Mookie – Weihnachten mit Schwein - Laura Wohnlich - E-Book
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Mookie – Weihnachten mit Schwein E-Book

Laura Wohnlich

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Beschreibung

Hört nur, wie lieblich es grunzt.

Wenige Tage vor Weihnachten steckt Joachim mitten in der Sinnkrise. Seit Wochen geht er kaum noch vor die Tür. Wird sich das jemals wieder ändern? Doch dann bekommt Joachim völlig überraschend ein Schwein geschickt. Einfach so, per Post. Ohne Absender, dafür quicklebendig. Joachim kann sich keinen Reim darauf machen. Und so fasst er einen folgenschweren Entschluss: Gemeinsam mit seinem neuen Haustier, das er auf den Namen Mookie tauft, wagt er sich hinaus in die Winterkälte, um das Rätsel zu lösen. Ein unglaubliches Abenteuer nimmt seinen Lauf …

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Seitenzahl: 281

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Das Buch

Joachim hat schon bessere Tage gesehen: Seit der Trennung von Joy vegetiert er, umzingelt von leeren Bierflaschen, in seiner Single-Wohnung vor sich hin. Bis eines kalten Dezembertages ein Paket vor seiner Tür steht – mit einem quicklebendigen Hausschwein darin. Ein Gruß von Joachims Exfreundin? In Begleitung des neugierigen Schweinchens, das er auf den Namen Mookie tauft, begibt er sich an Heiligabend auf die Suche nach dem Absender. Auf seiner Odyssee quer durch die Großstadt findet er sich nicht nur Karten spielend im Wohnzimmer syrischer Geflüchteter wieder, sondern stolpert auch über verlorene Väter und die große Liebe. Bald wird klar: Mookie wird Joachims Leben für immer verändern.

Die Autorin

Laura Wohnlich, 1992 in Basel geboren, schreibt eigentlich schon immer. Unter anderem wurden ihre Texte im Entwürfe-Magazin und in der WELT veröffentlicht. Sie war Mitglied beim jungen Theater Basel, stand auf der Bühne und verfasste Drehbücher. 2017 erhielt sie vom Literarischen Colloquium Berlin ein Aufenthaltsstipendium. Ihr Debütroman SWEETROTATION (2017) war »traurig und lustig, geistreich und psychologisch ausgeklügelt« (SRF).

LAURA  WOHNLICH

MOOKIE

Weihnachten mit Schwein

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 10/2020

Copyright © 2020 by Laura Wohnlich

Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Joscha Faralisch

Umschlaggestaltung und Illustration:

Eisele Grafik Design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-26145-0V001

www.heyne.de

1

ZWEITAGEBEVOR das Schwein in sein Leben trat, wachte Joachim davon auf, dass sein Schädel glühte. Während er die Augen öffnete, war die erste Vermutung, dass es sich um Fieber handelte. Als er jedoch zur Decke blickte und ihm bewusst wurde, wo er gerade lag, musste er sich eingestehen, dass er gestern lediglich wieder zu viel getrunken hatte. Es war Dienstagmittag, keine ungewöhnliche Zeit für ihn, um in den Tag zu starten, aber er hätte eigentlich im Bett und nicht neben der Couch aufwachen müssen. Seiner letzten Erinnerung nach hatte er nämlich gestern Abend im Bett, nackt und in einen leeren Deckenbezug gewickelt, zum einundfünfzigsten Mal versucht, eine neue True-Crime-Serie anzusehen, die gerade angelaufen war und in seiner Stadt spielte. Seit er sich nicht mehr länger als fünf Minuten am Stück auf eine Sache außerhalb von sich selber konzentrieren konnte, war sein Streaming-Abo eigentlich überflüssig.

Da ihm fürs Aufstehen noch die Kraft fehlte, blieb er erst mal zweieinhalb Minuten liegen und verglich mit einer Mischung aus Ekel, Selbstentfremdung und Faszination den Staubanteil mit der Anzahl vergessener, wertlos gewordener Gegenstände unter seiner Couch. Ein nicht EU-konformer Adapter, ein Kugelschreiber ohne Mine, irgendein Schraubschlüssel für ein Möbel, das er nie aufgebaut hatte – alles Dinge, die er sich irgendwann mutwillig angeschafft haben musste, deren Existenz ihm aber zum jetzigen Zeitpunkt fast noch unwirklicher erschien als seine eigene.

Fieber, vierzig Grad, so fühlte sich das an. Ein neuer Tiefpunkt, nicht nur aufgrund der Bodenlage.

In diesem Augenblick begann sein Festnetztelefon zu klingeln. Ein Gerät, von dem er als letzter Mensch auf Erden tatsächlich noch Gebrauch machte, da sein Handy in letzter Zeit öfters wohnungsintern abhandenkam.

Unmöglich indes, ans Abheben zu denken. Er lag schließlich im Sterben. Vielleicht sollte er sich darüber sogar freuen: Vorbei der Terz, dann konnte er endlich die Füße hochlegen und musste sich nicht mehr kümmern. Worum auch immer.

