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Aus der geplanten Osterreise ins frühlingshafte Paris wird für Polizeihauptmeister Thies Detlefsen, Gattin Heike und die Fahrgäste der Nord-Ostsee-Bahn ein mörderischer Albtraum: Ihr Zug bleibt auf einsamer Strecke in der plötzlich einsetzenden Schneekatastrophe stecken und auf der Zugtoilette wird die verhasste Lateinlehrerin Agathe Christiansen ermordet aufgefunden. Im eingeschneiten Fredenbüll haben die Belegschaft der Hidde Kist und die hochschwangere Kommissarin Stappenbek ganz andere Probleme: Ein junger Polizist verschwindet spurlos und ein Auftragskiller sucht sein Opfer ausgerechnet in Fredenbüll. »Quelle aventure, welch Abenteuer!«, jubelt auch VHS-Französischlehrer Picon und stürzt sich mit Thies in die Ermittlungen ...
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Seitenzahl: 263
Krischan Koch
Mord im Nord-Ostsee-Express
Ein Küsten-Krimi
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für Dietmar und unsere Likörlieder singenden Frauen
»Ist Ihnen schon aufgefallen, dass zu viele Spuren in diesem Raum vorhanden sind?«
Hercule Poirot in Agatha Christies ›Mord im Orient-Express‹
»Quel temps!«, echauffiert sich Professorengattin Angelica Müller-Siemsen in gestelztem Französisch.
»Oui, Madame, was für ein Wetter!« Der Reiseleiter Jean-Pierre Picon deutet mit theatralischer Geste auf das Schneegestöber. »Une catastrophe!« Aber ein bisschen genießt der kleine Französischlehrer den klimatischen Ausnahmezustand auch.
»Katastrophe? Na ja.« Der Fredenbüller Polizeihauptmeister Thies Detlefsen sieht skeptisch zu ihm hinunter. »Schnee zu Ostern hatten wir immer mal.«
»Ist aber Jahre her, lieber Detlefsen«, bemerkt der Dorfadlige Onno von Rissen in schneidigem Ton.
»Mais oui, es war aber Ostern!«, ruft Lateinlehrerin Agathe Christiansen besserwisserisch dazwischen.
Die kleine Reisegesellschaft, die auf dem Niebüller Bahnhof auf das Einfahren des Nord-Ostsee-Expresses wartet, ist ganz aus dem Häuschen. Der Französischkurs der Volkshochschule Bredstedt bricht zu einer Studienreise nach Paris auf. Voller Vorfreude reden alle aufgeregt durcheinander, und einige wollen unbedingt ein paar Französischbrocken aus dem Kurs anbringen.
»À quelle heure arrive le train?«, proklamiert Frau Müller-Siemsen im Zeitlupen-Französisch und zieht sich fröstelnd ihr giftgrünes Steppjäckchen aus einer Pöseldorfer Edelboutique enger um die Schultern.
»Tout de suite, Madame Müller-Siemsen«, flötet Jean-Pierre Picon und neigt den eiförmigen Kopf zur Seite. Sein gerötetes Gesicht leuchtet unter dem Hut hervor. Das kleine Menjou-Bärtchen hüpft aufgeregt auf und ab. Der steife schwarze Hut ist inzwischen mit Schneeflocken gepunktet. Ansonsten wirkt Monsieur Picon wie aus dem Ei gepellt, als würde ein Fussel auf seinem makellosen dunklen Mantel ihm mehr Schmerzen bereiten als eine Schussverletzung. »Tout de suite!« Der Französischlehrer, der eigentlich Belgier ist, misst gerade mal einen Meter sechzig, aber seine Haltung demonstriert Würde und Entschlossenheit.
Die Reisenden sind viel zu dünn angezogen. Alle haben sich schon auf den Pariser Frühling, auf einen lauschigen Osterspaziergang in den Tuilerien und einen café crème am Boulevard Saint-Michel eingestellt. Die Damen frösteln in ihrer frühlingshaften Garderobe. Der Dorfadlige Onno von Rissen verschränkt in seinem großkarierten englischen Jackett die Arme vor der Brust und reibt sich mit den Händen die Ärmel. Agathe Christiansen kramt in einem Rollkoffer nach einer Stola. Nur Bountys Freundin, die schöne Giselle, sieht mit grünem Pantherblick unternehmungslustig aus ihrer mit Kunstpelz umrandeten Kapuze heraus, als wolle sie statt nach Paris mit Doktor Schiwago auf ein russisches Landgut reisen. Auch die greise Gräfin Ignatowski trägt Pelz, und zwar komplett als Mantel. Und ihr Pelz ist echt.
»Dat is Nerz«, flüstert Polizistengattin Heike ihrem Mann zu.
»Diese Nerze, die sie in Dänemark zu Tausenden gekillt haben?« Der Fredenbüller Althippie Bounty wiegt den Kopf. Thies hat währenddessen alle Hände damit zu tun, die Gepäckstücke der Damen unter dem überdachten Abschnitt des Bahnsteigs halbwegs vor dem Schneegestöber in Sicherheit zu bringen.
