Schatten der Ewigkeit - Zwillingsblut - Carolin Wahl - E-Book

Schatten der Ewigkeit - Zwillingsblut E-Book

Carolin Wahl

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Beschreibung

Der Start in eine ebenso actionreiche wie romantische Fantasy-Reihe: Götter, Geister, Fabelwesen – das sind die Namen, die Menschen den Alias gegeben haben. Die Gestaltwandlerin Kit arbeitet bei der Alias Einheit, deren Aufgabe es ist, die Sterblichen vor abtrünnigen Alias zu schützen. Nach einer Katastrophe, bei der ihr Partner stirbt, wird sie nach Edinburgh versetzt, aber auch hier scheint der Tod Kit zu verfolgen: Eine grausame Mordserie erschüttert die Stadt, und die Opfer scheinen alle eng mit Kit verbunden zu sein. Gemeinsam mit ihrem menschlichen Partner Keagan versucht sie, den wahren Mörder zu finden und eine zweite große Katastrophe zu verhindern. Allerdings hat sich ein mächtiger Todesdaimon ihre Fährte aufgenommen, denn er ist der festen Überzeugung, dass Kit mehr über die Vorfälle weiß, als sie zugibt … Liebenswerte Figuren, magische Gefahren und ein Schuss Humor zeichnen das romantisches Fantasy-Abenteuer von Carolin Wahl aus – perfektes Lesefutter für die Fans von starken Heldinnen und großen Gefühlen. »Eine ganz neue, frische Fantasy-Idee - perfekt umgesetzt! Ich liebe "Schatten der Ewigkeit" und Kit Sune will auf der Stelle noch viel mehr von ihr lesen!« – Verena von Lieblingsleseplatz.de

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Seitenzahl: 435

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Carolin Wahl

Schatten der Ewigkeit – Zwillingsblut

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Seit einem gewaltigen Krieg zwischen Alias und Nox, die sich von Seelen ernähren, weiß die Menschheit um die Existenz der magischen Geschöpfe. Seitdem versuchen die Agenten der Alias Einheit, die Welt der Menschen zu beschützen.

Die junge Kit Sune wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich ernst genommen zu werden, vor allem von ihren Kollegen bei der Alias Einheit, welche die Menschheit vor gefährlichen Wesen schützt. Doch mit ihren pelzigen Ohren und der lästigen Angewohnheit, sich jedes Mal in einen Fuchs zu verwandeln, wenn sie sich vor etwas fürchtet, stehen die Chancen dafür nicht eben gut. Und sie verschlechtern sich rapide, als Kit nach dem Tod ihres Partners und einem Ortswechsel nach Edinburgh einen neuen Partner zugewiesen bekommt: Keagan McCadden.

Denn Keagan hat eine furchtbar einschüchternde Art, was ihren inneren Fuchs zu seiner Belustigung immer häufiger zum Vorschein bringt …

Als es zu einer brutalen Mordserie an mehreren Alias kommt, hinter der nur ein anderer Alias stecken kann, muss Kit sich nicht nur mit Keagan arrangieren – sie muss auch mit Nakir zusammenarbeiten, jenem Todesdaimon, der ihr einst das Herz gebrochen hat.

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. KapitelEpilogDanksagung
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Für alle, die ihre Herzensstadt noch nicht gefunden haben,

aber auf der Suche nach einem magischen Ort sind.

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Prolog

Sie starb.

Der Schmerz war so gewaltig, dass er ihre Sinne trübte, ihr die Luft aus den Lungen presste. Ihre Gedanken wurden schwer und zäh wie flüssiges Pech. Sie spürte die allumfassende Dunkelheit, die sie in eine liebevolle Umarmung schloss, und fühlte sich angekommen, denn sie hatte den Tod verdient. Tränen rannen ihre Wangen hinab, warm und heiß, und der Himmel schluchzte.

Sie starb.

Nicht einmal. Nicht zweimal.

Sondern immer wieder. So lange, bis die Liebe so unzähliger Leben sie nicht mehr töten konnte, obwohl sie den Wunsch danach in seinen Augen las. Gleichzeitig sah sie aber auch die Wut, den Hass, die Enttäuschung. Ihr Herz brach. Sie wollte schreien, um sich schlagen. Etwas in ihr splitterte in Tausende, winzige Teile und verteilte sich wie Regen über der Welt.

In jedem Leben hatte er sie zur Strecke gebracht, sie gejagt, sie aufgespürt und gefunden. In keinem Leben war sie traurig darüber gewesen, was war schon Trauer, wenn man das Leid der Welt auf seinen Schultern trug?

Doch nun, in diesem Augenblick, weinte sie bittere Tränen, denn sie war erfüllt von einer tiefen Schwermut. Aber sie weinte nicht um sich. Das hätte sie, selbst wenn sie gewollt hätte, gar nicht fertiggebracht.

Denn dieses eine Mal war nicht sie diejenige, die ihr Leben ließ. Weil sie ihm dieses eine Mal zuvorgekommen war.

Und sich danach nicht mehr an ihn erinnern konnte.

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1

Niemand hatte behauptet, dass Sterben einfach war, doch in diesem Moment, in völlige Dunkelheit gehüllt, wünschte sich Kit Sune, ihr Tod würde dieses Mal wenigstens schnell gehen.

Schnell und schmerzlos.

Sie konnte die Nox zwar nicht sehen, denn der Raum, in dem sie sich befand, war stockfinster – so finster, dass sie nicht einmal ihre eigene Hand vor Augen wahrnahm, aber dafür spürte sie ihre Präsenz umso deutlicher. Wie unzählige kleine elektrische Impulse auf der Haut, ein Knistern, das die Angst real werden ließ. Sofort loderte das Fuchsfeuer in ihr auf, schlug wild um sich und drang glühend bis in ihre Fingerspitzen. Ihre Haut spannte, und jeder Muskel schmerzte, als sich das Feuer weiter ausbreitete, getrieben von der Angst.

Kit schnappte nach Luft, als die Hitze wie ein Echo durch ihren Körper wisperte.

Nicht jetzt, schoss ihr durch den Kopf. Sie atmete tief aus, dachte an Schokolade und hoffte, ihrem inneren Daimon nicht nachzugeben.

Sie brauchte ihre Menschengestalt.

Es war ihre einzige Chance, um zu überleben.

Noch waren die Nox kein fester Teil auf dieser Erde, doch sobald sie von der Niemalswelt in die menschliche Welt übergegangen waren, war es zu spät.

Sie fluchte innerlich und konzentrierte sich auf ihre Atmung, versuchte sich den Geschmack von Schokolade auf ihrer Zunge vorzustellen, zartbitter und herb, alles, was sie als Fuchs verabscheuen würde.

Es funktionierte. Schlagartig wich die innere Hitze, als ob man einen Eimer kaltes Wasser darübergekippt hätte, und das Feuer in ihren Venen hinterließ ein Taubheitsgefühl in ihren Fingern.

Der Raum besaß in etwa die Größe eines halben Fußballfeldes. Es gab zwar zwei Ausgänge auf der linken Seite, doch das sanfte Surren, das aus dieser Richtung erklang, ließ sie vermuten, dass sich die Nox zu dicht bei den Türen manifestierten. Außerdem war da noch eine Reihe von Fenstern auf der anderen Seite, die jetzt mit lichtundurchlässigen Vorhängen verschlossen waren und kein Fünkchen Helligkeit hereinließen – aber sie würde den Teufel tun und den Nox den Rücken zudrehen. Nicht, solange sie die Lage nicht vollständig abschätzen konnte.

Kits Herzschlag dröhnte in ihren pelzigen Ohren, und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Im Grunde gab es keinen anderen Ausweg als einen Kampf auf Leben und Tod. Dafür war sie ausgebildet worden.

Sie atmete lautlos aus und versuchte sich ganz auf ihren sechsten Sinn zu verlassen, so wie sie es bereits als kleines Kind gelernt hatte. Die Luft in dem Raum war trocken und stickig, als ob seit Tagen kein Fenster mehr geöffnet worden wäre, und irgendwo in den Schächten über ihr bewegte sich ein kleines Nagetier, vermutlich auf der Suche nach etwas Essbarem.

Kit stutzte. Da war noch etwas anderes. Sie bemerkte es an den Vibrationen der Luft, als ob jemand atmete. Ein Schatten. Eine Gestalt, die sich versteckt hielt, ihre Präsenz vor ihr verbergen wollte. Kit riss die Augen auf, als sie begriff. Sie war nicht allein mit den Nox.