Er wartete, bis der Anrufbeantworter anging. Eine fremde Stimme rief: »Oh, sorry! Ich glaub, ich hab mich verwählt. Fröhliche Festtage!«

Fröhliche Festtage. Dieses Stichwort brachte Joachim dazu, aufzustehen und zum Telefon zu gehen, um es auszuschalten. Sicher war sicher. Dann manövrierte er sich in die Küche, deren Zustand seinem aktuellen Lebensstil alle Ehre machte. Ein dreidimensionales Zeugnis des Verkommens breitete sich vor ihm aus, bestehend aus von verkrusteten Fetzen beherbergten Pizzakartons, wahllos verstreuten Aschehäufchen sowie dreckigen Geschirrstapeln, die sich längst von der Küchenzeilenzone auf Tisch und Fußboden ausgedehnt hatten. Scherben-Puzzle, Bierdosenarmee, kaputter Stuhl, und an diversen Sammelpunkten befanden sich vermutlich auch noch ein paar Überlebende aus der Ameisenstraße des diesjährigen Sommers. Was nicht ins Bild passte: die hochwertige Saftpresse aus Edelstahl, unversehrt und sexy auf einem Schemel in der Ecke thronend. Die hatte Joachim sich für einen halben Monatslohn bei Grüne Perlen bestellt, ohne dabei die Absicht zu hegen, sich damit jemals einen sogenannten Smoothie zu mixen. Es war ihm beim Kauf vor allem um die simple, voraussehbare Kausalkette gegangen, die eine Internetbestellung mit sich brachte und die eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte.

Er öffnete den Kühlschrank. Dieser offenbarte das klassische Stillleben eines anspruchslosen Singlehaushalts: Gouda in quadratischer Scheiblettenform, eine halbe Packung Vollkorntoast, drei angematschte Tomaten, vier Eier, ein Kilo griechischer Joghurt, offen und mit Film überzogen, in dem eine verweste Gabel steckte, und – warum auch immer – drei Zuckertütchen.

Joachims Blick in den Kühlschrank verfolgte keinen konkreten Zweck, sondern war ein reiner Gewohnheitsimpuls, denn ihm war absolut klar, dass er sich nichts zubereiten, sondern wieder etwas bestellen würde.

Immerhin fühlte er sich trotz des horrenden Katers körperlich in der Lage dazu, einen Joint zu drehen.

Joachim hatte erst vor einem Monat angefangen zu kiffen und war in keinster Weise begabt darin. Was er da zusammenrollte, glich eher Hexenfingern aus Kindercartoons als etwas, das sich Gangster in Rapvideos auf Parkplätzen im Kreis reichten. Auch die Wirkung trug nicht das Geringste zur Optimierung seines Wohlbefindens bei, abgesehen davon, dass er manchmal schneller einschlief.

Er zündete sich den Joint an und begann nach seinem Handy zu suchen. Er hoffte einfach mal, dass er es nicht wieder beim letzten Spätkaufausflug auf der dortigen Kaffeemaschine hatte liegen lassen, so wie vorgestern. Ali, der sechzigjährige Verkäufer und Besitzer des Ladens, hatte besorgt aufgeseufzt, als Joachim in den Laden gestürmt kam, und dann, als er das Handy entdeckte und an sich riss, wissend und traurig genickt.

Joachim konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal tagsüber das Haus verlassen hatte, abgesehen natürlich von den Fixeinkäufen bei Ali gegenüber. Diese sechs Meter über die Straße hin und zurück schaffte er gerade noch, obwohl jeweils sofort Herzrasen einsetzte, wenn die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel und der typische Draußengeruch in seine Nase stieg. Ohne sein Smartphone blieb ihm nichts anderes übrig, als in den Einstellungen des Fernsehers nachzusehen, was heute für ein Datum war. Der 21.12. Vorweihnachtszeit, die Stadt war derzeit also zu einem einzigen Stairway to hell umfunktioniert: bräsige Feierabendhalunken vor Glühweinständen, seriöse Geschäftsfrauen, die plötzlich Bommelmütze trugen, irgendwelche Freaks in polyesterlastigen Engelskostümen, die in windgeschützten Passagen Spendenbüchsen rüttelten. Das alles hätte als Grund für seine selbst auferlegte Isolation ja bereits völlig ausgereicht. Wenn er sich dieses Alibi denn selbst abgekauft hätte.

Da war es, im Flur lag es, genau da, wo es hingehörte: Sein mobiles Empfangsgerät, ordentlich an ein Ladekabel angeschlossen auf seinem Staubsauger, der hier seit seiner Anschaffung als offizielle Ablagefläche fungierte. Irgendwie schauderhaft, dass man diese ganzen trivialen Vorgänge, die einen zeitgemäßen Alltag regulierten, dann doch immer noch im Griff hatte, auch wenn gerade der ganze Rest des Lebens den Bach runterging.

Immerhin: Er gab dreimal seine PIN falsch ein und musste nach dem Zettel mit der PUK suchen. Den er natürlich nicht fand, weil es ihn höchstwahrscheinlich nicht mal gab. Also musste er sein Festnetztelefon wieder anschließen und damit bei seinem Anbieter anrufen, sich sieben Minuten lang dasselbe Lied in der Warteschleife anhören, und schließlich eine merkwürdige Identifikationsabfrage über sich ergehen lassen, nur um nach durchstandener Schmach festzustellen, dass bloß eine neue Nachricht auf seinem Smartphone eingegangen war. Es handelte sich um eine Sprachnotiz seiner Mutter, versandt vor vier Tagen. Joachim war ein bisschen mulmig zumute, als er auf Play tippte.

»Lieber Jo, wie geht’s dir so? Kommst du gut zurecht? Ich hab mich gefragt, was du Weihnachten so machst … Also, ich hab ja keine Pläne, wie immer. Aber wenn du vorbeikommen willst, komm ruhig, ich bin da. Dann können wir was Schönes kochen und einen alten Film gucken oder so was. Gib mir doch Bescheid.«

Vier Tage! Joachim schämte sich dafür, dass er sich nicht aufrichtig schämte, und beschloss, ihr zu antworten, nachdem er etwas gegessen hatte und wieder einigermaßen hergestellt war.

