8,99 €
Zwei Jahre lang haben die Schüler*innen auf Staat X, das große Schulprojekt, hingearbeitet. Jetzt werden die Türen geschlossen. Die Lehrkräfte ziehen sich zurück. Wer bekommt die begehrten Posten in der Politik, der Justiz und der Wirtschaft? Adrian, Melina, Vincent und Lara freuen sich darauf, ihre Rollen einzunehmen, jeder von ihnen mit einer ganz eigenen Sicht auf Staat X. Doch schon bald beginnt es, hinter den Kulissen zu brodeln: Wer hat die wahre Macht über die Geschäfte und Unternehmen? Wer wagt es, die Grenzen zu überschreiten? Als einige Schüler*innen merken, wie leicht die Kontrollinstanzen zu hintergehen sind, nimmt eine bedrohliche Katastrophe ihren Lauf.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 389
Prolog
Staat X 1 – ADRIAN … Es geht los. …
Staat X 2 – VINCENT … Es roch nach …
Staat X 3 – LARA … Das Hauptgebäude war …
Staat X 4 – ADRIAN … Adrian nahm zwei …
Staat X 5 – MELINA … Als Melina um …
Staat X 6 – LARA … Lara hasste nichts …
Staat X 7 – ADRIAN … Der Ausruf über …
Staat X 8 – MELINA … Der Schulhof quoll …
Staat X 9 – LARA … Anscheinend stimmte es, …
Staat X 10 – ADRIAN … Adrian war geschlagen. …
Staat X 11 – VINCENT … Vincent betrat die …
Staat X 12 – LARA … Die Tür von …
Staat X 13 – MELINA … Die Schlafräume waren …
Staat X 14 – VINCENT … Auf der Dachterrasse …
Staat X 15 – LARA … Mit den Händen …
Staat X 16 – ADRIAN … Es gab so …
Staat X 17 – LARA … Laras Blick schnellte …
Staat X 18 – MELINA … Der zweite Tag …
Staat X 19 – VINCENT … Vincents Körper schrie …
Staat X 20 – LARA … Lara zog ihre …
Staat X 21 – ADRIAN … Eine brütende Hitze …
Staat X 22 – MELINA … Melina entdeckte Kemal …
Staat X 23 – VINCENT … Das Koffein verteilte …
Staat X 24 – LARA … Ihre Bahnen gelangen …
Staat X 25 – ADRIAN … Als Adrian den …
Staat X 26 – MELINA … »Du bist die …
Staat X 27 – VINCENT … Die Gerüchte verbreiteten …
Staat X 28 – ADRIAN … Als Adrian den …
Staat X 29 – LARA … Julian, der sich …
Staat X 30 – MELINA … »Da bist du …
Staat X 31 – ADRIAN … Das beständige und …
Staat X 32 – LARA … Auf dem Schulhof …
Staat X 33 – VINCENT … Ausnahmsweise war Vincent …
Staat X 34 – ADRIAN … Die Gitterstäbe des …
Staat X 35 – MELINA … »Adrian Dennenberg muss …
Staat X 36 – VINCENT … Schon als Vincent …
Staat X 37 – LARA … Die Stille war …
Staat X 38 – ADRIAN … »Sechs Verhaftungen gestern …
Staat X 39 – VINCENT … Vincent vergrub seinen …
Staat X 40 – MELINA … »Warum kommt denn …
Staat X 41 – ADRIAN … »Woher sollen wir …
Staat X 42 – LARA … Lara stand mit …
Staat X 43 – VINCENT … »Sag mal, ist …
Staat X 44 – MELINA … »Ausweis, bitte.« …
Staat X 45 – LARA … Wenn man einmal …
Staat X 46 – VINCENT … Durch die bodentiefen …
Staat X 47 – LARA … »Vincent.«
Staat X 48 – ADRIAN … »Ihr könnt gehen.« …
Staat X 49 – VINCENT … Die jüngeren Schüler …
Staat X 50 – MELINA … Etwas Rotes flog …
Staat X 51 – LARA … Luft. Ich brauche …
Staat X 52 – MELINA … Ich bin sein …
Staat X 53 – ADRIAN … Das Blut gefror …
Staat X 54 – VINCENT … Das alles war …
Staat X 55 – LARA … Die Schrecken des …
Staat X 56 – MELINA … Drei Polizeiwagen vor …
Staat X 57 – ADRIAN … »Es tut mir …
Epilog
Danksagung
Für meinen Mann,denn ohne ihn würde es diese Geschichte nicht geben.
Jeder Mensch hat in unserem Staat das Recht in Würde, Frieden und Freiheit zu leben.Grundrecht, Staat X.
Luft. Ich brauche Luft!
Verzweifelt versuchte Lara, ihre Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Es war, als hätten sich zwei Gewichte auf ihre Schultern gelegt, um sie tiefer ins Wasser zu drücken.
Immer wieder suchten ihre Finger nach dem Beckenrand, doch ihr unbekannter Angreifer war stärker. Zielstrebiger. Tödlicher.
Laras Gedanken überschlugen sich. Sie machte eine Drehung unter Wasser, stieß sich vom Rand ab. Der unerwartete Angriff hatte ihr die Luft aus der Lunge gepresst, zu viel Luft.
Vierzig Sekunden unter Wasser. Vielleicht etwas mehr. Und doch dehnte sich die Zeit für einen kurzen Moment, ließ jedes Gefühl und jede Emotion zu.
Ich hätte mich einfach an die Regeln halten sollen, schoss es Lara durch den Kopf. Es gab nur eine Erklärung. Sie waren auf ihre Recherchen über Staat X gestoßen. Und sie würden alles dafür tun, um sie zum Schweigen zu bringen.
Laras Nägel bohrten sich in die Haut ihres Angreifers. Es musste verdammt schmerzhaft sein. Doch die Genugtuung hielt nicht lange an. Über ihrem Kopf tanzten Lichter, Sterne, die sich durch die Glasfront des Schwimmbads kämpften.
Das Wasser zeichnete die Konturen des Gesichts ihres Angreifers weicher. Ließ es verschwimmen. Es kam ihr vertraut vor. Zu vertraut. Ihr Herz machte einen entsetzten Satz.
Ein Name zuckte durch ihren Kopf, Verzweiflung machte sich in ihr breit. Nein, er konnte es nicht sein. Allen hätte sie es zugetraut. Nur nicht ihm.
Ihre Lunge blähte sich auf. Ihre Glieder wurden schwer. Schwärze umnebelte ihren Geist.
Dunkelheit.
Und das Nichts.
Es geht los. #StaatX
Gedankenverloren scrollte Adrian durch die Posts auf seinem Smartphone, die mit dem Hashtag des Schulprojekts versehen waren. Die allgemeine Euphorie hatte sich auf die sozialen Medien ausgebreitet, doch es gab nicht viel Neues. Das Profilbild eines Mädchens mit hellblonden Haaren, die in zwei auffällige Knoten gebunden waren, ließ ihn innehalten. Olga. Melinas beste Freundin. Automatisch öffnete Adrian Olgas Profil und entdeckte ein Foto, das Melina zeigte. Auf einer Tischtennisplatte sitzend, die Nase in einem Buch vergraben.
Adrian spürte, wie sich sein Brustkorb zusammenschnürte, doch er schaffte es nicht, den Blick von dem katzenhaften Augenpaar abzuwenden, das etwas in ihm auslöste.
Sehnsucht. Das war es.
Ich bin ein Idiot.
Seufzend schloss Adrian die App.
Es war beinahe Montag und er war noch nicht von seiner wichtigen Geschäftsreise zurückgekehrt.