In diesem Augenblick zerbarst die Stille. Ein Stöhnen erklang, als sich die Dunkelheit teilte und für die Schattenwesen öffnete, die sich einen Weg in diese Welt suchten. Obwohl sich die erschaffene Dunkelheit normalerweise deutlich von der natürlichen Finsternis abhob, sah Kit nichts weiter als Schwärze. Sie fluchte, als der Raum bebte.

Dreißig Sekunden.

Kit zog den Dolch aus der Halterung an ihrem Gürtel, schloss die Augen, um sich noch besser konzentrieren zu können, und lauschte in die Schwärze hinein. Dabei versuchte sie sich nicht zu rühren, denn jede Bewegung hätte ein Geräusch zu viel erzeugt, das die Nox, deren Existenz darin bestand, Lebensenergie zu stehlen, um ihr eigenes, jämmerliches Dasein zu verlängern, auf sie aufmerksam machen würde. Jede Bewegung würde die Wahrscheinlichkeit ihres eigenen Todes verdreifachen. Kit war zwar kein Genie, aber ihr gesunder Alias-Verstand reichte, um sich auszurechnen, dass ihre Überlebenschancen drastisch gegen null sanken. Denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sich Wesen, die keine Augen, Mund oder Nase besaßen, auf andere Sinne verließen.

Vorsichtig wandte sich Kit in die Richtung, in der die Schatten am lautesten knisterten, wie eine Feuerstelle, in die man Holz nachgelegt hatte, und einmal mehr dankte sie ihrem Erzeuger für ihr Fuchsgehör, denn sie konnte jede Nuance in der Finsternis unterscheiden.

Absprungbereit harrte sie aus, die Hand fest um den ledernen Griff des Dolches geschlossen, der sich fremd und ungewohnt zwischen ihren Fingern anfühlte. Unerwartet tauchte Artemis’ Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf. Die Qual. Die Angst. Er war ihr Partner gewesen und an ihrer Seite gestorben, das nagte noch immer an ihr.

Konzentrier dich, dachte sie wütend, presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, um sein Gesicht aus ihrer Erinnerung zu verdrängen. Ihr Puls raste. Das hat hier nichts verloren, verdammt!

Irgendwo zu ihrer Linken erklang ein Zischen, wie ein Windhauch, der durch eine Fensterritze kroch. Sofort drehte sie den Kopf in die Richtung. Das Geräusch klang jetzt wie ein leises Stöhnen, als ob der Wind sich verstärkt hätte. Angezogen von dem berauschenden Duft ihrer alten Seele, gierig nach ihrem Leben, nach allem, was sie ausmachte und sie von all den anderen Wesen unterschied.

Kit spitzte die Ohren, versuchte all die anderen Geräusche in ihrer Umgebung auszublenden. Ihr Daumen kratzte über das erkaltete Wachs auf dem Dolchgriff, und sie stieß die Worte des Nachtsiegels in rascher Abfolge aus. Wie durchsichtige Fäden wickelte sich die Magie um die Klinge, für die körperlosen Nox nicht zu sehen.

Sie waren nicht mehr weit, keine drei Schritte von ihr entfernt. Kits Knie zitterten vor Aufregung.

Die Energie näherte sich, sie spürte die unnatürliche Dunkelheit der Schattenwesen, spürte, wie sich die Härchen auf ihren Unterarmen aufstellten. Wie viele waren es? Zwei?

Die Dunkelheit erhob sich vor ihr, eine Wand aus Finsternis.

Sie wartete noch einen Herzschlag.

Dann machte Kit einen Sprung.

Ein Luftzug rauschte an ihr vorbei, während sie sich rückwärts abrollte und wieder auf die Beine kam. Blind tänzelte sie nach vorne, dorthin, wo sie einen Augenblick zuvor noch gestanden hatte, und verließ sich dabei ganz auf ihr Gehör. Blitzschnell stieß sie zu, ließ die Klinge in der Schwärze verschwinden.

Links unten. Rechts oben. Mitte. Links. Rechts. Links.

Ihr letzter Vorstoß traf auf Widerstand, der Dolch glomm auf, wurde heller und heller, als ob sich Sonnenlicht im Innern verfangen hätte, und ließ die Umrisse des Nox erkennen. Der Schatten zuckte, wand sich unter Schmerzen und blieb doch stumm. Seine Gestalt sah aus, als würde sie aus schwarzem Rauch bestehen, nur wesentlich fester. Lebendiger. Obwohl nichts an dem Wesen an Leben erinnerte.

Abrupt ließ Kit den Dolch los, der tief in der Masse des Nox steckte, und machte einen Salto nach hinten, um wieder sicher auf den Beinen zu landen. Sicherheitsabstand, denn die Berührung eines Nox war tödlich.

Der Nox krümmte sich, sie hörte es an seinen Bewegungen. Sie hatte ihn verwundet. Er würde zu Asche zerfallen.

Kit nahm nicht mehr wahr, wie es geschah, aber das spielte in diesem Moment auch keine Rolle, denn ein gefährliches Brummen erfüllte den Raum. Jemand antwortete in einem tieferen Ton, wie das genüssliche Schmatzen eines Tieres, das gerade seine Beute verspeiste.

Erst jetzt realisierte Kit, dass sie sich getäuscht hatte. Nicht zwei! Sie waren zu dritt!

Sie fluchte lautlos und riss zwei schwarze Perlen von dem dünnen Kettchen, das sich um ihr Handgelenk schlängelte.

»Zwischen Licht und Schatten liegt dein Grab, gefangen in der Zeit, verloren zwischen den Welten«, stieß sie atemlos die alten Worte hervor und hauchte einen Todeskuss auf die glatte Oberfläche, die augenblicklich zu wachsen begann. Die Perlen gewannen rasch an Größe, bis sie wie zwei Tennisbälle in ihrer Hand lagen. Tanzend drehte sich die Magie im Innern der Kugeln, zuckende Blitze, die Kit schon immer an ein eingefangenes Sommergewitter erinnert hatten. Sie packte mit jeder Hand eine Kugel und stürmte auf die allumfassende Dunkelheit zu.

Etwas strich um ihre Beine, Kit keuchte und sprang zur Seite. Dieses Mal landete sie hart auf dem Boden, rollte sich über die Schulter ab, um den Aufprall abzufangen. Schmerz zuckte durch ihren Körper, doch sie schaffte es irgendwie, die beiden Kugeln nicht loszulassen.

In diesem Augenblick spürte sie, wie einer der beiden Nox sich über sie beugte, sich ihr öffnete, um an ihrer Seele zu tasten. Kits Hände zitterten unkontrolliert, als sie eine der Kugeln in der Finsternis versenkte, indem sie die Kugel einen halben Meter vor sich losließ.

Sofort zog sich die Dunkelheit zurück, fast so, als hätte Kit einen tödlichen Schuss abgefeuert. Heftig hob und senkte sich ihr Brustkorb, und der Raum bebte erneut, doch dieses Mal nicht, weil die Nox erschienen, sondern weil die Niemalswelt sie rief.

Kit erstarrte.

Ihr wurde heiß. Dann kalt.

»Nein«, flüsterte sie tonlos, doch es war zu spät.

Sie hatte ihn nicht wahrgenommen. Weder gespürt, noch gehört.

Die Berührung glich einer Liebkosung, so unheimlich sanft und anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Es war ein vorsichtiges Tasten, wie Fingerspitzen, die über ihre Haut strichen. Sie fühlte die Berührung, die tiefer glitt, ihr Bewusstsein öffnete.

Bebend schloss Kit die Augen, als der letzte Nox bis auf den Grund ihrer Seele vordrang. Licht explodierte, und sie war von einer inneren Ruhe erfüllt. Bilder aus vergangenen Leben zogen in Sekundenschnelle an ihr vorbei, Splitter aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Epoche und doch so vertraut wie der gestrige Tag.

»Simulation beenden«, sagte Kit deutlich in die atemlose Stille hinein und blinzelte, als das Deckenlicht flackernd ansprang. Sofort verschwanden die Hologramme der Nox, und Kit stützte sich auf den Knien ab. Strähnen ihres schwarzen Haares hatten sich aus dem strengen Zopf gelöst und klebten ihr feucht im Nacken.

Sie fühlte sich schmutzig. Dreckig. Die Enttäuschung hing wie Blei an ihrem Körper.

