir für eine Sekunde den Atem verschlug.
Plötzlich pochte mein Herz unkontrolliert. Mir war nie der Gedanke gekommen, dass meine Familie annehmen könnte, das Video würde die volle Wahrheit zeigen. Die Luft um uns herum wurde dünner, als hätten wir uns auf die Spitze des Glittertinds katapultiert.
»Wir sehen uns gleich«, sagte Theo schließlich kühl und stieg aus, ließ mich in einer Blase voller unausgesprochener Worte zurück.
Ich schluckte hart. Achtundvierzig Sekunden.
Achtundvierzig Sekunden, die ein Leben von heute auf morgen auf den Kopf stellen konnten und alles veränderten. Alles.
2
NORAH
Auch wenn ich mich mit Zahlen und Rechnungswesen etwa so gut auskannte wie Popa mit Social Media, erfasste ich dennoch auf einen Blick, dass es um unser beschauliches Familienunternehmen nicht gerade rosig bestellt war.
Das Ticken der alten Wanduhr trieb mich in den Wahnsinn und meine Konzentration ließ langsam, aber sicher nach. Durch das geöffnete Fenster strömte der sommerliche Duft von Wildblumen, mischte sich mit dem unverwechselbaren Geruch von frisch gebratenen Potetkaker, die Moma üblicherweise mit gebeiztem Lachs und Spinat zubereitete.
Seufzend trommelte ich mit dem Kugelschreiber auf den vor mir ausgebreiteten Unterlagen herum und blies mir eine erdbeerblonde Locke aus der Stirn. Inzwischen qualmte mein Kopf vor lauter Informationen. Außerdem waren meine Schultern verspannt, während sich mein Hintern anfühlte, als hätte ich versucht, einen Weltrekord im Sitzen aufzustellen. Seit Stunden wühlte ich mich durch das Wirrwarr aus Rechnungen, die sich neben den verstaubten Akten und Ordnen auf dem chaotischen Schreibtisch stapelten. Ausrüstungen. Wartungen. Verträge mit verschiedenen Dienstleistern.
Geführte Trekkingtouren waren nichts Außergewöhnliches, aber für den Großteil der Zeit hatten wir uns auf Einheimische spezialisiert, boten Touren fernab des Norwegentourismusstroms an. Mal sieben, mal zehn, manchmal auch vierzehn Tage mit Pause dazwischen. Wir hatten vier Leute für die Bergführungen: Ole, Silas, Popa und mich. Doch wenn ich mir die Zahlen so anschaute, hatte ich keine Ahnung, wie wir nach diesem Sommer noch über die Runden kommen sollten – geschweige denn, die Personalkosten bezahlen wollten, denn auch Silas musste sich darauf verlassen, seine fünfköpfige Familie versorgen zu können.
Den Ohrwurm eines viel zu präsenten Edits summend, scannte ich die Inbox, prüfte die Belegung unserer Pension, die oberhalb des Hardangerfjords – der Königin aller Fjorde – lag, und fragte mich nicht zum ersten Mal, was ich tun konnte, um mehr Menschen für unsere Touren zu begeistern, denn das Geld für groß angelegte Werbung fehlte hinten und vorne.
Mein Blick wanderte zur Uhr, deren Zeiger rhythmisch meine Nerven weghämmerten. 11:55Uhr. Unwillkürlich musste ich lächeln. Fehlte nur noch eine Kochschürze mit der norwegischen Flagge, um das idyllische Bild meiner kochenden Oma abzurunden, und während ich seufzend meinen Nacken dehnte, überlegte ich ernsthaft, ob so eine Schürze nicht tatsächlich ein passendes Geburtstagsgeschenk für sie wäre. Zumindest hätte ich dann ein wesentlich unkomplizierteres Präsent als die kleine Filzumhängetasche, an der ich mich schon seit zwei Wochen jeden Abend abmühte, weil ich mit dem Ergebnis einfach nicht zufrieden war.
»Klopf, klopf.«
Überrascht drehte ich mich zu der hellen Stimme um, zumindest soweit es der quietschende Holzstuhl zuließ. Meine beste Freundin und Nachbarin Ada lehnte im Türrahmen, die Wangen gerötet, das krebsrote Haar zu einem schweren Zopf geflochten, der ihr bis zur Taille reichte, während ihre honigfarbenen Augen vergnügt strahlten.
»Wolltest du nicht in die Stadt?«, fragte ich sie anstelle einer Begrüßung und nutzte die Gelegenheit der unverhofften Pause, um mich zu strecken und meine Wirbel einzurenken. Wie Zahnräder rasteten sie ein.
»Doch, klar«, erwiderte sie und zog ihre niedliche Stupsnase kraus, um die ich sie schon in unserer Kindheit beneidet hatte. Kein Vergleich zu meinem markanten Zinken, auf den Popa so stolz war. »Aber deine Moma hat mich gefragt, ob ich nicht noch die leeren Getränkekisten mitnehmen könnte, und da ich sowieso einen Großeinkauf machen will, ist das natürlich kein Problem.«
»Das kann ich auch erledigen.« Verdrießlich zog ich die Brauen zusammen und warf einen schnellen Blick auf das Unterlagenchaos vor mir. »Wenn ich hier fertig bin.«
»Ich weiß, Norah, aber das ist echt keine große Sache. Ich mache das gern. Außerdem wollte ich noch kurz mit dir über etwas reden.« Achselzuckend kam Ada in den Raum geschlendert, wobei mir auffiel, dass sie ein neues weißes Shirt mit ovalem Ausschnitt und weite Jeans trug, die ihre muskulösen Beine versteckten. Dazu kam das aufreizende Augen-Make-up und die verdächtige Wangenfärbung, die zwar unter der Flut an Sommersprossen verschwand, aber trotzdem eindeutig vorhanden war. Misstrauisch inspizierte ich den auffälligen Ringstecker ihres Ohrenpiercings, den sie nur für besondere Anlässe ausgrub.
»Hast du ein Date? In der Stadt?«, fragte ich sie interessiert.
Ertappt blieb sie stehen und riss die Augen auf. »Wie kommst du denn darauf?«
Weil sie in etwa so durchschaubar war wie eine frisch geputzte Fensterscheibe.
»Du siehst …«, ich machte eine vage Handbewegung in ihre Richtung, während meine Mundwinkel ein Eigenleben entwickelten, »scharf aus.«
»Darf ich das nicht?«, hielt Ada dagegen, doch das verräterische Kieksen in ihrer Stimme entlarvte sie. Mein Lächeln wurde breiter und meine beanspruchten Muskeln fühlten sich auf einmal etwas weicher an.