Noch eine Handvoll weitere Fahrgäste hat sich ebenfalls auf dem Bahnsteig eingefunden. Doch die meisten der Wartenden gehören zum Französischkurs von Monsieur Picon. Die Lateinlehrerin des Husumer Theodor-Storm-Gymnasiums, Agathe Christiansen, besucht fast jeden Kurs, den die Bredstedter Volkshochschule anbietet. Sie weiß regelmäßig alles besser als die Dozenten und mischt sich reichlich penetrant überall ein. Der emeritierte Hamburger HNO-Professor Müller-Siemsen und seine Frau Angelica nutzen ihr schmuckes Reetdachhaus hinterm Deich wieder ausgiebiger und wollen mit dem Französischkurs und einer Parisreise ihre müde Ehe wieder in Schwung bringen. Auch für die Fredenbüller Dorfadligen Huberta und Onno von Rissen haben Monsieur Picons Französischstunden therapeutische Funktion. Das Paar lebt seit Jahrzehnten nebeneinanderher. Zu dieser gemeinsamen Unternehmung musste Huberta ihren Mann überraschenderweise nicht groß überreden. Dabei macht Onno den Kurs weniger aus Liebe zu seiner Frau, sondern mehr aus Leidenschaft für teuren roten Bordeaux. Durch den Kurs hofft er sein Wein-Französisch etwas zu erweitern.
Die von Rissens werden von ihrer alten Freundin, der greisen Sankt Petersburger, im schwedischen Exil lebenden Gräfin Ignatowski begleitet, die eigentlich gut Französisch spricht, es aber nicht versteht, was daran liegt, dass sie nicht mehr gut hört. Die Dame Ignatowski wiederum ist in Begleitung ihres langhaarigen Perserkaters Fjodor, der böse Blicke aus seinem altertümlichen Katzenkorb herauswirft. Althippie Bounty nimmt zwar nicht an dem Französischkurs teil, zu einem Trip in die Stadt der Liebe musste er von seiner neuen Flamme Giselle aber nicht lange überredet werden. Seit er die schöne Restaurantchefin im letzten Sommer auf der Nordseeinsel Amrum kennengelernt hat, schwebt er auf Wolke sieben, und das ganz ohne die selbstgezogenen Kräuter aus seinem Garten.
Nur Dorfpolizist Thies hatte sich bis zum Schluss gewehrt. Aber Gattin Heike hat sich in den Kopf gesetzt, der seit Langem schwelenden Ehekrise mit einer gemeinsamen Unternehmung zu begegnen. Und dem alternativ drohenden Tangokurs wollte Thies unbedingt aus dem Wege gehen.
»Da is die Mona Lisa dat kleinere Übel.«
Die Lichtkegel der beiden Autoscheinwerfer bohren sich durch das Schneegestöber. Die dicken Flocken wirbeln wie aus einem schwarzen Loch auf die Windschutzscheibe zu. Ole Matthiesen möchte sich auf dem Fahrersitz am liebsten wegducken. Er muss sich voll konzentrieren, nicht von der schmalen glatten Straße abzukommen und im Graben zu landen. Zwischen jedem pappenden Wedeln der Scheibenwischer drohen die beiden sichtfreien Halbkreise auf der Frontscheibe gleich wieder zuzuschneien. So einen Schneefall hat der junge Polizeianwärter in Schleswig-Holstein bewusst noch nicht erlebt. Dabei ist in ein paar Tagen Ostern. Nur in seiner Kindheit hatte es angeblich schon mal so einen späten Wintereinbruch gegeben. Teile von Nordfriesland und im Kreis Flensburg waren damals sogar eine Weile von der Außenwelt abgeschlossen gewesen. Und seine Eltern und Großeltern erzählen von der großen Schneekatastrophe irgendwann in den Neunzehnhundertsiebzigerjahren.
Ausgerechnet jetzt soll er den Polizeihauptmeister Thies Detlefsen in seiner Fredenbüller Wache für eine Woche vertreten. Thies hat ihm genaueste Anweisungen gegeben. »Dat is nich zu unterschätzen. Wir haben in Fredenbüll in den letzten Jahren eine Mordrate, da können andere nur von träumen. Du musst nich nur Fredenbüll, sondern auch dat ganze Deichvorland im Blick haben.« Für Ole Matthiesen ist es eine echte Bewährungsprobe.
Jetzt ist er auf seinem abendlichen Heimweg nach Niebüll, wo er noch bei seinen Eltern wohnt. Die Heimfahrt verbindet er mit einer Streife durchs Revier. Bei diesem Wetter ist kein Mensch mehr auf der Straße. In Schlüttsiel hängen in den Vorgärten ein paar eingeschneite Ostereier in den Bäumen und Sträuchern. Matthiesen nimmt nicht die Bundesstraße, sondern patrouilliert die Nebenstrecke am Deich entlang. Vor dem Kartoffelhof hinter Reusenbüll schwebt, von einem Scheinwerfer angestrahlt, ein gigantischer aufgeblasener Osterhase über dem weiten baumlosen Acker. Die rosaroten Riesenohren und der Saum der grünen Schürze sind die einzigen Farbkleckse in der weißen Landschaft. Der größte Teil des monströsen haushohen Plastikhasen, sein Kopf und der aufgepumpte Körper sind eingeschneit. Nur die großen Augen glotzen aus dem Schnee, und zwei idiotische Hasenzähne gucken gespenstisch aus einem Joker-Grinsen hervor. Im Vorbeifahren kommt es Ole in dem Schneegestöber wie ein Spuk vor.
Ein Stück weiter erkennt er schemenhaft ein paar Schafe, die dichtgedrängt unter einem eingeschneiten Unterstand dem vorbeifahrenden Polizeiwagen hinterhersehen. Und dann entdeckt er in einiger Entfernung, bestimmt über einen Kilometer entfernt, zwei rote Punkte, die ganz schwach in der verschneiten Dunkelheit glimmen. Die Landschaft, der Himmel, die Straße haben mittlerweile alle Konturen verloren. Nur die kleinen roten Rücklichter eines anderen Autos leuchten oszillierend in den auf die Frontscheibe einstürmenden Schneeflocken auf.