Joachim rief bei Cha-Che-Doh an. Der Gedanke an Junkfood widerte ihn an, er brauchte heute mal wieder etwas Hochwertigeres, also kontaktierte er den einzigen ihm bekannten Laden, der keine Pommes im Sortiment hatte.

»Guten Tag, Cha-Che-Doh, was kann ich für Sie tun?«

»Einmal Sushi bitte.«

»Welche Box?«

»Wie, Box?«

»Welche Sushibox möchten Sie? Was soll drin sein?«

»Ach so, na, roher Lachs, Algen, Wakami, nennt man das glaube ich. Aber ohne Wasabi, wenn’s geht.«

»Wakame? Ja. Also, online können Sie die Liste sehen mit den Sushiboxen, die wir anbieten. Da können Sie einfach eine auswählen, die Ihnen gefällt. Eine Bestellung ist ab fünfzehn Euro möglich.«

»Ich seh keine Boxen.«

Die Stimme am Telefon leierte eine unverständliche Aufzählung herunter.

Joachim sagte: »Nummer sechs.«

»Also einmal die Nigiri-Box mit Thunfisch und Avocado?«

»Ja, ja, ja. Und wenn’s geht, dazu eine Portion Edamame.«

»Okay. Ingwer?«

»Was?«

»Okay. Und was zu trinken dazu?«

»Nicht durstig.«

»Wie? Ja, aber dann sind Sie erst bei zwölf Euro. Wir haben hausgemachten Eistee.«

»Ganz sicher nicht. Wein?«

»Sake, ja, also Reiswein. Aber nur in ganzen Flaschen.«

»Gut, dann den Weißwein.«

»Reiswein.«

»Ja, ja, ja.«

»Okay, gut. Wir sind dann so in dreißig Minuten bei Ihnen.«

»Dann muss ich Ihnen wohl noch meine Adresse durchgeben …«

»Nein, nicht nötig, steht hier im System, Ihre Nummer ist eingespeichert. Null drei sechs neun am Ende, oder? Ist es noch die Falkenstraße?«

»Na, großartig. Ja.« Als ob er da je per Festnetzanschluss angerufen hatte. Doch, musste wohl passiert sein.

»Ja. Also, bis gleich, schönen Abend noch, Herr Borst. Und frohe Festtage.«

Joachim legte wortlos auf. Borst, dass man ihn jetzt auch noch daran erinnern musste. Beim Stichwort Nachname musste er nämlich direkt wieder an Joy denken, die ihn immer Joachim B. genannt hatte, weil laut ihren Angaben ganze vier Joachims in ihrem Bekanntenkreis vertreten waren und es in ihrem Kopf zu viel Verwirrung stiftete, jeden von ihnen einfach Joachim zu nennen. Daher hängte sie kreativerweise allen den Anfangsbuchstaben des jeweiligen Nachnamens an: Joachim M., Joachim F., Joachim B. Die Ausnahme bildete indes Joachim Berger, ihr sogenannter Kindergartenfreund. Das Problem lag auf der Hand: Doppel-B. Jenen Joachim nannte Joy also als einzigen einfach nur Joachim. Schikane pur, ihm, Joachim B., gegenüber. Aber er hatte schnell festgestellt, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich daran zu gewöhnen, weil Joy in zwischenmenschlichen Dingen eine Hartnäckigkeit an den Tag legen konnte, gegen die man mit Vernunft kaum ankam.

Egal, das mit ihr war eine abgeschlossene Geschichte. Worüber er vermutlich froh sein sollte. Wer hieß schon ernsthaft so, Joy Verga? Der Name klang wie eine Mischung aus Porno- und Achtzigerjahre-Actionstar. Aber Joy hatte mehrfach beteuert, dass sie wirklich so getauft worden war, auf Wunsch ihres Vaters, der angeblich in Texas das Licht der Welt erblickt hatte. Sie selbst sprach kein Englisch und verkörperte optisch das exakte Gegenteil eines Erotiksternchens. Ihre Haare hatten Joachim an Löwenzahnblüten erinnert, aber nicht an solche, die gelb und vor Leben strotzend auf Sommerwiesen leuchteten, sondern eher an jene, die man als Kind an verlassenen Landstraßen zum Auspusten abgerissen hatte.

So. Warten also. Da Joachim nichts in den Sinn kam, womit er sich hätte ablenken können, blieb er einfach auf der Couch sitzen und wartete. Es hatte nicht ansatzweise etwas Meditatives an sich. Vielleicht auch, weil er den Joint inzwischen aufgeraucht hatte.

Dennoch saß er dreißig Minuten lang so da. Vierzig Minuten. Eine Dreiviertelstunde. Joachim erhob sich, trat ans Fenster und blickte hinaus. Zwei junge Männer, Jungs vielmehr, marschierten im exakt gleichen Gang – Neandertalerhaltung und Stechschritt – über die Straße. Beide trugen eine Bauchtasche diagonal überm Brustkorb. Sie betraten die Bar neben Alis Spätkauf, Quelle hieß sie und war immer leer, außer wenn irgendein Regionalligaspiel auf dem Flatscreen überm Flipperkasten gezeigt wurde. Dann trudelten meistens ein paar Lkw-Fahrer ein, die Joachim bei gekipptem Fenster im Viertelstundentakt grölen hörte. Fußball, das Sport gewordene Grauen. Insbesondere wenn man noch nicht mal selber auf dem Rasen aktiv war, sondern sich bloß als Fan einer Mannschaft verstand. Joachim konnte nicht nachvollziehen, wie ein halbwegs gesunder Geist es fertigbrachte, sich ein Fußballspiel anzuschauen. Für ihn kam das mittlerweile einer Folter gleich. Als ob er mit ansehen müsste, wie jemand stundenlang einen Salzstreuer auf einem Tisch sinnlos hin und her schiebt.