Sie hatte versagt.

»Und, zufrieden?«, fragte Kit verächtlich, richtete sich auf und drehte sich zu der Nische am Ende der Trainingshalle um.

»Nein«, erwiderte ihre Patentante und löste sich aus dem Schatten des Beobachtungspostens. »Sogar sehr zufrieden.«

Kit schnaubte. »Du hast wohl nicht richtig hingesehen.«

»Doch.«

Mit langsamen Schritten kam Phelia Lockhardt näher, darauf bedacht, Kit nicht aus den Augen zu lassen. Trotz ihres Alters bewegte sie sich agil durch den Raum, und ihrem aufmerksamem Blick schien nichts zu entgehen, denn sie kräuselte die Lippen auf diese bestimmte Weise, die Kit schon als Kind in den Wahnsinn getrieben hatte, weil sie genau wusste, was es bedeutete. Sie hatte Mitleid mit ihr.

Aber sie war kein Kind mehr. Sie war eine erwachsene Frau und würde einen Daimon tun und sich bemitleiden lassen.

Mit zwei Fingern zog sie die Blutegel aus ihrem Handgelenk und warf sie achtlos auf den Boden. Die Schmerzkapseln, oder Blutegel, wie sie sie liebevoll getauft hatte, waren der Grund, warum sich die Simulation so real anfühlte. Jetzt konnte sie die Dinger nicht schnell genug loswerden.

»Ich habe ihn nicht gespürt. Nicht gesehen. Nicht gehört. Nicht mal ein kleines bisschen wahrgenommen«, stieß Kit hervor und riss frustriert die Arme in die Luft. »Wäre das die Realität gewesen, wäre ich jetzt tot. Ich bin noch nicht bereit. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder bereit sein werde.«

»Kit«, sagte ihre Patentante jetzt mit dieser Stimme, die sie bei all ihren Angestellten benutzte. »Du hast deinen Partner verloren. Das ist gerade sechs Wochen her. Gib dir etwas Zeit, das alles zu verarbeiten.«

Mittlerweile hatte Phelia sie erreicht, und Kit musste den Kopf beinahe in den Nacken legen, um so was wie ihrer einzigen lebenden Quasi-Verwandten in die Augen blicken zu können.

»Es ist völlig normal, dass du nach den Geschehnissen an deinen Fähigkeiten zweifelst, aber du bist weitaus stärker, als du denkst. Ich kenne niemanden, der diese Simulation auf diese Weise gemeistert hätte«, sagte Phelia nun. »Es ist das erste Mal, dass ich dich seit deiner Versetzung nach Hongkong in Aktion erlebt habe, und du kannst stolz auf dich sein. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du gerade noch in die Schule gegangen. Deine Kampftechniken sind überlegt und ausgereift, aber was noch viel wichtiger ist: Du hast dich völlig auf deinen Instinkt, auf das Gefühl verlassen. Das ist etwas, das man nicht lernen kann.«

»Ich habe einfach nur ein verdammt gutes Gehör«, entgegnete Kit ausweichend, weil es sich falsch anfühlte, für ihr Versagen Komplimente anzunehmen.

»Du spielst deine Talente herunter, weil du dich nicht mit der Wahrheit auseinandersetzen möchtest. Denn dann würdest du sehen, was ich sehe.«

»Was willst du damit sagen?«

Phelia seufzte. »Du bist bereit.«

»Hast du mir gerade zugesehen?« Kits Stimme zitterte vor unterdrückter Wut und Enttäuschung. Sie spürte sie bis in den letzten Winkel ihres Körpers, und der Fuchsgeist in ihr regte sich. »Ich wäre gestorben. Wie soll ich für die Sicherheit meines Partners garantieren, wenn ich nicht einmal in einer dämlichen Simulation die Oberhand habe?«

»Es war die höchste Schwierigkeitsstufe in der Simulation. Du weißt genauso gut wie ich, dass Nox in den seltensten Fällen zu dritt auftauchen und ihre Bekämpfung nicht zu deinen Hauptaufgaben gehört.«

Phelia hatte recht. Ihre Hauptaufgabe war das Aufdecken von mysteriösen Mordfällen, für die meistens ein Nox oder ein abtrünniger Alias verantwortlich war. Dafür hatte sie eine fünfjährige Ausbildung hinter sich gebracht, drei Jahre lang in Tokio Remos Assistentin gespielt, um schließlich in Hongkong ein eigenes Team und einen Partner zur Seite gestellt zu bekommen. Sie war fünfundzwanzig und gerade erst am Beginn ihrer Karriere.

Blöd nur, dass sie nicht das Gefühl hatte, dass man sich auf sie verlassen konnte. Eigentlich wollte sie weder sich noch ihr Umfeld in Gefahr bringen, aber sie liebte ihren Job zu sehr. Dafür war ihr das Schicksal der Menschen zu wichtig. Sie waren unwissend und unschuldig und konnten nichts für die Gefahren, die hinter den scheinbar menschlichen Gesichtern lauerten.

Kit dachte an die vielen Kinder, die gestorben waren, weil ein Alias sich nicht an die Regeln gehalten hatte, und erneut stieg Wut in ihr hoch. Trotzdem war eine dieser Gefahren, vor denen sie diese Kinder so unbedingt beschützen wollte, sie selbst.

Phelia ahnte die Wahrheit und hatte sie trotzdem nach Edinburgh geholt.

»Wir brauchen dich. Es gibt so viele Alias und Menschen da draußen, die auf deine Hilfe angewiesen sind.«

Kit schluckte. »Vielleicht hast du recht.«

»Natürlich habe ich das.« Phelia lächelte nachsichtig. »Ich habe dir schon gesagt, dass du in meinem Haus dem Ungewissen viel mehr ausgeliefert bist als im Observatorium oder auf einem Einsatz, wo es genügend Siegelhüter gibt. Der Hunger der Nox ist zu groß, und die alten Seelen sind selbst in einer Stadt wie Edinburgh zu wenige. Sie werden dich finden. Früher oder später werden sie deine Fährte aufnehmen.« Phelia sah sie direkt an. »Ich habe Angst, dass niemand in deiner Nähe ist, wenn sie dich aufspüren, und dasselbe passiert wie in …«

»Ich weiß«, unterbrach Kit ihre Patentante rasch und atmete tief aus. Je mehr Nox scharf auf einen waren, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, eine alte Seele zu besitzen, obwohl niemand mit Genauigkeit bestimmen konnte, wie alt eine Seele wirklich war. Und Kit war allzu oft das einzige Gnu am Wassergraben gewesen, das von einer Horde hungriger Löwinnen umzingelt wurde.

»Was schlägst du also vor?«, fragte sie seufzend, müde von der Diskussion. Müde vom Kampf und von den schlaflosen Nächten, den Gedanken, die nur um den Moment vor sechs Wochen kreisten.

»Du gehst dich duschen, und dann stelle ich dich deinem neuen Partner vor.«

»Bist du dir sicher?«, fragte Kit, und ihr innerer Zwiespalt verfärbte ihre Stimme.

Phelia nickte. »Es ist an der Zeit, dass du wieder in dein Leben zurückkehrst.«

* * *

Dampf hatte den kleinen Spiegel im Badezimmer ihrer Patentante beschlagen, als Kit aus der Dusche stieg, sich ein Handtuch um den Körper wickelte und ihr tropfendes Haar trocken rubbelte.

Das Training in der Nox-Simulation hing ihr noch in den Knochen. Sie fühlte sich träge und schwer, emotional ausgelaugt, was nicht zuletzt auch an dem kurzen Wortgefecht mit Phelia lag.

Zweifel stiegen in Kit auf. Hatte ihre Patentante vielleicht doch recht? War es besser für sie, wieder den Dienst anzutreten? Schließlich riet man einem Menschen, der vom Pferd fiel, ja auch, einfach wieder in den Sattel zu steigen, aber Kit war sich nicht sicher, ob sie der endlosen Spirale aus Ängsten und Sorgen einfach so entkommen konnte, indem sie wieder einem Fall nachging.

Seufzend wischte sie mit dem Handrücken eine Stelle am Spiegel frei. Dicke Augenringe lagen wie zwei Halbmonde auf ihrer Haut, das schwarze Haare klebte ihr strähnig und noch feucht im Gesicht. Sie erkannte sich selbst kaum wieder. Das Leuchten war aus ihren Augen verschwunden, ihr Blick wirkte stumpf, so, als hätte jemand alle Freude aus ihr gesaugt. Sie vermisste Artemis und ihr altes Leben körperlich, die Schuld ließ sie nicht mehr schlafen, doch obwohl bereits sechs Wochen vergangen waren, fühlte es sich immer noch so an, als wäre alles erst gestern geschehen.

