Vielleicht nie (Vielleicht-Trilogie, Band 2) - Carolin Wahl - E-Book
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Vielleicht nie (Vielleicht-Trilogie, Band 2) E-Book

Carolin Wahl

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Beschreibung

Mitreißend, prickelnd, ergreifend! Die Reihe mit Herzklopfgarantie. Sie verbirgt ihr wahres Ich mit einer Maske. Nur er blickt dahinter – und in ihr Herz. Studium, netter Freund, bezahlbare WG: check! Eigentlich verläuft Joanas Leben perfekt nach Plan, das einzige Problem: Es ist nicht ihr Plan. Ihre wahren Wünsche verbirgt sie hinter einer hübschen Maske. Bis Kilian, der Bruder ihrer besten Freundin, wieder in München auftaucht. Mit seinen verführerischen Cocktails und provokanten Sprüchen mischt der Barkeeper ihr Leben ziemlich auf. Denn er ist der Einzige, der hinter ihre Fassade blickt. Doch der Adrenalinjunkie passt so gar nicht in Joanas sichere Zukunft. Aber Kilian weckt Träume in ihr, die sie schon längst verdrängt hat. Und Gefühle, die sie auf keinen Fall zulassen darf … »Vielleicht nie ist eine echte, mitreißende Liebesgeschichte über Träume und den Willen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Joana und Kilian haben mein Herz berührt.« Nikola Hotel Im zweiten Band ihrer New Adult-Reihe zeigt Carolin Wahl, wie wichtig es ist, für sich selbst und seine eigenen Träume einzustehen. Eine humorvolle Liebesgeschichte, die auch ernste Themen wie Verlust und Zukunftsangst aufgreift. Mitreißend, prickelnd, ergreifend!

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Seitenzahl: 473

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Inhalt

Playlist

Kapitel 1 – »Oh, da wollte …

Kapitel 2 – Vor den Zelten …

Kapitel 3 – Nichts war schöner …

Kapitel 4 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 5 – Ich konnte nicht …

Kapitel 6 – Obwohl ich darum …

Kapitel 7 – Ich lag die …

Kapitel 8 – Zu meiner Überraschung …

Kapitel 9 – Die nächsten zwei …

Kapitel 10 – Kilian und ich …

Kapitel 11 – »Jogginghose oder Ausgehkleid?« …

Kapitel 12 – Gehetzt stellte ich …

Kapitel 13 – Die Atmosphäre im …

Kapitel 14 – »Warum hast du …

Kapitel 15 – Ich schäumte vor …

Kapitel 16 – Als ich am …

Kapitel 17 – Mit dem November …

Kapitel 18 – Als wir in …

Kapitel 19 – In besagtem Kühlschrankfach …

Kapitel 20 – Während der nächsten …

Kapitel 21 – Als ich an …

Kapitel 22 – Am Morgen von …

Kapitel 23 – Die Party im …

Kapitel 24 – Anfang Dezember war …

Kapitel 25 – Mitte Dezember, kurz …

Kapitel 26 – »Wie verbringst du …

Kapitel 27 – Das bevorstehende Weihnachtsfest …

Kapitel 28 – »Hallo«, rief ich …

Kapitel 29 – Nach Weihnachten bei …

Kapitel 30 – Erst auf dem …

Kapitel 31 – Kilian wurde am …

Kapitel 32 – Ich gab mir …

Danksagung – Es war ein …

Triggerwarnung

Rezepte

Für meine Familie – weil es diese Reihe ohne euch nicht gäbe.

Ich bin so unheimlich dankbar für die liebevolle Unterstützung.

Und für Jessi, weil du seit zehn Jahren immer von Anfang an dabei bist, und wegen Kilian.

Playlist

Boston – More Thana Feeling

Daniel Caesar (feat. H.E.R.) – Best Part

Deichkind – Luftbahn

Doja Cat (feat. SZA) – Kiss Me More

Emily Burns – Is It Just Me?

Fall Out Boy – My Songs Know What You Did In The Dark

Felix Sandman – Every Single Day

Ginuwine – Pony

Glimmer of Blooms – Can’t Get You Out Of My Head

Grace Carter – Wicked Game

Griff – Black Hole

Harry Styles – Watermelon Sugar

Hollow Coves – Coastline

Ivy Levan – Who Can You Trust

Machine Gun Kelly, YUNGBLUD & Travis Barker – I Think I’m Okay

Mark Forster – Übermorgen

Maroon 5 – She Will Be Loved

Mika – Happy Ending

Olivia Rodrigo – 1 Step Forward, 3 Steps Back

Regard – Ride It

Sofia Karlberg – Toxic

The Flying Pickets – Only You

The Weeknd (feat. Ariana Grande) – Save Your Tears

Tove Lo – Cool Girl (Part of my Fairy Dust)

Vance Joy – Mess Is Mine

Zhavia Ward – Candlelight

Liebe*r Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!

Wir wünschen euch das bestmögliche Lesevergnügen.

Kapitel 1

»Oh, da wollte ich schon immer rein!« Mit einem aufgeregten Leuchten in den Augen zeigte Brie – seit diesem Sommer meine Mitbewohnerin und mittlerweile Freundin – auf den gewaltigen Monsterkopf, der sich alle zehn Sekunden in die eine, dann in die andere Richtung bewegte.

Es war Samstag, und um uns herum herrschte das übliche dichte Gedränge auf der Wiesn. Kindergeplapper und der Duft nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln erfüllte die Luft, gemischt mit einem leichten Malzgeruch. Hin und wieder wurde das beständige Summen der Gespräche von dem ein oder anderen gellenden Schrei unterbrochen, der so schrecklich klang, dass ich seit fünf Minuten eine permanente Gänsehaut hatte.

Ausgerechnet als ich hochschaute, fixierten mich die rot glühenden Augen des überdimensionalen Kopfes, und ich unterdrückte ein Schaudern, während ich mich rasch abwandte. Genau in diesem Moment ertönte ein lautes, zischendes Geräusch über mir, und ich schrak ein weiteres Mal zusammen, einen Fluch unterdrückend.

»Keine Chance«, murmelte ich.

»Was, wieso nicht?« Brie zog enttäuscht eine Schnute, sodass sie wie ein niedlicher Hundewelpe aussah, dem eine Kuscheleinheit verweigert wurde. »Das wäre doch bestimmt witzig!«

Meine Definition von witzig sah definitiv anders aus. Notgedrungen schielte ich noch einmal in Richtung des Monsters, das hämisch seine Fratze verzog und alles daransetzte, mich heute mit Albträumen nach Hause zu schicken.

»Hast du dir das Ding mal angesehen?«

»Ja! Es sieht genauso aus, wie ich mir eine Gruselbahn immer vorgestellt habe. Ach komm schon, das wird lustig, wenn die anderen da sind …« Sie schob ihre Unterlippe vor und sah mich mit diesem flehenden Blick an, der ihre bernsteinfarbenen Augen noch größer und runder wirken ließ. »So als Geburtstagsgeschenk?«

Na toll. Das konnte ich Brie unmöglich abschlagen. Schließlich waren wir nur aus diesem Grund heute auf die Wiesn gegangen: um ihren Geburtstag zu feiern. Ihre Landung in München war keine Woche her, nachdem sie sich dafür entschieden hatte, hier ihr Architekturstudium fortzusetzen. Sie war vor knapp fünf Monaten aus Brasilien in die bayrische Hauptstadt gekommen, um ein Praktikum bei der Catering-Firma Leckerste anzufangen, wo meine beste Freundin und zweite Mitbewohnerin Karla und ich gelegentlich im Service arbeiteten. Dort war Brie quasi undercover in der Küche angestellt gewesen, um alles über ihren Vater, einen der Geschäftsführer, herauszufinden, dem sie zuvor noch nie begegnet war. Dabei war sie in unsere WG gestolpert, hatte sich in Anton – oder Toni, wie wir anderen ihn nannten – verliebt und unser Leben mit Wärme und Licht erfüllt. Denn genau daran erinnerte mich Brie, wenn ich sie beschreiben müsste: an einen perfekten Sommertag am Strand von Rio. Oder zumindest stellte ich ihn mir so vor.

Ich seufzte ergeben. »In Ordnung, wenn die anderen mitmachen.«

»Yes!« Begeistert reckte sie einen Arm in die Luft.

Brie scherte sich kein bisschen darum, was andere Leute von ihr denken könnten. Genau das liebte ich so an ihr. Diese unbändige Freude am Leben und den Kleinigkeiten, die es mit sich brachte. Vorgestern zum Beispiel war sie durch die Wohnung getanzt, weil sie einen Marienkäfer entdeckt hatte. Getanzt. Wortwörtlich. Deswegen war ich auch so glücklich darüber, dass sie ihr Studium in München fortsetzen und weiter in unserer Mädels-WG wohnen würde.

In diesem Augenblick klingelte mein Handy, aber es war nicht Karla, sondern mein Freund Manu, wie ich mit einem Blick auf das Display feststellte.

»Hey. Wir gehen gleich rüber zum Festzelt, sobald Karla auftaucht. Treffen wir uns dort?«, begrüßte ich ihn über den summenden Lärmpegel hinweg.