Er wartete, bis die dünnen Buben mit einer offenbar drinnen ergatterten Zigarette, die sie sich brüderlich teilten, wieder auf die Straße getreten und schließlich um eine Ecke gebogen waren, dann setzte er sich zurück auf die Couch und drehte sich einen zweiten Joint. Für später, nach dem Essen, wenn der schlimmste Teil des Tages anfangen würde: der zähe Stundenbrei, genannt Nachmittag, in dem es einzig und allein darum ging, die Zeit irgendwie totzuschlagen, bis es endlich Abend wurde, die Dunkelheit von draußen einen Schatten auf die eigene Lebensrealität legte und er sich nicht mehr allzu deutlich an jene Erkenntnis erinnerte, die seinen jetzigen Zustand herbeigeführt hatte.

Sie, diese Erkenntnis, hatte ihn vor zwei Monaten ereilt, an einem hundsgewöhnlichen Mittwochabend. Joachim befand sich auf dem Heimweg von der Arbeit, hatte sich gerade eine angetrocknete Laugenstange gekauft und wollte den Weg durch die U-Bahnstation zur Rolltreppe antreten. Es ging nicht. Aus heiterem Himmel verweigerten seine Füße den Dienst.

Er stand da, wie angewurzelt, angerempelt von Menschen, die glaubten, es eilig haben zu müssen. Die wussten, wo sie hinwollten. Er hatte es vergessen. Er sah den grauen Bahnsteig vor sich und verstand auf einmal nicht mehr, wie er in der Lage sein sollte, ihn entlangzugehen. Und dann tauchte da urplötzlich diese erschütternde Frage in seinem Kopf auf, die er irgendwann mal irgendwo gelesen und bis dato wieder vergessen hatte: Wie sah dein Gesicht aus, bevor deine Urgroßmutter geboren wurde? Er wusste nicht, warum ihm diese haarsträubende Frage, die als spirituelle Übung in der Biografie eines buddhistischen Zenmeisters gestanden hatte, ausgerechnet jetzt wieder einfiel. Das Einzige, das er wusste, war, dass er keinerlei Vorstellung davon hatte, wie das Gesicht seiner Urgroßmutter ausgesehen hatte. Folglich konnte er sich auch nicht ganz sicher sein, wie sein eigenes aussah.

Und dann war auf einmal alles weg. Alles, woran er je gedacht hatte. Alles um ihn herum. Sein Blick konnte sich an nichts mehr festhalten. Er hatte keine Erinnerung mehr an das, was vor fünf Minuten gewesen war, geschweige denn an das, was in fünf Minuten sein würde. Er konnte sich nicht mehr rühren und seine Hand ließ die Laugenstange los, die mit einem nichtssagenden Geräusch auf den Boden plumpste. Seine Existenz war völlig unbedeutend. Das wurde ihm in diesem Moment klar. So unbedeutend wie das fettige Plastikpapierchen, das sich zusammen mit einer steifen Serviette und der Laugenstange den Platz in einem Papiertütchen geteilt hatte und das jetzt auf die U-Bahngleise flatterte. Sinnlos. So wie der Kaugummi auf dem Boden da unter dem Mülleimer oder die Tränen des kleinen Jungen zu seiner Linken, der von seiner Mutter vom Kiosk weggezerrt wurde. Komplett sinnlos und vergänglich war das alles. Alles war vergebens. Seine unbekannte Urgroßmutter. Sein per Zufallsgenerator erstelltes Gesicht. Dieser sogenannte Feierabend. Sein Werdegang. Das Dach über seinem Kopf, das gerade nicht mal ein richtiges Dach war, sondern bloß der Boden unter den Füßen der Passanten oben auf der Straße. Deren Leben wiederum auch sinnlos waren. Es schien keine Zeit mehr zu geben. Er war verloren. Er wusste nichts, er hatte nichts, er war nichts.

Seither ging es ihm so wie jetzt. Er schaffte es irgendwie weiterzuleben, das schaffte man ja immer irgendwie. Aber er konnte nicht mehr zur Arbeit gehen und fühlte sich nur noch einigermaßen sicher, wenn er zu Hause blieb. Das Büro, in dem er seither nicht mehr erschienen war, befand sich in einer Agentur, die sich als hippe Verschmelzung von Event- und Werbedienstleistungsbetrieb verstand und allen Ernstes den Namen Verdopplereffekt trug. Er arbeitete dort in der Rechtsabteilung, von der fraglich war, weshalb man sie überhaupt ins Leben gerufen hatte. Denn Joachims einzige juristische Tätigkeiten bestanden darin sicherzustellen, dass die Grafiker keine allzu strafrechtlich relevanten Urheberrechtsverletzungen begingen, und Verträge aufzusetzen, die man auch problemlos hätte gratis irgendwo downloaden können. All das erschütternderweise aber irrwitzig gut bezahlt. Manchmal entwarf Verdopplereffekt Promovideos für Kreditunternehmen oder Flugschulen, seltener hatten die Projekte etwas mit nachhaltigen Bauplänen für vergessene Vorstadtsiedlungen zu tun. Oft genug ging es darum, irgendeiner Cateringfirma abzusagen. Alles in allem also in jeglicher Hinsicht unbefriedigend, vage, ein großer Hipsterfurz. Der Fairtrade-Kaffee hatte scheiße geschmeckt, und Joachim hatte eigentlich schon lange nach einer Entschuldigung gesucht, um dort abzuspringen, was er jedoch erst nach dem Urgroßmutterdebakel geschafft hatte. In Form einer halb garen Mail übrigens, in der er sich erst mal eine Auszeit bis Weihnachten erbat. Von seinem Chef Michael Solmecke kam nie eine Antwort.