Neugierig beugte ich mich in ihre Richtung, legte meine Unterarme locker auf meine Oberschenkel und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. »Jetzt bin ich gespannt. Ist es Felix? Oder jemand Neues?« Weil sie nicht reagierte, fuhr ich einfach fort: »Ein Tourist?« Augenblicklich hielt ich inne und verzog das Gesicht, als mir ein Gedanke kam. »Moment. Es ist doch nicht etwa Liam?«
»Du bist viel zu neugierig.« Ärgerlich zog Ada die Stirn in Falten. »Ich habe Matched ausprobiert und einen Treffer gelandet.«
Erleichterung durchflutete mich, denn wenn es Liam gewesen wäre, hätte ich den ganzen Sommer Adas Liebeskummer aushalten dürfen. Zwar stand ich ihr und meinen anderen Freunden immer gern zur Seite, aber Liam und ein gebrochenes Herz waren so sicher wie die Nordlichter zwischen September und März.
Kurz entschlossen erhob ich mich und überragte Ada dadurch um fast einen Kopf, dabei war meine beste Freundin nicht gerade klein. Ich war nur einfach … groß. Ein Erbe meiner Eltern. Inzwischen zog sich mein Herz nicht mehr vor Schmerz zusammen, wenn ich an die beiden dachte.
»Ich komme mit.«
»Was?« Panik glomm in ihren Augen auf. »Nein!«
»Warum denn nicht?«, fragte ich, griff gleichzeitig nach meiner Jeansjacke, die am Türhaken hing, und schob mich in die Ärmel. Ich liebte das abgewetzte Teil mit den unzähligen aufgestickten Patches am Rücken und den fransigen Saumenden, dem Blumenmuster auf Brusthöhe und dem vertrauten Geruch. Die Jacke hatte Mama gehört und wenn ich sie anzog, hatte ich immer das Gefühl, ihre Umarmung zu spüren. »Ich brauche sowieso eine Pause, sonst drehe ich durch. Ich kann später, wenn du dein Date hast, mit dem Bus zurückfahren, kein Thema. Diese Rechnungen bringen mich echt zur Verzweiflung. In letzter Zeit sind die Ausgaben einfach zu hoch. Außerdem«, fügte ich hinzu und wackelte mit dem Finger vor ihrer Nase, »wolltest du doch noch mit mir reden.«
Ada seufzte und nickte schließlich, wobei sie etwas zerknirscht wirkte. »Ja, das stimmt auch …«
Der Großeinkauf stellte sich als schnelle Angelegenheit heraus, weil die ganze Stadt ausgeflogen zu sein schien. Es war, als hätten sich einfach alle in Luft aufgelöst. Omas Getränkekisten waren ebenso fix abgegeben, wie wir Adas Einkaufsliste abhaken konnten, und so stolzierten wir keine geschlagene Stunde später ins JAJA, unseren Dreh- und Angelpunkt, sobald wir in Norheimsund waren. Mats, der Besitzer des Restaurants, hatte sämtliche Fleckchen der Welt bereist und packte immer wieder neue kulinarische Entdeckungen auf seine Speisekarte – nicht, ohne sie mit einem Hauch norwegischer Kultur zu garnieren. Es war jedes Mal, als würden wir unseren Geschmackshorizont erweitern.
Vielleicht war das auch einer der Gründe, weshalb wir so oft hier waren. Um die unterschiedlichen Delikatessen dieser Welt kennenzulernen, ohne wirklich einen Fuß außer Landes zu setzen. Einerseits konnte und wollte ich meine Großeltern nicht allein lassen – was andererseits eine billige Ausrede war, denn mir rollten sich schon die Zehennägel auf, wenn ich nur daran dachte, in ein Flugzeug zu steigen und fremde Städte zu bereisen.
So war es schon in der Schule gewesen, so würde es vermutlich immer sein.
Sobald wir das JAJA betraten, bemerkte ich die Veränderung, die Ada durchmachte. Als hätte sich ein Schalter umgelegt. Während der letzten Minuten hatte sie unaufhörlich gequasselt und schien ganz vergessen zu haben, worüber sie mit mir hatte reden wollen. Doch jetzt war sie so stumm wie ein Fisch und kaute nervös an ihren Nägeln. Eine Eigenschaft, die sie sich schon vor Monaten abgewöhnt hatte.
Wir nahmen an unserem Stammtisch Platz, der genau wie der Rest der Inneneinrichtung an einen amerikanischen Diner erinnerte. Nur die Eichenholzelemente und die bunten, tief hängenden Leuchten mit dem warmen Licht durchbrachen den Eindruck wie eine vierte Dimension. Ich scannte die schicke Speisekarte, wobei ich etwas genauer auf die Preise achtete. Sofort nagte das schlechte Gewissen an mir. Konnte ich überhaupt hier essen, solange unser Familienunternehmen in einer finanziellen Schieflage steckte? Ada rutschte unruhig auf ihrer Bank herum, während ihre Augen zwischen der Essensauswahl und der Eingangstür hin und her huschten.
Ich schenkte ihr ein überzeugendes Lächeln. »Sobald er dich sieht, wird er von dir begeistert sein, und wenn du ihm dann auch noch mit deiner Engelsstimme etwas –«
»Es ist Liam, okay?«, platzte es aus meiner besten Freundin heraus. Sie ließ die Speisekarte sinken. »Ich wollte es dir nicht sagen, weil ich deine Reaktion kenne.«
Ich stöhnte auf. »Bitte nicht.«
»Wir haben schon eine Weile Kontakt und –«
Resigniert hob ich die Hand. »Ernsthaft? Warum tust du dir das an? Du endest doch nur wieder wie ein Häufchen Elend in der Ecke. Er wird dir zuerst das Herz brechen und dann darauf herumtrampeln, weil das für ihn offenbar so etwas wie ein dämliches Ritual geworden ist. Ada, ich liebe dich, aber wo ist dein Stolz? Wo ist deine Lernkurve? Sie sollte definitiv nicht zurückgehen!«
»Was wir haben, ist einvernehmlich.«
»Einvernehmlich gebrochene Herzen?« Ich beugte mich etwas vor und senkte die Stimme. »Wenn ich wüsste, dass es nur um deinen Spaß und deine untere Körperhälfte geht, würde ich meine Klappe halten. Denn ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung, wann ich das letzte Mal Sex hatte. Aber du, Ada Johansen, würdest nicht einmal beim Flaschendrehen jemanden küssen, ohne dir ein Häuschen am See und das passende idyllische Familienleben auszumalen.«
Ada blinzelte und für einen Moment verschwanden die rosa Wölkchen in ihren Augen, was mich hoffen ließ. »Ich …«
»Bisher war es immer derselbe Ablauf«, fuhr ich fort, in der Hoffnung, zu ihr durchzudringen, bevor es Liams Samtstimme tat. »Täglich grüßt der freudeverschlingende Albtraum … oder so ähnlich. Liam ist einfach ein wandelnder Herzensbrecher.«
»So wie du herumkeifst, könnte man meinen, du beschreibst gerade den Teufel höchstpersönlich«, ertönte in diesem Augenblick eine Stimme zu unserer Linken.