»Ich komme nicht.«

»Was?« Ich hielt mir das andere Ohr zu, um ihn besser verstehen zu können, gleichzeitig wandte ich mich etwas von Brie ab.

»Ich kann nicht, mir ist was dazwischengekommen.«

»Aber es ist Bries Geburtstag. Was kann denn jetzt dazwischengekommen sein?«

»Vikki hat mich um einen Gefallen gebeten, ist ein Notfall.«

Ich zog die Stirn kraus und überlegte fieberhaft, ob Vikki eine Kollegin oder Kommilitonin war. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, was ein dumpfes Gefühl in der Brust hinterließ. Wir glitten auseinander, immer weiter, und standen mittlerweile vor einem gewaltigen Krater, der so riesig war, dass ich langsam den Glauben daran verlor, ihn überwinden zu können. Spürte Manu das auch?

»Okay. Dann … viel Spaß.« Ich klang weder eingeschnappt noch enttäuscht. Tatsächlich war es mir sogar ein Stück weit egal, ob er kam oder nicht, und das erschreckte mich zutiefst. Wann war das passiert?

»Dir auch.«

Täuschte ich mich, oder klang Manu jetzt angefressen?

»Sag liebe Grüße. Und Happy Birthday.«

Mit diesen Worten legte er auf und ich starrte für einen Moment ins Leere.

Unsere Beziehung war wie eine Drehorgel, deren Melodie über die Jahre eine falsche Tonspur angenommen hatte. Sie war so schief und krumm geworden, dass sie nicht mehr passte, während wir immer noch fleißig an der Kurbel drehten und die warnenden Anzeichen ignorierten.

»Alles gut?«

»Manu kommt leider nicht, aber er richtet dir liebe Grüße und alles Gute zum Geburtstag aus«, antwortete ich mit einem gezwungenen Lächeln und schielte auf die Uhr. Noch immer keine Spur von meiner besten Freundin Karla. Und natürlich zuckte ich jedes Mal zusammen, wenn wieder das gefährliche Zischen in meinem Nacken ertönte, was Brie nun mit hochgezogenen Augenbrauen quittierte.

»Du hast Angst.«

»Vor einer Kindergeisterbahn?« Selbst in meinen Ohren klang mein Lachen hysterisch.

»Jo hat tatsächlich Angst vor etwas.«

»Jo wird dir zukünftig nicht mehr helfen, wenn du das Karla unter die Nase reibst.«

Brie kicherte verzückt. »Ich wusste nicht, dass es etwas gibt, was dir Angst macht. Du wirkst immer so, als könnte dir nichts und niemand etwas anhaben.«

Wenn sie wüsste …

»Können wir bitte einfach das Thema wechseln?«, bat ich Brie. »Wir hätten Karla übrigens eine falsche Uhrzeit sagen sollen, damit wir uns pünktlich treffen.« Ich warf einen weiteren raschen Blick auf meine silberne Armbanduhr, die neben dem Anhänger an meiner Kette das Wertvollste war, was ich besaß. Nicht, weil die beiden Schmuckstücke besonders viel hergegeben hätten, sondern weil die Uhr Matilda gehört hatte und der Anhänger mir viel bedeutete. Bei dem Gedanken an meine tote Schwester verkrampfte sich mein Herz und ich bekam wie jedes Mal für einen Moment keine Luft.

Bries dunkle Augen glitzerten belustigt. »Du kannst das ruhig zugeben. Es ist nicht schlimm, sich eine Schwäche einzugestehen. Das macht dich nur menschlich.«

»Ich bin menschlich«, antwortete ich gepresst und versuchte, den scharfen Klang aus meiner Stimme zu streichen, schließlich war es ihr Geburtstag, und ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen.

Augenrollend stieß sie die Luft aus. »Genau. Und ich bin stets kontrolliert, trage mein Herz nicht auf der Zunge und habe noch nie geweint, seit ich nach Deutschland gekommen bin.«

»Du bist erst gestern in Tränen ausgebrochen, weil jemand seinen Hund Bambi genannt hat«, erwiderte ich lächelnd.

»Eben.« Brie nickte und stieß ein heiteres Lachen aus, das für mich jedoch wie eine Drohung klang.

Bei dem Gedanken an eine Fahrt in der Geisterbahn legte meine Herzfrequenz dramatisch an Geschwindigkeit zu, während mein Gehirn sämtliche Ausreden aus allen Ecken beleuchtete. Genau in diesem Moment erspähte ich den dunkelbraunen Longbob meiner Freundin Karla in der Menge und seufzte erleichtert auf. Doch der Anblick des hochgewachsenen Kerls an ihrer Seite, der mit seinen Lederhosen und dem passenden Jankerl optisch perfekt zu ihrem lilafarbenen Dirndl passte, ließ mich zu einer Salzsäule erstarren.

Kilian. Karlas Bruder.

Er war älter geworden, reifer. Das war mir schon bei unserer letzten Begegnung vor ein paar Monaten auf dem LMU-Sommerfest aufgefallen. Es war immer noch seltsam, ihn so erwachsen zu sehen, denn mit dem schlaksigen Jungen, der in meiner Erinnerung herumspukte, hatte er kaum noch etwas gemeinsam. Kilian war tatsächlich zu einem Mann geworden.

Das weiße enge Hemd ließ darauf schließen, wie sportlich er wirklich war. Mein Blick wanderte höher. Sein Gesicht war maskulin, aber was ihn schon immer unverschämt attraktiv gemacht hatte, war seine Ausstrahlung, die mich jedes Mal in den Bann zog. Auch wenn ich das nicht einmal mit vorgehaltener Pistole zugegeben hätte, ich mochte diese Unbekümmertheit. Diese Leichtigkeit, die ihn umgab. Als wäre das Leben sein Spielplatz. Die etwas zu gerade Nase passte perfekt zu dem markanten Kiefer und den sinnlichen Lippen, was von dem dunklen Bartschatten noch unterstrichen wurde. Das nachtschwarze Haar war etwas kürzer, als ich es in Erinnerung hatte, und ordentlich gestylt. Am interessantesten waren jedoch seine Augen – schon immer. Schieferfarben. Im Licht wirkten sie wie ein kühles Flaschengrün. Ähnlich wie Karlas, aber doch ganz anders.

Wütend knirschte ich mit den Zähnen, denn ich konnte ihm ansehen, dass er im Gegensatz zu mir genau gewusst hatte, dass wir uns heute begegnen würden. Sein Auftauchen traf mich unvorbereitet, was ihm einen Vorteil verschaffte, denn ich hätte gern meine Waffen geschärft, bevor ich mich einem Zweikampf mit ihm stellte. Während er einen halben Meter hinter seiner Schwester herschlenderte, glitt sein Blick scheinbar desinteressiert über mich hinweg und ich ärgerte mich, ihm ausgerechnet heute in die Karten zu spielen. Meine platinblonden Haare waren glatt wie Papier und flossen bis zu den unteren Schulterblättern, der schmale, mit pinkfarbenen Rosen bestückte Blumenkranz saß fest auf meinem Kopf und betonte meine rosafarbenen Lippen, die sich nun zu einem verächtlichen Lächeln kräuselten.

Ich wusste, was Kilian dachte, als er mein pinkes Dirndl, die auf das Täschchen abgestimmten Pumps und meine stark geschminkten Augen mit dem exakt gezogenen Eyeliner registrierte. Ja, das war ich. Ich liebte es, mich zu schminken. Ich liebte es, mich weiblich und begehrenswert zu fühlen, auch wenn Kilian mich anschaute, als hätte ich mich für den Kinderfasching hergerichtet. Ich hatte es für eine gute Idee gehalten, Brie mit dem Blumenkranz anlässlich ihres Geburtstags eine Freude zu machen. Und während er bei ihr in allen möglichen Rottönen auf ihrer dunklen Lockenpracht wie eine Krone erstrahlte, kam mir meiner nun wie die Bestätigung aller bissigen Bemerkungen vor, die Kilian mir jemals an den Kopf geworfen hatte.

Eisprinzessin war nur eine davon.

»Sorry für meine Verspätung«, stieß Karla atemlos hervor, ein entschuldigendes Lächeln zierte ihren herzförmigen Mund, sobald sie uns erreichte. »Ich musste erst noch meinen Bruder aufgabeln. Natürlich hat er sich auf der Suche nach einem Geldautomaten vor der Theresienwiese verlaufen.«

Noch bevor jemand etwas darauf erwidern konnte, riss Karla einen Finger in die Höhe und fuchtelte damit mahnend vor meinem Gesicht herum, um im nächsten Moment zu Kilian zu schwenken.

»Benehmt euch, alle beide. Es ist Bries Geburtstag.«

Kilian sah träge in meine Richtung, das Lächeln auf seinen Lippen war eindeutig eine Herausforderung und ich merkte, wie mir prompt das Blut in die Wangen schoss. Meine Hände ballten sich reflexartig zu Fäusten, aber ich versuchte, mich mit einem inneren Mantra und einem lautlosen Ham Sa zu beruhigen. Dennoch tobte in mir ein Sturm.