Joachim fixierte mit den Augen seit drei Minuten einen Punkt knapp oberhalb der Türklinke, als endlich der fürchterliche Brummton der Klingel erklang, der ihn jedes Mal in Alarmbereitschaft versetzte.

Er sprang auf, ohne dabei seinen Blick von der Tür zu lösen, und stieß sich dabei den Zeh an einem der von ihm relativ wahllos in der Wohnung verteilten Einrichtungsgegenstände. Der unmittelbar einsetzende Schmerz war immens, aber er konnte ihm vorerst keine Beachtung schenken, denn die aktuelle Priorität lautete: Essen entgegennehmen. Die kausalketteninterne Reihenfolge durfte nicht unterbrochen werden.

Vor der Tür stand ein Typ, der aussah, als sei er gerade erst aufgestanden oder als hätte er seit zwei Tagen nicht geschlafen. Alterstechnisch schien zwischen zwölf und zweiundsechzig alles möglich zu sein.

Mit devotem Blick streckte er seine dünnen Ärmchen aus und überreichte Joachim die Sushibox.

Joachim wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte eigentlich seinen ganzen Frust aufgrund der Gesamtsituation in Zorn über die Verspätung kleiden wollen. Er war schon bereit gewesen, dem zufälligen Opfer in Lieferantenkleidung eine Szene zu machen, aber bei einer Person wie jener, die da vor ihm die Schultern hängen ließ, ging das nicht. Ihre unterwürfige Ausstrahlung konnte einem Menschen ohne diktatorische Ambitionen nur unangenehm sein.

»Wie viel schuld ich dir denn?«, versuchte Joachim, etwas Normalität in die Situation zu bringen.

»Äh …« Der Lieferant schielte nach dem Beleg, den er Joachim zusammen mit der Box in die Hände gedrückt hatte.

»Oh, ach, so.« Joachim sah selbst nach. »Wow, sieben Euro für den Wein, stark.« Auf dem Gesicht seines Gegenübers war nichts als weiterhin tiefes Leiden zu sehen.

»Ich kann ja mit Karte bezahlen, oder? Ich hab nämlich kein Bargeld da.«

»Äh, normalerweise schon, aber … das Ladegerät ist gerade kaputt. Äh, Lesegerät, Lesegerät. Also, eigentlich wurde es heute Morgen repariert, aber da war ich noch nicht in der Filiale, und deshalb habe ich jetzt keins dabei leider, sorry.«

Joachim überlegte kurz, ob er ihm seine Karte geben und ihn zum EC-Automaten um die Ecke schicken sollte. Da er aber befürchtete, dass der Junge auf so einen Vorschlag hin fragen würde, ob er bei ihm einziehen dürfe, beließ er es dabei, ratlos die Augenbrauen anzuheben.

Als der Junge murmelte, es täte ihm leid, dass man ihm das am Telefon nicht gesagt habe, fiel Joachim ein, dass er irgendwo doch noch einen Zwanzigeuroschein herumliegen haben musste. Anfang Dezember hatte er den abgehoben, weil er im Vollrausch auf die fatale Idee gekommen war, Joy ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen. Zum Glück waren kurz vor dem Betreten eines Drogeriemarktes, der wie das Tor zur Hölle hellblau aus der Dunkelheit hervorleuchtete, irgendwelche guten Geister zu ihm durchgedrungen, die ihn davon abhielten. Also kehrte er um und ging stattdessen zu Ali, um sich von dem Geld Bier zu kaufen. Doch auch dazu kam es nicht, weil er den Schein im Späti bereits wieder vergessen hatte und das Sixpack wie gewohnt mit Karte bezahlte. Und wie immer musste er noch was obendrauf legen, damit er auf die notwendigen zehn Euro kam, um das EC-Terminal benutzen zu dürfen, diesmal entschied er sich für Salzstangen. Kurzum: die zwanzig Euro entdeckte er erst zu Hause wieder und warf sie irgendwohin, wo sie erneut in Vergessenheit gerieten.

Er humpelte durch seine Wohnung, während das Hämmern in seinem Zeh mit jedem Schritt schlimmer wurde. Er dachte an Dol, die Maßeinheit für Schmerz, die keiner benutzte, und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis eine Amputation unumgänglich war. Dann fand er das Geld in der Küche, zusammengeknüllt hinter einem Gurkenglas.

Der Lieferjunge sah erleichtert aus. Joachim vermutlich auch.

»Na, das ist ja super. Vielen Dank.«

»Den Rest kannst du behalten. Schönen Tag noch und frohe Festtage.«

Joachim machte einen großen Rückwärtsschritt und schloss die Tür.

Durch den Spion linsend konnte er verfolgen, wie die traurige Gestalt ihre Transporttasche mit dem giftgrünen Cha-Che-Doh-Logo schulterte und schwerfällig zum Aufzug schlurfte.