Ole schaltet die höhere Stufe des Scheibenwischers ein und beschleunigt. Der Wagen kommt kurz ins Rutschen und Schlingern. Aber dann zieht der Vorderantrieb ihn durch den verwehten Schnee, in dem nur zwei Fahrspuren zu erkennen sind. Die roten Rücklichter werden jeden Augenblick größer. Der vor ihm fahrende Wagen ist kaum zu erkennen, nur die beiden roten Striche. Sie nehmen deutlichere Konturen an. Irgendetwas kommt ihm an diesem weißen Auto seltsam vor.
Er kennt die Marke nicht. Dabei kennt sich Ole eigentlich mit Autos aus. Steht da »flow« auf der Kofferraumklappe oder »i-flow«? Vermutlich ein neues E-Fahrzeug aus Korea oder Japan. Es ist nicht zu hören und wegen der Farbe kaum zu sehen. Aber eines sieht Ole Matthiesen sofort: Dieses weiße Auto aus Fernost hat kein Kennzeichen, nicht mal ein rotes Nummernschild, gar nichts. Ist die Kiste etwa geklaut?
Kurzentschlossen schaltet er das Blaulicht an, das rote Anhaltesignal »Stopp Polizei« und fährt dichter auf. Das andere Fahrzeug schwebt eine Weile unbeirrt weiter durch den Schnee. Dann verlangsamt es die Fahrt und stoppt. Matthiesen weiß in der ersten Aufregung gar nicht, was zu tun ist. Er nimmt sich die Taschenlampe, überprüft den Sitz seiner Dienstwaffe im Holster und steigt aus. Die Schneeflocken wehen ihm sofort ins Gesicht. Hier draußen ist es verdammt kalt. Er stapft zu dem anderen Wagen. Es ist eine ganz normale Fahrzeugkontrolle, sagt er sich, kein Grund, nervös zu werden. Aber irgendwie hat er ein komisches Gefühl.
Der Fahrer des anderen Wagens lässt das eingeschneite Seitenfenster surrend herunter, nur einen größeren Spalt.
»Moin, Fahrzeugkontrolle.« Ole gibt sich alle Mühe, routiniert zu klingen. »Führerschein, Fahrzeugpapiere.« Er leuchtet dem Mann mit der Taschenlampe ins Gesicht.
Der Typ kneift die Augen zusammen und mustert ihn kritisch. Sein Beifahrer, der eine dicke Jacke trägt, wendet sich ab. Sein Gesicht, das er unter den mit Fell gefütterten Ohrenklappen einer voluminösen Mütze versteckt, kann Ole nicht sehen.
»Papiere? Klar«, antwortet der Fahrer und grinst. Ein Grinsen ist es eigentlich nicht, er verzieht nur den Mund mit dem zu einem Strich rasierten Oberlippenbärtchen und zeigt seine schlechten, schiefen Zähne. Er kramt in den Taschen seines zu weiten braun-beige gestreiften Jacketts. Ole leuchtet ihn an, dass er geblendet das Gesicht verzieht. Er richtet die Taschenlampe an ihm vorbei auf den Beifahrer, der sich daraufhin zu seinem Seitenfenster abdreht. Der Fahrer kommt bei der Suche nach seinen Papieren nicht weiter.
»Na, wat is? Wird langsam kalt hier draußen.« Matthiesen versucht seine Nervosität zu überspielen. Außerdem ist ihm inzwischen wirklich verdammt kalt.
»Mietwagen«, zischelt der Fahrer durch seine schiefen Zähne. »Scheißelektrokiste.« Die Scheibe surrt ein Stück weiter nach unten.
»Und für Elektroautos braucht man keine Papiere, oder was?« Irgendwie hat sich Ole seine erste Fahrzeugkontrolle einfacher vorgestellt. Der Typ mit den schiefen Zähnen greift sich in die Innentasche der Jacke. Die roten Buchstaben »Stopp Polizei« leuchten vom Polizeiwagen herüber. Die Schneeflocken wehen dem jungen Polizisten jetzt noch mehr ins Gesicht. Er wird immer nervöser und langsam auch misstrauisch. Sucht der Typ in seiner Tasche möglicherweise nach einer Waffe?
»Steigen Sie bitte aus! Hände aus der Jacke und draußen gleich aufs Autodach!« Ole Matthiesen wünscht sich, er hätte diesen Wagen gar nicht angehalten.
»Was soll ich?«, nuschelt der Typ mit den schlechten Zähnen. Ole bemerkt, wie der andere etwas aus dem Handschuhfach kramt. Er tastet nach dem Holster mit seiner Dienstwaffe. Und dann hat der junge Polizeianwärter auf einmal eine auf ihn gerichtete, silbrig schillernde Pistole im Lichtkegel seiner Taschenlampe.
Die buntgemischte Reisegesellschaft von Monsieur Picon richtet sich in den Abteilen des Nord-Ostsee-Expresses ein. Die drei Waggons waren zwischenzeitlich schon mal ausrangiert und kommen jetzt wegen Reparaturarbeiten an den neuen Wagen vorübergehend noch mal zum Einsatz. Der Charme der alten Abteile mit der Holzimitation an den Wänden und den durchgesessenen Sitzen in grün verblichenem Kunstsamt ist mehr als verstaubt.
Einige Fahrgäste sitzen schon auf ihren reservierten Plätzen, die meisten laufen noch aufgeregt durcheinander. Thies und Bounty waren beim Verstauen der schweren Koffer und Taschen in den Gepäckregalen über den Sitzen behilflich. Onno von Rissen verstaut seinen Reiseproviant, einen kleinen Weinkarton, im Gepäckbord. Alle haben sich den Schnee von der Kleidung geschüttelt. Einige haben sich aus ihren Mänteln gepellt, andere haben ihre Anoraks noch anbehalten, schließlich muss man in Hamburg noch in den Schlafwagen nach Paris umsteigen.
