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Alpenpanorama, Liegewiese oder Holzplanken, Frühschwimmen oder die schnelle Abkühlung nach Feierabend: Der wahre Luxus der Schweiz ist ihr Wasserreichtum, und wo Wasser ist, da sind Badis. Sie sind nicht wegzudenken aus dem Leben der Schweizer*innen und sorgen jeden Sommer für Feriengefühle direkt vor der Haustür. Das Bundesamt für Kultur hat die Badis sogar auf die Liste des immateriellen Kulturerbes gesetzt. Es riecht nach Sonnencreme und Pommes, Kinder lachen, das Wasser spritzt. Dass Badis allerdings nicht immer Orte der sommerlichen Unbeschwertheit sind, zeigen Krimigrößen wie Christine Brand, Silvia Götschi, Gabriela Kasperski, Sandra Hughes, Philipp Gurt und Christof Gasser. Sie gehören zu den erfolgreichsten Autor*innen der Schweiz, ihre Bücher stehen regelmäßig ganz oben auf den Bestsellerlisten. In ihren sommerlichen Badi-Geschichten erzählen sie, dass unter der Wasseroberfläche manches schlummert, von dem wir lieber nichts gewusst hätten, und ein Feierabendbier in der Abendsonne mitunter kein gutes Ende nimmt …
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Mord in der Badi
Sommerliche Krimigeschichten aus der Schweiz
Herausgegeben von Miriam Kunz
atlantis
Für Ursula Zangger,
die seit vielen Jahren mit größtem Engagement
– und mit Blick auf den Zürichsee! –
Bücher verkauft
Pfarrer Zurbrügg hatte schon manche Leiche gesehen. Das brachte sein Beruf mit sich. Aber kaum einmal hatte es sich dabei um eine so schöne Leiche gehandelt wie in diesem Fall. Und noch gar nie war die Tote eine Frau, die er selber ermordet hatte.
Mit ernster Miene betrachtete der Pfarrer Julias Gesicht. Er liebte ihre kleine Nase, die sanft geschwungenen Lippen und natürlich ihre mandelförmigen Augen, die nun geschlossen waren, an deren tiefes Kastanienbraun er sich aber mit zärtlichen Gefühlen erinnerte. Friedlich lag sie da, als würde sie mal eben ein Nickerchen machen. Ihr roter Bikini verhüllte vielversprechend ihren wohlgeformten Busen und die geschmeidigen Kurven ihrer Hüften. Nur der Armeedolch, der tief zwischen ihren runden Brüsten in ihrem Herzen steckte, machte klar, dass ihr Schlaf nicht vorübergehend war. Wie das Kreuz auf einem Grab ragte er auf und verkündete ihren unwiderruflichen Tod. Möge sie in Frieden ruhen, ging es Zurbrügg durch den Kopf.
Er hatte sie bei einem öffentlichen Anlass kennengelernt. Die Gemeinde Meilen, am schönen Zürichsee gelegen, lud einmal im Jahr die neu zugezogenen Bewohner zu einer speziellen Rundfahrt mit der Fähre ein, die das Dorf mit dem gegenüberliegenden Ufer verband. Der Gemeindepräsident hielt auf der Fähre eine Ansprache, und auch Vertreter der Kirchgemeinden durften ein paar Worte an die neuen Mitbürger und Mitbürgerinnen richten. Der Anlass mündete in das Kirchgassfäscht, an dem sich die Vereine den neuen und alteingesessenen Einwohnern präsentierten. An sonnigen Tagen war, so schien es zumindest, das ganze Dorf in der Kirchgasse unterwegs und tauschte sich über alles Wichtige und Unwichtige aus.
Zurbrügg sah Julia am Stand einer Partei stehen und verlegen an einem Glas nippen. Offensichtlich wollte sie das Dorf kennenlernen, aber noch keiner Partei beitreten. Freundlich lächelnd ließ sie sich die Aktivitäten besagter Partei von einer Dame erläutern und schien dankbar und froh zu sein, als der Pfarrer, den sie schon von der Fähre kannte, sie ansprach. Unaufdringlich verwickelte er sie in ein Gespräch und lotste sie währenddessen zu einem Stand, an dem Vertreterinnen des Kiwanis Club Meilen Crêpes verkauften und Kaffee ausschenkten. Eine Stunde blieben sie dort an einem Tischchen stehen, und Zurbrügg fand heraus, was er wissen wollte. Sie war reformiert, alleinstehend und interessiert an kirchlichen Kontakten. Sie vereinbarten einen Termin für einen Hausbesuch, dem ersten folgte ein zweiter, und beim dritten Mal war klar, dass sie eine Affäre hatten. Julia war zwar erst fünfundzwanzig Jahre alt, aber der Altersunterschied spielte keine Rolle. Denn Zurbrügg war noch gut beieinander, wie man zu sagen pflegt. Immer häufiger fanden seine Hausbesuche in ihrer Dreizimmerwohnung mit Seeblick statt. Zurbrüggs Frau wunderte sich über das besondere Interesse, das ihr Mann dieser attraktiven Julia entgegenbrachte. Andererseits hatte ihr Mann ein besonderes Flair dafür, gerade junge Menschen für die Mitwirkung in der Kirche zu gewinnen. Also stellte sie keine misstrauischen Fragen. Sie wollte ihrem Mann glauben, wenn dieser den seelsorgerlichen Aspekt seiner Besuche bei Julia herausstrich. Pfarrer Zurbrügg genoss die Zeit mit Julia zweifellos. Es war wunderschön, in ihren Armen zu liegen, und schlicht herzerfrischend, in ihre fröhlichen Augen zu sehen. Vor allem aber freute sich Zurbrügg, dass Phase eins seines Experiments erfolgreich verlaufen war.