Als ich den Kopf wandte, schlenderte Liam Thoresen mit einem so unverschämten Lächeln näher, dass ich am liebsten aufgesprungen und einen Teller nach ihm geworfen hätte. Dabei neigte ich nicht gerade zu Gewalt. Aber allem Anschein nach brachte er meine Abgründe zum Vorschein wie niemand sonst.
»Liam.« Das Grollen aus meinen Mund hatte kaum Ähnlichkeit mit seinem Namen, doch er lächelte nur nachsichtig, während er den Blick keine Sekunde von Ada abwandte, die bis unter die Haarwurzeln errötete.
Ada war sein Auffangnetz, wenn er sich mal wieder in unzähligen Affären verrannt hatte. Und es ärgerte mich, dass sie regelmäßig auf sein Süßholzgeraspel hereinfiel wie ein Kind, das ständig ins Feuer fassen wollte, obwohl es sich daran verbrennen konnte. In Adas Fall bereits drei Mal. Vielleicht besaß meine beste Freundin auch einfach eine masochistische Ader. Oder das Leben auf dem Land war für sie so eintönig geworden, dass sie irgendetwas fühlen wollte, selbst wenn ein gebrochenes Herz dabei herauskam.
Was ich von mir nicht behaupten konnte. Ich verkroch mich lieber in meinem schützenden Kokon, nicht bereit, mich zu entpuppen und als Schmetterling in die Welt hinauszufliegen.
»Warum so verbittert, Svendsen?« Jetzt wandte Liam mir seine Aufmerksamkeit zu. Er ließ den Blick über meine Erscheinung gleiten, sodass ich mich unwillkürlich ärgerte, heute genauso auszusehen wie immer: mit einem Vogelnest anstelle einer Frisur auf dem Kopf, ungeschminkt, aber dafür bereits braun gebrannt, wodurch meine eisblauen Augen noch mehr leuchteten.
»Wie bitte?« Abwehrend verschränkte ich die Arme vor der Brust.
»Bist du etwa eifersüchtig auf deine Freundin?«
»Wegen dir?«, spie ich entgeistert aus.
Doch zu meiner Überraschung schüttelte Liam den Kopf. »Nein, insgesamt. Im Gegensatz zu dir benimmt sich Ada nicht wie eine achtzigjährige Einsiedlerin. Aber vielleicht kannst du gar nichts dafür, sondern eignest dir nur unbewusst den Lebensstil der Dorfalten an, weil du sonst niemanden hast.«
Ich musste mich zusammenreißen, mich nicht auf diesen aufgeblasenen Lackaffen zu stürzen und ihm die Augen auszukratzen. Doch da war noch etwas anderes. Mein Fluchtreflex. Der unnachgiebige Drang, auf der Stelle abzuhauen und mich irgendwo in der Weite der Natur zu verkriechen, wo ich nichts weiter war als ein Fleck im Universum.
Auch Liam schien aufzugehen, wie zweideutig seine Worte gewesen waren, denn er machte eine zerknirschte Miene und fügte etwas kleinlauter hinzu: »Sorry, das kam falsch rüber.« Mit einer Hand rieb er sich durch sein dichtes, dunkelblondes Haar. »Ich meinte natürlich nicht deine Großeltern, sondern einfach dein ganzes Auftreten. Es ist so … Bist du jemals aus diesem Kaff rausgekommen?«
Ich schnaubte verächtlich und verbarg meine zitternden Hände an der Seite. »Natürlich.«
»Ach ja?«
»Nur, weil ich kein glänzendes Instagramprofil mit philosophischen Captions und inspirierenden Zitaten führe, heißt das nicht, dass ich hinterm Mond lebe. Ich bin durchaus schon mal verreist.«
Das war eine glatte Lüge, aber das würde ich ihm garantiert nicht auf die Nase binden, auch wenn meine beste Freundin eine Augenbraue hochzog, weil sie mir keine Silbe glaubte. Was sie auch nicht musste, denn sie kannte die Wahrheit. Ich hatte niemals eine mir vertraute Route verlassen, niemals Erinnerungen gesammelt, die nicht schon meine Ur-Urgroßeltern für sich errungen hatten.
»Sicher, dass wir hier nicht von deinen Träumen reden?«, fragte Liam.
Abgehackt stieß ich die Luft aus. Es war, als hätten Liams Worte mein Herz mit einer dicken Eisschicht überzogen. Mein Puls verlangsamte sich und ich kämpfte gegen den Fluchtreflex an, der mich erneut überfiel. Wenn mir etwas zu viel wurde, entzog ich mich der Situation. Ich hasste Konfrontationen, obwohl ich gern mal eine große Klappe hatte.
»Wie, das war’s?« Liam hob spöttisch die Brauen, während seine Mundwinkel enttäuscht herabsanken, als hätte er mit einer viel stärkeren Sparringpartnerin gerechnet. »Wo bleibt dein bissiger Sarkasmus? Der übertriebene Zynismus? Wo bleibt: Du bist ein Arsch, Thoresen?«
»Du bist ein Arsch, Thoresen«, zischte ich und verengte die Augen.
»Ich verstehe nicht, weshalb ihr beide euch nicht wie zwei normale Erwachsene benehmen könnt und euch endlich vertragt«, murmelte Ada und ich warf ihr einen ungläubigen Blick zu. Garantiert würde ich nicht vor Liam ausbreiten, wie oft wir klischeebeladen Eisbecher geleert und uns schnulzige Kitschfilme reingezogen hatten, nur damit sein Name wie ein Wasserfleck in der Hitze verdunstete.