Joachim streckte sich auf der Couch aus und begann, die erste Viererreihe der klebrigen Reiswürfel mit den bunten Mikroinhalten in Sojasoße zu tauchen und mit großen Schlucken den dubiosen Wein hinunterzuspülen. Hatte er noch nie getrunken, Sake, schmeckte aber dankenswerterweise weniger orchideenmäßig als erwartet. Aus der verstaubten Sonos-Box unterm Bücherregal stimmte Frank Sinatra im Radio derweil seinen Weihnachtsklassiker an:

Let your heart be light,

from now on all your troubles will be out of sight

Das wurde zwar mit jedem Jahr schrecklicher, konnte in diesem Moment aber immerhin als einigermaßen gelungene Zufallssatire verbucht werden, zumal Joachim zwischen zwei Bissen bemerkte, dass seine Socke im Bereich des verwundeten Zehs eine rötliche Verfärbung angenommen hatte.

Er ignorierte die Warnsignale, so gut es ging. Erst einmal wollte er in Ruhe zu Ende essen. Und eigentlich war es auch egal, er würde ja eh bald sterben, und bis dahin würde er vielleicht irgendwann noch mal dazu kommen, eine letzte Trommel anzuschmeißen, für die Henkerswäsche sozusagen, und die Blutsocke würde zusammen mit der Pisshose und dem Kotzschal in die Maschine wandern, auch wenn es dann schon zu spät wäre. Blutsocke, Pisshose und Kotzschal – unerlässliche Meilensteine in der Kausalkette alkoholbedingterVerfall, dachte Joachim noch, ehe ihm die Essstäbchen aus der Hand glitten und er einnickte.

Als er aufwachte, war die Nachricht seiner Mutter vergessen. Aber er hatte Glück, denn der Nachmittag schien schon fast überstanden zu sein, und spontan fühlte er sich gestärkt genug, eine Beschwerdemail an Cha-Che-Doh zu schreiben. Schön und gut, dass dieses Unternehmen zur Warenverteilung gebrechliche Jünglinge aussandte, denen man sich nichts an den Kopf zu werfen traute, aber die Geschäftsleitung sollte vor berechtigten Tiraden nicht verschont werden!

In so was war Joachim gut: geschäftsleitende Personen ausfindig machen. Binnen weniger Mausklicks hatte er die Mailadresse des zuständigen Filialchefs auf einem Portal, das sich dafür rühmte, Führungskräfte aus allen Herren Länder zu vernetzen, gefunden, gecopypastet und in die Empfängerleiste gepfeffert.

Es konnte losgehen.

Betreff: REKLAMATION!!!!!!

Sehr geehrter Herr Klosaki

Auch wenn das Wort Klo in Ihrem Namen vorkommt, finde ich es nicht angemessen, dass …

Nein, das war etwas zu dick aufgetragen für den Anfang.

Sehr geehrter Herr Klosaki

Ich hatte eigentlich schon immer eine Aversion gegen rohes Essen, und ab heute steht nun definitiv fest für mich, dass ich …

Hm, auch das war Quatsch, weil schon zu verworren. Er wollte seine Beschwerde einfach halten und den Zorn bündeln, um ihn kompakt und präzise auf seinen Gegner abzufeuern, sodass dieser mit einem Schlag ausgeknockt sein würde.

Vielleicht mal anders anfangen:

Hallo Herr Klosaki

Ihr Unternehmen stellt nicht nur ungenießbares Essen her, sondern auch unfähige Mitarbeiter ein, wie ich heute feststellen durfte.

50 Minuten Wartezeit – das ist selbst für rohen Fisch zu viel. Ich weiß, wir sind alle nicht perfekt, und jeder macht mal Fehler, aber meine Vermutung in diesem Fall ist, dass, wie bei den meisten Unternehmen, Sie als Chef das Arschloch und verantwortlich sind, für die mangelnde Motivation Ihrer Angestellten.

Okay, das driftete zwar völlig in eine überzogene Richtung ab, aber – es machte Spaß! Joachim tippte weiter.

Bestimmt sitzen Sie gerade mit Ihrer Frau Cordula zu Hause vor dem Kamin und lassen es sich gut gehen, während Ihre Angestellten sich die Hände wund schuften müssen und demnächst ein Burn-out erleiden werden. In Ihrem Falle heißt hier gut gehen wahrscheinlich: Ihre Frau, die Sie mit irgendeiner minderjährigen Praktikantin betrügen, hat gerade einen Glühwein für Sie gekocht und massiert Ihnen jetzt Ihre fleischigen, stinkenden Füße, während im Hintergrund eine Platte mit französischen Chansons läuft.

Joachim lachte sich ins Fäustchen. Absolut albern, was er da veranstaltete, aber befriedigend.

Sie sind hässlich, tippte er noch obendrauf, und das wissen Sie natürlich, deshalb müssen Sie es mit Geld kompensieren. So, jetzt aber mal zum Schluss kommen, sonst war seine Abscheu nicht mehr ernst zu nehmen.

Vielleicht können Sie diese besinnliche Zeit ja mal zur Abwechslung dafür nutzen, über wichtigere Dinge nachzudenken als das Bargeld in Ihrer Kasse. Haben Sie sich zum Beispiel schon mal überlegt, wie Ihr Gesicht aussah, bevor Ihre Urgroßmutter geboren wurde?