Adrian lauschte in das tiefe Schweigen des Hauses hinein, einen Arm hinter den Kopf gestützt. Sein Blick fiel auf den tickenden Zeiger der schwarzen IKEA-Uhr, die über dem Türrahmen hing und vom Mondlicht beschienen wurde. Mit jeder Sekunde staute sich Hilflosigkeit in ihm an, weil er viel zu genau wusste, was jede weitere Sekunde zu bedeuten hatte.
Zu oft hatte Adrian überlegt, was der Grund dafür war. Warum sein Vater sich stärker, größer, männlicher fühlen musste. Warum er nicht aufhörte, bis Adrians Mutter seinen Namen wimmerte, versuchte, den Nebel zu durchdringen, der den Geist ihres Mannes verblendete.
Er war wieder da.
Adrian hörte den Schlüssel im Schloss, das unterdrückte Fluchen, als Messing auf dem Boden aufschlug, weil sein Vater es hasste, wenn ihm die Dinge englitten, wenn er die Kontrolle verlor. Vielleicht war es die einzige Ähnlichkeit, die sie miteinander teilten. Vielleicht waren es auch mehr.
Die Schritte waren lauernd, als wäre sein Vater auf der Jagd, auf der Suche nach seiner nächsten Beute. Dann wurden seine Schritte zu einem tiefen Grollen wie das Donnern eines Sommergewitters, kurz, bevor es sich in all seiner Gewalt entlud.
Adrian ballte die Hände zu Fäusten. Sein Vater gab sich nicht einmal Mühe, seine Absichten zu verbergen. Er war gekommen, um zu zerstören.
»Judith. Das Essen steht nicht auf dem Tisch.«
Herablassend, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die Gefühle der anderen Person zu verschwenden. Tatsächlich war die einzige Person, die im Universum seines Vaters existierte, er selbst.
Es war ihm einfach scheißegal, zu welcher Uhrzeit seine Frau für ihre Frühschicht im Krankenhaus aufstehen musste.
Trommelnd schlugen seine Schritte auf der Treppe auf.
»Adrian.«
Der Klang seines Namens ließ ihn aufschrecken und noch bevor er darüber nachdenken konnte, stand er bereits im Flur. In Boxershorts und mit nacktem Oberkörper. Innerlich stieß er einen Fluch aus, sobald er seinen Vater erblickte.
Eine Hand am Türrahmen des Elternschlafzimmers, der Ehering glänzte matt im Licht, die Ränder waren verblasst, ebenso wie sein Eheversprechen. Obwohl Adrian ihn mittlerweile beinahe überragte, wirkte er wie ein Riese aus Stein. In den Anzug gemauert, die Aktentasche unter dem Arm, das Gesicht glatt gebügelt mit winzigen Altersfalten um die Augen, die aussahen wie Adrians, nur ganz anders.
Wie ein Laserstrahl glitt sein Blick über seinen Sohn hinweg.
»Du bist tatsächlich zu Hause. Was für eine Überraschung. Und, bist du Präsident von Schule als Staat geworden?«
»Staat X«, murmelte Adrian.
»Was?«
»Ach, egal.« Adrian zwang sich, den Blick nicht abzuwenden, denn damit hätte er Schwäche offenbart. Er zögerte, nur einen winzigen Sekundenbruchteil. »Das ist noch nicht entschieden.«
Sein Vater verzog höhnisch den Mund. »Natürlich nicht. Es würde mich nicht wundern, wenn du bereits in der ersten Runde ausscheidest.«
Wortlos wandte sich sein Vater um, doch die Enttäuschung hatte sich in dessen Gesicht gegraben.
»Mama schläft schon.« Geflüstert, um sie nicht zu wecken.
Mit verengten Augen drehte sich sein Vater wieder um. »Ich habe die letzten zwei Wochen durchgearbeitet, habe gerade fünf Stunden im Zug gesessen.« Erste Klasse. »Das Einzige, was ich erwarte, ist ein fertiges Essen, wenn ich nach Hause komme. Ist das zu viel verlangt?«
Du hättest auch unterwegs essen können, dachte Adrian, doch verkniff sich eine Antwort. Ebenso ließ er die Tatsache unerwähnt, dass seine Mutter in vier Stunden aufstehen musste.
Irgendetwas in Adrians Gesicht ließ seinen Vater innehalten. Grollend machte er einen Schritt auf ihn zu, baute sich wie ein Turm vor ihm auf, bis Adrian das Gefühl hatte, wieder so klein zu sein wie an jenem Tag, als er Melina verloren hatte. Wie in all den Jahren zuvor, in denen es nur sein Versagen gegeben hatte.
Du bist ein Niemand.
Das wirst du auch immer bleiben, wenn du dich nicht endlich mehr anstrengst.
»Du musst es nicht aussprechen, Adrian, ich kann dir deine Gedanken ansehen. Aber es ist eine große Enttäuschung, dass mein eigener Sohn nicht erkennt, was ich alles auf mich nehme, damit es uns gut geht.«
Die Ader in seiner Stirn pulsierte im Licht der Flurlampe, etwas, das ihm eigentlich nicht ähnlich sah, denn normalerweise konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen.
»Sie schläft.« Halbherzig.
»Sie kann auch tagsüber schlafen.« Steinworte.
»Sie muss in vier Stunden aufstehen.«
»Das muss ich auch. Und im Gegensatz zu deiner Mutter habe ich einen Unternehmensverkauf vor mir, von dem viele Arbeitsplätze abhängen. Meine Arbeitszeit ist kostbar. Meine Erholung ebenso.«
Ich. Ich. Ich.
»Was ist denn los?«
Die Tür zum Schlafzimmer sprang auf. Adrian fuhr herum. Wie ein wirres Vogelnest türmte sich das braune Haar auf dem Kopf seiner Mutter, während die dunklen Halbmonde um ihre Augen sie viel älter erschienen ließen, als sie eigentlich war. Sie wirkte so zerbrechlich, hungrig nach Schlaf.
»Ich wollte nur wissen, warum das Essen nicht fertig ist. Aber das konnte Adrian nicht nachvollziehen.«
Der müde Ausdruck in ihrem Gesicht wich Entsetzen. »Das Essen!«
Ihre Schritte verloren sich auf der großen Wendeltreppe und Adrian erhaschte noch einen letzten Blick auf ihren sandfarbenen Bademantel. Das eiserne Schweigen seines Vaters drang in seine Brust und insgeheim wusste er bereits, was nun folgen würde. Was immer folgte, wenn sein Vater enttäuscht war.
Die Strafe: Nichtachtung.
Als Kind hatte Adrian um seine Aufmerksamkeit gebettelt, erst leise, dann laut. Doch es hatte nicht funktioniert. Es hatte nie gereicht. Es war nie genug gewesen.
Sein Vater wandte sich ab. Die Audienz war beendet.
Schweigend sah Adrian ihm hinterher, als er die Treppe herabschritt. Was zurückblieb, war eine seltsame Stille in ihm.
Die Tür zu Tammies Zimmer schwang auf. In dem Gesicht seiner Schwester standen dieselben Gefühle, die auch in ihm tobten.
»Du hast es wenigstens versucht.«
Ihre geflüsterten Worte wurden vom Öffnen und Schließen der Küchenschränke verschluckt.
Adrian schüttelte den Kopf und drehte sich um, spürte dabei den Blick seiner Schwester im Nacken.
In seinem Zimmer war es dunkel. Nur das Handy leuchtete auf. Sechs neue Nachrichten. Drei von Felix, belanglos. Zwei von Kemal.