»Weil Norah gern Feuer speien würde, aber im Grunde nicht viel mehr Feuer besitzt als Mushu. Dahinter steckt einfach nur verdammt viel heiße Luft.«
»Hast du mich gerade ernsthaft mit dem Drachen aus Mulan verglichen?«
Liam legte den Kopf schief und etwas in seinen scharf geschnittenen Gesichtszügen veränderte sich. »Ja. Du bist ganz schön anmaßend, weißt du das eigentlich? Du hast kein Recht, absolut kein Recht, dich in Adas und meine Beziehung einzumischen. Auch Ada ist erwachsen und kann erwachsene Entscheidungen treffen, und anstatt mal zu hinterfragen, warum ich die Finger nicht von ihr lassen kann, gehst du einfach vom Schlimmsten aus.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, in der er es vermied, meiner besten Freundin in die Augen zu schauen. Nach einem kurzen Zögern fuhr er fort: »Dass ich mir einfach selbst im Weg stehe, auf die Idee bist du gar nicht gekommen, oder?«
Neben mir schnappte Ada hörbar nach Luft. Wahrscheinlich, weil Liam noch nie so offen über mögliche Gefühle geredet hatte. Vielleicht sagte er die Wahrheit, vielleicht war es wieder eine Masche, mit der er sie um den Finger wickeln konnte.
Ich sah, wie er eine Hand nach Ada ausstreckte und sich ein weicher, unendlich zärtlicher Ausdruck auf sein Gesicht legte. Ein Ausdruck, den ich noch nie an ihm gesehen hatte – voller Wärme und Zuneigung, als würde ein einziger Blick auf Ada ausreichen, um all die Schutzmauern einzureißen und seine verletzliche Seite zu offenbaren.
Ich schluckte und mein Herz krampfte sich zusammen.
Liam wandte sich wieder an mich. »Vielleicht sollte ich dir dankbar sein, denn ohne dich hätte ich das niemals gesagt. Aber weißt du was? Ich meine es ernst. Ich glaube, du bist insgeheim eifersüchtig, Norah. Und das liegt nur an dem einsamen Dorfleben. Es macht dich verbittert und innerlich alt.«
All seine Worte sickerten langsam in mein Bewusstsein ein. War ich wirklich so verblendet, dass ich immer nur das Negative sah, seine Motive niemals von der anderen Seite betrachtet hatte? War ich so ein furchtbarer Mensch, so kleinkariert geworden, dass ich auf einer Meinung beharrte, die ich mir vor Jahren geformt hatte?
Mir wurde schlecht.
Aber Liam war noch nicht fertig, versetzte mir einen letzten, schmerzvollen Hieb. »Aber ich verstehe, dass du so ablehnend reagierst, wenn Ada jetzt auch noch nach Oslo zieht.«
Mein Kopf schnellte herum, Ada wand sich auf ihrem Sitz, die Augen groß wie Untertassen. Liam erfasste die Situation sofort und wischte sich mit einer Hand über sein Gesicht. »Pokker! Ich dachte, du hast es ihr schon erzählt.«
»Du ziehst nach Oslo?«, fragte ich mit dünner Stimme.
»Nach dem Sommer, ja«, erwiderte Ada kleinlaut und strich sich eine dunkelrote Strähne ihres schrägen Ponys hinters Ohr, sodass ihre Piercings besser zur Geltung kamen. »Ich habe mich jetzt doch entschlossen, an der Universität zu studieren … Du weißt schon, Kunstwissenschaften.«
»Hast du … schon eine Wohnung? Oder wohnst du im Studentenwohnheim?«
»Ehrlich gesagt …« Ada und Liam tauschten einen Blick und da wusste ich es schon. »Wir wollten zusammenziehen. Eine Vierzimmerwohnung … Die WG wurde aufgelöst und Liams Bruder hat sie uns angeboten.«
Es fühlte sich an, als hätte man mir ein Messer in den Rücken gerammt. Meine Muskeln spannten sich an, meine Wahrnehmung schwankte, als könnte ich mich nicht richtig fokussieren.
Ada würde gehen. Einfach so. Was okay war. Es war ihr Leben, ihre Entscheidung. Trotzdem kam es mir vor, als hätte sie mich verraten. Im Stich gelassen.
Und jetzt, endlich, gewann mein Fluchtinstinkt.
»In Ordnung. Das … freut mich für dich. Wirklich. Und es … es tut mir leid, wenn ich verbittert und innerlich alt bin«, würgte ich hervor und räusperte mich, ohne einem der beiden in die Augen schauen zu können. »Ich wünsche euch viel Spaß.« Erstaunlicherweise klang meine Stimme mit einem Mal nicht mehr so brüchig, wie ich mich fühlte, sondern stinknormal. Als würde ich über das Wetter reden.
»Norah«, begann Ada, der das schlechte Gewissen anzusehen war. Aber ich wollte nicht die Freundin sein, die ihrem Glück im Weg stand – wenn es denn ihr Glück war. Ich wollte nicht frustriert und zynisch sein oder an kein Happy End glauben, obwohl die Anzeichen dagegensprachen.
Also hob ich die Hand zum Abschied und schob mich an Liam vorbei, dem ich fast auf Augenhöhe begegnete. Seine dunkelblauen Augen blitzten auf, aber ich meinte, auch etwas anderes darin flackern zu sehen. Einen Hauch von Reue?
»Ich hab dich lieb, ja?«, sagte Ada und drückte kurz meine Hand.
Ich murmelte eine undeutliche Antwort, nickte steif und verließ das JAJA.
Im grellen Sonnenlicht atmete ich tief aus und stakste auf die Bushaltestelle zu, denn ich hatte Ada versprochen, mich selbst um die Rückfahrt zu kümmern. Leider fuhren die Busse hier nach ihrem eigenen Zeitplan, was mich jetzt besonders aufregte, weil ich dadurch eine gefühlte Ewigkeit hatte, mir über das kurze Intermezzo Gedanken zu machen, es aus allen Blickwinkeln zu beleuchten und mich dabei in eine Spirale aus selbstkritischen Fragen zu stürzen.
Mein Blick fiel auf ein professionelles Werbeplakat und mir rutschte das Herz in die Kniekehlen, als ich Trolljegeren las, den Namen unserer größten regionalen Konkurrenz. Meine Zunge verwandelte sich in einen Fremdkörper, der in meiner staubtrockenen Mundhöhle Zuflucht suchte.
Nicht auch das noch.