»Ich kann mich benehmen.« Der feurige Blick, den ich in seine Richtung abschoss, strafte meine gesäuselten Worte Lügen.

Jetzt wurde Kilians Grinsen eindeutig teuflisch und mein Puls verdoppelte sich, als hätte es eine stumme Aufforderung dazu gegeben. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ich kann mich auch benehmen.«

Meine Augenbrauen wanderten in Erwartung des bevorstehenden Schlagabtauschs in die Höhe. Das konnte doch unmöglich alles sein!

»Aber …«, fügte Kilian nun hinzu und grinste noch eine Spur breiter.

»Aber was?«, fragte ich mit blitzenden Augen.

Er wandte sich an seine Schwester. »Ich kann auch nichts dafür, dass du eine wandelnde Barbiepuppe zur Freundin hast. Das ist die perfekte Steilvorlage.«

Mit diesen Worten drehte er sich zu Brie, schloss sie in eine Umarmung und gratulierte ihr herzlich, aber nicht aufgesetzt zum Geburtstag, während ich dastand und innerlich kochte. Er musste sich dafür kaum zu Brie hinunterbeugen, obwohl sie nur Ballerinas trug, und sie wurde förmlich von seinen Armen begraben. Dabei beobachtete ich, wie seine Miene weich und der Ausdruck in seinen hellen Augen freundlich wurde – ein seltener Anblick, der mir noch nie vergönnt gewesen war. Zumindest nicht, solange ich ihn kannte, und das waren immerhin knapp fünfzehn Jahre.

»Barbiepuppe?«, zischte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte.

Kilian schmunzelte, während er sich von Brie löste. Dabei taxierte er mich noch einmal von oben bis unten. »Heute schon in den Spiegel geschaut?«

Gott. Was. Für. Ein. Sexistischer. Arsch.

»Garantiert nicht öfter als du«, konterte ich schnippisch und warf schwungvoll mein glattes Haar über die Schulter.

Bevor die Situation noch weiter eskalieren konnte, stellte sich Karla mit einem tiefen Seufzen zwischen Kilian und mich, als Brie plötzlich begeistert in die Hände klatschte und Karla anschließend an den Schultern packte.

Irritiert wandte ich mich ihr zu.

»Was?«, wollte auch Kilian wissen.

»Danke«, antwortete Brie mit leuchtenden Augen und einem Lächeln, das sogar mein kaltes Herz erwärmte.

»Wofür?«

Brie drückte der verdutzten Karla einen Kuss auf die Wange. »Für das absolut beste Geburtstagsgeschenk! Du hast dich an meine Bitte vom Sommerfest erinnert. Und ich dachte, du hast es längst wieder vergessen …«

Karla schmunzelte. »Sozusagen. Auch wenn das eine Entscheidung in letzter Minute war.«

»Was genau soll das sein?«, fragte ich, weil ich keine Ahnung hatte, worüber die beiden sprachen.

Kilian verschränkte die Arme vor der Brust. »Das würde mich auch mal interessieren.«

Brie kicherte. »Euch beide live zu erleben. Ihr wart damals schon eine Wucht und ich hatte mich auf ein Wiedersehen gefreut.«

»Ganz ehrlich, Karla?«, murrte ich beleidigt. »Das ist echt eine miese Aktion.«

»… die du durchgehen lässt, weil du mich liebst und Brie Geburtstag hat. Tatsächlich weiß ich auch erst seit ein paar Stunden, dass er mitkommt. Wie gesagt, es war ein spontaner Einfall von mir.«

»Und deswegen hat er Lederhosen an? Aus dem Schrank gezaubert, oder was?« Ich knurrte wie ein wütendes Tier. »Und deine spontanen Einfälle bedeuten nie was Gutes.«

»Er steht übrigens neben dir und könnte dir auf deine Fragen eine Antwort geben.« Kilian hob die Hand, als würde er sich für einen Beitrag melden.

»Nicht streiten … Es ist doch so ein schöner Tag.«

Bries Einwand ließ mich schuldbewusst den Kopf einziehen. Da hatte sie recht. Lächelnd hakte sie sich bei Karla unter, die ausnahmsweise sogar schuldbewusst lächelte, und zog sie in Richtung des Hofbräu-Festzeltes davon.

»Vielleicht hätte ich mir eine Schleife umbinden sollen.«

Fragend sah ich zu Kilian, der neben mir stehen geblieben war und auf mich zu warten schien. Dank meiner Pumps musste ich nicht den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu schauen, so wie Karla. Aber ich war auch gute zehn Zentimeter größer als sie, denn ich hatte die »ostfriesischen Haxen« meines Vaters geerbt. In der Schule war es für mich immer der Horror gewesen, die meisten meiner männlichen Klassenkameraden zu überragen. Giraffe war ihr Lieblingsspitzname für mich gewesen – bis zu den langen Beinen die passenden weiblichen Rundungen hinzugekommen waren. Danach hatten sie nichts mehr gesagt, sondern einfach nur geglotzt und seitdem nicht mehr damit aufgehört.

»Als Geburtstagsgeschenk und so.« Wieder musterte er mich eindringlich, als würde er sich über etwas wundern.

Fragend zog ich eine Braue hoch. »Was ist? Hab ich was im Gesicht?«

»Du siehst so … anders aus.«

»Wie anders?«

»Keine Ahnung, anders, als ich dich in Erinnerung hatte.« Er tippte sich gegen die Nasenspitze. »Liegt womöglich daran, dass deine Sommersprossen nicht zu sehen sind.«

»Vielleicht sollte ich dir wöchentlich ein aktuelles Foto schicken, dann hättest du dieses Problem nächstes Mal nicht.«

Kilian lachte schallend los, was völlig unerwartet ein angenehmes Kribbeln in meinem Bauch auslöste. Als er mich jetzt ansah, lag nichts als pure Freude in seinem Blick.

»Gott, ich hab dich vermisst, Eisprinzessin.«

Hastig wandte ich den Blick ab und setzte mich mit einem unechten Lächeln in Bewegung, um meine Freundinnen nicht aus den Augen zu verlieren. Mühelos hielt Kilian mit mir Schritt und wir schlossen rasch zu ihnen auf.

»Karla hätte mich ruhig vorwarnen können«, maulte ich ihn an. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen.

»Dann warte ich mal besser nicht deine Reaktion ab, sobald du erfährst, wie oft wir uns in den nächsten Monaten über den Weg laufen werden.«

Panisch sah ich zu meiner besten Freundin, die jedoch plötzlich ein ausgesprochen großes Interesse an den Fahrgeschäften entwickelt hatte. Das Kreischen und Schreien der Leute in der Achterbahn klingelte in meinen Ohren.

»Was meinst du?«, fragte ich dumpf.

»Hat dir das niemand gesagt?« Mit einem frechen Grinsen drehte sich Kilian zu mir um, während in meinem Kopf sämtliche Alarmglocken losschrillten. »Ich ziehe nach München. Na ja, besser gesagt bin ich vergangenes Wochenende umgezogen.«

»Das hätte ich mitbekommen.«

»Weil du bei deiner Schwester zu Besuch warst?«, half er meinem Gedächtnis auf die Sprünge, was tatsächlich stimmte. Ich war von Donnerstag bis Sonntag in den Norden gefahren, wo Marie mit ihrer Familie vor drei Jahren unser altes Elternhaus bezogen hatte. Nach Matildas Tod waren wir zwar ausgezogen, aber meine Eltern hatten es nicht übers Herz gebracht, das Haus zu verkaufen, sondern es zwischenzeitlich vermietet.

Kurz fragte ich mich, woher Kilian davon wusste, dann dämmerte mir, weshalb ich Karla am Wochenende so schlecht erreicht hatte. Wahrscheinlich hatte sie beim Umzug geholfen.

Großartig. Meine Laune sank gegen den Gefrierpunkt.

»Selbst wenn du hier wohnst, muss das nicht heißen, dass wir uns häufiger sehen.«

»Eventuell schon.«

»Studierst du jetzt etwa auch Biochemie?«, fragte ich spöttisch. »Mein letzter Stand war, dass du für Kulturwissenschaften eingeschrieben bist. Aber so, wie ich dich kenne, ändert sich das jedes Semester.«

Bevor Kilian antworten konnte, räusperte Karla sich geräuschvoll, sodass ich meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Zu meinem Entsetzen zeichnete sich ein zerknirschter und vielleicht auch etwas schuldbewusster Ausdruck auf ihrem Gesicht ab.

»Tja … also Kilian hat da schon irgendwie recht.«

Bei ihren Worten umklammerte ich das kleine Ledertäschchen, das an meiner Seite hing, etwas fester. »Wieso? Womit hat er recht?«

»Ihr werdet euch garantiert öfter über den Weg laufen.«

Verdutzt starrte ich Karla an, die jetzt aussah, als würde sie sich am liebsten auf einen anderen Kontinent beamen. Zu Recht, denn normalerweise konnte ich mich auf sie verlassen. Dass sie mir nichts von den Plänen ihres Bruders verraten hatte, grenzte an Hochverrat, zumal sie wusste, wie ich zu ihm stand.