Schon gepackt?Und bist du nervös wegen der Wahl zum Präsidenten?
Verdammt. Seine Gedanken waren überall, nur nicht bei Staat X. Das würde sich spätestens morgen ändern, wenn das Projekt endlich losging.
Adrian wusste nicht, was er seinen Freunden antworten sollte, also ignorierte er ihre Nachrichten. Bevor er das Handy weglegte, starrte er noch ein letztes Mal auf das Bild von Melina und fragte sich einmal mehr, warum ihn die ganze Schule wie einen Helden feierte, wenn er sich in Wirklichkeit wie ein Feigling fühlte.
Es roch nach Rosen. Vielen Rosen. So intensiv, dass Vincent sich einmal mehr fragte, ob vier Duftkerzen ihren Zweck vielleicht nicht etwas übererfüllten. Wenigstens dachte man nicht an Joints, wenn man sein Zimmer betrat, sondern eher an einen Wellnesstempel.
Auf Vincents Handy ploppte eine Push-Nachricht von der eigens für Staat X entwickelten App auf. Genervt scrollte er durch den Inhalt, der daran erinnerte, dass morgen der Präsident gewählt werden und das Projekt endlich losgehen würde. Kurz ärgerte er sich, die Push-Funktion nicht ausgeschaltet zu haben, denn er hatte durch seine Unaufmerksamkeit den Absprung in Fortnite verpasst. Dabei fiel ihm ein Kästchen am oberen Rand des Bildschirms ins Auge.
Vincent Wehrmann, 178. Mitglied von Staat X, Polizist.
Vincent pausierte das Spiel und öffnete die Nachricht.
Da stand es. Schwarz auf weiß. Man hatte ihn also nicht arbeitslos gemeldet, sondern der Polizei zugeteilt.
Er und Polizist.
Adam und Pavel würden sich totlachen.
Kurz darauf war er wieder in sein Spiel vertieft, so lange, bis er links von sich eine Bewegung wahrnahm. Für gewöhnlich reichte es aus, möglichst konzentriert auf den Bildschirm zu schauen. Manchmal halfen auch die übergroßen Kopfhörer, die Vincents Umgebung zum Schweigen brachten und aus denen wütender Hip-Hop bellte. So wie jetzt.
Doch dieses Mal konnte er seinen Vater nicht so einfach abwimmeln. Er stand in der Tür, keine vier Schritte von Vincents Schreibtisch entfernt, und doch trennten sie Welten. Die dürren Arme vor der Brust verschränkt. Sein Gesicht vom Leben gezeichnet, von dem, was ihn altern und seinen Sohn erwachsen werden ließ. Obwohl sein Vater sich nicht bewegte, spürte Vincent seine Anwesenheit, spürte, wie er ihn beobachtete, sich fragte, wer die schweigende Mauer zwischen ihnen errichtet hatte.
Sofort versteifte Vincent sich. Mumu, seine Katze, lag zusammengerollt auf dem kleinen Ecksofa, ruhig und entspannt, als würde sie die aufgeladene Atmosphäre nicht bemerken. Mumu hieß eigentlich nicht Mumu, sondern Blümchen. Aber es gab so Momente, bei denen eins zum anderen führte, und jetzt hörte sich Blümchen irgendwie falsch an.
Vincents Finger tippten die Tastenkombinationen nicht mehr präzise, sondern fahrig. Das Spiel auf dem Bildschirm verschwamm vor seinen Augen.
Er schoss daneben. Ein Mal. Zwei Mal.
Headshot.
Er war tot. Und sein Gegner vollführte einen dämlichen Freudentanz.
Dann, endlich, löste sich sein Vater aus der Starre und kam auf ihn zu. Er blieb direkt neben Vincent stehen und sah auf ihn herab. Sein Anblick war vertraut und zugleich fremd und die Sehnsucht nach einer Berührung stieg unverhofft in Vincent auf. Also wandte er sich wieder dem flimmernden Bildschirm zu.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich die Lippen seines Vaters bewegten. Vincents Miene blieb starr und ausdruckslos, denn die Worte wurden von seinen Kopfhörern geschluckt. Sie verschwanden. Und hatten keine Bedeutung.
»Was?«
Vincent stülpte die Kopfhörer von den Ohren und tauchte nach einer gefühlten Ewigkeit wieder in der Realität auf. Machine Gun Kelly klang wie ein Echo in seinem Zimmer nach. Mumu streckte sich.
»Ich habe dich gefragt, ob du Lust hast, eine Pizza zu bestellen.«
»Pizza.« Es klang wie Scheiße.
Vincents Vater fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Alt. Er sah alt aus. »Wir haben früher immer samstags Pizza bestellt und uns einen Film angesehen. Meistens einen, für den du noch viel zu jung warst. Du hast immer Adam und Pavel davon erzählt. Lethal Weapon. Erinnerst du dich?«
Er erinnerte sich. An alles.
»Ich bin keine zwölf mehr. Ich bin zu alt, um mich mit meinem Vater auf die Couch zu kuscheln und mir irgendwelche Filme anzusehen.«
»Ich weiß, das meine ich auch nicht. Ich … ich bin nicht besonders gut darin, die Dinge anzusprechen, Vincent. Aber ich habe das Gefühl, dass wir uns voneinander entfernt haben. Und heute ist doch der letzte Abend, bevor du eine Woche in der Schule übernachtest. Ich dachte … ich dachte einfach, dass wir den Abend gemeinsam verbringen könnten.«
Vincents Herz blutete bei diesen Worten, doch sein Blick blieb hart. Zu oft hatte sein Vater ihn übersehen. Zu oft seine ausgestreckte Hand ignoriert, wenn er sehnsuchtsvoll vor dem dunklen Schlafzimmer gestanden und Hilfe suchend seinen Namen geflüstert hatte. Die Nächte waren lang gewesen. Insbesondere nach dem Tod seiner Mutter.
Vincent ballte unter dem Schreibtisch die Hand zu einer Faust. Immer und immer wieder hatte sein Vater seine Hoffnung auf gemeinsame Zeit mit einem flüchtig dahingesagten Satz zerstört und dabei nicht einmal bemerkt, wie ein weiteres Stück seines Sohnes zerbrach.
»Ich penne heute bei Adam. Wir wollen noch ein bisschen zocken.« Das war gelogen. Er musste noch packen.
Sein Vater sah auf die Uhr über der kleinen Couch. 21.11 Uhr. Vielleicht fragte er sich, ob er strenger sein und ihm das Weggehen verbieten sollte. Aber Vincent war siebzehn. In vier Monaten volljährig. Und in einem Jahr raus aus der Bude. Dann würde dieses Zimmer nicht mehr als eine blasse Erinnerung an seinen Sohn darstellen.
»In Ordnung.« Sein Vater räusperte sich. »Wie du meinst. Sag mir Bescheid, falls du deine Meinung änderst.«
Ein unscheinbares Nicken, dann drehte er sich um und ging aus dem Raum. Dabei fiel Vincent die lichte Stelle an seinem Hinterkopf auf. Und seine hängenden Schultern.
Vincent dachte daran, wie sein Vater ihn früher auf seinen Schultern getragen und er seine Arme um dessen Hals geschlungen hatte. Äffchen, du bist mein Äffchen. Vincent dachte daran, wie sie gemeinsam über die Wiese gerannt waren, während die Sonne über ihnen gelacht hatte. Ma hatte mit einem Strahlen im Gesicht am Straßenrand gestanden, sie war die Sonne und er das Äffchen. Sie hatten um die Wette gegrinst – albern und gelöst.