Plötzlich bemerkte sie einen dunklen Schemen hinter sich.

Kit zuckte zurück, doch es war zu spät.

Fuchsfeuer explodierte in ihren Adern, riss an ihrem menschlichen Körper. Im Kampf war sie darauf vorbereitet, dass etwas Unvorhergesehenes geschah, hatte sich und das Fuchsfeuer und ihre Ängste besser unter Kontrolle. Jahrelanges Training sei Dank. Aber jetzt, im Alltag, fiel ihr das deutlich schwerer.

Wie eine Welle fegte die Energie über sie hinweg, und sie schnappte erschrocken nach Luft, als die Hitze jeden Winkel ihres Körpers durchdrang. Ein Strudel erfasste sie mit einer solchen Intensität, dass Kit keine Zeit blieb, sich gegen die Macht der Verwandlung zu wehren. Wütend stieß sie eine Beschimpfung aus, die jedoch in ein tierisches Quietschen überging.

Im nächsten Moment landete sie auf allen vieren, das Handtuch hing wie ein nasser Sack über ihrem noch feuchten Fell.

Kit brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Die Farben in ihrer Umgebung wurden blasser, als hätte jemand einen grauen Filter über ihr Sichtfeld gelegt, die scharfen Konturen der Gegenstände verschwammen, gingen ineinander über. Dafür hörte sie, wie Phelia zwei Stockwerke tiefer eine Schublade öffnete und einen Teebeutel aus einer Pappschachtel zog. Teebeutel. In Großbritannien. Artemis würde sich im Grab umdrehen. Draußen in den Bäumen saßen drei Vögel und unterhielten sich lautstark über das schlechte Wetter, das Edinburgh fest umklammert hielt.

Schon in ihrem menschlichen Körper war Kits Gehör um ein Vielfaches schärfer, aber in ihrer Fuchsgestalt waren ihre Nase und Ohren die einzigen Sinne, auf die sie sich wirklich verließ.

Knurrend drehte sie sich zu der Gestalt in der Tür um.

Nichts deutete auf eine Gefahr hin, denn er atmete ruhig, beinahe gelassen, und sein Herz schlug regelmäßig und kräftig, machte nur einen kleinen Hüpfer, als wäre er überrascht. Sie reichte ihm nun kaum mehr bis zu den Knien und musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn genauer betrachten zu können.

Der Fremde roch nach Motoröl und Meeresluft, die auf der schwarzen Lederjacke wie eine zweite Haut haftete. Außerdem hatte er Porridge gefrühstückt, mit einer Prise Zimt und Blaubeeren. Er achtete also auf seine Ernährung, was erklärte, warum er trainiert war. Kit hatte da so eine Ahnung, was seine Identität betraf – und die wollte sie lieber nicht bestätigt wissen.

Doch da gab es etwas an ihm, das sie nicht einordnen konnte. Etwas an seiner Aura war anders. Wie ein Nox in der Finsternis. Etwas Dunkles, Gefährliches ging von ihm aus, aber sie unterdrückte die aufsteigenden Zweifel. Normalerweise verließ sie sich auf ihre Sinne, doch in den vergangenen Wochen hatte sie ihre Selbstsicherheit verloren.

Zum Glück schien er ebenso überrascht zu sein wie sie, denn sie konnte den Ausdruck in seinem Gesicht zwar nicht wirklich sehen, dafür nahm sie jede noch so feine Veränderung in seinem Duft wahr. Und er roch eindeutig überrascht. Wie frisch gepflückte Minze.

Allerdings gab es da noch etwas an ihm, das Kit stutzig werden ließ.

Er war kein Alias, sondern ein Mensch.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte der Fremde jetzt mit einem Tonfall, in dem eindeutig Belustigung mitschwang, auch wenn nichts in seinem Geruch darauf hindeutete. Sein Akzent war gewöhnungsbedürftig, und seine Stimme klang wie ein altes Dieselauto, das erst nach mehreren Versuchen ansprang. »Chief Lockhardt meinte, dass du bereits in deinem Zimmer bist, und das Bad war nicht abgeschlossen. Ich hatte geklopft.«

Kit antwortete nicht. Sie konnte nicht. Und sie zweifelte, dass sie ein Klopfen überhört hätte, aber vielleicht war sie auch so in Gedanken vertieft gewesen.

»Freut mich, dich kennenzulernen.«

Sie schwieg.

Wenn sie richtiglag, handelte es sich bei dem männlichen Exemplar, vor dem sie sich so erschreckt hatte, um ihren neuen Partner, und Kit erinnerte sich an keinen Moment, der jemals peinlicher gewesen wäre. Was würde er jetzt von ihr denken? Wie würde er sie jemals ernst nehmen, wenn sie sich beim kleinsten Schreck in einen Fuchs verwandelte?

Kit knurrte.

»Ich warte dann mal … unten.« Mit diesen Worten drehte er sich um und marschierte langsam die Treppe hinunter. Kit hörte das unterdrückte Glucksen wie ein Maschinengewehr in ihren Ohren klingeln. Zum Glück konnte er nicht sehen, dass sie errötete. Und ja, das konnte sie auch als Fuchs.

Zehn Minuten später betrat sie in Jeans, weißem Longsleeve und in Menschengestalt die gemütlich eingerichtete Wohnküche ihrer Patentante, die das genaue Gegenteil ihres sonst so kühlen Auftretens war. Es war die Arbeit als Chefin des DoAC, Department of Alias Crime, das einige Verantwortung mit sich brachte und sie dazu zwang, eine Rolle zu spielen.

»Schön, dass du zu uns stößt«, sagte Phelia, ohne aufzuschauen oder näher auf die genaue Art des Kennenlernens einzugehen. Scheinbar unbeteiligt rührte sie in ihrer halb leeren Teetasse, doch Kit glaubte, ein winziges Lächeln um ihre Mundwinkel zucken zu sehen. Auch sie hatte sich umgezogen, denn sie steckte nicht länger in legerer Kleidung, sondern trug einen schwarzen Hosenanzug, der ihre schmale Figur betonte. Das silberne Haar wand sich wie eine Krone um ihren Kopf. Höchstwahrscheinlich war ihr sehr wohl bewusst, dass Kit jedes in den vergangenen zehn Minuten zwischen ihr und dem Fremden gefallene Wort mitangehört hatte. Oder vielmehr die recht einseitigen Ausführungen ihrer Patentante über die operative Aufteilung innerhalb des DoAC, denn ihr neuer Partner war wortkarger, als es bei ihrem kurzen Intermezzo den Anschein gemacht hatte.

»Du hast Agent McCadden ja bereits kennengelernt und die letzten Minuten sicherlich mitangehört«, riss ihre Patentante Kit aus ihren Gedanken, und sie biss sich ertappt auf die Unterlippe. »Keagan, das ist Agent Sune. Kit Sune. Keagan wurde von dem operativen Feld ins DoAC versetzt. Ihr seid ab morgen also Partner.«

Der Name kam ihr vage bekannt vor, und sie durchforstete ihr Hirn nach einem Anhaltspunkt, doch sie wusste nicht, in welchem Zusammenhang sie ihn bereits gehört hatte. Jetzt, da ihr Partner ein Gesicht bekam, spürte sie, wie ihr alter Ehrgeiz geweckt wurde. Es hatte Monate gedauert, bis sie sich in Hongkong einen Namen gemacht und so etwas wie Respekt erhalten hatte. Vielleicht hatte Phelia ihren neuen Partner absichtlich nach oben geschickt. Manchmal verfluchte Kit die Fähigkeit ihrer Patentante. Phelia war eine Sibylle, die Sammelbezeichnung für alle Frauen mit hellseherischen Fähigkeiten aus der griechischen Mythologie, und auch wenn ihre Visionen oftmals vage waren, besaß sie doch ein äußert gutes Gespür für die Zukunft. Vielleicht hatte sie gesehen, dass Kit, sobald sie ihn kennenlernte, keinen Rückzieher mehr machen würde. Was auch immer Phelia bezweckt hatte, es wirkte.

Kit wollte die erste Begegnung mit Keagan McCadden unter allen Umständen wieder geraderücken.