»Du hast ihr also wirklich nichts erzählt?« Mitleidig schüttelte er den Kopf.

Mein Herz geriet ins Stolpern. »Kann mir jetzt bitte jemand sagen, was hier gespielt wird?«

Kilian strahlte mich an, als hätte er und nicht Brie heute Geburtstag. Dann verkündete er: »Ich werde nebenbei als Barkeeper bei Leckerste arbeiten.«

Mein Kiefer klappte herunter. »Im Ernst?«

»Ja.« Er lachte viel zu selbstgefällig, zeigte auf sein Gesicht und ließ die Spitze seines Zeigefingers an seinem Oberkörper entlangwandern. »Gewöhn dich besser an diesen Anblick.«

»Niemals.« Entrüstet funkelte ich ihn an.

»Ich nehm dich beim Wort, Wendl.« Es klang wie eine Drohung, doch ich kannte uns gut genug, um zu wissen, worauf unsere Begegnungen in den nächsten Wochen und Monaten hinauslaufen würden. Friede, Freude, Eierkuchen gehörte definitiv nicht dazu.

Das konnte ja heiter werden …

Kapitel 2

Vor den Zelten herrschte riesiger Andrang, aber glücklicherweise hatten wir einen Tisch reserviert. Als Brie ihren Namen dem mürrisch dreinblickenden Mann mit Headset nannte, schickte er uns zu einem anderen Eingang, der verdächtig nach VIP aussah. Die Dirndl wirkten eine Spur teurer, die Uhren um die Handgelenke der Männer exklusiver.

»Habt ihr da was gedreht?«, fragte Brie uns verwirrt, doch wir schüttelten einvernehmlich den Kopf.

Beim nächsten Einlass wurde jedoch schnell klar, wer da seine Finger im Spiel gehabt hatte, denn als wir in einem privaten Bereich auf einer Galerie unseren Tisch zugewiesen bekamen, von dem aus man das komplette Festzelt überblicken konnte, kramte Brie ihr Handy hervor. Mit strahlenden Augen rief sie ihren Vater an, der irgendetwas von »altem Spezl« und »Geburtstagsüberraschung« redete. Anscheinend gehörte das Zelt einem guten Freund, der für uns den Tisch bereitgestellt hatte. Nach und nach stießen noch ein paar andere Mitarbeiter von Leckerste dazu, aber auch Freundinnen von Karla und mir, die Brie eingeladen hatte, sodass wir nach zwei Stunden eine Truppe von zwanzig Leuten waren.

»Hier sind wir!«, rief Brie mit geröteten Wangen und sprang von der Holzbank, auf der wir gerade noch gestanden und getanzt hatten. Noch immer lag dieser völlig faszinierte Ausdruck auf ihrem Gesicht, weil sie all die neuen Eindrücke verarbeitete: das Tanzen auf den Bänken, der hohe Stimmpegel, die Mengen an Alkohol, aber auch die Tatsache, dass die Zelte so riesig waren, dass es sogar ein zweites Stockwerk gab, das man über jeweils zwei Treppenaufgänge erreichen konnte.

Neugierig wandte ich mich um und erblickte Toni, der mit seinen fast zwei Metern die meisten anderen Gäste im Zelt überragte und deshalb in der wachsenden Menge kaum zu übersehen war. Seine sonst so abweisende Miene nahm einen liebevollen Ausdruck an, sobald er seine Freundin entdeckte. Als wäre sie alles für ihn. Das Beste in seinem Leben.

Einen Herzschlag lang verspürte ich einen neidvollen Stich. Nicht, weil ich eifersüchtig war, sondern weil ein kleiner Teil von mir – ein winziger, unbedeutender Teil – sich auch so etwas wünschte. Und das, obwohl ich eigentlich Manu an meiner Seite hatte. Aber mit Manu war es anders. Verlässlich und sicher, nicht aufregend und abenteuerlich. Allerdings hatte selbst diese Verlässlichkeit Risse bekommen, was ich dank seiner Abwesenheit noch einmal deutlich vor Augen geführt bekam. Manchmal fragte ich mich, wer von uns zuerst den Mut finden würde, den unausweichlichen Dingen einen Namen zu geben.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Kilian mich beobachtete, den Blick nachdenklich auf mein Gesicht gerichtet. Es war, als würde er mir unmittelbar in die Seele schauen, meine intimsten Wünsche und verborgenen Sehnsüchte zutage zerren. Also schlug ich rasch die Lider nieder und nahm noch einen kräftigen Schluck von meinem Halben, als Toni schließlich an unseren Tisch trat. Auch er trug Lederhosen und ein weißes Hemd, was mich überraschte, da ich ihn nicht für den Trachtentyp hielt. Aber so, wie ich Brie kannte, hatte sie ihn mit ihrer sonnigen Art überredet, sich heute in Schale zu werfen. Vor versammelter Mannschaft drückte er ihr einen Kuss auf den Mund, während sie die Arme um ihn schlang und verträumt zu ihm aufblickte.

Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Wenn die beiden sich ansahen, schien die ganze Welt für sie in den Hintergrund zu rücken. Und so doof das klang, insgeheim war es das, was auch ich mir von einer Beziehung erhoffte.

Wir tanzten und sangen ausgelassen, während im Zelt immer wieder Regenschirme geöffnet wurden, wenn jemand eine 1,5-Liter-Flasche Champagner bestellt hatte. Meistens war es irgendein großer TV-Sender, eine Produktionsfirma oder der VIP-Tisch eines Prominenten, der sich das kostspielige Gesöff bringen ließ.

»Ist das immer so?«, fragte Brie.

»Hier ja. In anderen Zelten regnet es nicht«, antwortete Karla.

Ungläubig starrte Brie über die Balustrade nach unten, während die Kapelle ein »Prosit« anstimmte, der Champagner geköpft wurde und sich auf die geöffneten Regenschirme ergoss.

»Das ist doch ein Scherz«, sagte sie. »Wer macht denn so was? Und wie teuer soll das bitte sein?«

»Du kannst ja auf der Karte nachsehen«, schlug ich vor, was Karla zum Anlass nahm, die Preisliste einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

»Oh. Mein. Gott«, stieß sie atemlos hervor. »Ich glaube, ich sollte so eine Flasche mitgehen lassen und online verhökern. Die kostet mehr als unsere Monatsmiete.« Dabei verzog sie schmerzvoll das Gesicht.

Augenblicklich spürte ich einen Hauch Mitleid in mir aufsteigen, weil ich genau wusste, wie es um ihre finanzielle Lage stand. Sie musste sich ihr Studium komplett selbst finanzieren, auch wenn sie es stets verbarg und sich den Hintern aufriss, damit niemand es mitbekam. Genügend Geld zusammenzubekommen war in München eine Mammutaufgabe. Und sie hasste nichts mehr als einen verschwenderischen Lebensstil.

Trotzdem – oder gerade deswegen – liebte sie Momente wie diese. In denen sie einfach lebte. Glücklich war. Genoss. Und ausnahmsweise nicht auf die Rechnung schauen musste. Eine der größten Gemeinsamkeiten von Kilian und ihr.

Diese Leichtigkeit fehlte mir völlig.

»Ein Königreich für deine Gedanken«, erklang in diesem Augenblick eine tiefe Stimme dicht an meinem Ohr und als ich nach links schaute, fing ich Kilians Blick auf. Er war mir so nah, dass ich seinen unverwechselbaren Duft von Zedernholz und Bergamotte einfing. Dennoch fiel mir der ernste Ausdruck auf, der in seinen schieferfarbenen Augen schimmerte und so gar nicht zu ihm passte. Ich mochte nicht, wie aufmerksam er mich beobachtete, und fuhr sämtliche Schutzwälle nach oben.

»Lächeln! Es ist mein Geburtstag!«, flötete in diesem Augenblick Brie dazwischen. Strahlend hakte sie sich bei mir unter und zog mich mit sich, um zum nächsten Wiesn-Hit zu tanzen. Ich war noch nie dankbarer für eine ungewollte Rettungsaktion gewesen und schaute bewusst nicht mehr in Kilians Richtung, auch wenn ich spürte, dass er mich immer noch ansah.

Meine Füße schmerzten und meine Waden fühlten sich mittlerweile an, als hätte ich ein stundenlanges Fußballtraining absolviert. Aber da ich es mir angewöhnt hatte, immer perfekt auszusehen, ließ ich mir nichts anmerken.

»Ich muss mal eben auf die Toilette«, erklärte ich Karla, die mir anbot, mich zu begleiten, da die Schlange so lang war, dass man für die Wartezeit mehrere Zeitschriften hätte einpacken können. Mit einem Blick auf den schnuckligen Australier, der den Arm um Karlas Taille geschlungen hatte, und ihre verdächtig geröteten Wangen lehnte ich kopfschüttelnd ab.

Als ich mich eine geschlagene Viertelstunde später durch das Gedränge zurückkämpfte, stieß ich gegen eine harte Schulter und rieb mir mit schmerzverzerrter Miene über den Oberarm.