Damals war er sein Sohn gewesen.
Nein.
Er war immer noch sein Sohn.
»Warte.« Mit zwei Klicks war das Spiel beendet. Er stand auf.
Sein Vater drehte sich in der Tür um. Hoffnung schimmerte auf seinem Gesicht, dieselbe Hoffnung, die Vincent immer gehabt hatte. Er spürte plötzlich ein Brennen in seiner Kehle, doch er verdrängte es.
Nicht heulen. Nicht jetzt.
»Ich sage Adam ab. Ich muss sowieso noch packen. Lass uns Lethal Weapon schauen. Aber den zweiten Teil. Den ersten kenne ich in- und auswendig.«
Sein Vater lächelte. So anders und so vertraut.
Vincent grinste zurück. Vielleicht zum ersten Mal seit einigen Monaten.
Am nächsten Morgen fühlte sich Vincent beschissen. Nachdem sein Vater gestern auf der Couch eingeschlafen war, hatte er sich noch einen Joint gedreht. Ein letztes Mal Freiheit. Über die Stränge schlagen, loslassen – bevor sich die Türen der Schule schlossen und sie für eine Woche einen funktionierenden Staat nachahmen würden. Mit Regeln. Konsequenzen. Verantwortung.
Als er sich die Kapuze seines Hoodies übergezogen hatte und noch einen Blick in den Spiegel warf, musste er unweigerlich an Adams Mantra denken.
Kein Problem. Man sieht nie, dass du gekifft hast. Na klar. Vincent sah aus, als wollte er zum Casting eines Zombiefilms gehen.
Der Duft von Kaffee lag in der Luft, als er die Zimmertür öffnete und in den kleinen Flur der Dreizimmerwohnung trat. Die große gepackte Sporttasche stellte er an die Haustür.
In der Küche fand Vincent ein gelbes Post-it auf der Kaffeekanne. Die Schrift war genauso unbeholfen wie ihr Inhalt:
Frisch gebrüht.Viel Spaß bei deinem Schulprojekt!Vielleicht finden wir ja bald mal Zeit für Teil 3 von Lethal Weapon.Papa
Vincent kippte eine Tasse Kaffee herunter, schwarz und ohne Zucker. Mit schweren Schritten schlurfte er aus der Küche, vorbei an dem silber gerahmten Gesicht seiner Mutter auf den Stufen eines Tempels in Hongkong. Treppe runter, zur Haustür hinaus. Die Türkin vom Ein-Euro-Shop nickte ihm zur Begrüßung zu, während sie die Auslagen nach draußen schob. Manchmal, wenn ihr Mann nicht da war, schenkte Vincent ihr Zigaretten.
Adam und Pavel standen schon vor den Schultoren, den Hintern auf ihrem Koffer geparkt. Pavel gab sich ausgiebig seiner Nikotinsucht hin, doch Adam war für so was zu gesund.
»Na? Lebst du noch?« Adam grinste Vincent von der Seite an, als würde ihm jeden Morgen um 7 Uhr die Sonne aus dem Arsch scheinen.
»Noch trifft es ganz gut.«
»Wenn ich in Staat X arbeitslos wäre, würde ich auch so eine Miene ziehen.«
»Ich bin nicht arbeitslos.«
Pavel stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Rauch kam aus seiner Nase. »Du hast einen Job?«
»Jap.«
»Ich hab’s dir doch gesagt!«, meinte Pavel feixend und streckte auffordernd die Hand in Adams Richtung aus, der seinen Rucksack herumdrehte und aus seinem Ledergeldbeutel einen Zehneuroschein pflückte.
»Ernsthaft?«
»Hey, Geschäft ist Geschäft«, meinte Pavel schulterzuckend und ließ das Geld verschwinden.
»Ein halber Chinese, ein Viertel Afroamerikaner und ein ganzer Pole …«, hörte sich Vincent sagen. »Sind schon wieder krumme Dinger am Drehen.«
»Die Wette war legal.« Pavel lachte, während Adam als Antwort mit den Augen rollte. »Und der Witz ist uralt.«
Irgendwann in der siebten Klasse hatte Vincent aufgehört, die vielen Beleidigungen zu zählen. Mittlerweile war Adam in der gesellschaftlichen Leiter aufgestiegen und sie mit ihm.
»Apropos Migrationshintergrund: Irinas Eltern haben ihr übrigens nicht erlaubt, bei Staat X mitzumachen«, warf Pavel ein.
»Was?«
Pavel nickte, den Mund zusammengekniffen.
»Und weshalb?«
»Sie sind nicht damit einverstanden, dass so wenige Lehrer anwesend sein werden. Während der Nacht. Das ist ihnen nicht sicher genug.«
»Als ob Irina zu Hause bei ihren Eltern sicherer vor dir und deinem polnischen Holzklotz wäre«, murmelte Vincent.
Adam nickte ihm anerkennend zu. Vincent zündete sich eine Zigarette an, obwohl er die Risiken kannte.
»Und wo hast du jetzt einen Job?«
»Das werdet ihr dann sehen.«
»Wenn du wenigstens ein bisschen Talent hättest, könnten wir dich in die Band einschleusen, aber so …«
»Ich weiß, meine Talente liegen woanders.«
»Prokrastinieren.«
»Ach, halt die Klappe.«
»Du bist doch einfach nur neidisch«, sagte Adam grinsend und schaute zwei Mädchen hinterher, die ihm unter gesenkten Lidern schmachtende Blicke zuwarfen. Die weite Jeans verbarg seine dünnen Beine, ansonsten gab es keinen Makel an ihm.
Vincent antwortete nicht, sondern nahm stattdessen einen tiefen Zug, hielt den Rauch in seiner Lunge, bis sie sich wehrte. Er hätte damit rechnen müssen, dass sie ihn damit aufziehen würden, und es ging ihm tierisch gegen den Strich.
»Und jetzt?«, bohrte Pavel weiter.
Vincent seufzte. Er würde es ihnen wohl oder übel verraten müssen, damit sie ihm nicht den letzten Nerv raubten. »Also gut, wenn ihr es genau wissen wollt: Ich bin bei der Polizei. Sie haben mich eingeteilt, weil es dort noch freie Plätze gab. Zufrieden?«
Adam stieß ein tiefes wieherndes Lachen aus und Pavel stimmte mit ein. Einige Schüler drehten sich zu ihnen um.
»Du? Bei der Polizei? Müssen die da denn keine Urinproben abgeben?«
»Vielleicht sollte ich euch während des Projekts filzen und einen ganz genauen Blick in deinen Gitarrenkasten werfen, Adam.«
Adam verengte die Augen zu zwei schmalen Schlitzen. Vincent schnippte seine Zigarette weg.
»Das würdest du nicht wagen.«
»Ich an eurer Stelle würde es mir jedenfalls nicht mit mir verscherzen, sonst stecke ich euch noch ins Gefängnis«, antwortete Vincent und klopfte Adam auf die Schulter. Dann griff er nach seiner Tasche und wollte gerade in Richtung Schulgebäude davonschlendern, als er eine helle, aber angenehme Stimme neben sich vernahm.
»Entschuldigung. Geht ihr auf das Johannes-Gutenberg-Gymnasium?«
Vincent hob den Blick. Neben ihm stand ein Mädchen, das er nicht kannte. Ziemlich groß und eindeutig sportlich mit relativ breiten Schultern und trainierten Beinen. Eigentlich nicht sein Typ, doch ihr Lächeln war einnehmend und perfekt – zu perfekt. Als wäre es präzise aufgemalt worden, als wüsste sie genau, in welchem Grad sie die Mundwinkel heben musste, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.