Die russische Gräfin Ignatowski in ihrem Nerz hat auf dem Sitz mit dem abgewetzten Kunstsamt Platz genommen. Perserkater Fjodor liegt, nachdem er sein halbes Fell auf den Sitzen verteilt hat, neben ihr und zupft ständig an dem roten Halstuch von Frauchen.
»Ist das hier etwa das Erste-Klasse-Abteil?«, echauffiert sich Frau Ignatowski mit krähender Stimme und dreht den Kopf. Der ohnehin schon faltige Hals, der an eine Schildkröte erinnert, bekommt noch ein paar Falten mehr. »Das ist ja wie in Russland nach der Revolution.«
»Tja, die Abschaffung der ersten Klasse hat die Nord-Ostsee-Bahn ganz ohne Revolution hinbekommen.« Bounty, der vor der offenen Abteiltür auf dem Gang steht, grient die Gräfin an, und Giselle grient mit.
»Wir steigen ja demnächst um«, beruhigt Huberta von Rissen die alte Dame. »Und dann haben wir es etwas komfortabler … na ja, soweit dies auf einer Bahnreise möglich ist.«
Auch Fjodor lugt interessiert aus dem Abteil heraus, worauf ihm Agathe Christiansen nur halb versehentlich mit ihren altmodischen Sportschuhen einen kräftigen Tritt versetzt, dass der Perserkater jaulend über den Gang davonfegt.
»Dass Katzen überhaupt auf die Parisreise mitdürfen!«, beschwert sich die Lateinlehrerin bei Picon.
»Mais oui.« Jean-Pierre Picon hebt beschwichtigend die Hände. »Je comprends, aber Fjodor war lange vor Ihnen nach Paris gebucht.«
»Wenn ich das gewusst hätte«, stimmt Angelica Müller-Siemsen in die Beschwerde mit ein. »Überall diese Haare, eine Zumutung! Ich habe doch eine Katzenhaarallergie!«
Der Nord-Ostsee-Express hat im Schneetreiben den Bahnhof von Niebüll verlassen und ohne Halt Bredstedt passiert. Der kleine Zug mit den beiden Waggons ist noch keine zwanzig Minuten unterwegs, als er in einer Schneewehe mitten in der Weite Nordfrieslands stecken bleibt.
In ihrer Aufgekratztheit bekommen es die Paris-Reisenden zuerst gar nicht mit. Thies Detlefsen bemerkt es als Erster.
»Ich will ja nichts sagen, aber wir stehen.«
Auf den ersten Blick ist es kaum zu erkennen. Vor den Zugfenstern wirbelt der Schnee. Aber dann bemerken alle das Fehlen der Fahrgeräusche. Nur der an dem Waggon rüttelnde Sturm ist zu hören.
»Wieso fahren wir nicht?« Angelica Müller-Siemsen empfindet den unerwarteten Halt als Zumutung. »Das kann doch nicht angehen.«
»Wir haben aber auch wirklich Pech mit ’m Wetter«, stellt Polizistengattin Heike fest.
»Was will man von der Bahn schon erwarten?!«, meckert Onno von Rissen mit blecherner Stimme.
»Na, für das Wetter kann die Bahn ausnahmsweise mal nichts«, wendet Agathe Christiansen ein. Sie ist eigentlich aus dem Fortgeschrittenenkurs, der gar nicht an der Reise teilnimmt. Aber mehr noch als das Schneetreiben scheint sich die Lateinlehrerin für den emeritierten HNO-Professor zu interessieren. Immer wieder mustert sie ihn mit kritisch abfälligem Blick. Frau Müller-Siemsen hat es natürlich längst bemerkt, ihr Mann geht einfach darüber hinweg.
Umgekehrt wird auch Agathe Christiansen von den anderen misstrauisch beäugt. Die Dame hat sich im letzten Moment einen freigewordenen Platz in der Reisegruppe ergattert, sehr zum Missfallen vieler Mitreisenden.
»Das ist keine Lehrerin, sondern eine Sadistin«, zischelt Onno von Rissen hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand.
»Keine sehr angenehme Person«, pflichtet Huberta ihrem Mann bei.
»Nicht sehr angenehm ist gut! Pah!« Onno bekommt kaum Luft in seinem engen Hemdkragen. »Sie unterrichtet die Schüler nicht, sie treibt sie ins Verderben.«
»Übertreiben Sie da nicht etwas?«, wundert sich Heike.
»Na ja, bei unserem Sohn hätte es fast geklappt.«
»Wir haben demnächst vor Gericht mit der Dame zu tun.« Auch Angelica Müller-Siemsen pflegt offenbar eine persönliche Feindschaft mit Agathe.
Ehe die Paris-Reisenden das Thema weiterverfolgen können, ertönt, ähnlich blechern wie bei Onno, die Ansage des Schaffners aus dem Lautsprecher.
»Mein Name ist Dennis Wiese.« Es entsteht eine kurze Pause. »Ich bin Ihr Zugbegleiter. Die Weiterfahrt nach Hamburg-Altona verzögert sich für einige … ähh … Minuten. Grund dafür ist eine vorübergehende …«, es gibt eine erneute Pause, » … ein vorübergehender Wintereinbruch …« Mit Durchsagen an die Fahrgäste, wie sie in einem ICE üblich sind, ist Dennis Wiese nicht so vertraut. Auf den regionalen Strecken der Nord-Ostsee-Bahn wird darauf normalerweise verzichtet.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, bellt Onno von Rissen jetzt wieder im üblichen Casinoton.