»Sorry«, murmelte der Typ, und wir blickten uns an.

Mein Atem stockte, als ich in vertraute tiefbraune Augen starrte. Nein. Nein, das konnte nicht sein. Nicht hier.

Die Vergangenheit holte mich ein und rauschte wie ein Güterzug über mich hinweg, ohne mir eine Chance zum Luftholen zu geben. Ich spürte, wie alles Blut aus meinen Wangen wich, und erinnerte mich hastig daran, meine Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Sekundenlang starrte ich in diese Augen, an die ich so lange nicht mehr gedacht hatte.

In meiner Erinnerung war Philipps Gesicht gezeichnet von Trauer und Schmerz, jetzt sah er gesund und glücklich und … verändert aus. Verändert, aber gut. Sein Haar war nicht mehr ganz so voll, er war dünner und seine Züge reifer geworden. Der dunkle Bartschatten wirkte wie eine schlechte Maskierung und doch hatte ich ihn sofort erkannt. Ich verharrte regungslos wie ein Reh vor einer Gewehrmündung.

Perplex starrte er mich an. Sein Blick wanderte an mir hinauf und hinunter, als hätte er einen Geist vor sich, und ich schluckte, weil ich wusste, dass er genau das dachte.

»Philipp«, stammelte ich verblüfft, unfähig, etwas anderes als seinen Namen zu sagen. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihm je wieder über den Weg zu laufen. Schon gar nicht hier in München. Erst recht nicht auf der Wiesn. Und doch stand er vor mir, live und in Farbe.

»Woher … kennst du meinen Namen?«, brachte er schließlich mit rauer Stimme hervor.

Innerlich zuckte ich zusammen, äußerlich bewahrte ich Haltung, auch wenn meine Beine sich anfühlten, als würden sie aus Gummi bestehen. Er hatte keine Ahnung, wer ich war. Natürlich nicht. An seiner Stelle würde es mir genauso gehen. Ich war ein Niemand gewesen, unscheinbar, mit viel zu dünnen Beinen und strohigen blonden Haaren, die ich meistens wie ein Nest auf dem Kopf zusammengebunden hatte. Storchenstelzen hatte mein Vater die mageren Beinchen immer liebevoll genannt, bis das Leuchten in seinen Augen verschwunden war. Ich war ein Schatten gewesen, Matildas Schatten. Im Vergleich mit meiner schönen, strahlenden Schwester war ich immer das blasse Abziehbild gewesen. Nie das Original. Die Trauer erfasste mich unerwartet und so heftig, dass ich meine kleine Lederhandtasche unwillkürlich fester umklammerte.

Unser Schweigen konnte nicht länger als ein paar Sekunden gedauert haben, doch es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Als hätte jemand die Zeit angehalten. Meine verwundete Seele zog sich zurück und ich verbannte mit gestrafften Schultern jede Emotion aus meinem Gesicht. Krampfhaft rang ich nach Worten und öffnete den Mund, doch es drang kein Ton heraus.

In diesem Augenblick drehte sich die Welt weiter, mein Sichtfeld nahm wieder Konturen an, sodass ich bemerkte, wie eine niedliche Brünette mit einem Pärchen zu uns stieß. Sofort hakte sie sich bei Philipp unter und zerbrach damit endgültig die Trance, in der ich gefangen gewesen war.

»Hey, eine Bekannte von dir?«, flötete die hübsche Frau an Philipps Arm fröhlich, doch in ihren Augen stand ein giftiger Ausdruck. Angesichts der Spannung, die in der Luft lag, und der seltsamen Stimmung war das auch kein Wunder. Sehr wahrscheinlich würde ich auch die falschen Schlüsse ziehen.

Philipp löste den Blick nicht von meinem Gesicht. Er sah mich so eindringlich an, dass meine Kopfhaut zu jucken begann. Das Leid in seinen Augen, das ohne Vorwarnung darin aufblitzte, war so intensiv, dass es mir die Kehle zuschnürte.

»Ich … weiß es nicht. Sie sieht … jemandem sehr ähnlich«, murmelte er mehr zu sich selbst.

Das Pärchen hielt sich verwundert zurück.

»Ich muss weiter«, würgte ich mit einem aufgeklebten Lächeln hervor, drehte mich um und setzte einen Fuß vor den anderen. Wie Feuer brannten ihre Blicke in meinem Rücken. Mit zittrigen Beinen näherte ich mich der Treppe zur Galerie und stieg die Stufen nach oben, obwohl sich jeder Schritt anfühlte, als wären meine Muskeln in Eiswasser getaucht worden. In meinem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander aus verdrängten Erinnerungen und tief vergrabenen Emotionen, die sich wie ein Karussell in mir zu drehen begannen. Mein Herz klopfte wie wild. Dunkelheit drohte mich zu überwältigen. Das war einfach zu viel.

Sobald ich den Tisch erblickte, wurde mir übel. Brie lachte und tanzte ausgelassen an der Seite von Toni, der den linken Arm um sie geschlungen hatte und mit dem rechten einen Bierkrug in die Höhe hielt. Auch die anderen Geburtstagsgäste feierten so voller Freude und Glück, dass ich mich wie ein Fremdkörper fühlte. Am liebsten hätte ich mich in mein Schneckenhaus verkrochen, an den dunklen Ort, den ich nur selten aufsuchte, weil er mich um den Verstand brachte.

Karla. Vielleicht konnte ich mit Karla reden.

Mein Blick schwenkte zu meiner besten Freundin, die ihre Hände in den dunkelblonden Haaren des Australiers vergraben hatte, während sie in einen innigen Kuss vertieft waren, der die Welt aus den Angeln zu heben schien. Das konnte ich ihr unmöglich wegnehmen. Betrübt wandte ich mich ab und lief zitternd die Treppenstufen wieder nach unten. Ich hatte mich noch nie fremder, noch nie so fehl am Platz gefühlt.

Luft. Ich brauchte dringend frische Luft. Hier drinnen war alles so stickig und zu intensiv, getränkt von dem schweren Hefearoma, gemischt mit der Begeisterung der Feiernden. Normalerweise ließ ich mich nicht so leicht aus der Ruhe bringen, aber warum musste ich auch ausgerechnet Philipp begegnen?

Draußen angekommen, atmete ich tief durch, die Stimmen aus dem Festzelt drangen nur noch gedämpft an mein Ohr und das Poltern in meinem Trommelfell nahm ab. In einer Raucherecke standen ein paar Wiesn-Besucher, ich nahm Gesprächsschnipsel und die Geräusche der Fahrgeschäfte wahr und brauchte einen Augenblick, um mich zu orientieren.

Mit fahrigen Fingern griff ich nach meinem Smartphone und wählte die Nummer von Marie. Meine große Schwester war der einzige Mensch auf der Welt, der verstehen würde, was gerade passiert war. Der einzige Mensch, der diesen Sturm in mir beruhigen konnte.

Das Freizeichen ertönte. Doch Marie nahm nicht ab. Stattdessen schaltete sich die Mailbox ein und ich hörte Valentina und Linus im Hintergrund quäken, gefolgt von der warmen Stimme meiner Schwester, die freundlich darum bat, eine Nachricht zu hinterlassen.

Frustriert kniff ich die Lider zusammen.

Shit.

Für einen kurzen Moment überlegte ich, Manu anzurufen. Manu, der nie hinter mein Lächeln blickte und alles immer so hinnahm, wie es war. Manu, mit dem sich alles gut anfühlte, aber nie perfekt. Manu, der nie verstand. Nie hinterfragte. Nie einen Schritt weiterging. Dem ich mich aber auch nie wirklich öffnete, weil ich zu feige war.

»Ist alles in Ordnung?«

Mein Finger über der Anruftaste zuckte zurück und ich drehte mich zu Kilian um, der sich lautlos genähert hatte. Er stand keinen Meter von mir entfernt und sein sonst so spöttisches Grinsen war einem fast schon besorgten Ausdruck gewichen. Sein fürsorglicher Blick durchlöcherte mich förmlich und brachte den letzten Widerstand zum Wanken. Wie ein Kartenhaus stürzte meine innere Barriere zusammen. Panisch versuchte ich, gegen die Tränen anzukämpfen, die sich in mein Sichtfeld drängten, doch ich war absolut machtlos dagegen.

»Woah, Eisprinzessin, was ist passiert?«, hörte ich Kilian fragen, doch ich war unfähig, darauf zu antworten, denn mein Mund war wie zugekleistert.

Auf einmal umfingen mich zwei starke Arme, tröstend und voller Sicherheit. Kilians Duft stieg mir in die Nase, diese herbe Note, die plötzlich Bilder aus der Vergangenheit aufsteigen ließ, an die ich lange nicht gedacht hatte. Apfel- und Mirabellenbäume. Die große Schaukel dazwischen. Kinderlachen. Nicht nur Karla, Kilian und ich, sondern auch Matilda kam mir in den Sinn. Sie hatte immer eine schlichtende Rolle eingenommen, war der Ruhepol zwischen uns gewesen.