In diesem Fall war es sein gestiegener Puls.
Adam und Pavel wirkten ebenso aus dem Konzept gebracht, dabei fand Adam immer die richtigen Worte.
»Ja.« Vincents Stimme klang seltsam.
»Könnt ihr mir den Weg zum Sekretariat beschreiben?«
»Selbstverständlich«, sprang Adam ein, und obwohl Vincent seinen Freund schon so viele Jahre kannte, war es immer wieder überraschend, ihn in Aktion zu sehen. Auf der Jagd.
Vincent sah es an seiner Haltung, der Art, wie er den Kopf schräg legte, und er verwettete seine Eier darauf, dass Adam jeden Moment dieses schiefe Lächeln auspacken würde. Das, bei dem er nur einen Mundwinkel hochzog, ein bisschen träge, ein bisschen arrogant. Das machte er nämlich immer, wenn er jemanden rumkriegen wollte.
Das Mädchen lächelte.
Auf einmal war Vincents Kopf ganz leer, jeder Gedanke verblasste.
Das Mädchen lächelte ihn an.
Das Hauptgebäude war Furcht einflößend. Groß und mächtig, kein wenig einladend. Wie das Maul eines jener Monster, die nachts unter Laras Bett gelauert hatten, als sie noch ein Kind gewesen war. Ihre letzte Schule war ganz anders gewesen: ein rotes Backsteingebäude, voll mit alten Geschichten, mystisch und vertraut. Immer von Meeresluft eingehüllt, ein bisschen … sicherer.
Ihre neue Schule bestand aus drei Teilen. Hauptgebäude, Nebengebäude und Turnhalle, an die ein Schwimmbad angrenzte. Sie hatte sich die Bilder auf der Homepage angeschaut, versucht, sich vorzustellen, hier zur Schule zu gehen, und sich dabei fremd gefühlt.
Das hier war ein Ort zum Lernen, ein Ort für perfekte Leistungen und gute Noten, für die Elite der Zukunft. Gläsern. Durchsichtig. Ein Ort, an dem sie sich nicht verstecken konnte.
Lara straffte die Schultern und folgte dem Schwarm Schüler, die sich alle angeregt unterhielten. Ihre Gesichter leuchteten, viele der älteren Schüler zogen Rollkoffer hinter sich her, ein paar Eltern winkten zum Abschied aus dicken SUVs und komfortablen Kombis.
Staat X.
Sie konnte sich absolut nichts darunter vorstellen. Doch die E-Mail ihrer neuen Klassenlehrerin Frau Schmied hatte verheißungsvoll geklungen.
Eine Gruppe Jungs stand vor den Schultoren, zwei von ihnen rauchten. Lara ging direkt auf sie zu. Gerade schien der Größte von ihnen aufbrechen zu wollen, denn er schulterte seine Sporttasche. Glatte schwarze Haare und leicht mandelförmige Augen, deren Farbe sie nicht genau definieren konnte. Der zweite Raucher war blond und drahtig, mit so kantigen Zügen, dass Lara glaubte, sich an ihnen schneiden zu können. Der Dritte im Bunde, der an der Steinmauer lehnte, war schlank und seine Haut dunkler.
»Entschuldigung. Geht ihr auf das Johannes-Gutenberg-Gymnasium?«
Der große Schwarzhaarige hielt inne, sah sie an. Die Hände tief in den Hosentaschen seiner dunklen Hosen vergraben, die Miene ausdruckslos.
Aus der Nähe sah er noch besser aus, anders, und obwohl ihr wahrscheinlich die wenigsten zugestimmt hätten, wirkten die beiden anderen neben ihm blass und ein wenig langweilig, beinahe durchsichtig.
Ihre Blicke prallten aufeinander und Lara stolperte in seine außergewöhnlichen Sturmaugen hinein.
»Ja«, lautete seine simple Antwort, die anderen schwiegen.
Na, Halleluja.
Lara wurde ganz warm. Und ihre Mundhöhle fühlte sich ausgetrocknet an. Verdammt. Normalerweise war sie nicht der Typ, der sich grundlos und ohne ein Wort zu wechseln in eine Wachsfigur verwandelte. Eigentlich war Lara sogar ganz geschickt mit Worten, aber jetzt, in diesem Moment, kam es ihr so vor, als wäre ihr Kopf wie leer gefegt.
»Könnt ihr mir den Weg zum Sekretariat beschreiben?«
»Selbstverständlich.«
Der Junge mit dem vollmilchschokoladefarbenen Teint musterte sie interessiert. Als sie seinem durchdringenden Blick begegnete, fielen ihr seine braunen Augen, die schiefe Nase und ein Grübchen im Kinn auf.
»Du bist neu hier«, sagte der Typ jetzt mit einem unwiderstehlichen Lächeln, so einstudiert und perfektioniert, dass es auf das Cover eines Magazins gehörte. Doch auf sie hatte es ungefähr dieselbe Wirkung, wie einen ihrer Brüder beim Pickelausdrücken zu erwischen.
Sie kannte Typen wie ihn. War ihnen zu oft auf den Leim gegangen.
»Wie heißt du?«
»Lara.«
»Ich bin Adam.« Es klang wie eine Offenbarung. »Freut mich, dich kennenzulernen.«
Ja, mich auch.
Das wäre die richtige Antwort gewesen, aber ihre Lippen waren wie zugeklebt. Lara wusste selbst nicht warum, aber etwas in ihr sträubte sich dagegen, sich darauf einzulassen. Zu gefallen, um schnellen Anschluss zu finden.
Als sie nichts sagte, spannten sich seine Kiefermuskeln an. Er war es bestimmt gewohnt, dass sich Mädchen in seiner Umgebung die Kleider vom Leib rissen.
Sie lächelte entschuldigend. »Der Weg zum Sekretariat?«
»Durch den Haupteingang, die große Doppeltür da vorne. Treppe rauf in den zweiten Stock, nach links. Dann ist es ausgeschildert.«
Nun trat er von einem Bein aufs andere und fuhr sich mit einer Hand in den Nacken. Nervös. Und irgendwie ehrlicher als das Schauspiel von gerade eben. Lara beschloss, ihm etwas entgegenzukommen, bevor sie sich auf die Suche nach dem Schuldirektor machte.
»Macht ihr auch bei Staat X mit?« Neugierig sah sie zwischen den Jungs hin und her.
»Klar.« Sofort begann Adam zu strahlen, als hätte jemand eine Lampe angeknipst. »Pavel und ich und noch ein anderer Freund haben eine Band.« Er deutete auf den schlaksigen Typ neben sich, dessen blonde Haare an einen akkurat getrimmten Rasen erinnerten. »Wir geben Konzerte, jeden Tag zwei.«
»Klingt gut. Habt ihr einen Namen?«
»Happy Obscurus.«
Lara musste zugeben, dass ihr die Originalität des Namens und der Harry-Potter-Bezug gefielen. Sie selbst hatte auf eine Hogwarts-Einladung gehofft und war an ihrem elften Geburtstag bitter enttäuscht worden. Ihr Blick schnellte zu dem schweigsamen Jungen, dessen Namen Adam leider nicht genannt hatte. Er schaute Lara unergründlich an und sie starrte zurück. Ihr Herz klopfte auf einmal schneller und sie sah wieder zu Adam, der sie nicht so durcheinanderbrachte.
»Eigene Songs?«
»Meistens.« Adam wirkte nicht wie der Typ, der eigene Lieder schrieb, aber sie wirkte auch nicht wie ein typischer Mathenerd, deswegen verkniff sie sich einen Kommentar. Vorurteile waren ziemlich scheiße.