»Wir werden den Anschluss in Hamburg verpassen«, sorgt sich Frau Müller-Siemsen.
»Chérie, es geht bestimmt gleich weiter«, versucht ihr Mann sie zu beruhigen und steckt sich ein Lakritzbonbon in den Mund.
»Der Schnee wird aber auch immer doller.« Heike klebt direkt an dem Fenster und sieht nach draußen. »Und ich hab vor der Abfahrt noch die ganzen Ostereier in den Vorgarten gehängt. Die wehen mir doch alle weg.«
»Nun haben Sie sich mal nicht so mit Ihren kindischen Ostereiern«, pfeift Agathe sie postwendend an.
Thies macht sich schon Hoffnungen, dass er um die Parisreise herumkommt.
Gräfin Ignatowski entreißt Perserkater Fjodor den roten Seidenschal mit den chinesischen Ornamenten, wickelt ihn sich um den Hals und vergräbt ihre Hände in den Taschen des Nerzmantels.
»Abenteuerlich«, beschwert sich Frau Müller-Siemsen. »Wirklich abenteuerlich.«
»Oui, Madame, quelle aventure«, säuselt Monsieur Picon, der den Gang des Waggons rauf und runter läuft, um nach seinen Schäfchen zu sehen. »Ein Abenteuer, exactement!« Er streicht sich über die verdächtig schwarzen, mit Pomade gestriegelten Haare.
Das Gros der Reisegruppe beginnt bereits, sich mit der Situation zu arrangieren. Der außerplanmäßige Stopp auf freier Strecke dauert inzwischen über eine halbe Stunde. Sie nehmen es jetzt tatsächlich als ein Abenteuer. Zugbegleiter Dennis Wiese verkündet über Lautsprecher, dass der Stopp wohl noch dauern werde und die Anschlüsse in Itzehoe, Elmshorn und Hamburg-Altona nicht erreicht würden.
»Bitte verlassen Sie die Wagen nicht. Wir versuchen die Strecke freizubekommen … Ssänk ju for träwelling wiss Deutsche Bahn.«
Gleich darauf läuft er mit einem Stapel Wolldecken die Gänge entlang und verteilt die Decken an die Fahrgäste. Perserkater Fjodor, der sich gleich mit dem Schaffner angefreundet hat, streicht ihm um die Beine.
»Was ist das denn? Das ist doch kein Schlafwagen.« Frau Ignatowski klingt ungnädig. »Wo bin ich hier nur gelandet? Auf einer sozialistischen Jugendfreizeit?«
»Ist doch toll, dass Sie in Ihrem Alter noch so abenteuerliche Reisen machen.« Giselle, die immer noch in der Tür steht, blinzelt sie aus ihren grünen Augen an.
»Ja, schätzen Sie mal, wie alt ich bin?«, kräht die Gräfin herausfordernd.
Giselle wirft einen prüfenden Blick auf den Schildkrötenhals der alten Dame.
»Das ist ihre Lieblingsfrage«, flüstert Huberta von Rissen. »Sagen Sie jetzt bloß nichts Falsches.«
»Na, verraten Sie es mir?« Giselle möchte dieses Fettnäpfchen tunlichst umgehen. »Ich liege bestimmt daneben.«
»Ich werde im nächsten Jahr achtzig«, verkündet die Gräfin stolz.
»Oh, Kompliment.« Bounty muss schon wieder grinsen. Die Frau sieht eher aus wie hundert.
»Das hätten wir wirklich nicht gedacht.« Und dabei muss Giselle nicht einmal lügen.
Auch Monsieur Picon sitzt inzwischen in seinem Abteil auf einem gelben Samtdeckchen, das er sich zur Schonung seines makellosen Anzugs auf die schäbigen Polster gelegt hat. Er zupft sich ein paar weiße Katzenhaare von den Hosenbeinen.
»Den Namen Picon hab ich irgendwo doch schon mal gehört«, raunt Bounty seiner Freundin zu.
»… und mit einem übersüßten Likör für Damenkränzchen in Verbindung gebracht«, bringt Giselle den Satz zu Ende und zwinkert ihm zu. »Nach dem dritten Gläschen singen die Damen dann das Likörlied aus der Reklame mit glockenheller Stimme im Chor: ›Erst mal entspannen, erst mal Picon.‹«
Onno von Rissen hat einen anderen Vorschlag und lädt eine kleine Runde im Nebenabteil zu einem Fläschchen Bordeaux ein. Bounty, Giselle und Hauptmeister Thies lassen sich den edlen Tropfen in provisorische Pappbecher füllen.
»Jo, kann man trinken«, befindet Thies.
Restaurantchefin Giselle, die eigentlich Gisela heißt, aber absolut nicht wie Gisela aussieht, hält ihre Nase in den Einmalbecher. »Kirsche, Johannisbeere, Pilze …«
»Pilze?« Pilzkenner Bounty horcht auf. »Echt?«
»Holz, Wildkräuter, Leder, ein wunderbarer Wein zu einem Steak Frites, wie wir es morgen vielleicht schon in Paris serviert bekommen.« Giselle ist die Einzige, die den edlen Tropfen wirklich zu würdigen weiß. »Der Wein könnte aber auch noch das eine oder andere Jahr im Keller vertragen.«
»Aber schon jetzt sehr schön eingebundene Tannine.« Von Rissen gurgelt und beißt den Wein. »Giselle, ich darf doch Giselle sagen, Sie haben eine feine Zunge«, versucht der Dorfadlige die schöne Giselle anzuflirten. Bounty findet es nicht ganz so lustig, und auch Thies blickt skeptisch. Schließlich hat er Onno von Rissen vor zehn Jahren mal ins Gefängnis gebracht, aus dem er wegen guter Führung und mit Hilfe eines cleveren Hamburger Anwalts vorzeitig entlassen wurde. Nach zwei weiteren Pappbechern ist die Stimmung dann aber erstaunlich entspannt.