Es war ihm nicht leichtgefallen, Julia zu töten. Zurbrügg hatte sich schon einen Ruck geben müssen, als er den Dolch unter ihrem Rippenbogen direkt über ihrem Herzen angesetzt hatte. Es brauchte diesen kleinen, aber kräftigen Ruck, um die spitze Klinge durch ihre Haut in ihr Herz zu stoßen. Er hatte sich bemüht, es so schmerzlos und in gewisser Weise so zärtlich wie möglich zu machen. Liebevoll hatte er sich über sie gebeugt und ihr in die Augen geschaut. Dann hatte er sie zärtlich geküsst, und sie hatte hingebungsvoll die Augen geschlossen. Als sie die schmerzende Dolchspitze spürte, öffnete sie die Augen und runzelte irritiert die Stirn. Aber Zurbrügg drückte ihr seinen Kuss nur noch stärker auf die Lippen. Sie sollte nun auf immer schweigen. Und tatsächlich, langsam fielen ihre Augen wieder zu. Als alle Kraft aus ihrem Körper gewichen war, löste er seine Lippen von den ihren und richtete sich auf. Zurbrügg hatte Julia geliebt, und es reute ihn, dass er sie hatte töten müssen. Aber es war notwendig für sein Experiment.
Er zog seinen blauen Gummihandschuh aus, mit dem er den Dolch gehalten hatte, und schob ihn in die Tasche seiner Badehose. Dann setzte er sich auf seinem Badetuch aufrecht hin, winkelte die Beine leicht an und blickte über den Zürichsee. Es war eine ernste Sache, die da geschehen war, und die kommenden Tage und Wochen würden zeigen, ob sein Experiment gelingen würde oder nicht.
Derweil genossen die Badenden den herrlichen Sommertag. Die jungen Männer und Frauen sonnten sich, um möglichst schnell jene Bräune zu erlangen, die ihnen auf dem Beziehungsmarkt einen Vorteil bringen würde. Die kleineren Kinder rannten um die Wette oder sprangen vergnügt ins kühle Wasser des sauberen Sees, während die Eltern ihre wachenden Augen über ihre Schützlinge hielten. Sorglosigkeit schwebte über der Badi Meilen.
Der Pfarrer wandte seinen Kopf nach rechts und sah den kleinen Alexander dastehen, der sein Softeis zu einem guten Teil rund um seinen Mund verteilt hatte und den Pfarrer mit seinen großen unschuldigen Augen fixierte. Alexander war der Sohn des Bademeisters. Seinen Vater hatte Zurbrügg seinerzeit konfirmiert und Klein Alexander vor knapp sechs Jahren getauft. Als Roland, so hieß der Bademeister, sich in seine Sonja verliebt hatte, hatte sich Zurbrügg so richtig mit ihm gefreut. Roland war ein hervorragender Leiter in der kirchlichen Jugendarbeit gewesen. Aber er hatte immer darunter gelitten, dass alle seine Kollegen eine Freundin hatten, nur er nicht. Als dann Sonja in sein Leben trat, war der Himmel auf Erden ausgebrochen. Zurbrügg aber kannte seinen Roland, und eines Abends riet er ihm bei einem Bier, mit dem Heiraten und Kinderkriegen noch zu warten. Er solle unbedingt zuerst seine Ausbildung fertig machen. Sonja und er hätten später noch genug Zeit, eine Familie zu gründen. Roland jedoch glaubte dem, was ihm sein Pfarrer sagte, nicht. Er hatte Angst, dass das Glück sich schnell verflüchtigen würde, darum wollte er es festhalten. Kurz darauf kam Alexander auf die Welt. Seither war Roland gezwungen, seinen Lebensunterhalt mit schlecht bezahlten Jobs zu bestreiten. Und so hatte er die Stelle als Bademeister bekommen. Vorübergehend nur, bis der eigentliche Bademeister von einem Kuraufenthalt zurückkam.
Alexander starrte noch immer zum Pfarrer. Genau genommen blickte er an Zurbrügg vorbei auf die tote Julia.