Vielleicht lag es daran, dass ich Philipp gesehen hatte. Vielleicht war es auch einfach Kilian selbst. Ich wusste es nicht. Jedenfalls fiel ich. Immer tiefer. In die Dunkelheit hinein, die ich stets zurückdrängte und die trotzdem einen großen Raum in meinem Leben einnahm. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich weinte an Kilians Brust und fühlte mich absolut beschissen dabei. Warum war ausgerechnet er mir hinterhergelaufen? Schluchzend vergrub ich meine Finger in seinem Hemd, krallte mich in den weichen Stoff und ließ den Emotionen freien Lauf. Meine Schultern bebten und mit jeder Minute, die verging, kehrte ein kleines bisschen Erleichterung zurück, verdrängte die Leere, die mein Inneres aushöhlte.

Als keine Tränen mehr übrig waren, setzte mein Verstand wieder ein – und mir wurde schmerzhaft bewusst, wie hemmungslos ich mich an Kilians Schulter ausgeweint hatte. Ohne jedes Schamgefühl. Dafür schlug die Erkenntnis nun umso härter zu.

Mit einem Stöhnen löste ich mich von ihm, den Blick gesenkt, weil ich es nicht über mich brachte, ihn direkt anzusehen. Meine Wangen brannten vor Reue und ich kam mir unglaublich dämlich und schwach vor. Am liebsten wäre ich weggerannt, aber ich zwang mich, an Ort und Stelle zu verharren.

»Ich könnte jetzt eine Achterbahnfahrt vertragen. Du auch? Ein bisschen Adrenalin. Gedanken loslassen. Einfach sein.«

Irritiert hob ich den Kopf. Kilians schiefes Lächeln traf mich völlig unvermittelt. Mit einer Hand kratzte er sich verlegen den Nacken, aber dennoch strahlte er wieder dieses unerschütterliche Selbstbewusstsein aus, das ihn sonst immer umgab.

»Eine Achterbahnfahrt?«, echote ich mit belegter Stimme. Ich musste zwei riesige rote Tränensäcke unter den Augen haben. Mascara-Wangen. Scheiße! Mein komplettes Make-up war wahrscheinlich völlig ruiniert.

»Oder Geisterbahn.« Sein Grinsen wurde unverschämt frech. »Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie dich dann als Statistin dabehalten. Hier.« Er zauberte ein Taschentuch aus seiner Gesäßtasche und hielt es mir mit zwei Fingern unter die Nase.

Schniefend griff ich danach und trocknete mir vorsichtig die nasse Tränenspur ab, um nicht noch mehr Unheil anzurichten. Dann holte ich den kleinen Taschenspiegel aus meiner Handtasche und richtete das Chaos, so gut es eben ging. Dabei fiel mir ein, dass ich noch gar nicht auf seine Bemerkung reagiert hatte. Mir lag bereits ein empörter Spruch auf der Zunge, als mir schlagartig bewusst wurde, was er eigentlich bezweckte. Er bot mir einen Ausweg an, damit die Situation nicht ganz so peinlich war. Außerdem war ich froh, dass er nicht nachhakte, was eigentlich los gewesen war. Karla hätte mich dagegen vermutlich so lange mental geschüttelt, bis die Wahrheit aus mir herausgebrochen wäre.

Blinzelnd starrte ich ihn an und zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich gegenüber Kilian Massimo Kohlhammer so etwas wie Dankbarkeit. Tiefe, echte Dankbarkeit.

»Okay«, sagte ich zu meiner und seiner Verwunderung, was seine überrascht geweiteten Augen verrieten. »Lass uns Achterbahn fahren.«

Kapitel 3

Nichts war schöner als die Wiesn bei Sonnenuntergang. Ein wahrer Lichtorgasmus, wie Karla immer mit schelmischem Lächeln sagte. Ein Meer aus bunten und grellen Neonfarben, magisch und voller Energie. Wenn man über allem schwebte, war alles möglich. Vielleicht hatte ich deswegen so eine große Angst vor Achterbahnfahrten. Weil ich sie nicht kontrollieren konnte.

Um nicht an Philipp und die Nachwirkungen der Begegnung denken zu müssen, starrte ich geradeaus. Sein Blick, die Art, wie er mich gemustert hatte, all das hing mir noch in den Knochen und beschwor Empfindungen und Gefühle herauf, die ich normalerweise gut unter Verschluss hielt. Vielleicht hatte ich mich deswegen auf diesen bescheuerten Vorschlag eingelassen, um mich keine Sekunde mit meinen eigentlichen Emotionen beschäftigen zu müssen.

Als ich gerade mein schmales Portemonnaie aus der Umhängetasche hervorholen wollte, hob Kilian die Hand und machte eine wegwerfende Bewegung.

»Lass stecken. Ich lade dich ein.«

»Du musst nicht für mich bezahlen«, murrte ich, doch er schob mich einfach galant zur Seite und beugte sich vor das Fahrkartenhäuschen, sodass ich keinen Platz mehr daneben fand.

Kurze Zeit später drehte er sich grinsend zu mir um und hielt mir zwei rechteckige goldene Chips vor die Nase. »Los geht’s.«

Wie selbstverständlich platzierte er seine Hand auf meinem Rücken und schob mich in Richtung der Warteschlange. Die Berührung prickelte wie ein Brausebonbon genau dort, wo seine Wärme durch den Stoff meiner Bluse drang, und ich machte einen Satz nach vorn, um der Intensität zu entkommen. Was zur Hölle war das?

»Keine Sorge, ich haue schon nicht ab«, sagte ich schnippisch und mit polterndem Herzen über meine Schulter hinweg, um meine merkwürdige Reaktion zu überspielen.

»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte er zweifelnd.

»Nur weil ich nicht aus Flugzeugen oder von Klippen springe wie du, heißt das nicht, dass ich das hier nicht kann.«

»Das habe ich auch nie behauptet.«

Wir stellten uns an.

»Karla erzählt dir also, was ich so treibe, hm?«, fragte er dann und sah mich unergründlich an.

»Ja. Sie bekommt jedes Mal fast einen Herzinfarkt, wenn Basti sich meldet und sie vorwarnt, weil du dich mal wieder in eine halsbrecherische Aktion stürzen musstest. So wie im Sommer, als du dir den Knöchel verstaucht hast.«

Er verzog genervt das Gesicht. »Erinnere mich bloß nicht daran. Das war wirklich unnötig.«

»Was hast du denn gemacht?«, fragte ich und konnte nicht verhindern, dass sich allein bei der Vorstellung eine leichte Panik in mir breitmachte. Wie immer, wenn es um Gefahren ging. Zwar bedeutete mir Kilian nichts, aber ich wollte mir auch nicht ausmalen, wie sich Karla fühlen würde, wenn ihm etwas zustieß.

»Wir waren in der Nähe der Eiger-Nordwand in den Schweizer Alpen beim Base-Jumpen. Lauterbrunnen ist ein Jumper-Hotspot, es gibt viele erfahrene Leute dort. Alles hat geklappt, nur bei der Landung mit dem Fallschirm bin ich dann doof aufgekommen. Das war alles.«

Mir stockte der Atem. »Du hast dich nicht beim Parkour verletzt?« Ich meinte mich vage daran zu erinnern, dass Karla das damals behauptet hatte.

Ertappt blickte Kilian zur Seite, fuhr sich mit einer Hand in den Nacken und wirkte auf einmal ziemlich verlegen, was gar nicht zu ihm passte. »Erzähl das bloß nicht meiner Schwester. Sie macht sich auch so schon genug Sorgen.«

»Du hast sie angelogen?« Meine Stimme überschlug sich fast.

»Ich würde es eher flunkern nennen … aber ja, ich war nicht ganz ehrlich.«

»Du springst mittlerweile nicht nur mit dem Fallschirm aus Flugzeugen, sondern auch von irgendwelchen Bergklippen, und erzählst es ihr nicht einmal, wenn du dich dabei verletzt?« Ungläubig starrte ich ihn an, während sich mein Herzschlag wie eine Kriegstrommel anfühlte.

»Richtig.« Sein unbekümmertes Grinsen stand ihm viel zu gut. Er wirkte jungenhaft und in sich ruhend, als wäre das alles nur ein Spiel für ihn.

Abenteuer Leben.

Wir hätten nicht unterschiedlicher sein können.

»Findest du nicht, dass es ihr gegenüber etwas unfair ist? Dass sie ein Recht auf die Wahrheit hat?«

»Damit sie nachts kein Auge mehr zumacht?« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, das tue ich ihr nicht an. Weder ihr noch meiner Mutter. Der Einzige, der Bescheid weiß, ist mein Vater. Und auch er wartet manchmal viel zu lange auf eine Nachricht von mir.«

Der Boden unter meinen Füßen wankte gefährlich bei seinen Worten und ich zwang mich, nicht an Matilda zu denken, die dabei plötzlich vor meinem geistigen Auge auftauchte. Matilda und ihr Unfall. Ich schwieg und sog die Luft ein, irgendwie gab es dazu auch nichts mehr zu sagen.