Ein paar Fahrgäste aus dem zweiten Waggon irren noch durch die Gänge. In einem jungen Mann, der auf einem Bonbon herumkaut, meint Agathe Christiansen einen ehemaligen Schüler zu erkennen. Aber der Junge wendet sein Gesicht gleich ab, sodass sie ihn nur undeutlich sehen kann. Und dann wird ihre Abteiltür noch einmal geöffnet. Eine Frau erhebt Anspruch auf den Platz in dem Abteil, in dem sich Agathe schon mit einem improvisierten Nachtlager ausgebreitet hat.
»Wagen Eins, Platz Vierundzwanzig, das ist meine Reservierung!« Die Dame scheint auf ihrem Recht zu bestehen. »Den Sitzplatz habe ich immer! Jede Woche, wenn ich zu meiner Tante nach Elmshorn fahre.«
»Jetzt sitze ich nun mal hier. Sie werden ja wohl noch ein anderes Plätzchen finden.« Agathes Ton signalisiert keine weitere Diskussionsbereitschaft.
»Sie können mit mir hier nicht umspringen wie mit meinen Kindern«, giftet die Frau sie an. »Das ist doch wieder typisch!« Auch sie oder ihre Kinder scheinen mit Frau Christiansen schon so ihre Erfahrungen gemacht zu haben.
»Wir müssen in dieser Situation alle ’n büschen zusammenrücken«, versucht der Schaffner zu vermitteln. »Ja, nee, anders rum, wir müssen uns verteilen, im anderen Wagen ist genügend Platz, da haben Sie dann auch ein ganzes Abteil für sich alleine.«
»Aber ich habe hier reserviert!«
»Im ganzen Wagen Zwei sind nur drei oder vier Fahrgäste, ’n junger Mann, der hier auch immer fährt, und ’n Fremder in ’ner dicken Jacke, der löst so ’n Kreuzworträtsel mit Zahlen, keine Ahnung. Der zittert vor Kälte wie ’n Aal, aber Decke wollte er trotzdem nich.« Wiese schüttelt den Kopf. »In dem Wagen finden Sie ein eigenes Abteil, dann können wir die Dame hierlassen.« Er wirft einen abschätzigen Blick auf die Lateinlehrerin. Ganz einsehen mag die andere Frau das nicht, aber dann verzieht sie sich doch in Waggon Zwei.
In dem Abteil von Bounty und Giselle wird noch munter Rotwein getrunken und in Erinnerungen an die Schneekatastrophe von neunzehnhundertachtundsiebzig- neunundsiebzig geschwelgt. Sonst haben sich schon alle zur Ruhe begeben. Und nach der dritten Flasche Bordeaux aus dem Pappbecher sucht sich auch die nächtliche Rotweinrunde ein Plätzchen und schlummert bald tief und fest auf den abgewetzten Kunstsamtpolstern. Bounty hat Giselle noch mal leise den Doors-Song ›Wintertime Love‹ vorgesummt und halb gesungen. Als im letzten Amrumer Sommer der Frontmann von »Stormy Weather« die deutlich jüngere Restaurantchefin mit Songs aus den Spätsechzigern erobert hatte, hielten das alle für einen verrückten Urlaubsflirt. Doch mit seinen Songs konnte der Fredenbüller Althippie die Liebschaft schon mal in den Winter verlängern. »… my wintertime love to be«. Bei dem Song döst in dieser Schneenacht die junge Liebe dank des alten Weines selig ein.
Irgendwann am frühen Morgen setzt sich der Nord-Ostsee-Express von fast allen unbemerkt ganz langsam in Bewegung.
Eine ganze Weile hat er sich rargemacht. Jetzt lässt sich Kurschatten Kurt wieder häufiger in Fredenbüll blicken. Vor ein paar Jahren hatte die resolute Fredenbüllerin Oma Ahlbeck den Rentner bei einer Kur in Bad Orb kennengelernt. Danach waren sich die Mutter des Bürgermeisters und der passionierte Hobbyfotograf nähergekommen. In ihrer gemeinsamen Begeisterung für Kinowestern und Mafiafilme hatten sie sich sofort gefunden. Als in dem nordfriesischen Örtchen dann ein echter Mafioso auftauchte, gab es für Oma Ahlbeck und ihren Kurschatten kein Halten mehr. Mit der Kamera waren sie zu nächtlicher Stunde auf die Pirsch gegangen und hatten den geheimnisumwitterten Italoamerikaner bei der Entsorgung einer Toten im Betonfundament der neuen Windräder beobachtet. Und weil es in Frau Ahlbecks Wohnung über dem Edeka-Markt ihres Sohnes gerne mal etwas unordentlich ist, macht Kurt bei seinen Besuchen immer erst mal gründlich sauber. Kurt hat es gern ordentlich. Außerdem hat er neuerdings die belebende und gleichzeitig beruhigende Wirkung des Staubwischens entdeckt. Beim Gleiten des Lappens über die Arbeitsplatte, beim Strecken nach Kaffeeflecken unter dem Küchentisch oder nach Spinnweben unter der Decke, findet Kurt seine Mitte. Staubwischen ist für ihn das neue Yoga.