Sehen Sie. Wie dem auch sei. Vielleicht können wir aus diesem schrecklichen Weihnachten in diesem Jahr ja wenigstens irgendetwas voneinander lernen. Ich werde an Sie denken, während ich mir alleine Ihren SAKE hinter die Binde kippe. Machen Sie es gut, Herr Sushi-Boss

Okay, der Schluss war etwas melodramatisch geraten, aber für Klosaki reichte es allemal. Joachim schickte die Mail ab. Ein gutes Gefühl!

Dann trank er den fernöstlichen Wein leer und überlegte, ob er sich Nachschub organisieren sollte. Nein, vorerst wohl besser nicht, das Fiebergefühl beim Aufstehen war zu ätzend gewesen. Außerdem wollte er nicht schon wieder Alis kummervollen Blick im Rücken spüren, wenn er dessen Getränkeschrank aufmachte. Gras musste vorerst genügen. Und vielleicht mal doch lieber den Zeh verarzten.

Vorsichtig zog er die Socke vom Fuß. Okay, so übel sah die Sache nicht aus, es quoll zwar viel Blut aus ihr heraus, aber die Wunde an sich war nur ein kleiner L-förmiger Riss. Pflaster hatte er selbstredend nicht im Haus, also wickelte er Klopapier drum, das nach drei Sekunden wieder abfiel. Joachim tat sich selber leid. Ihm war nach Zweisamkeit zumute. Nach einem weiteren Atemorgan, das den Raum parallel zu seinem mit Kohlendioxid versorgte. Nach jemandem, der in der Lage war, Parolen wie »Zu viel Einsamkeit ist ungesund« rauszuhauen, woraufhin Joachim dann denken konnte, dass er doch lieber allein geblieben wäre.

2

JOACHIMHATTESICH erst mal ins Bad zurückgezogen. In keinem anderen Raum einer Wohnung konnte sich die Nachlässigkeit ihres Bewohners so anklagend offenbaren wie hier: mysteriöse Gerüche aus dem Waschbecken, Pilzkulturen im Zahnbecher und vom Klobürstenbehälter wollte man gar nicht erst anfangen. Trotzdem verkörperten diese sechs Quadratmeter für Joachim einen zuverlässigen Rückzugsort, weil hier drin der Aktionsrahmen so klar abgesteckt war. Auch wenn er gerade nichts von den Dingen tat, für die ein Badezimmer vorgesehen war, sondern eingepfercht zwischen Wand und Wanne saß, mit dem Rücken zum Heizkörper, der nicht mehr funktionierte. Auch die Fliesen unter seinem Hintern waren kalt, und sein Steißbein lag genau überm Schaltknopf. Das tat weh, aber Joachim konnte sich nicht mehr rühren, diese Position hielt ihn vorläufig gefangen, während er mit klammer Hand den Joint anzündete. Plötzlich erschien ihm doch wieder denkbar, dass er Fieber haben könnte. Möglicherweise das Symptom einer Blutvergiftung. So was konnte ja schnell gehen. Seine Mutter hatte sich mal an einem Kalenderblatt des Monats Oktober einen minimalen Riss im Zeigefinger zugezogen und war mit einer Sepsis im Krankenhaus gelandet. Je mehr er darüber nachdachte, desto plausibler erschien ihm, dass sich in diesem Moment Staubpartikel einen Weg durch seine Blutbahn Richtung Herz fraßen, als unaufhaltsame Manifestation einer gerechten Strafe für seine fahrlässige Lebensweise.

Er wollte Joy anrufen, aber es war nicht möglich. Aus Angst vor seiner eigenen Stimme weigerte sich seine Hand, auf den Hörer zu drücken, also schrieb er ihr eine Nachricht. Das funktionierte.

Hallo Joy. Mir geht es nicht gut. Gedanken ans Sterben und bedenklicher Alkoholkonsum. Ich wollte es dir nur mitteilen. Nicht, damit du dir Sorgen machst, sondern einfach, damit du Bescheid weißt.

Joachim hatte keine ausgeprägte Todessehnsucht. Dennoch hatte er sich während der letzten zwei Monate immer mal wieder ausgemalt, wie es wäre, einfach aus der Welt zu verschwinden. Indem er beispielweise sieben Euro für eine Dombesteigung zahlte, zur höchsten Aussichtsplattform hinaufstieg, sich an der Sandsteinbalustrade hochzog und dann auf der anderen Seite hinunter in die Tiefe gleiten ließ wie ein Handtuch, das von der Haltestange rutscht.

Aber bis dato hatten sich solche suizidalen Fantasien jeweils ab dem dritten Zug an einem seiner Zombiejoints wieder aufgelöst, und er dachte stattdessen über den Paragrafen 6 des Strafgesetzbuches oder moosige Felswände nach. Heute aber löste sich überhaupt nichts auf. Stattdessen musste er wieder an seine gesichtslose Urgroßmutter denken und daran, dass es keinen, wirklich nicht einen einzigen Grund gab, länger zu warten.

Er stellte sich vor, dass Joy anrief. Ohne etwas zu sagen. Er stellte sich vor, dass er sie am anderen Ende atmen hören konnte, und seine Vorstellungskraft funktionierte so einwandfrei, dass sein Herz sich in Sekundenschnelle zu einem Stein verklumpte.

Er war allein. Er war wahrscheinlich selbst schuld daran, und er hatte den Moment verpasst, sich etwas anderes einzureden. Also ließ er den Gedanken zu, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als Joy zu sehen.

Joachim konnte im Nachhinein nicht sagen, warum er die Sache mit ihr nicht bei einem One-Night-Stand belassen hatte. Er fühlte sich weder merklich körperlich von ihr angezogen, noch fand er ihre favorisierten Gesprächsthemen ansprechend.