Wellenartig schwappte die Dynamik der Fahrgeschäfte auf mich über, als wir in der Schlange der größten Achterbahn auf dem Rummelplatz weiter nach vorn rückten. Ich spürte Kilians körperliche Präsenz dicht neben mir und auch wenn ich ihn nicht ansah, war ich mir durchaus bewusst, dass er mich von der Seite beobachtete.

Je länger es dauerte, desto mehr Zweifel überkamen mich. Was tat ich hier eigentlich? Warum hatte ich diesem idiotischen Vorschlag zugestimmt? Das war völlig untypisch für mich. Meine Fingernägel bohrten sich fast schon schmerzhaft in meine Handflächen und ich kämpfte gegen den Impuls an, doch einfach umzudrehen und zu gehen.

»Keine Chance, Wendl.«

Ich verengte die Augen zu Schlitzen, aber meine Erwiderung blieb mir angesichts der Ernsthaftigkeit in seinen männlichen Zügen im Halse stecken. Diese Mimik kannte ich nicht und sie hatte auch nichts mehr mit dem unschuldigen Jungen aus meiner Erinnerung gemeinsam. In diesem Moment wurde mir schmerzhaft bewusst, wie wenig ich über ihn wusste. Wie wenig ich ihn im Grunde kannte.

»Was willst du damit sagen?«, stieß ich nach einigen Sekunden aus.

»Du zermarterst dir umsonst dein hübsches Köpfchen darüber, wie du aus der Sache wieder herauskommst. Ich würde sagen: Augen zu und durch.« Er legte den Kopf schief, sodass ihm einzelne schwarze Strähnen in die Stirn fielen. »Oder hast du Angst?«

»Ich habe keine Angst«, protestierte ich empört und erkannte, dass er genau diese Reaktion erwartet hatte. Jedenfalls wirkte er auf einmal sehr zufrieden.

»Wieso siehst du dann aus, als würdest du in der nächsten Sekunde davonrennen wollen?«

Ich knurrte eine unmissverständliche Antwort und senkte den Blick. Um mich nicht weiter mit ihm und der Tatsache befassen zu müssen, dass ich anscheinend völlig den Verstand verloren hatte, holte ich mein Handy hervor. Zwei neue Nachrichten. Eine von Brie und eine von Karla.

Alles okay? Du bist nicht mehr von der Toilette zurückgekommen.

Mein Bruder meinte, du bist frische Luft schnappen, und er begleitet dich, damit du dich nicht verirrst. Er traut deinem Orientierungssinn nicht, seine Worte. Melde dich, falls er dich verschleppen will.

Sofort spürte ich einen dumpfen Schmerz in der Brust. Karla war meine beste Freundin und auch Brie war mir in den letzten Monaten sehr ans Herz gewachsen. Trotzdem brachte ich es nicht über mich, ihnen einfach die Wahrheit über meine Begegnung mit Philipp zu sagen. Schließlich war es Bries Geburtstag und die beiden hatten sich so köstlich amüsiert. Mit fliegenden Fingern tippte ich eine vage Ausrede in unseren Gruppenchat und verstaute mein Smartphone wieder.

Inzwischen hatte sich die Schlange merklich verkürzt, wie ich zu meinem eigenen Entsetzen feststellte. Noch ein oder zwei Fahrten, dann waren wir an der Reihe.

»Orientierungssinn, ja?« Herausfordernd hob ich eine Braue, eine Fähigkeit, um die mich Karla schon als Zwölfjährige beneidet hatte.

Kilians Mundwinkel sprangen wie auf Kommando in die Höhe. »Falls du dich nicht erinnerst: Du hast dich mehrfach vom Bäcker auf dem Weg zu dir nach Hause verlaufen. In unserem Dorf. Das ist eine Kunst für sich.«

»Ich war sechs Jahre alt.«

Er zuckte bloß mit den Schultern.

Am liebsten hätte ich ihm einen Stoß verpasst, damit endlich dieser selbstgefällige Gesichtsausdruck verschwand, aber ich war keine gewalttätige Person.

»Bereit?«, fragte mich Kilian in meine Gedanken hinein und ich stellte erschrocken fest, dass wir gleich an der Reihe waren. Die Leute vor uns verteilten sich auf die Zweiersitze. Sofort begab sich mein Puls auf Talfahrt und meine Knie fühlten sich an, als hätten sie sich in Wackelpudding verwandelt.

»Shit«, murmelte ich. Plötzlich war mir kotzübel.

»Du brauchst das, vertrau mir«, sagte Kilian und strahlte dabei eine Ruhe und Gelassenheit aus, als würde uns eine Kaffeefahrt auf der Isar und nicht ein Ritt in einer halsbrecherischen Achterbahn bevorstehen.

»Habe ich gerade laut gedacht?«, wollte ich von ihm wissen.

»Ja.«

»Oh, Mann.«

»Es wird halb so wild«, versicherte Kilian mir und schob mich sanft, aber bestimmt näher zu den Eisenbeschlägen, die uns von den einfahrenden Waggons trennten. Zischend hielt das Ungetüm direkt vor uns und ich starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die strahlenden Gesichter der jungen Leute, die gerade ihre Fahrt hinter sich gebracht hatten. Über unseren Köpfen dudelte irgendein Wiesn-Hit, die angenehme Abendluft war getränkt von Lachen und guter Laune und ich versuchte, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, indem ich mehrfach tief ein- und ausatmete.

»Ich bin da.« Kilians angenehme Stimme war auf einmal ganz nah.

Ich presste meine zitternden Lippen aufeinander und nickte abgehackt. Für den Bruchteil einer Sekunde schloss ich die Augen. »Das weiß ich. Und ich wünschte, es wäre nicht so.«

Als ich sie wieder öffnete und nach rechts schaute, schwebte Kilians Gesicht genau vor meinem. Er hatte sich nachlässig rasiert, aber der dunkle Schatten um seinen markanten Kiefer stand ihm unverschämt gut. Ich hätte den Schwung seiner Lippen nachfahren können, wenn ich die Hand gehoben hätte. Kilian stand so dicht neben mir, dass mir zum ersten Mal auffiel, wie unterschiedlich die Farbe seiner Augen eigentlich war. Eins leuchtete wie ein grünes Meer, das andere schimmerte in einem dunklen Grauton. Vielleicht lag das aber auch an der schummrigen Beleuchtung des Fahrgeschäfts.

Ich blinzelte irritiert.

»Einsteigen, bitte!«

Rasch nahm ich meine Umhängetasche ab und drückte sie Kilian in die Hand, der sie auf seiner Seite in einem kleinen Schließfach verstaute, während ich mich völlig aufgelöst in den Hartplastiksitz quetschte.

»Warte, nicht, dass du den noch verlierst«, sagte er und nahm mir meinen Blumenkranz ab, um ihn zu der Tasche zu legen.

Verwundert sah ich ihm zu. Das war wirklich aufmerksam von ihm, was ich gar nicht erwartet hätte. Als Kilian neben mir Platz nahm, hätte ich vor Nervosität am liebsten geschrien, aber ich biss die Zähne zusammen, um keinen Mucks von mir zu geben. Die Haltebügel wurden von einem Jungen heruntergedrückt, der nicht älter als fünfzehn aussah. Durfte der hier überhaupt arbeiten?

Dann hielt alles den Atem an. Wie von selbst krallten sich meine Finger in die Sicherung, so fest, dass die Knöchel weiß hervorstachen.

»Ich hasse dich, Kohlhammer«, knurrte ich.

»Das wollte ich hören, Eisprinzessin«, erwiderte er gelassen.

Verdutzt warf ich ihm einen Blick zu. »Was? Warum?«

»Weil alles besser ist als diese Eisshow, die du immer abziehst.«

Bevor ich mir über seine Worte den Kopf zerbrechen konnte, setzte sich die Achterbahn mit einem Ruck in Bewegung. Panisch klammerte ich mich noch etwas fester an den Bügel.

»Oh, Gott«, stöhnte ich und kniff die Augen zu.

»Schau hin und genieß es«, forderte Kilian sanft, während wir in Zeitlupe immer weiter in die Höhe stiegen.

Unter mir ratterte das Fahrzeug, ich konnte jedes einzelne Zahnrad fühlen, während wir uns Stück für Stück nach oben schoben – dem Point of no Return entgegen.

»Niemals!«

»Der Ausblick ist wunderschön. Vertrau mir.«

Da war sie wieder. Die Bitte, ihm zu vertrauen. Seltsamerweise und ohne dass ich es verhindern konnte, hatte Kilian diese Wirkung auf mich – dass ich auf ihn hörte. Vorsichtig öffnete ich ein Auge. Unter mir erstreckte sich das bunte Lichtermeer der Wiesn, ein kühler Wind strich um meine Nase. Es roch nach Herbst und Bier, nach Freiheit und Atemlosigkeit. Die Sonne stand tief am Himmel und ergoss sich in roten und rosafarbenen Schleiern über den Festplatz. Die Geräusche der anderen Fahrgeschäfte drangen nur wie ein fernes Echo zu uns herauf, als würden wir über allem schweben, und das taten wir auch. Mein rasender Puls ließ etwas nach und machte stattdessen einem irrwitzigen Glücksgefühl Platz, das ich so noch nicht gekannt hatte.