Wie selbstverständlich lehnte er an der Küchenzeile, und Kit bemerkte, dass er groß und drahtig war – wobei diese Eigenschaft auf so gut wie jeden zutraf, dem sie begegnete, schließlich besaß sie selbst im Gegensatz zu den meisten Menschen oder Alias eine Miniaturfigur. Dunkles Haar, keine frische Rasur. Er war auf eine raue Art attraktiv, und da er ein Mensch war, musste sein Äußeres auch zu seinem Alter passen. Kit schätzte ihn auf Ende zwanzig.

Seine kupferfarbenen Augen funkelten spöttisch, als er ihre Musterung bemerkte. Also machte Kit einen Schritt nach vorne, um ihm die Hand zu reichen.

Keagan bewegte sich keinen Millimeter in ihre Richtung.

»Hallo Agent McCadden. Kein großer Fan von Begrüßungen im Allgemeinen, oder liegt es daran, dass du deine Partnerin bereits nackt gesehen hast?«, fragte Kit augenzwinkernd und sah selbstzufrieden, wie ein verblüffter Ausdruck über seine stoische Miene wanderte. Wahrscheinlich hatte er nicht mit ihrer Offenheit gerechnet, aber sie hatte gelernt, niemals klein beizugeben, wenn sie ernst genommen werden wollte.

Als ihre Finger in seiner Pranke versanken, spürte Kit eine eisige Kälte, die von ihm auszugehen schien und sich in jedem Winkel ihres Körpers festsetzte. Frostflammen.

Das war also der Grund, warum er eine so seltsame Aura besaß.

Kit riss ihre Hand los und trat einen Schritt nach hinten. »Du warst ein Gefangener in der Niemalswelt.«

Keagan zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Meine Seele. Ja.«

»Aber …«, ihr Blick huschte zu Phelia, die kein Wort sagte. »Du arbeitest trotzdem für das DoAC.«

»Sieben Leben.«

Keagan gehörte wohl tatsächlich nicht zu der gesprächigsten Sorte Mensch, allerdings reichten diese zwei Worte aus, damit Kit begriff.

»Deine Seele wurde rehabilitiert?«

»Ja.«

»Wann?«

Ein ernster Zug legte sich um seinen Mund. »Dieses Leben.«

Kit schielte unauffällig auf sein Handgelenk. Sieben sichelförmige schwarze Narben verliefen etwa zwei Fingerbreit die Pulsadern entlang. Die letzten sieben Leben musste er Höllenqualen durchgestanden haben.

Ein Frösteln durchlief ihren Körper, und sie wich seinem intensiven Blick aus.

Großartig. Ihr neuer Partner würde ihre Ängste und somit auch ihr Fuchsfeuer zum Kochen bringen. Zwar war er ein Mensch, aber er hatte in einem anderen Leben eine Strafe abzusitzen gehabt. Für den Tod eines Alias. Und dies wiederum bedeutete, dass er gefährlich war. Auf die eine oder andere Weise.

»Falls du dir gerade Sorgen um deine Sicherheit machst, Fuchs, so kann ich dir bei meinen sieben vergangenen Leben schwören, dass die Bekämpfung der Nox an oberster Stelle steht. Ich mache mir vielmehr Sorgen um meine Sicherheit. Du scheinst mir eine von der schreckhaften Sorte zu sein.«

Treffer, versenkt. Wenn er wüsste, wie sie vor einer Stunde noch selbst an ihren Fertigkeiten gezweifelt hatte, hätte er Phelia um eine andere Partnerin gebeten. Aber diese Blöße wollte sie sich nicht geben.

»Man kann sich auch an einem Fuchsfeuer verbrennen, Mensch.« Sie schlug denselben Tonfall an wie er, und Keagan betrachtete ihre Fuchsohren, die unter seinem Blick nervös zuckten, doch er antwortete nicht. Also fuhr Kit fort: »Aber ich kann dir versichern, dass meine Arbeit nicht darunter leidet. Im Gegenteil. Bisher haben meine Sensoren immer funktioniert.« Kurz ärgerte sie sich darüber, dass sie sich rechtfertigte – was wusste sie schon über Keagan und seine Schwächen –, aber andererseits war es immer besser, mögliche Zweifel schnellstmöglich aus dem Weg zu räumen.

»Gut«, erwiderte ihr neuer Partner, nun augenscheinlich etwas verwirrt, und sah etwas unschlüssig zwischen Kit und ihrer Patentante hin und her, als versuchte er zu begreifen, was sie da eben von sich gegeben hatte. »Das freut mich … für dich.«

»Wir werden ein gutes Team.«

Keine Ahnung, ob sie Keagan oder sich selbst davon überzeugen wollte.

Ihre Bemühungen schienen ihn noch mehr zu irritieren, wahrscheinlich wusste er nicht, in welche Schublade er sie stecken sollte, und um ehrlich zu sein, wusste das Kit selbst nicht so genau. Sie hatte hart für ihre Position gekämpft, und die letzten Wochen hatten ein riesiges Loch in ihr Selbstbewusstsein gerissen, aber Keagan triggerte etwas in ihr. Deswegen wollte sie unbedingt auf dem richtigen Fuß mit ihm starten.

Bevor er noch etwas anderes sagen konnte, stellte Phelia ihre Tasse in die Spüle und sagte: »Ich habe Keagan hergebeten, damit ihr euch außerhalb des Observatoriums kennenlernt. Dort sind zu viele Augen und Ohren, die gerne einmal eine Geschichte aus dem Nichts spinnen.« Sie sah Kit direkt an. »Ich vertraue Keagan mein Leben an, wenn es sein muss.«

»Okay.«

»Gut, dann wäre das auch geklärt. Wir machen uns bald auf den Weg und ich begleite Kit zu ihrer neuen Bleibe. Keagan muss auch noch einiges erledigen.«

Kit drehte ruckartig den Kopf. »Neue Bleibe? Warum sollte ich ausziehen?«

»Ich habe dich in eine WG in Stockbridge eingeteilt«, erklärte Phelia, ohne wirklich auf Kits eigentliche Frage einzugehen. »Onyx hat die WG ausfindig gemacht.«

Onyx war Phelias Assistent, ebenso unsichtbar wie effizient in seiner Arbeit, und seit Kit in Edinburgh eingetroffen war, hatte sie den Geist nur zweimal zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich bekam er jedes Wort von ihrer Unterhaltung mit und versteckte sich irgendwo an der Decke. Wie das letzte Mal, als sie ihm im Trainingsraum begegnet war.

»Onyx?«, fragte Kit und blickte zu der Lampe hinauf, bei der er sich am liebsten versteckte. Keinen Augenblick später tauchte der Assistent ihrer Patentante auf. Sofort roch es etwas muffig, wie in einem alten Gemäuer, das niemand mehr gelüftet hatte, und er hob entschuldigend die Hand. Blass und durchsichtig leuchtete sein Körper, wie der Nebel, der sich in den frühen Morgenstunden, wenn sie eine Runde um den Block drehte, immer um die Hänge des Parks wickelte.

»Sicher, dass es nur im Observatorium ungebetene Zuhörer gibt?«

»Ich habe nicht gelauscht«, erwiderte er mit seiner so tiefen Stimme, die Kit jedes Mal aufs Neue überraschte.

Sie hob spöttisch die Augenbrauen. »Und wie nennst du es dann?«

»Es gehört zu meinen Aufgaben, immer auf Abruf zu stehen.«

»Na dann«, sagte Kit mit einem Grinsen und wandte sich wieder an ihre Patentante: »Eine WG? Bin ich dafür nicht etwas … alt?«

»Der Kontakt mit anderen Alias wird dir guttun.«

Misstrauisch kniff Kit die Augen zusammen, doch dann ging ihr ein Licht auf. Selbstverständlich würde jemand der AE eines der anderen Zimmer bewohnen und somit rund um die Uhr ein Auge auf sie haben, um für ihre Sicherheit zu sorgen. Ein Wachhund, darauf abgerichtet, jede noch so kleine Veränderung in ihrem Verhalten oder Umfeld ihrer Patentante zu melden. Dabei war sie lieber für sich. Schon immer gewesen.

Kit verschränkte die Arme vor der Brust. »Das wird nicht nötig sein, Chief Lockhardt.«

»Es ist bereits beschlossene Sache, Agent Sune«, erwiderte ihre Patentante förmlich, ihre Augen blitzten.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, das nur durch das Ticken der Uhr über der Küchentür unterbrochen wurde.