Mit zwei Fingern griff ich mir an die Nasenwurzel, schloss die Augen, atmete noch einmal aus. Bloß nicht aufregen …
Aber da stand es. Der Grund, weshalb unsere Anmeldungen in den letzten Wochen dramatisch zurückgegangen waren.
Reise zum Herzen der Trolle – ein Slogan, der meinen Puls dramatisch verdreifachte, denn ich realisierte, dass wir auf einen Abgrund zusteuerten, vor dem ich das Lebenswerk meiner Großeltern vermutlich nicht mehr bewahren konnte. Und ihnen das zu sagen, würde ihnen höchstwahrscheinlich das Herz brechen.
3
SANDER
Ich schulterte meinen Rucksack und folgte Theo in die Eingangshalle der Familienvilla, die genauso luftig und eindrucksvoll war, wie ich sie in Erinnerung hatte. Was nicht zuletzt am Lichthof lag, der allem eine Wärme und Weite verlieh, die viele beim Betreten sprachlos zurückließ. Als würde man in den Himmel schauen. Und den Himmel in sein Herz lassen.
Erst als ich im Esszimmer stand und die lichtdurchflutete Eingangshalle mit dem opulenten Treppenaufgang hinter mir gelassen hatte, atmete ich aus. Ich liebte mein Zuhause, eigentlich. Die gläsernen Fronten mit Blick auf das stetige Schaukeln der kleinen Windwellen auf dem Fjord, die hohen Decken und die rustikale Einrichtung, von der ich nur wusste, dass sie ein Vermögen gekostet hatte. Wie eigentlich alles im Haus, auch wenn der Eindruck etwas täuschte. Es wirkte eher gemütlich, mit vielen warmen Elementen, einladenden Sitzecken und Bücherregalen, die als Trennwände dienten. Einer der schönsten Plätze war die vor einem Fenster eingelassene Bank, unter der sich in zwei Reihen Bücher stapelten: von Klassikern wie Tolstoi bis hin zu historischen Liebesromanen war alles dabei, weil Mama nichts mehr hasste, als dass jemand abwertend über irgendeine Form von Literatur sprach. Und deswegen hatte jedes Buch einen Platz hier verdient.
»Ihr seid schon zurück?« Mama tauchte an der Esszimmertür aus Eichenholz auf und als ich ihre besorgte Miene sah, verkrampfte sich mein Brustkorb. Das dunkelblonde Haar war perfekt frisiert und fiel ihr in leichten Locken bis auf die Schultern, ihre feinen Gesichtszüge hätten wie in den Neunzigerjahren für eines ihrer Lippenstift-Werbevideos herhalten können. Trotz all der verflossenen Zeit hatte sie ihre äußere Schönheit nie eingebüßt, obwohl ihre wahre Schönheit unter der Oberfläche lag. Ihr Herz. In diesem Haifischbecken voller Neid und Missgunst war sie uns nie mit einer falschen Fassade begegnet.
Ich stellte meinen Rucksack auf den Boden und ging zu ihr, um sie zu begrüßen.
»Keine Ahnung, von wem Theo den halsbrecherischen Fahrstil hat, aber wir sind über den motorvei geflogen.«
Ihr leises Lachen klang gepresst, während ich mich zu ihr beugte und ihr einen Kuss auf die Wange gab. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass sie meinem Blick auswich. Schlagartig wurde der Kloß in meinem Hals größer, denn ich ahnte, was ihr Verhalten bedeutete.
»Wo ist unser Familienoberhaupt?«
»Noch in der Firma. Er kommt heute nicht.« Seit meine Großmutter verstorben war, veranstaltete meine Mutter einmal in der Woche ein Familienessen, zu dem auch mein Großvater eingeladen war. Das wäre heute. Und normalerweise ließ er das nicht ausfallen.
Dann wollte Aasmund Skogen mich wohl nicht sehen. Wahrscheinlich war ich in seinen Augen in Ungnade gefallen. Ich hätte nicht so erleichtert sein sollen, aber ich war es.
»Und Papa?«, fragte ich.
»Oben. Er kommt gleich runter. Möchtest du etwas trinken?« Wieder wich sie meinem Blick aus, knetete die Hände vor sich.
»So förmlich?«, fragte ich grinsend, obwohl ich am liebsten gebrüllt hätte. Alles in mir war durchdrungen von einer raubtierhaften Wachsamkeit. »Ich hab das Gefühl, hier herrscht so viel Wärme wie in der Antarktis.«
»Dann frag dich mal, woran das liegt, Arschloch«, hörte ich Theo murmeln und fuhr zu ihm herum. In seinem schönen Gesicht stand nichts als offene Ablehnung. Er wandte sich ab und ging ins Wohnzimmer, wo er sich auf der modernen Capital-Couch niederließ, die Ellbogen auf den Knien abstützte und die Finger ineinander verkeilte. Sein unterkühlter Blick sprach Bände. Als würde alles, was er während der Fahrt zurückgehalten hatte, jetzt aus ihm herausbrechen.
Wow. Das saß.
Niemals zuvor war mir mein kleiner Bruder mit einer solchen Wut begegnet, aber bisher hatte ich auch nicht so eine Scheiße gebaut. Zumindest glaubte meine Familie, dass ich Scheiße gebaut hatte.
»Theodor«, mahnte Mama müde, als hätte sie ihn schon häufig für seine Worte gerügt.
Meine Gedanken überschlugen sich. Wie oft hatten sie über die Sache geredet? Wie oft sich darüber echauffiert, was vermeintlich geschehen war?
»Sander!« Ellis glockenhelle Stimme war wie ein schnell eingeworfenes Beruhigungsmittel für meine Nerven und ich drehte mich mit einem Lächeln zu ihr um. Mit langen Schritten kam meine jüngere Schwester näher. Das bunte Wickelkleid schmiegte sich bei jedem Schritt um ihre Waden, während ein Leuchten in ihre nebelgrauen, klugen Augen trat. Mit ihrem hellen Teint und dem puppenartigen Gesicht wirkte sie immer so unschuldig für ihre einundzwanzig Jahre, aber stille Wasser waren bekanntlich tief. Sie könnte so viel erreichen – wenn sie sich selbst mehr zutrauen würde.
Elli flog förmlich in meine Arme und ich atmete ihren vertrauten, frühlingshaften Duft ein, während ich sie umarmte. Wenigstens eine Person, die sich freute, mich zu sehen.