»Und wie oft spielt ihr während des Projekts?«
»Eine kleine Auswahl an Songs am Nachmittag, etwas länger und andere Lieder abends, wenn die jüngeren Schüler den Staat verlassen.«
»Wieso spielt ihr unterschiedliche Lieder?«
»Da es Proteste der Eltern gab …«, er ließ den Satz unfertig, aber er erschloss sich auch so.
»Helikoptereltern.«
»Ganz genau. Abends ist unser Konzert dann nicht mehr jugendfrei. Wir spielen definitiv interessantere Songs. Würde sich sicherlich lohnen vorbeizuschauen … Und im Anschluss gibt es eine Party auf der großen Dachterrasse. Wir feiern den Start von Staat X.«
»Mal sehen.« Lara lächelte und blickte wieder zu Adams Freund, als ob sie von ihm magisch angezogen würde.
Adam sah zwischen ihnen hin und her und plötzlich änderte sich die Stimmung. Es kehrte eine unruhige Stille ein. Unausgesprochen hatten die unausgesprochenen Dinge eine viel größere Wirkung. So wie jetzt. Lara war sich ziemlich sicher, dass man ihr ihre Gefühle von der Stirn ablesen konnte. Dabei hatten sie Aylin und Steffi immer mit ihrem undurchschaubaren Pokerface und dem Talent, genau zu wissen, was andere hören wollten, aufgezogen.
Laras Sensoren hingegen funktionierten immer noch ausgezeichnet.
Denn etwas hatte sich verändert. Gewaltig verändert.
Die Atmosphäre war statisch aufgeladen.
Der Ausdruck in Adams Augen wurde härter, fast schon bösartig, und als er Lara sein schiefes Lächeln schenkte, hatte sie das Gefühl, dass es seine Augen nicht erreichte. Was auch immer das gerade war, es hatte nichts mit ihr zu tun, sondern war eine Sache zwischen den beiden Jungs.
»Bis dann, Lara.« Adam drehte sich um. Ebenso wie seine beiden Freunde. Ohne sie noch einmal anzusehen.
Alle drei schlenderten davon, doch Lara spürte noch immer die Anspannung, die von Adam ausging. Und etwas anderes. War es Wut?
Seufzend setzte auch sie sich in Bewegung.
Das Sekretariat befand sich im zweiten Stock, so, wie Adam es beschrieben hatte.
Als Lara eintrat, nahm niemand Notiz von ihr. Sie bemerkte den Direktor, den sie von der Homepage der Schule erkannte. Er war in einen Stapel Unterlagen vertieft, kratergroße Runzeln gruben sich in seine Stirn. Graue Brusthaare sprengten den obersten Hemdknopf, er trug keine Krawatte und der gestutzte Bart wirkte wie ein wenig einladender Bettvorleger.
»Entschuldigung«, murmelte Lara, durchbrach die Stille des stickigen Vorzimmers und atmete tief durch.
Keine Reaktion. Dafür lugte der Sekretär mit der dicken Hornbrille hinter seinem PC-Bildschirm hervor. Adios, klischeehafte Geschlechterrollenverteilung.
»Herr Ehlsberg, Sie haben Besuch.«
Wie auf Kommando fielen die angespannten Falten auseinander und machten einem offenherzigen Lächeln Platz, das sich wie eine Umarmung anfühlte.
»Ah, Lara Hanser, oder?«
Sie nickte.
»Das ging ja schnell. Na dann, herein in die gute Stube.«
Schweigend und etwas eingeschüchtert folgte Lara ihm in das zweite Zimmer, das in einer Zeitkapsel stecken geblieben zu sein schien, denn bis auf die zwei Bildschirme hatte sich in den letzten dreißig Jahren wahrscheinlich kaum etwas verändert. Eine gelb verfärbte Zimmerpflanze gab den sterbenden Schwan, auch der Mülleimer sah aus, als wäre er zu Tode gefüttert worden. Überquellende, alphabethisch sortierte Aktenschränke ließen den Raum schrumpfen. Zwei Stühle krönten den Teppich und von mehreren gerahmten Fotos strahlte Lara eine Bilderbuchfamilie entgegen. Aber Lara wusste, wie täuschend ein Foto sein konnte.
»Nun, inwieweit bist du denn über Staat X informiert?«
Direktor Ehlsberg nahm hinter dem Schreibtisch Platz und bedeutete Lara mit einer Handgeste, sich zu setzen.
»Ich weiß nicht viel darüber. Frau Schmied meinte nur, dass diese Woche aus den Projekttagen besteht und ich deswegen heute zuerst zu Ihnen kommen soll.«
»Schule als Staat. Hast du davon schon einmal gehört?«
Lara schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Die Schule wird sich für eine Woche in einen Staat verwandeln. Wir haben ein paar engagierte Schüler und Schülerinnen, die beinahe zwei Jahre ihrer Freizeit geopfert haben, um dieses Projekt auf die Beine zu stellen. Nun ist es leider so, dass es aufgrund von Schulinterna und der Vorlaufzeit kaum noch möglich ist, dass du an diesem Projekt auf dieselbe Weise teilnimmst wie deine zukünftigen Klassenkameraden.«
Lara spürte, wie sich ihre Kehle verengte. »Wie meinen Sie das?«
»Wir haben uns für eine etwas gewagtere Variante von Schule als Staat entschieden, denn die höheren Klassen werden auch in der Schule übernachten. Das hat anfangs für viele Diskussionen gesorgt, aber wir haben uns dazu entschlossen, noch einen Schritt weiterzugehen: Den Staat wirklich in die Hände der Schüler zu übergeben, was eine riesige Verantwortung ist, aber gleichzeitig auch ein tolles Experiment. So können wir sehen, ob sie tatsächlich fähig sind, einen Staat zu führen.« Direktor Ehlsberg faltete die Hände und sah Lara direkt in die Augen. Er hat einen warmen Blick, dachte sie. »Alles ist genau durchgeplant. Schlafplätze. Essensrationen. Die Jobs sind verteilt. Daher wirst du in Staat X leider arbeitslos gemeldet und abends wie die jüngeren Schüler nach Hause gehen müssen. Das ist die einzige Möglichkeit, wie du überhaupt an dem Projekt teilnehmen kannst. Ihr müsst einfach schauen, wie die Woche für dich gestaltet werden kann.«
Seine Worte drangen nur dumpf bis in Laras Bewusstsein. Arbeitslos. Nicht übernachten.
Sie würde wieder allein dastehen. Als die Außenseiterin. Als diejenige, die zwar bei dem Projekt mitgemacht, aber keine richtige Rolle gehabt und somit nicht die gleichen Erfahrungen wie die anderen gesammelt hatte.
»Ah, Frau Schmied. Das ist Lara Hanser, Ihre neue Schülerin aus Hamburg.«
Wie in Nebel gehüllt nahm Lara wahr, wie eine Frau mit strahlendem Lächeln auf sie zukam und ihr die Hand reichte. Irgendwie schaffte Lara es, aufzustehen und den Handschlag zu erwidern.
Eben war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie zu Adams Konzert am Abend gehen wollte, jetzt hätte sie ihr letztes Hemd dafür gegeben. Um dazuzugehören. Um ein Teil der Gemeinschaft zu sein.
Ein Gefühl von Enttäuschung schwappte über Lara, nahm ihr die Luft zum Atmen und erst, als sie im Klassenzimmer stand und in eine Horde fremder Gesichter blickte, wurde ihr bewusst, dass sie sich zusammenreißen musste.