Keagan räusperte sich. Zum ersten Mal wirkte er verunsichert. »Soll ich in fünf Minuten wiederkommen?«

»Nein«, erwiderten Kit und ihre Patentante unisono.

Wahrscheinlich war es nicht sonderlich schlau von ihr, sich ausgerechnet vor ihrem neuen Partner auf ein stummes Wortgefecht mit ihrer Vorgesetzten einzulassen, aber Kit hasste nichts mehr, als wenn über ihren Kopf hinweg über ihr Leben bestimmt wurde. Hackordnung und Hierarchien hin oder her. Wenn es darauf ankam, befolgte sie Befehle. Aber bei einem Wohnungswechsel wollte sie wenigstens vorher um ihre Meinung gefragt werden.

Phelia seufzte. »Es tut mir leid, dass ich dich vorher nicht konsultiert habe. Aber ich hielt es für das Beste. Und die Wohnung ist wirklich sehr schön, sie wird dir gefallen.«

Kit öffnete verblüfft den Mund. Noch nie hatte sich ihre Patentante bei ihr entschuldigt, schon gar nicht in Gegenwart von anderen.

»In Ordnung.« Sie zwang sich zu einem freundlichen Gesichtsausdruck, und irgendwie schaffte sie es, die Worte nicht hervorzupressen: »Ich kann es mir ja mal anschauen.«

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2

Sechs Wochen zuvor.

Nichts war so einschneidend, so alles versengend wie der Geruch des Todes. Nakir spürte ihn bis auf den Grund seiner Knochen, in seinem Blut, auf seiner Zunge. Und nichts hasste er mehr als dieses Gefühl. Obwohl es ihn ausmachte.

Alles – die Luft, die Erde – war erfüllt von Tod, als er den St. James’s Park beim Duck Island Cottage betrat und in eine flirrende Magieblase eintauchte, die die menschliche Welt vor dem Horror schützte, der sich hier abgespielt hatte. Wenn sie den Tatort betraten, würden sie nichts Ungewöhnliches zu sehen bekommen. Dabei waren die Krankenhäuser voll mit Alias-Hebammen, meist Feen, die den menschlichen Kindern ihre Fähigkeit raubten, die Alias zu entdecken. Meistens klappte das ganz gut, aber nicht immer. Kaum ein Londoner wusste, welche Welt sich hinter den magischen Schleiern verbarg, und es war seine Aufgabe, dass es auch so blieb.

Jeder Teil seines Körpers war zum Zerreißen gespannt.

»Deputy Director Helios.«

Genervt wandte er sich der tiefen, männlichen Stimme zu und erblickte einen Agent, dessen mit Sommersprossen überzogene Ohren rot zu leuchten begannen. Unruhig trat er von einem Bein auf das andere, während Nakir keine Anstalten machte, stehen zu bleiben.

»Sie … hätten nicht kommen brauchen. Die Situation … ist unter Kontrolle.«

Nakir hob die Brauen, und der Agent schrumpfte in sich zusammen, als hätte jemand eine Nadel in ihn gestochen. Wortlos beschleunigte er seine Schritte, hob die schwarze Absperrung, während mehrere Alias, die ihn wahrnahmen, aus dem Weg sprangen.

Nakir war kein Todesdaimon, der sich leichtfertig von kleinen Zwischenfällen aus der Ruhe bringen ließ. Dafür hatte er zu viel erlebt, zu viel gesehen, das die reine Vorstellungskraft überschritt.

Morde. Schlachten. Kriege.

Er war Teil gewesen bei jenem vernichtenden Krieg zwischen Alias und Nox, der mittlerweile dreihundert Jahre zurücklag. Es wäre zu einfach gewesen, zu behaupten, Nox, die Göttin der Dunkelheit, hätte ihre Kinder nur erschaffen, um die Menschheit zu unterwerfen und den Alias, die auf ihrer Seite standen, die Macht über die Welt zu überlassen. Aber eigentlich traf es den Kern des währenden Konflikts ganz gut.

Es gab Alias, die sich nicht mit ihrer Position zufriedengaben und an der Spitze der Hierarchie stehen wollten, ganz gleich, wie hoch der Preis dafür war. Selbst wenn sie sich dafür auf die Seite der Nox schlagen mussten.

Und es gab andere Alias, die genau das bekämpften.

Im Grunde fasste der Begriff der Alias alle übernatürlichen Wesen zusammen, auch wenn sie sich in ihren Eigenschaften stark unterschieden. Ähnlich wie man die Niemalswelt einfach Raki nannte, obwohl die Menschen dafür unterschiedliche Begriffe benutzten: Hölle, Jenseits, Niemalswelt, Tartarus. Eigentlich war immer dasselbe gemeint: der Ort, an dem die Seelen auf eine Rückkehr in die menschliche Welt warteten.

Nakir schüttelte leicht den Kopf, um seine düsteren Gedanken zu vertreiben. Das Licht war trüb, drang nur spärlich durch die dichte Wolkendecke, aber immerhin regnete es nicht. Der Kies knirschte unter seinen Sohlen, ruhig und stoisch schritt er über den Platz auf die zweite Absperrung zu, die deutlich besser bewacht war. Leise trug der Wind den Todesduft näher. Metallisch schwebte der Geruch des Blutes zu ihm, gemischt mit Angstschweiß, Urin und dem unverkennbaren Aroma der Dunkelheit, das so typisch für die Nox war.

Erst jetzt blieb er stehen.

Es war schrecklicher, als er geglaubt hatte. Wütend presste er seine Kiefer aufeinander, Machtlosigkeit durchdrang ihn ohne Vorwarnung.

Selbstverständlich war er mal wieder zu spät, auch wenn es eigentlich klar war.

Der Tatort erstreckte sich über mehrere Hundert Meter. Überall lagen leblose Gestalten. Mindestens zwanzig. Mit einem Blick erfasste Nakir die vielen Angestellten des DoAC, Department of Alias Crime, die sich um die Toten kümmerten. Mehrere Silbervögel, Geisterwesen aus der Niemalswelt, schwirrten durch die Luft, sammelten die unsichtbaren Fingerabdrücke des Täters. Im Sonnenlicht schimmerten ihre Flügel fast durchsichtig, hin und wieder schienen sie sogar für einen Augenblick völlig verschwunden, und ihre langen Schnäbel besaßen eine purpurrote Farbe. Ihr Schnattern, ein leises Klappern, begleitete seinen Weg, als Nakir weiterging.

Die Leichen lagen in einer seltsamen Anordnung, aber er kam im ersten Moment nicht darauf, was anders war oder ihn an dem Bild störte. Vielleicht war es die Richtung, in der sie lagen. Alle von einem mittleren Punkt weg. Als hätte eine riesige Druckwelle sie weggeschleudert. Die Bäume ringsherum waren verbrannt, aber es war kein natürliches Feuer, das ihnen das Leben ausgesaugt hatte, sondern ein Dunkelbrand. Dafür gab es im Grunde nur wenige Erklärungen, denn nicht viele Wesen beherrschten Dunkelflammen. Manche Götter hatten sich auf diese Kunst spezialisiert, aber die meisten von ihnen waren in diesem Jahrhundert nicht mehr am Leben. Die Luft roch nicht nach dem typisch stechenden Duft von verbranntem Holz, sondern trug eine andere Note. Süßlicher. Wie gebratenes Kokosmehl, das man in Zucker tauchte.

Nakir erstarrte, seine Glieder wurden schwer. Es war, als ob man ihm eine Eisdusche verpasst hätte, sein ganzer Schädel fühlte sich taub an.

Zweimal hatte er die Spuren eines solchen Feuers gesehen, und zweimal war es Vorbote von weitaus Schlimmerem gewesen.

Einmal vor dem Krieg gegen die Nox.

Ein zweites Mal kurz vor seinem bisher einzigen Tod.

»Special Agent Wellington.«

Sofort trat die erfahrene Agentin, die in seiner Nähe gestanden hatte, zu ihm. Bisher kannte er sie nur von Besprechungen und hatte noch nie persönlich mit ihr zu tun gehabt. Das schwarze Haar war streng zurückgeflochten, und in ihrem Ausdruck spiegelte sich dieselbe Professionalität, die er auch in den Gesichtern der anderen Alias las.