»Du hast mir gefehlt«, sagte sie, sobald sie sich von mir gelöst hatte und mich von oben bis unten musterte. Mir entging nicht, wie sich ihre Stirn in Falten legte, während sie mich unter die Lupe nahm. Unwillkürlich straffte ich mit einem einnehmenden Lächeln die Schultern.
»Du mir auch, Schwesterlein.«
»Wie immer kein Rückgrat«, schnaubte Theo vom Sofa aus.
Heißkalte Wut erfasste mich. Im Grunde war es mir egal, wenn ich vorverurteilt wurde, weil ich selbst dazu beigetragen hatte, mir ein gewisses Image aufzubauen. Aber wenn es um Elli ging, sah ich rot.
Langsam drehte ich mich zu meinem jüngeren Bruder um, dessen Miene zu einer starren Maske eingefroren war.
»Halt Elli da raus.« Meine Stimme glich dem Rauschen eines wilden Flusses und ich ermahnte mich, nicht zu viele Emotionen zu zeigen. Ihm nicht meine Achillesferse hinzuhalten.
»Warum? Denkst du, sie kann die Wahrheit nicht verkraften? Sie ist genau wie ich kein kleines Kind mehr.« Theo schüttelte den Kopf und machte eine kurze Handbewegung durch die Luft. »Familie hin oder her, nach dem, was du gebracht hast, hättest du die kalte Schulter verdient. Aber unser Sonnenschein und weißes Schaf bringt es nicht einmal fertig, dir offen die Meinung zu sagen.«
Ich hob die Brauen, spürte, wie Mama unruhiger wurde, unsicher, ob sie eingreifen sollte oder nicht. Normalerweise mischte sie sich nicht in unsere Gefechte ein, wofür ich ihr ausgesprochen dankbar war.
Theos Worte ließen mich jedoch kurz stutzen und mein Blick schnellte zu Elli. Ich suchte in ihrem Gesicht nach einem Anzeichen, dass sie insgeheim womöglich genauso dachte wie die anderen, konnte aber im Blick ihrer winternebelgrauen Augen nichts entdecken, das dies bestätigt hätte.
»Nur, weil sie sich freut, mich zu sehen, unterstellst du ihr so einen Mist?«
»Sie kann sich ja noch nicht mal selbst verteidigen, nicht wahr, Schwesterlein?«, ahmte Theo meinen Tonfall nach und schaute grimmig zu unserer Schwester hinüber, deren Wangen die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hatten, während sie auf ihre nackten Füße starrte. Obwohl ihre Miene verschlossen war, bemerkte ich das Zittern ihres Kinns, was mich noch zorniger machte.
Also zählte ich innerlich bis drei, bevor ich gespielt neugierig den Kopf schief legte und Theo gelassen betrachtete. »Was ist eigentlich dein Problem?«
»Du«, knurrte er und ließ endgültig seine Maske fallen, die er sonst so sorgfältig trug. Seine Augen verdunkelten sich. »Du und deine beschissene Sorglosigkeit! Weil du damit kaputt machst, was unsere Familie über Jahrzehnte aufgebaut hat. Und es scheint dir noch nicht mal etwas auszumachen! Es ist dir völlig egal, wie viel Arbeit und Herzblut in das Unternehmen geflossen sind! Du kümmerst dich nur um dich selbst, obwohl es um so viel mehr geht als nur deinen Arsch!«
Ich lachte, wohl wissend, was ich damit auslöste. Lässig vergrub ich die Hände in den Hosentaschen, um ihn noch mehr auf die Palme zu bringen. »Vielleicht sollte ich den Titel als ältester Sohn und Thronfolger einfach an dich weitergeben, wenn dir so viel daran liegt, das Erbe unserer Familie mit deinem perfekten Sohn-Getue zu wahren.«
Meine Mutter und Elli wagten es nicht, ein Wort zu sagen, aber ich registrierte ihre Anspannung, die wie der Geruch eines schweren Parfüms in der Luft lag.
»Du weißt ja gar nicht, was Verantwortung übernehmen bedeutet, sonst wärst du letzte Woche nicht untergetaucht, nachdem das Video die Runde gemacht hat, sondern hättest dafür geradegestanden. Für das, was du getan hast. Oder hättest uns wenigstens vorgewarnt. Aber nein, das Video ist mit voller Wucht eingeschlagen und wir dürfen uns mit den Konsequenzen herumschlagen.«
»Bist du fertig, Papa?«
Theo beugte sich vor und betrachtete mich kühl. »Noch lange nicht.«
»Kann es dir nicht eigentlich egal sein, was ich treibe?« Seltsamerweise war ich in diesem Augenblick auch stolz auf ihn, obwohl ich das vermutlich nicht einmal unter vorgehaltener Waffe zugegeben hätte. Er stand für etwas ein. Glaubte an etwas. Er stellte mich zur Rede, ließ mich nicht einfach vom Haken, sondern behauptete sich.
Er war wirklich erwachsen geworden.
»Nicht, wenn unsere komplette Familie mit im Boot sitzt«, erwiderte Theo, jetzt wieder mit dieser scheinbar unnatürlichen Ruhe in der Stimme und seiner ganzen Haltung. Anscheinend hatte er sich daran erinnert, dass von ihm erwartet wurde, eine Fassade aufrechtzuerhalten. Mein kleiner Bruder war zu einem wandelnden Abziehbild der männlichen Verwandtschaft mutiert.
Meine Augenbrauen wanderten noch ein Stück höher. »Und du glaubst ernsthaft, ich bringe das Boot gerade mit voller Absicht zum Kentern?«
»Nachdem du es für nötig gehalten hast, einer Fremden an die Brüste zu fassen, und damit den Tatbestand der sexuellen Nötigung erfüllst, würde ich behaupten, ja. Ja, das tust du«, hallte die durchdringende Stimme unseres Vaters mit ihrem tiefen Timbre durch den Raum und für einen Moment hielten wir den Atem an.
Als ich den Kopf leicht in seine Richtung wandte, sah ich, wie er mit dieser ungeheuren, beherrschten Ausstrahlung und seiner ungezwungenen Autorität näher kam. Er war legerer gekleidet als sonst, trug eine beige Leinenhose und ein hellblaues Leinenhemd, aber selbst das sommerliche Outfit konnte nicht über die Verachtung in seinen Augen hinwegtäuschen, die darin aufblitzte, sobald sich unsere Blicke trafen.
Wir alle hatten die große Statur von ihm geerbt, ich dazu noch die dunklen Haare und die markante Kieferpartie, das Grübchen am Kinn und die großen Hände, Theo seine dunklen Augen und die Ernsthaftigkeit, Elli sein Lächeln. Unser Vater konnte sämtliche Aufmerksamkeit auf sich lenken, allein durch seine unverwechselbare Präsenz.