Jetzt aber zieht es den begeisterten Naturfotografen mal wieder in die freie Wildbahn hinterm Deich. Kurts eigentliches Metier ist schließlich die Tierfotografie. Mit der Kamera hat er Jagd gemacht auf Rotbauchunken, Sandregenpfeifer und Löffelenten. Gerade hat er von einem Ornithologen aus seiner Fotogruppe den heißen Tipp bekommen, dass in dieser Nacht ein riesiger Schwarm Goldregenpfeifer auf dem Weg nach Skandinavien Nordfriesland überfliegen soll. Kurt spricht seit Tagen von nichts anderem.
Oma Ahlbeck hat Bedenken. »Kurt, dat wird doch nix. Bei dem Wetter drehen die Dings … die Goldpfeifer doch gleich wieder bei und fliegen nach Afrika zurück.«
Doch dadurch hat Kurt sich von der nächtlichen Fotosafari nicht abbringen lassen. »Der Schnee, ein Sonnenaufgang und dann ein Schwarm mit Hunderten von Goldregenpfeifern, mit den Bildern gewinne ich jeden Fotowettbewerb.«
Schließlich hat sich Frau Ahlbeck breitschlagen lassen. Und dann hatte sie sich auch daran erinnert, dass sie auf einer nächtlichen Fotosafari mit ihrem Bekannten vor einigen Jahren auch schon mal die Entsorgung einer Toten beobachtet hatten. »Vielleicht haben wir ja wieder Glück.«
»Hertha, es war vor allem romantisch.« Kurschatten Kurt hatte ihr einen verliebten Blick zugeworfen.
»Dat stimmt, aber außerdem auch richtig spannend.«
Jetzt stehen die beiden mit dicker Wollmütze und in gefüttertem Anorak auf dem Deich im Flockentreiben und harren der Dinge. Kurt hat bereits seine Kamera gezückt. Oma Ahlbeck steht schnaufend neben ihm. Sie ist bei dem Gang durch den tiefen Schnee mächtig aus der Puste gekommen. Trotz der Schneeketten, die Kurt in der Schlütthörner Tankstelle auf die Schnelle hat aufziehen lassen, sind sie mit dem Auto nicht weit gekommen und mussten ein ganzes Stück zu Fuß laufen. In dem tiefen Schnee ist die korpulente Frau Ahlbeck mehrmals ausgerutscht.
»Kurt, wo willst du bloß mit mir hin?«, hatte sie eben noch entrüstet protestiert und war den Deich auf dem Hosenboden gleich wieder halb heruntergerutscht. Aber letztlich hatte die Rutschpartie ihre Abenteuerlust nicht bremsen können.
Vom Deich hat man einen weiten Blick über die flache verschneite Landschaft. Viel ist allerdings nicht zu sehen, nur von ganz Weitem das schwache Blinklicht der Baustelle, an der sie eben vorbeigefahren sind, und im Osten die Andeutung einer Morgendämmerung. Kurt horcht nach Geräuschen, die den Vogelschwarm ankündigen könnten. Vergeblich. Oma Ahlbeck haucht sich in die kalten Hände. Allmählich ist sie richtig durchgefroren.
»Kurt, dir friert noch deine ganze Kameraausrüstung ein.«
Und dann ist aus der Ferne auf einmal ein Geräusch zu hören, ein diffuses Rauschen, das schnell näherkommt. Zuerst glaubt Kurt an den Vogelschwarm. Aber das Geräusch kommt aus Norden. Die Goldregenpfeifer müssten aus Süden kommen. Dann meint Frau Ahlbeck die durch den Schnee gedämpften Fahrgeräusche eines Zuges zu erkennen. Die Bahnstrecke ist vielleicht hundert Meter entfernt.
»Dat sind keine Regenpfeifer«, stellt Oma Ahlbeck mit rollendem R fest. »Dat ist der Nord-Ostsee-Express … Aber dat kann eigentlich gar nich angehen …« Sie blickt erstaunt in die Schneelandschaft. »Is dat der Einundzwanzig-Uhr-fünfzig ab Niebüll?« Sie sieht auf ihre Armbanduhr. »Hat aber mächtig Verspätung.«
Im selben Moment leuchten die Scheinwerfer eines Zuges auf, der sich langsam durch das Schneetreiben schiebt. Er fährt nicht viel schneller als Schritttempo. Die Waggons haben auf dem Dach eine Schneehaube. Die meisten Abteile sind dunkel. Nur ein Fenster ist erleuchtet.
Aber was ist das? Frau Ahlbeck zeigt auf den vorbeischleichenden Zug. »Kurt! Dat sieht komisch aus!«, ruft sie.
Ihr Bekannter nimmt augenblicklich den Apparat mit dem Teleobjektiv zur Hand. Als Fotograf kann Kurt schnell reagieren. Er richtet das Objektiv auf das Zugfenster. »Das sieht wirklich seltsam aus. Zwei Hände an der Scheibe und ein Gesicht …«
»Zeig mal her, schnell!« Sie reißt ihm die Kamera förmlich aus den Händen. Im ersten Moment hat sie nur dunkle Schneelandschaft im Sucher. Aber dann hat sie das erleuchtete Fenster in der Dunkelheit gefunden.
»Wat passiert da denn?« Sie glaubt, sie sieht nicht richtig. Auf der beschlagenen Scheibe des Zugabteils sieht sie zwei auf das Fenster gedrückte Handflächen. Und ist das dazwischen ein Gesicht? Und ein roter Schal oder ein Tuch? Ist dahinter verschwommen noch eine andere Person zu sehen? In einem roten Mantel?