Vorsichtig öffnete Nakir seinen Geist, tastete nach ihrer Essenz, dem Echo all ihrer gelebten Leben. Nichts Vertrautes. Nichts, das er erkannt hätte. Sie fühlte sich warm und weich an, wie eine Nacht in einem fremden Hotelzimmer.

Nakir löste sich von ihr.

»Deputy Director Helios?«, fragte sie nach einem Moment des Schweigens, und wenn sie etwas gespürt hatte, so ließ sie sich nichts anmerken.

»Wer hat die Leitung übernommen?«

»Operating Chief Virtanen.«

Er nickte geistesabwesend. Das ungute Gefühl verstärkte sich, drückte auf seinen Brustkorb. »Bisherige Erkenntnisse?«

»Vierundzwanzig menschliche Todesopfer. Zwei Alias. Eine Zivilistin, Waldelbin. Und ein Agent aus Hongkong, der im Urlaub hier war. So wie es aussieht, hat er versucht, die Menschen zu beschützen. Zumindest lässt der Auffindungsort und der aktive Siegeldolch darauf schließen. Als die Siegelhüter eintrafen, waren die Menschen und die Alias bereits tot und vier Nox auf dem Weg in die Stadt.«

Nakir sah der Agentin zum ersten Mal in die Augen. Er rechnete ihr hoch an, dass sie kaum eine Reaktion zeigte. »Wie viele Nox? Vier?« Er wollte es noch einmal hören, um sich wirklich sicher zu sein.

Nervös leckte sie sich über die Lippen, dann nickte sie. Angst flackerte in ihrem Blick. Blanke, nackte Panik.

»Vier Nox, Deputy Director.«

Das war mehr als ungewöhnlich. Normalerweise tauchten die Schattenwesen alleine auf. Es kostete sie zu viel Kraft und Energie, in dieser Welt an derselben Stelle aufzutauchen. Es gab keine Portale, Formeln oder Tore, sie wurden von den alten Seelen gerufen, von denen sie sich nährten.

»Wer ist der tote Agent?«, fragte Nakir schließlich.

»Artemis Shiba. War im operativen Feld in Hongkong tätig.«

»Ist er alleine gereist?«

»Das versuchen wir gerade herauszufinden. Seine Partnerin, Special Agent Kit Sune, ist momentan nicht auffindbar, soll aber ungefähr zum gleichen Zeitpunkt Hongkong verlassen haben. Das ist allerdings noch nicht bestätigt.«

»Kitsune?« Nakir kannte sich mit nahezu allen Mythologien und Religionen aus und wusste, dass es sich in der japanischen Mythologie um eine meist weibliche Alias handelte, die sich in einen Fuchs verwandeln konnte. Anders als die erste Tochter der Göttin Inari – Kitsune –, die bereits gestorben war, besaßen ihre Nachkommen und Wiedergeburten nicht bis neun Schwänze, sondern immer nur einen.

»Kit Sune ist ihr Name, und gleichzeitig trägt sie den Fuchsgeist in sich.«

»Sie heißt Kit Sune und ist eine Kitsune?«, fragte Nakir mit hochgezogenen Augenbrauen, weil sich die Absurdität des Namens nicht von der Hand weisen ließ.

Die Agentin verzog den Mund zu einem säuerlichen Lächeln. »So lautet der Eintrag in ihrer Geburtsurkunde. Ihre Mutter, eine Feuerelfe, kam bei der Geburt ums Leben, und ihr Vater, Special Agent Sune, hat den größten Teil seiner aktiven Laufbahn in Tokio verbracht.«

Nakir nickte. »Verstehe. Findet heraus, wo sie sich aufhält. Ich möchte es wissen, wenn ihr sie befragt.«

»Selbstverständlich.«

Der Wind strich um seine Jersey-Jacke, denn er war unvorbereitet direkt aus dem Fitnesszentrum des Observatoriums hergekommen, sobald ihn die Nachricht erreicht hatte. Er hatte keine Zeit zum Umziehen, geschweige denn eine Dusche gehabt.

Mit einer Hand rieb er sich flüchtig übers Gesicht, um die Anspannung zu verscheuchen. »Ich möchte Artemis’ Tod sehen.«

Die Agentin keuchte auf, ihre hellen Augen weiteten sich vor Schreck. »Sind Sie sich sicher, dass …«

»Ich bin mir sicher«, unterbrach Nakir sie barsch, bevor sie weitere Bedenken äußern konnte.

Mit einer gemurmelten Entschuldigung entfernte sich Agent Wellington, um die anderen Mitarbeiter vorzuwarnen. Nakir wusste, was auf dem Spiel stand; was er dafür riskierte, sich diesem Teil seiner Identität hinzugeben. Aber verdammt … wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte, hatten sie es hier mit einem weitaus größeren Problem zu tun als mit einem einfachen Kampf gegen die entlaufenen Maden der Dunkelheit.

»Welcher Tote ist Artemis Shiba?«, fragte er mit schneidender Stimme einen der umherwuselnden Mitarbeiter des DoAC, die mit einem Mal alle vor ihm zurückzuweichen schienen. Stumm wies ihm die Sylvani – ein Luftgeist, unverkennbar an der fahlen Haut, den stechend grünen Augen und dem schimmernden Siegel, das um ihren Hals baumelte – den Weg in Richtung des Kreises aus leblosen Gestalten.

Nakir ging auf den toten Alias zu, dessen weißblondes Haar blutverkrustet war. In seiner Brust klaffte ein riesiges Loch, so groß, dass man das Kiesbett unter ihm sehen konnte. Die beiden in Magie gehüllten Forensiker, die zuvor neben der Leiche gekauert hatten, traten einen Schritt zurück.

»Ist die Beweisaufnahme abgeschlossen?«

»Der Tatort wurde eingefroren, DNA-Spuren und Fingerabdrücke wurden gesichert, Bodenproben wurden entnommen, und die eingesammelten Duftnoten müssen noch ausgewertet werden.«

»In Ordnung.«

Als hätte er ein Stichwort gegeben, wichen die beiden Mitarbeiter weiter zurück. Nakir spürte ihre Angst, ihre Sorge, als ob sie es ausgesprochen hätten. Ohne sich Handschuhe anzuziehen, ging er vor dem Agent in die Hocke, schloss die Augen und berührte mit zwei Fingern dessen bereits stark erkaltete Stirn.

Ruhe und Dunkelheit.

Der Tod war leise, wie ein Flüstern in der Nacht. Aber wenn er einen Blick auf ihn erhaschen wollte, musste Nakir sich auf den Sinn seines gesamten Daseins berufen. Er war aus dem ersten Tod eines Gottes geboren worden, und genauso wie es sieben Seraphen gab, würde es auch immer sieben Todesdaimonen geben. Es war das Gesetz der Welt, nur so konnten sie bestehen.

Drei Sekunden. Mehr gestattete er sich nicht. Niemals. Andernfalls würde er sich und all die anderen in tödliche Gefahr bringen, und das konnte er nicht riskieren.

Im ersten Augenblick geschah nichts.

Dann spürte er die Energie. Wie tausend kleine Lichtblitze, die durch seinen Geist zuckten. Es rauschte in seinen Ohren, ein Dröhnen, das alles verschluckte.

Tosend brachen die Eindrücke auf ihn ein.

Eins.

Zischende Finsternis. »Nein!« Mein Schrei.

Zwei.

Weit aufgerissene Augen. Schwarz, wie zwei Obsidiane. Siegelworte auf den Lippen. Nicht ausgesprochen.

Drei.

Blut. Schmerz. Angst vor dem Ende. Ich sterbe.

Es war verlockend, so verlockend, dem Gefühl nachzugeben, das sich warm und weich um seine Brust wickelte und ihn in eine Illusion tauchte, die nicht echt war, auch wenn sie sich echt anfühlte. Er wollte loslassen. Er wollte es so sehr, dass er noch eine weitere Sekunde brauchte.

Nakir war der Todesbote. Sah dem Tod ins Gesicht und fühlte sich willkommen.

Nein!

Bebend riss Nakir die Augen auf, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig, seine Finger zitterten unkontrolliert. Ihm war eiskalt. Als wäre er in der Antarktis baden gegangen, und genauso fühlte er sich auch. Als wären seine Gedanken träge. Fremd.

Langsam folgte sein Blick der Kälte, die sich um ihn manifestiert hatte. Der Boden um den toten Agent war gefroren, das Eis war fest und gleichmäßig, reichte bis an die Lederschuhe der zwei Angestellten des DoAC. Die Spitzen waren gefroren. Mehr aber nicht. In ihren Blicken las Nakir eine Angst, die das Gefühl in seinem Innern spiegelte. Mit schreckensgeweiteten Augen sahen sie ihn an, und er wusste, was sie zu sehen bekamen.