Nun war es ausgesprochen.
Kälte durchflutete mich, drang bis in meine Fingerspitzen und ich zwang mich, nicht die Fäuste zu ballen und meine Frustration hinauszuschreien.
Es half auch nichts, dass Stella – die junge Frau in dem Video – bereits ein Statement verfasst hatte, in dem sie davon sprach, dass alles ein riesiges Missverständnis sei, ich immer respektvoll gewesen bin und nicht gegen ihren Willen gehandelt hätte. Die Medien drehten trotzdem ihr eigenes Ding daraus. Von den Kommentaren auf Social Media ganz zu schweigen.
Deshalb war ich hier. Um die Wogen innerhalb der Familie zu glätten und ihnen alles zu erklären, aber anscheinend hatten sie sich bereits eine Meinung gebildet. Was mehr schmerzte als der Umstand, dass die ganze Welt mich für ein Monster hielt.
Aber vielleicht hatte ich das auch einfach verdient. Ich hatte meine Arschloch-Fassade während der letzten Jahre zu sehr perfektioniert, spielte meine Rolle inzwischen zu gut. Wahrscheinlich so gut, dass man mir diese Farce abnahm – am Ende würde ich vielleicht auch noch selbst daran glauben.
»Schön, dich zu sehen«, sagte ich zu far und meinte es so. Von mir und meinen Geschwistern war schon immer viel verlangt worden, aber es hatte uns nie an der Zuneigung unserer Eltern gemangelt. Die Leitung eines Milliardenunternehmens, schicke Bälle, Oldtimertreffen oder Weinproben hin oder her. Wenn ich an meine Kindheit dachte, hatte ich Sommerausflüge in die Berge vor Augen, Schlitten- und Schlittschuhfahren auf zugefrorenen Seen im Winter, kose Augenblicke voller Lachen und Spiele.
Ich las die Enttäuschung in seinem Blick, während seine dunklen Augen auf mich gerichtet waren. »Warum, Aleksander? War das wirklich notwendig?«
Um etwas Zeit zu gewinnen, ließ ich mich am anderen Ende der cremefarbenen Couchgarnitur nieder, weit weg von Theo, der mich keine Sekunde aus den Augen ließ, und überlegte, ob sie die Wahrheit verdient hatten. Stille senkte sich über den Raum.
»Willst du mich nicht fragen, was wirklich vorgefallen ist?«, hörte ich mich schließlich sagen, mein Puls raste.
»Das brauche ich gar nicht.« Mein Vater deutete mit einem Handwisch auf die ausgebreiteten Zeitschriften auf dem Koi-Esszimmertisch von BRABBU, dessen goldene Beinschuppen vermutlich einzeln mehr kosteten als die Monatsmiete für ein Studentenwohnheimzimmer. Die aus Messing gebürstete, bauchige Blumenvase war ein Geschenk meines Großvaters gewesen, zehntausendsiebenhundert Kronen. Dagegen wirkten die günstigen Zeitschriften wie purer Hohn. Bestimmt hatte Helena, die gute Seele des Hauses, sie fein säuberlich nach Aktualität oder Reichweite sortiert. Konstantin, der Pressereferent der KOSGEN-Dynastie, hatte sehr wahrscheinlich sämtliche Praktikantinnen und Praktikanten des Unternehmens darauf angesetzt, alle Ausgaben zu besorgen, die es in Oslo zu bekommen gab. Auf manchen Covern erspähte ich mal mehr, mal weniger vorteilhafte Fotos von mir, aber eines hatten alle gemeinsam: Sie schlachteten dieselbe Story aus, die seit letztem Wochenende durch die norwegische Presse trudelte: ein Greenscreen-Video mit dämlichem Kommentar. Ein Video, das sechs Monate nach der Aufnahme viral gegangen war.
Ich deutete lächelnd auf die Zeitschriften. »Ist das kein aussterbendes Phänomen? Ich wusste nicht, dass die heutzutage noch gelesen werden.«
»Aleksander«, sagte mor und klang dabei so niedergeschlagen, dass sich mein schlechtes Gewissen regte, aber ich kämpfte es nieder.
»Wie viel hast du ihr bezahlt?« Die Stimme meines Vaters klang stählern wie eine frisch geschliffene Klinge und ich gab mir alle Mühe, bei seinen Worten nicht zusammenzuzucken. Stattdessen legte sich ein spöttischer Zug um meinen Mund, wie immer, wenn ich meine Schutzwälle hochfuhr. Gleichzeitig lehnte ich mich auf der Couch zurück, überkreuzte die Knöchel und breitete die Arme auf der Lehne aus.
»Ist das eine ernst gemeinte Frage?«
Ich sah, wie eine Ader an seiner Schläfe zu pochen begann, ansonsten deutete nichts in seiner Mimik darauf hin, dass ich ihn mit meiner überheblich-gleichgültigen Art aus der Fassung brachte.
»Wie viel hast du ihr bezahlt, damit sie die Story dementiert?«, wiederholte mein Vater täuschend ruhig, denn ich wusste, wie sehr es unter der Oberfläche schwelte.
»Keinen Cent.«
»Du lügst.«
»Nein, das tue ich nicht.«
»Du willst also ernsthaft behaupten, dass dieses achtundvierzig Sekunden lange Video nur ein Fake ist? Dass du ihr nicht an die Brüste gefasst hast und sie nicht empört deine Hand weggeschlagen hat? Dass die Aufnahme, die wir alle mit eigenen Augen sehen konnten, nicht das Endprodukt deiner jahrelangen Leichtsinnigkeit ist? Kein Fehltritt des Keksprinzen auf Abwegen?«
Seine Worte sollten nicht so wehtun, aber sie taten es. Das Grinsen auf meinen Lippen war wie festgemeißelt und mein Brustkorb drohte vor Schmerz zu zerbersten. Verdammt.
»Wollt ihr immer noch nicht wissen, was wirklich passiert ist? Oder geht ihr einfach vom Schlimmsten aus?«
»Weißt du inzwischen, wer das Video veröffentlicht hat?«
Keine Reaktion auf meine Frage. Natürlich nicht. Schließlich war ich der rücksichtslose Arsch, der das Erbe unserer Familie gefährdete. Unverschuldet oder nicht. Frustriert presste ich meine Lippen aufeinander. Von wem das Video kam, war die einzige Frage, die ich noch nicht klären konnte.