»Da wird gerade jemand erdrosselt! Dat kann doch nich sein!«
Einen Moment kann sie dem langsam vorbeigleitenden erleuchteten Abteil folgen. Dann sieht sie die Hände und auch das gegen das Glas gedrückte Gesicht an der Scheibe herunterrutschen. Das rote Tuch leuchtet noch einmal kurz auf. Dann verschwindet der Nord-Ostsee-Express mit den beiden Waggons hinter einer verschneiten Baumgruppe.
Oma Ahlbeck und ihr Kurschatten sehen dem Zug erschreckt, aber auch voller Faszination hinterher.
»Kurt, dat war ja schon wieder wie im Kino.«
Nach einer unbequemen Nacht auf den schmuddeligen Kunstsamtpolstern sind die Paris-Reisenden alle aufgewacht. Thies und Heike wischen auf der beschlagenen Scheibe ein Feld frei, um nach draußen zu sehen. Aber auch von außen sind die Fenster vom Schnee halb zugeweht. Es ist hell draußen, aber viel zu sehen ist nicht. Nur wirbelnde Flocken.
In den ganz frühen Morgenstunden hat es die rötliche Andeutung eines Sonnenaufgangs gegeben. Der Schneefall hatte für kurze Zeit etwas nachgelassen. Nachdem Lokführer und Zugbegleiter Dennis Wiese mit vereinten Kräften und einer viel zu kleinen Schaufel eine größere Schneewehe von den Gleisen geschaufelt hatten, war der Nord-Ostsee-Express ein paar Kilometer weitergefahren. Aber jetzt steckt er schon wieder fest und ist mittlerweile vollständig eingeschneit. Auf den Waggons türmt sich der Schnee. Die Fenster sind halb von Schnee zugeweht.
Einige Teilnehmer aus der kleinen Reisegesellschaft von Monsieur Picon haben trotz der widrigen Umstände ein bisschen schlafen können. Aber jetzt sind alle wach. Bounty und Onno von Rissen stehen auf dem Gang vor einem spaltweit geöffneten Fenster und rauchen. Der Dorfadlige wippt von einem Fuß auf den anderen. Bounty, der sich seit der Liaison mit Giselle von seinem dünnen Pferdeschwanz getrennt hat, wehen ein paar Schneeflocken in die verbliebenen spärlichen Haarstacheln.
»Is ordentlich Schnee runtergekommen«, stellt Thies Detlefsen fest, der jetzt ebenfalls auf dem Gang steht, während es seine Frau Heike Richtung Toilette zieht.
Huberta von Rissen lugt im gesteppten seidenen Morgenmantel aus ihrem Abteil.
»Echt geile Parisreise«, konstatiert Bounty und grinst müde.
»Wird hier denn gar kein Frühstück serviert?«, kräht die russische Gräfin Ignatowski pikiert, die offenbar im Nerzmantel genächtigt hat. »Wo ist überhaupt der Speisewagen? Und mein Fjodor will auch sein Frühstück.« Doch auf diese illustre Gesellschaft ist der Regionalzug nicht eingestellt.
»Speise … wagen?« Zugbegleiter Dennis Wiese begutachtet die alte Dame im Pelz wie ein seltenes Tier. »Wir haben hier nich mal ’n Bord-Bistro.«
»Monsieur, können wir nischt wenigstens eine café bekommen?« Jean-Pierre Picon läuft aufgeregt den Gang auf und ab. »Wir benötigen ja gar kein Bistro, nur eine café au lait und vielleischt eine Croissant, est-ce possible? Wäre das möglisch?«
»Nee, wo soll ich denn jetzt Kaffee herbekommen? Sie sehen ja selbst, wir sitzen hier im Schnee fest.« Der Schaffner schüttelt den Kopf. »Auf Ideen kommen die Leute.«
Den meisten ist tatsächlich nach einem Kaffee. Und einige haben noch ein anderes Bedürfnis. Polizistengattin Heike, Ehepaar Müller-Siemsen, Onno von Rissen und Giselle laufen unruhig den Gang auf und ab. Das einzige WC im Waggon ist seit Ewigkeiten besetzt und die Kabine im zweiten Wagen außer Betrieb.
»Ist da jemand auf der Toilette eingeschlafen?«, mosert Onno von Rissen, bei dem es jetzt wirklich drängt.
»Man hat fast den Eindruck.« Giselle lächelt leicht gequält. »Da lässt sich jemand wirklich Zeit.«
»Ja, dat scheint ’ne längere Sitzung zu sein«, bemerkt Polizistengattin Heike.
»Zustände sind das hier bei der Bahn«, bellt Herr von Rissen mit spitzem ST und kneift dabei die Oberschenkel zusammen.
»C’est urgent.« Monsieur Picon verzieht das Gesicht. »Es drängt.«
»Thies, mach doch wat!«, drängelt auch Heike, die ebenfalls mal müsste. »Kannst du nich … irgendwie Hilfe holen?«
»Heike, besetzte Klos fallen nich in meinen Zuständigkeitsbereich.« Thies hat heute Morgen nicht die allerbeste Laune.
»Oder tatsächlich lieber mal ’n paar Coffees to go aus der ›Hidden Kist‹ kommen lassen.« Bounty ist eher nach einem heißen Getränk.
»Bounty, ich bin hier nich der Zugbegleiter«, pflaumt Thies seinen Imbisskumpel an. »Und außerdem: Verrat mir mal, wie Antje aus ›De Hidde Kist‹ hier durch den Schnee anliefern soll?«
»Wer ist da überhaupt auf der Toilette?«, fragt sich Heike. Aber klopfen mag sie im Augenblick auch nicht.
»Wie lange ist das denn schon besetzt?«, fragt Giselle.