Es gab nur eine Chance für den ersten Eindruck.
Und die durfte sie nicht vermasseln.
Adrian nahm zwei Stufen auf einmal, sprintete den Weg zur U-Bahn hinab, die große Sporttasche über die Schulter geschnallt.
Mit jedem Schritt spürte er, wie sich sein Körper etwas mehr entspannte. Mit jedem Schritt ließ er sein Zuhause zurück.
»Adrian, wie schön.«
Als er die schweren Einkaufstüten in Frau Zimmermanns Händen erblickte, blieb er prompt stehen. Wie Ketten schnitten die Henkel in die Haut seiner alten Nachbarin. Adrian sah die U-Bahn einfahren. Er wandte sich ab, obwohl er viel zu spät dran war. Felix konnte warten. Zumindest dieses eine Mal.
»Soll ich Ihnen helfen?«
Ihre Augen wurden glasig. »Das wäre wunderbar. Hab vielen Dank.«
»Nicht dafür.« Adrian schüttelte den Kopf. »Sie wissen doch, dass Sie mir Bescheid sagen können, wenn Sie etwas brauchen. Ich erledige die Einkäufe auch gerne nach der Schule für Sie.«
»Ach, Adrian. Danke. Du weißt, ich hab es nicht so damit, andere um Hilfe zu bitten.«
Wortlos nahm er Frau Zimmermann die beiden Einkaufstüten ab, trug sie den ganzen Weg zurück zum Nachbarhaus. Dichte Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und hielten die Wärme des gestrigen Sommertags gefangen. Ein wenig roch es nach Regen. Die Art von Sommerregen, die einen irgendwie glücklich zurückließ.
Mit jedem Schritt spürte er, wie sich sein Körper wieder anspannte, seine Glieder schwerer wurden. Die Jalousien der Hausnummer 17 blieben unten, der Anblick seines Elternhauses war gleichzeitig seltsam und vertraut. Er trug die Einkaufstüten in den vierten Stock des Hauses nebenan. Frau Zimmermann wollte ihm einen Zehneuroschein in die Hand drücken, doch er lehnte kopfschüttelnd ab und verabschiedete sich.
Als Adrian schließlich eine halbe Stunde später in der Schule ankam, war es ziemlich ruhig auf den Fluren.
Von den Wänden starrte ihm sein eigenes Gesicht entgegen. Im Gegensatz zu den anderen drei Kandidaten schaute er ernst und ohne ein Lächeln in die Kamera. Adrian hatte das Gefühl, dass eine seltsame Melancholie von dem Plakat ausging.
Dies war nicht das Foto eines Gewinners.
Dies war das Bild eines Verlierers.
»Da bist du ja. Ich dachte, du kommst früher.«
Wie aus dem Nichts tauchte Felix neben ihm auf, die Wangen gerötet, das blonde Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab.
»Ich hatte noch etwas zu erledigen«, sagte Adrian ausweichend. Normalerweise gab es keine Geheimnisse zwischen ihnen. Aber Adrian wollte sich nicht die Blöße geben zu erzählen, dass er seiner alten Nachbarin geholfen hatte.
In diesem Augenblick bogen Johanna und Anna-Maria um die Ecke, ganz in ein Gespräch vertieft, und nahmen sie nicht wahr. Im Gegensatz zu ihren strahlenden Wahlplakaten wirkten die Mädchen heute sehr ernst.
Johanna bemerkte sie zuerst. Ihre konzentrierte Miene machte einem beinahe mörderischen Ausdruck Platz. Adrian wusste, dass Staat X ihr Baby war, alles, worauf sie in den letzten zwei Jahren hingearbeitet hatten. Er konnte es den beiden nicht verübeln, dass sie jemanden wie ihn nicht auf dem obersten Treppchen der Gesellschaftsleiter sehen wollten. Er, der für alles stand, was sie verabscheuten.
»Ist was?«, fragte Adrian gespielt locker.
»Wenn du die Mehrheit erhältst, lege ich Protest ein. Staat X wird nicht dein kleiner Hofstaat, Dennenberg«, zischte Johanna und verengte die Augen zu zwei schmalen Schlitzen, wodurch sie in etwa die Bedrohlichkeit eines Plüschhasens erreichte.
»Ist es dafür nicht etwas zu spät? Falls ich die Mehrheit im ersten Wahldurchgang erhalten sollte, ist das alles höchst demokratisch abgelaufen.«
»Du bist noch nicht einmal in einer Partei.« Vor Empörung lief Johanna knallrot an. »Du warst bei keinem einzigen Parteitag. Seit Wochen laufen da die Vorbereitungen. Wir hatten schon mehrere Abstimmungen, wir haben alle Gesetze beschlossen und du hast nicht einen Finger krumm gemacht. Du hast es gar nicht verdient, Präsident zu werden. Für dich ist das doch nur ein dämliches Spiel!«
»Tja, das Volk macht eben, was es will, und wählt denjenigen, der für die Interessen der Bürger einsteht.« Scheinbar unbeteiligt zuckte Adrian mit den Schultern. Für einen Moment dachte er an seine überzogenen Wahlversprechen – niedrige Steuern, gute Löhne und kurze Arbeitszeiten –, alles Versprechen, die er unmöglich einhalten konnte, ohne Staat X nach zwei Tagen in den Ruin zu treiben. Gleichzeitig war ihm sehr wohl bewusst, dass es in der realen Politik auch nicht anders aussah: leere Worte und verdrehte Wahrheiten.
Johanna verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, und nachdem du gewählt wurdest, machst du es wie Hitler und marschierst in Polen ein, um deinen verschwenderischen Staatshaushalt zu subventionieren.«
»Touché.« Adrian spürte, wie ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfte. Johanna war schlagfertig und trug ihr Herz auf der Zunge, er mochte das.
»Na, aufgeregt?«
Lars, mit dem Adrian bis auf Sport keine gemeinsamen Kurse hatte, stieß mit zwei Freunden hinzu und schnitt Johannas Antwort ab, was Adrian grinsend zur Kenntnis nahm. Ihr Gesicht hatte mittlerweile die Farbe einer überreifen Tomate angenommen. Kurz verspürte er so etwas wie Mitgefühl.
Er und die Neuankömmlinge begrüßten sich mit Handschlag.
»Was meinst du mit aufgeregt? Wir wussten ja immerhin, worauf wir uns einlassen, als wir uns für die Kandidatur entschieden haben.«
»Ich finde es heute allerdings zehnmal so einschüchternd wie damals, als es um die Bewerbungen ging. Du nicht?«, fragte Anna-Maria. Niedlicher Schmollmund und große dunkelbraune Augen, aber hauptsächlich war sie ihm aufgrund ihrer argumentativen Diskussionen in Ethik aufgefallen.
Er zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt: nein.«
»Nein?«
Adrians Blick streifte ihr Gesicht, abschätzig und kühl, eine flüchtige Berührung. »Vielleicht ist das auch einfach nur ein weiteres Indiz dafür, warum kein Mädchen den Job machen sollte.«
Johanna ging zum Gegenangriff über: »Du bist dermaßen selbstgerecht und chauvinistisch. Das ist echt unglaublich!«
»Also ich finde Staat X auch ziemlich beeindruckend«, mischte sich nun Lars ein und sprang den Mädchen bei. Mit seinen schlaksigen Gliedmaßen und dem treuen Hundeblick hatte er Ähnlichkeiten mit Groot aus Guardians of the Galaxy.