Obwohl sie sich nicht in der Niemalswelt befanden, spülte der Tod seine daimonische Gestalt an die Oberfläche, wenn er seine Kraft einsetzte, berauschte sich an den Angsthormonen.

Seine Schwester verwandelte sich in eine fratzenartige Bestie, der man nicht zu nah kommen wollte, voller Feuer und Hitze. Er selbst war pures Eis.

Abrupt wandte Nakir sich ab und atmete einmal tief durch. Noch eine weitere Sekunde, und er hätte sie getötet.

Der Puls dröhnte in seinem Kopf, das Blut pulsierte durch seine Adern.

Und dann war da diese Leere in ihm. Weil er sich nicht gänzlich dem Gefühl hingegeben hatte, das ihn eigentlich nährte. Der Hunger nach mehr war gewachsen, der Hunger, mehr vom Tod zu sehen, sich in den Emotionen zu baden, dem letzten Moment, bevor sich alles in Dunkelheit verwandelte. Wütend zermarterte er sich das Hirn, was das zu bedeuten hatte. Das letzte Mal, dass er Dunkelflammen zu Gesicht bekommen hatte, war am Tag seines eigenen Todes gewesen. Es war eine alte Kunst der Magie, etwas, das nur die ersten Götter beherrschten.

Wer hatte sie also beschworen?

Nakir fühlte sich taub und leer und weit entfernt davon, seiner Arbeit weiter nachzugehen. Dumpf pochte der Schmerz hinter seinen Schläfen. Außerdem hatte er nichts gesehen, was ein Anhaltspunkt hätte sein können. Etwas, das diese ungute Ahnung bestätigte, die sich in ihm breitgemacht hatte, vom ersten Moment, seit er den Park betreten hatte.

Und das fühlte sich verdammt beschissen an.

Schritte näherten sich. Energisch und gleichzeitig so leise, dass es Nakir nicht wunderte, als Chief Smith hinter ihm auftauchte. Der glatzköpfige Vampir trug ein Tagessiegel und seine formelle Kleidung – einen dreiteiligen Anzug. Aufgehübscht wie ein Siebzehnjähriger zum Abschlussball. Seine silbergrauen Augen waren blutleer und stumpf.

»Deputy Director.« Etwas im Tonfall des Vampirs ließ ihn aufhorchen.

»Ja?« Nakir stand auf, ohne den Toten ein weiteres Mal anzusehen.

»Sie sollten mitkommen.«

Sein Herz, sein unendlich schlagendes Herz, sank ihm bis in die Kniekehlen. Er erwidere nichts darauf. Was hätte er auch sagen sollen? Er wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war.

Schweigend folgte er dem Vampir, dessen stoische Miene und wortkarge Art vielleicht genau das waren, was er jetzt brauchte.

Vorbei an weiteren Leichen, starren Blicken. Und Blut. So viel Blut. Ein Meer aus roter Farbe, voll ertränkter Träume und Hoffnungen, ausgelöscht in einem einzigen Atemzug.

Sie erreichten zwei leblose Gestalten. Eine junge Frau in beigefarbenem Trenchcoat, der sich wie ein Fächer um ihren Körper ausgebreitet hatte. Darunter lugten zwei Kinderfüße mit weißen Turnschuhen hervor.

Nakir atmete einmal tief durch. »Ein Mädchen?«, fragte er.

Chief Smith zögerte, aber nur kurz, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.

»Es tut mir leid«, sagte er mit monotoner Stimme, so gleichgültig, dass es Nakir beinahe nicht aufgefallen wäre. Doch er hörte es trotzdem. Mitleid.

»Was tut Ihnen leid?«

»Es ist Ihre Nichte. Lilith.«

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3

Das Mehrfamilienhaus in der St. Stephen Street war im Gegensatz zu den anderen Wohnhäusern ringsherum nicht sonderlich alt, sondern glich im grauen Licht des Morgens einem trostlosen Gebäude, dem Kit unter anderen Umständen keine weitere Beachtung geschenkt hätte. Denn anders als die prachtvollen Sandsteinhäuser in Old Town, die im Sonnenuntergang in allen braunen Farbnuancen schimmerten, schien ihr neues Zuhause so, als wäre es von irgendeinem georgianischen Architekten ausgekotzt worden. Genau richtig also, um hier ihre Zelte aufzuschlagen.

Das schwarze Auto mit den getönten Scheiben hielt am Straßenrand, und Kit spürte eine ungewohnte Nervosität in sich aufsteigen. Die ganze Fahrt nach Stockbridge über hatte Phelia kein Wort verloren, und erst als sie den Schlüssel für die Hausnummer 99 B aus der Tasche zog und Kit in die Hand drückte, wurde ihr klar, dass ihre Patentante es wirklich ernst meinte.

Sie würde in ihr altes Leben zurückkehren.

»Für die Tür draußen gibt es einen PIN-Code«, Phelia schob ihr eine kleine Visitenkarte in die Hand, auf der eine Zahlenkombination stand. »Der Schlüssel ist für Apartment 7. Ich habe alles veranlasst. Deine Unterlagen und Kleider findest du im Apartment.«

Kit sah auf die Sporttasche zwischen ihren Füßen. »Ich habe alles dabei.«

»Ich meine deine Klamotten aus deiner alten Wohnung.«

Die Erkenntnis, die auf die Worte folgte, drückte sich bleischwer in ihren Magen, und Kit zupfte an der Wollmütze, die eigens für ihre Ohren zwei handflächengroße Löcher besaß. Ein Pärchen ging an der Limousine vorüber, der Mann warf einen neugierigen Blick hinein, aber dank des Schleierzaubers, den die Hexen den neugeborenen Menschenkindern überlegten, und der getönten Scheiben würde er Kits Fuchsohren nicht sehen können.

Jemand hatte also ihre alte Wohnung betreten. Kit fragte sich, wie es dort wohl aussah, was davon noch übrig war. Sie hatte keine Nachrichten gesehen oder gehört, hatte sich in eine Blase aus Emotionslosigkeit gesperrt und gehofft, dass Gras über die Katastrophe wachsen würde.

Mit wackligen Beinen stieg sie aus dem Auto, während Phelia neben ihr auf den Bürgersteig trat und sie in eine Umarmung schloss. Die Wärme ihres Körpers drang zu Kit durch, und sie fühlte sich seltsam geborgen, ein Gefühl, das sie lange nicht mehr verspürt hatte. Der Griff um ihre Sporttasche verstärkte sich.

Phelia ließ sie los und strich ihr mit einer Hand über die Wange, mehr Körperkontakt als in den ganzen Wochen zuvor. Mittlerweile waren Gewitterwolken aufgezogen, und es roch nach Regen – dieser schwere, unnachahmliche Duft, Petrichor.

»Ich glaube, du wirst dich freuen.« Sie zwinkerte. Kit starrte sie verdutzt an. Phelia Lockhardt zwinkerte nicht.

Misstrauisch hob Kit die Brauen. »Gibt es etwas, das du mir sagen möchtest?«

»Das wirst du sehen«, entgegnete ihre Patentante und fügte hinzu: »Ich bin froh, dass du dem Ganzen eine Chance gibst. Auch wenn es nicht richtig von mir war, dich damit zu überfallen. Ich habe einfach eine notwendige Entscheidung getroffen, in meiner Position als deine Chefin. Und vielleicht auch als deine Patentante, obwohl du längst nicht mehr in dem Alter bist, in dem ich für dich handeln sollte.«

»Danke«, erwiderte Kit etwas perplex. »Einen Versuch ist es wert, und falls ich das WG-Leben schrecklich finde, werde ich mir einfach eine andere Unterkunft suchen. Dagegen hast du doch nichts einzuwenden, oder, Chief?«

»Gegen eine Unterkunft, die vom Observatorium genehmigt wurde, nicht, nein«, antwortete Phelia.

»Gut.«

Phelia musterte sie besorgt. »Wenn etwas sein sollte, du kannst dich jederzeit an mich wenden.«

»Ich weiß ja, wo ich dich finde.«

»Vielleicht sollte ich vorsichtshalber die Schlösser austauschen lassen.«

Kit lachte auf. »Keine Sorge, ich werde dich schon nicht überfallen.«