Trotzdem wuchsen sie, was den Geschlechtsverkehr betraf, zu so etwas wie einem eingespielten Team zusammen, obwohl ihm auch das rückblickend wunderlich erschien, denn er hatte sich bei ihr nie besonders viel Mühe im Bett gegeben.

Immerhin wirkten ihre Höhepunkte nicht vorgetäuscht, und sie sagte keine komischen Sachen wie »Du weißt ja sogar, wo sich die Klitoris befindet«, wie es eine andere Affäre vor ihr getan hatte.

Für den Rest der Beziehung schien das mit dem eingespielt allerdings nicht zu gelten: Rund zweieinhalb Monate nach dem ersten Treffen begann sich etwas in der zwischenmenschlichen Dynamik deutlich zu verschieben.

Zu Beginn hatte Joy sich lässig und unberechenbar gegeben und war auf Joachims Date-Vorschläge nie eingegangen, ohne ihm dabei zu vermitteln, dass sie eigentlich etwas Besseres zu tun haben könnte. Doch schon nach wenigen Wochen wurde sie immer anhänglicher und ängstlicher und schien ihre Tage nur noch danach auszurichten, ob und wann sich Joachim mit ihr treffen wollte.

Ihre anfängliche Coolness verebbte. Stattdessen waren da plötzlich stumme, haltlose Vorwürfe in ihren Blicken, wenn sie sich gegenübersaßen, während ihre Körpersprache eine ganzheitliche Verunsicherung signalisierte. Joachim registrierte diesen Wandel nur unterbewusst, aber das reichte aus, um sein Interesse an ihr umgehend abflachen zu lassen.

Joys Nachrichten begannen, ihn unter Druck zu setzen. Obwohl oder gerade weil er aus ihnen nicht schließen konnte, was sie eigentlich genau von ihm wollte. Der Reiz, sich auf sie einzulassen und sie näher kennenzulernen, auch wenn sie nicht sein sogenannter Typ war, kam abhanden. Bis er schließlich eines Tages so weit war, sich gar nicht mehr darum zu kümmern, ob und wann sie sich das nächste Mal sehen würden.

Stattdessen war es nun Joy, die fragte, ob er Lust habe, etwas zu unternehmen: Kletterhalle, Billardbar, Angeltour – Dinge, die sie selbst eigentlich gar nicht mochte und auf die Joachim erst recht keine Lust mehr hatte. Bald traute Joy sich nicht mehr, etwas anderes vorzuschlagen als abends mit einer Flasche Sekt bei ihm vorbeizukommen, und Joachim kam das gelegen.

Bis Joy eines Tages anrief – es war Herbst, draußen schwül und drinnen auch, die ganze Stadt wartete auf ein Gewitter, das nicht kam – und das Gespräch mit einem phänomenalen Schluchzer eröffnete. Besorgt fragte Joachim, was passiert sei, ob mit ihr alles in Ordnung war, und da jammerte sie, nein, gar nichts sei in Ordnung, überhaupt nichts, und daran sei er, Joachim B., schuld. Sofort verschwand das Bild einer blutüberströmt in einem Krankenhausbett liegenden Joy vor Joachims geistigem Auge. Es dauerte eine Weile, bis ihm dämmerte, dass er auf der Anklagebank saß, ohne eine Ahnung zu haben, was ihm vorgeworfen wurde. Also hörte er sich an, was Joy zu erzählen hatte. Es war eine Menge.

Sie heulte. Sagte, dass sie so nicht mehr weitermachen könne. Ihre Nerven lägen blank, seinetwegen. Seinetwegen könne sie sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren, auf gar nichts mehr, sie sei nicht mehr sie selbst.

»Ich habe keine Lust mehr, von dir warmgehalten zu werden.« Er solle endlich aufhören, mit ihren Gefühlen zu spielen und ihr stattdessen sagen, was wirklich los sei.

Joachim, völlig unvorbereitet auf all das, fragte vorsichtig, was sie meine. Er habe doch gar nichts gemacht, was denn für ein Warmhalten? Und anstelle eines weiteren Schluchzers erklang am andern Ende ein bitteres Lachen: Genau, das sei ja das Problem, er mache nichts. Joachim blieb nichts anderes übrig, als perplex zu wiederholen: »Wie meinst du das?« Daraufhin sagte Joy bloß, sie sei sich zu schade für dieses kindische Scheißspiel, und legte auf.

Joachim hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, was er für Joy empfand, im Gegenteil. Er hatte es genossen, das, was zwischen ihnen war, nicht benennen zu müssen. Sie war einfach zu einem sehr passenden Zeitpunkt in seinem Leben aufgetaucht. Kurz nachdem er zum ersten Mal die Arbeit geschwänzt hatte nämlich, lange vor dem Laugenstangenvorfall, als er von diesem Gefühl, das ihn an dem Tag überfallen hatte, bloß hie und da einen Vorgeschmack verspürte in Form des einen oder anderen unpassenden Gedankens. Er hatte zum Beispiel ab und zu im Büro auf dem Klo gesessen, den Jackenhaken an der Tür angestarrt und gedacht: was soll das denn, welche verlorene Seele hat bitte schön diesen Haken da rangehämmert? Oder sich, wenn er nach Feierabend in der U-Bahn saß, vorgestellt wie es wäre, einfach nicht mehr auszusteigen und immer weiterzufahren, bis zur Endstation, und dann zu Fuß weiterzugehen, bis er in irgendeiner fremden Stadt ankäme, wo er unter falscher Identität ein neues Leben starten würde.