Insgeheim malte Adrian ihm neben Johanna die besten Chancen aus, aber das musste er ihm nicht unbedingt auf die Nase binden. Lars war nett und aufgeschlossen und auf eine nervige Weise selbstlos, etwas, das die anderen spürten und als ehrlich empfanden.
»Die Aufmerksamkeit der ganzen Schule lastet auf dem Präsidenten, das geht doch nicht spurlos an einem vorüber«, fuhr Lars nun fort. »Die tolle Stimmung, die verschiedenen Institutionen und Funktionen. Ganz ehrlich? Ist doch der Hammer! Also ich finde die Vorstellung, Präsident zu werden und die Verantwortung für den Staat zu übernehmen, auch ganz schön beängstigend.«
»Wenn du meinst.«
Wie die anderen beiden gehörte auch Lars einer der fünf Parteien an – DP, Demokratische Partei, eine Mischung aus CDU und FDP, liberal, aber konservativ, politisch eher Mitte-rechts einzuordnen. Johannas Partei hingegen stand eher für Ökoschlappen und soziale Gerechtigkeit. Vielleicht war dies auch der Grund, warum die DP gemeinsam mit der Liberalen Volkspartei, kurz LVP, die Regierungskoalition bildete. Sobald es um den eigenen Geldbeutel ging, schien jeder sich selbst der Nächste zu sein, und beide Parteien hatten schlicht das beste Programm auf den Tisch gelegt.
»Wir werden sehen, wer später in die Stichwahl kommt.«
Damit nickte Adrian in die Runde und ging davon. Felix schloss sich ihm an, hatte jedoch den Blick abgewandt, als ob ihn etwas beschäftigte.
»Hey, Adrian!«
Sofort blieb er stehen und setzte sein unerschütterliches Lächeln auf, fest und sicher. Wie ein Rettungsring. Kemal und ein paar Mädchen aus der Parallelklasse kamen ihnen entgegen. Adrian hob die Hand zum Gruß, verbarg seine Selbstzweifel hinter guter Laune und lachte an den richtigen Stellen.
Sein Lächeln hielt.
Es hielt so lange, bis Melina um die Ecke trat und sich jedes bisschen seines Selbstvertrauens in Luft auflöste.
Als Melina um die Ecke bog, stand Adrian Dennenberg bei den Spinden, umgeben von einer Horde Schülerinnen, die schmachtend an seinen Lippen hingen. Die letzten Jahre hatte sie es so gut wie möglich geschafft, ihm aus dem Weg zu gehen, doch seit ihr Klassenzimmer ins Hauptgebäude verlegt worden war, blieben ihre Begegnungen unausweichlich.
Melina konnte sie an zwei Händen abzählen. Acht Mal war sie ihm begegnet und jedes Mal hatte sie sich geschworen, nicht wie ein verschrecktes Reh vor einem Auto zu verharren. Jedes Mal war sie gescheitert.
Adrian grinste und wandte sich in ihre Richtung. Sein Blick traf sie wie ein Blitzschlag.
Für den Bruchteil eines Moments meinte sie, ein Aufleuchten in seinen dunkelbraunen Augen zu erkennen, etwas, das sich vertraut anfühlte wie Fingerspitzen, die über ihre Haut strichen. Dann erlosch das Leuchten und machte einem harten Ausdruck Platz. Einem Ausdruck, der wie Zartbitterschokolade auf ihrer Zunge klebte.
Adrian runzelte die Stirn, sein Blick verweilte auf ihrer neuen Frisur. Sie fühlte sich schutzlos. Ausgeliefert.
Obwohl Melina rasch den Kopf senkte und den Griff um ihren Rollkoffer verstärkte, hatte sie das Gefühl, dass Adrian sie davon abhielt, einen klaren Gedanken zu fassen.
Auch die anderen wandten sich zu ihr um, suchten nach dem Grund für Adrians plötzliche Ablenkung.
Ihre Wangen brannten.
Wortlos beschleunigte Melina ihre Schritte und ärgerte sich einen Moment lang darüber, sich die langen Haare in den Pfingstferien abgeschnitten zu haben.
»Du kennst Kaschinski?« Die Stimme des Mädchens direkt neben Adrian klang beinahe schrill.
Weil Melina die Lüge nicht in Adrians Gesicht sehen wollte, schaute sie stur zu Boden, ihren dröhnenden Herzschlag und das Echo der Vergangenheit ignorierend.
»Nein.« Adrians Stimme öffnete alte Wunden. »Nicht wirklich.«
Wie von selbst verkrampften sich Melinas Finger um den Block und die Unterlagen, die den Ablauf von Staat X näher erläuterten, in der anderen Hand schob sie ihren Rollkoffer. Mit gesenktem Kopf und angehaltenem Atem ging sie an der Gruppe vorbei, die ihr nun keine Beachtung mehr schenkte und sich über die bevorstehenden Tage unterhielt.
Erleichtert atmete sie auf.
»… du wirst bestimmt Präsident.«
Wieder das Mädchen.
»Nachher wissen wir mehr«, hörte Melina Adrian antworten.
»Habt ihr eure Schlafplätze schon zugewiesen bekommen?«, fragte jemand und wechselte somit das Thema. Wahrscheinlich Felix, der sich wie ein Schatten in Adrians Nähe aufhielt.
Erinnerungen drängten sich an die Oberfläche, doch Melina versuchte, sie zu unterdrücken.
»Selbst wenn du nicht zum Präsidenten gewählt wirst, gibt es noch andere interessante Positionen. Also, ich arbeite im Standesamt. Du darfst mich gerne besuchen«, erwiderte das Mädchen.
»Ich dachte, du hast eine Stelle im Schwimmbad angenommen?« Etwas Anzügliches schwang in Kemals Stimme mit, der neben Felix Adrians bester Freund war. Melina nutzte die kurze Ablenkung, um einen Blick zu riskieren. Adrian sah genervt aus. Sein Stirnrunzeln sprach Bände.
»Es gab keine freien Plätze mehr«, flötete das Mädchen. »Aber wir können ja auch so mal zusammen schwimmen gehen.«
Melina spürte, wie sich ihr Gesicht zu einer höhnischen Grimasse verzog, als sie endlich außer Hörweite gelangt war und die Treppen ins zweite Obergeschoss des Hauptgebäudes ansteuerte. Noch immer hing der leichte Geruch von frisch aufgetragener Farbe in der Luft, obwohl die Renovierungsarbeiten bereits drei Wochen zurücklagen. Melinas Blick schweifte geistesabwesend hinunter auf den großen Schulhof, der aussah wie die Architektenpläne ihres Vaters, die den großen Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer belagerten. Perfekt gepflanzte Bäume, unter denen Bänke standen, ein aufgemaltes Fußballfeld, drei Tischtennisplatten. Die großen, fast bodentiefen Glaswände spiegelten die Sonne und reflektierten das Wasser des Schwimmbads, das erst im letzten Sommer neu eröffnet worden war. Es war heiß für Juli. Verdammt heiß.
Melina konnte den Gedanken an Adrian noch immer nicht ganz abschütteln. An die Art, wie er ihre Bekanntschaft abgestritten hatte. Als sie endlich das Klassenzimmer betrat, rollte lawinenartig ein Gähnen durch den Raum.
Wortlos stellte Melina ihren Koffer an die Seite, neben den bunten Haufen der anderen, und ließ sich auf ihren Platz in der vorletzten Reihe nieder.
»Hast du einen Geist gesehen?«
Sie spürte den Blick ihrer besten Freundin Olga fragend auf sich ruhen. Lilafarbener Lidschatten, der zu dem engen Choker passte und gleichzeitig ihr schräges Outfit unterstrich.
»Müde. Koffein.«