»Nein«, antwortete ich schließlich.
»Gut.« Far nickte, als hätte er damit gerechnet. »Keine Posts auf irgendwelchen sozialen Plattformen. Keine Interviews. Es ist ein Wunder, dass dir am Flughafen niemand von der Presse aufgelauert hat.«
»Das stimmt so nicht ganz«, mischte sich Theo ein und hob sein Smartphone. Auf dem Display war ein körniges Foto von mir am Taxistand zu erkennen, als ich der Dame mit dem Kopftuch geholfen hatte. Die Überschrift war irgendein Mist, den ich nicht entziffern konnte.
»Warum sitzen sie eigentlich noch nicht in den Bäumen vor dem Tor oder fahren mit Booten den Oslofjord rauf und runter?«, fragte ich höhnisch.
Mor räusperte sich leise. »Weil wir es ihnen ausreden konnten.«
»Du meinst, ihr habt sie bezahlt«, schlussfolgerte ich und sah, wie meine Eltern einen Blick tauschten, womit sie meine Vermutung bestätigten. Erst jetzt fiel mir auf, wie angeschlagen und abgekämpft die beiden aussahen. Um Jahre gealtert, dabei waren nur sechs Monate vergangen, seit wir uns das letzte Mal an Weihnachten gesehen hatten. Es waren nicht nur die dunklen Ringe unter ihren Augen, sondern vor allem etwas in ihren Zügen, das mich für einen Moment stutzen ließ. Mitgefühl stieg in mir auf, während sich gleichzeitig das schlechte Gewissen meldete. Und diesmal konnte ich es nicht zurückdrängen.
Fy faen.
Vielleicht war es doch ein wenig meine Schuld, dass wir jetzt alle in einer Situation steckten, für die wir im Grunde nichts konnten. Aber – absichtlich oder nicht – ich hatte diesen Sturm in ihr Leben gebracht und würde wohl oder übel dafür geradestehen müssen. Auch wenn die Erkenntnis, dass sie das Video für echt hielten, wie tausend winzige Eispickel in mein Herz drang.
Die Entschuldigung lag mir bereits auf der Zunge, als mein Vater mir zuvorkam: »Du wirst in der nächsten Zeit erst einmal untertauchen.«
»Untertauchen?«, echote ich und hob fragend die Brauen. Sofort flammte die abgekühlte Wut in mir auf.
»Wir haben dich spontan für eine zweiwöchige Trekkingtour angemeldet, damit du von der Bildfläche verschwindest, bis Gras über die Sache gewachsen ist«, sagte er jetzt so distanziert und monoton, dass ich ihn kaum wiedererkannte. »Du wirst irgendwann einmal Geschäftsführer von KOSGEN, Aleksander. Es wird Zeit, dass du dich entsprechend verhältst.«
»Ich bin erwachsen und kein rebellischer Teenager, den man mit einem Bootcamp in die richtigen Bahnen lenken kann«, erwiderte ich fassungslos und schüttelte den Kopf.
»Dann benimm dich auch nicht wie ein rebellischer Teenager, sondern wie ein verdammter Mann!«, brüllte mein Vater plötzlich los. »Es ist ja schon peinlich genug, dass wir uns mit deinen Eskapaden herumschlagen müssen, aber wir haben dich nicht umsonst auf diese Rolle vorbereitet, seit du klein warst.«
Die Schlinge um meinen Hals zog sich weiter zu. Wie immer. Wie mein Leben lang.
Zum ersten Mal schaffte ich es nicht, den Schein zu wahren. Also atmete ich tief durch, während mir sehr wohl bewusst war, dass alle Blicke auf mir ruhten. Insbesondere Elli starrte mich mit diesem wissenden, aber auch mitfühlenden Ausdruck an. Vermutlich war sie die Einzige, die meine scheinbar arglose Scharade durchschaute.
Vielleicht lachte ich deswegen etwas zu laut auf. »Das kann nicht euer Ernst sein. Ich bin dreiundzwanzig.«
»Wenn du dich nicht völlig danebenbenommen und damit den Ruf unseres Unternehmens in Gefahr gebracht hättest, müssten wir das gar nicht«, konterte far energisch und mit der typisch einschüchternden Autorität. Jetzt sprach unser Großvater aus ihm. Der nicht hier war. Zum Glück. Andernfalls hätte ich wohl keine Kraft gehabt, überhaupt etwas zu erwidern. Manchmal saugte dieser ganze elitäre Druck jede Energie aus mir.
»Willst du mir sonst noch etwas mitteilen?«, fragte ich, um einen betont lockeren Tonfall bemüht. »Oder wollt ihr mir noch etwas sagen?«, wandte ich mich an die anderen.
»Du bist ein Kotzbrocken, der mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde und seine Privilegien gar nicht zu schätzen weiß.« Theo lief heute anscheinend zur Höchstform auf.
Spöttisch hob ich die Brauen. »Und was bist dann du?«
Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte, als er die Zähne zusammenbiss. »Immerhin bin ich mir – im Gegensatz zu dir – dieser Tatsache sehr wohl bewusst.«
»Dann ist ja gut.« Ich klatschte in die Hände und erhob mich mit einer geschmeidigen Bewegung, obwohl mein Magen rumorte wie nach einer Achterbahnfahrt. Auch mein Brustkorb spannte und mein Herz fühlte sich so schwer an, als hätte es sich in den letzten Minuten in einen Stein verwandelt. Als hätte es einfach aufgehört zu schlagen.
»Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich das Gespräch lieber morgen fortsetzen.«
»Du wirst dir diese Auszeit nehmen, Aleksander.« Mein Vater ließ mich nicht aus den Augen, während ich auf ihn zuging und ihm die Schulter tätschelte.
»Sonst was?« Dieses Mal lag nicht der Hauch eines Lächelns in meinem Gesicht.
»Sonst werden wir uns die Option offenhalten, über deine finanziellen Mittel und deine Zukunft insgesamt nachzudenken.« Wieder tauschten meine Eltern einen Blick und mein Magen sackte in die Kniekehlen. Sie haben das bereits besprochen.
»Was wollt ihr tun, mir meine Anteile abknöpfen?«
Elli war kreidebleich geworden, schwieg jedoch. Theo sah zufrieden aus.
»Wenn es sein muss. Du nimmst dir diese Auszeit, denkst über alles nach und wenn du wiederkommst, reden wir über deinen Einstieg in die Firma.«