»Nicht übel, oder?«

Ich wandte den Kopf nach rechts.

Kilians Augen funkelten wie zwei Sterne, als er mich direkt ansah. »Hier oben kannst du alles vergessen.«

Ja, das konnte ich wirklich. Philipp und das Gefühl, das die Begegnung mit ihm ausgelöst hatte, lastete nicht mehr auf mir. Es ging weniger um die Begegnung selbst als um meine Schwester. Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich inzwischen ganz gut über ihren Tod hinweggekommen war. Ich hatte sogar eine Therapie gemacht. Aber es gab diese kleinen Schlüsselmomente, die etwas in mir auslösten und mich wieder in die Tiefe zogen. In diese namenlose Dunkelheit, die mich zu verschlingen drohte. Normalerweise fand ich daraus immer einen Ausweg. Oder ich tat etwas Unüberlegtes, das ich am nächsten Morgen bereute. Wie das Tattoo. Das Bauchnabelpiercing. Die rot gefärbten Haare. Mit Manu war etwas Ruhe eingekehrt, aber ich hatte oft das Gefühl, dass ich vor dem eigentlichen Problem davonrannte.

Kilian sagte nichts, sondern betrachtete mich schweigend, ließ meinen Gedanken ihren Raum, wofür ich ihm noch dankbarer war. Selbst als wir immer langsamer wurden und schließlich anhielten, schlug mein Herz gleichmäßig und stark. Keine Spur von Angst mehr.

»Und für die folgenden zwei Minuten entschuldige ich mich schon mal im Voraus«, sagte Kilian plötzlich, lächelte dieses unverwechselbare schiefe Lächeln, das ein kleines bisschen spitzbübisch wirkte, und gab mir keine Möglichkeit, mich auf den nächsten Moment vorzubereiten.

»Wa–«

Es ging abwärts.

Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, während der Fahrtwind mir ins Gesicht blies und mein Magen Purzelbäume schlug. Ich schrie, während wir einen Looping drehten und ich Himmel und Boden nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Atemlos. Ohne Pause. Adrenalin rauschte wie eine Sintflut durch meinen Körper, nahm jeden Winkel ein und verpasste mir ein Hochgefühl, das ich schon lange nicht mehr erlebt hatte.

Als wir anhielten und sich die Sicherung wieder öffnete, stieg ich mit wackligen Beinen aus. Ich brauchte einen Moment, um mein Gleichgewicht wiederzufinden. Ich war absolut sprachlos.

»Bitte schön«, sagte Kilian und setzte mir den Blumenkranz wieder auf, der sich jetzt ganz komisch anfühlte. Wie ein Fremdkörper, der nicht mehr zu mir gehörte.

Verlegen senkte ich den Blick und wusste auf einmal nicht, wohin mit meinen Händen. Also holte ich mein Handy heraus, nachdem ich auch die Tasche wiederbekommen hatte.

Karla hatte geschrieben.

Wir wollen eine Runde Geisterbahn fahren. Treffen wir uns dort? In zehn Minuten?

Okay, schrieb ich zurück und erklärte Kilian den Plan, auch wenn ich nicht wusste, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Ich hatte diesen Kick gebraucht. Und Kilian hatte das gewusst – oder gespürt –, ohne mit mir darüber zu reden, was meine Tränenflut eigentlich ausgelöst hatte. Er hatte mich durchschaut, obwohl ich mich meistens selbst nicht verstand.

Schulter an Schulter gingen wir zu dem vereinbarten Treffpunkt. In meinem Kopf herrschte so ein Durcheinander aus Buchstaben, dass ich selbst meine Großeltern in Scrabble nicht hätte schlagen können.

»Du siehst aus, als könntest du eine Portion Zucker gebrauchen. Du bist etwas blass um die Nase«, sagte Kilian in meine Gedanken hinein und deutete auf einen Wagen, dessen Auslage voller Süßkram war. Gebrannte Mandeln, Magenbrot, Zuckerwatte, Lebkuchenherzen, verziert mit absolut kitschigen Kosenamen wie Mäuschen oder Herzblatt.

»Danke, nicht nötig.« Mein Blick blieb an einem riesigen Plüschhasen hängen, den eine junge Frau etwa in meinem Alter unter den Arm geklemmt hatte. Sofort stieg Sehnsucht in mir auf. Wie oft hatte ich mir so einen Gewinn gewünscht? Wie oft hatte ich es versucht und war gescheitert?

»Sag bloß, du stehst auf diese China-Exporte?«, fragte Kilian, der meinem Blick gefolgt war.

Röte schoss mir ins Gesicht. »Tut das nicht jedes Mädchen?«, erwiderte ich, auch wenn das wahrscheinlich eine Klischeebombe war.

»Karla nicht unbedingt.«

»Karla hat mit zehn Jahren die Jungsclique aus dem Nachbardorf aufgemischt. Alleine. Karla ist kein guter Vergleich«, entkräftete ich sein Argument.

Bei der Erinnerung zuckte sein Mundwinkel, doch in seinen Augen lauerte ein neugieriger Ausdruck. »Was haben gigantische Kuscheltiere nur an sich? Gibt es irgendeine geheime Anziehungskraft, von der ich nichts weiß?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Bei mir liegt es wahrscheinlich daran, dass ich noch nie eins besessen habe. Oder insgesamt noch nie etwas auf der Wiesn oder einem Jahrmarkt gewonnen habe. Oder jemand für mich etwas gewonnen hat.«

»Wie?« Kilian wirkte ehrlich verwundert. »Nicht einmal Manu?«

Als er Manu erwähnte, zuckte ich innerlich zusammen. Die Sache mit uns war … seltsam. Ich liebte ihn noch auf eine ganz bestimmte Weise, aber ich wusste, dass ich nicht fair zu ihm war und dass ich den Schlussstrich nur aufschob. Wahrscheinlich wusste Manu das auch, traute sich aber ebenfalls nicht, die richtigen Fragen zu stellen und die Konfrontation zu suchen. Insgeheim war ich sogar froh darüber, denn mein Herz sank bei dem Gedanken daran, dass ich ihn verlieren könnte. Das war egoistisch, ja, aber Manu gab mir die Stärke, meine Fassade Tag für Tag aufrechtzuerhalten. Mit ihm an der Seite fiel es mir leichter, mich selbst zu belügen. Und ich wusste nicht, ob ich bereit war, diese Lüge zu zerschlagen. Denn dann hätte ich mich mit der Wahrheit beschäftigen müssen und ich war mir nicht sicher, ob ich ihr in die Augen blicken konnte.

»Nein«, sagte ich schließlich. »Auch Manu nicht.«

»Verstehe.«

Schweigend setzten wir unseren Weg fort.

»Da seid ihr ja endlich!«, rief Brie, sobald wir uns in Sichtweite der Geisterbahn befanden.

Toni hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt. Neben ihm wirkte selbst Brie eher zart, obwohl sie so groß war. Karla, der Australier, Pete und zwei weitere Mitarbeiterinnen von Leckerste waren auch dabei.

»Bereit für die Fahrt des Grauens?«, fragte mich Brie lachend und mit leuchtenden Augen und ich konnte nur mit Mühe verhindern, das Gesicht zu verziehen.

»Wenn es dein Wunsch ist?«

»Natürlich!« Enthusiastisch löste sie sich von Toni und hakte sich stattdessen bei mir unter. »Wir können auch gemeinsam fahren, wenn du magst.«

Ich schielte zu Toni, dessen stoische Miene ausdruckslos blieb, allerdings wollte ich auch nicht, dass Brie wegen mir auf eine Fahrt mit ihrem Freund verzichtete. Also schüttelte ich den Kopf. »Nein, das passt.«

»Sicher?«, wollte sie zweifelnd wissen.

»Ganz sicher«, erwiderte ich und nickte in Karlas Richtung. »Ich sitze neben Karla.«

Meine beste Freundin zog eine bedauernde Schnute. »Also, ehrlicherweise wollte ich die Fahrt ein wenig anders nutzen«, verkündete sie vielsagend auf Deutsch und wackelte mit den Augenbrauen. Der Australier neben ihr schien von seinem Glück noch nichts zu ahnen.

»Erspar mir bitte die Details«, murmelte Kilian stöhnend, was Karla mit einem glockenhellen Lachen kommentierte.

»Sei nicht so prüde, Bruderherz. Schließlich habe ich jahrelang in dem Zimmer neben dir gewohnt.«

»Wir können uns einen Wagen teilen«, bot sich Pete an, aber ich schüttelte den Kopf.

»Es geht sowieso nicht auf«, erwiderte ich. »Ich setze einfach aus.« Das war mir auch am liebsten.

»Sag mal, hast du geweint?«, fragte mich Karla, nachdem sich fast alle entfernt und in der Schlange angestellt hatten.

»Tränen der Angst, weil ich sie gezwungen habe, mit der American Horror zu fahren«, sprang Kilian mir bei, bevor ich mir eine Ausrede einfallen lassen konnte.