»Es geht ihr nicht gut«, sagte Zurbrügg. »Könntest du bitte deinen Vater holen? Ich brauche seine Hilfe.« Das Wort »Hilfe« schien Alexander aus seiner Starre zu lösen. Unwillkürlich drehte er sich um und rannte zum Büro des Bademeisters. Kurz darauf erschien Roland bei Zurbrügg und der Leiche.
»Was ist geschehen?«, fragte er entsetzt mit Blick auf die schöne Frau, aus deren makellosem Körper ein Armeedolch ragte.
»Ich habe sie ermordet. Sie heißt Julia. Du solltest die Polizei verständigen.« Und als Roland zögerte, ergänzte Zurbrügg: »Ich bleibe so lange bei ihr.«
Als Erstes erschien der Dorfpolizist, Werner Meier, in der Badi. Ein Tötungsdelikt gehörte zwar nicht in seinen Aufgabenbereich. Aber wenn sich schon während seiner Arbeitszeit in seinem Dorf ein Verbrechen ereignete, dann wollte, nein musste er Präsenz zeigen.
»Roland hat gesagt, du hättest die Frau ermordet?«
Im Dorf kannte jeder jeden. Und so war Werner nicht nur mit dem Bademeister per Du, sondern auch mit dem Pfarrer. Zudem hatte Zurbrügg vor sieben Jahren seine Mutter beerdigt, die mit sechsundfünfzig Jahren an Krebs gestorben war. Der Vater hatte sich schon vor Jahren von seiner Frau getrennt und war in die USA ausgewandert. Die Mutter aber stammte aus einer alten Meilener Familie und vererbte ihrem einzigen Sohn ein kleines Häuschen mit viel Land in bester Lage. Zurbrügg hatte Werner in den Wochen und Monaten danach oft besucht. Werner, damals gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt, war mit den Formalitäten rund um die Erbschaft und den sich daraus ergebenden Steuern und Abgaben völlig überfordert. Daher hatte Zurbrügg ihm einen Treuhänder empfohlen, den er als sehr zuverlässig kennengelernt hatte. »Und vor allem darfst du das Grundstück auf keinen Fall verkaufen. Wenn du das selber überbaust, wirst du dein Leben lang eine stabile Einkommensquelle haben und für dein Alter ausgesorgt haben«, hatte Zurbrügg dem trauernden Sohn eingeschärft. Und Werner hatte ihm versprochen, sich wie empfohlen zu verhalten. Aber dann hatte er einen Freund getroffen, der ihm geraten hatte, das Grundstück zu verkaufen und das Geld in Aktien anzulegen. Diesem Freund hatte er mehr geglaubt als seinem Pfarrer. Er verkaufte das Haus, und zwei Jahre später war das angelegte Geld ebenso verschwunden wie der Freund. Seither lebte Werner in einer bescheidenen Dreizimmerwohnung.
Etwas hilflos stand der Dorfpolizist bei seinem Pfarrer, der neben einer toten Frau saß und sie dadurch auch vor den Blicken der Badegäste schützte. Noch ging das Badileben seinen ungestörten Gang. Und das war nicht nur Zurbrügg ganz recht.
»Stimmt denn, was Roland gesagt hat?«, wiederholte der Dorfpolizist seine Frage.
Zurbrügg nickte.
»Das glaub ich jetzt nicht. Das ist ja Wahnsinn!«, entfuhr es Werner. Dann aber besann er sich und meinte: »In dem Fall muss ich dich jetzt festnehmen.« Angestrengt dachte er nach, wie denn jetzt das Prozedere sei. Musste er Zurbrügg Handschellen anlegen? Aber nicht doch! Der Pfarrer rennt bestimmt nicht weg. Zuerst musste man die Tote zudecken. Das war nur schon eine Frage der Pietät. Er bat Zurbrügg aufzustehen, nahm dann dessen Badetuch und legte es über Julia. Dann winkte er Roland zu sich und bat ihn, den Glace-Wagen so hinzustellen, dass die Leiche vor den Blicken der anderen geschützt war. »Nur bis die Kantonspolizei da ist und sie weggebracht hat.« Verlegen wies er auf die Leiche, die wegen des Dolchs wie unter einem schlecht gespannten Zeltdach zu liegen schien.
Roland tat, worum er gebeten wurde.
»Du musst dir etwas anziehen«, meinte Werner, wieder an Zurbrügg gewandt. »Du kannst doch nicht in der Badehose auf den Polizeiposten gehen.«
»Ich habe meine Kleider in der Kabine.«
»Ich begleite dich.«
Und so begaben sich der Pfarrer und der Dorfpolizist, als hätten sie etwas zu besprechen, zu den Umkleidekabinen. Dort wartete Werner, während Zurbrügg hinein ging, um sich Hose und Hemd überzustreifen. Den blauen Gummihandschuh ließ er, ohne dass Werner es sehen konnte, im Abfalleimer verschwinden. Als Zurbrügg fertig war, trat er nach draußen und ging mit Werner zum Eingang, wo soeben die Kantonspolizei angefahren kam.
Mit Charles Weisstanner entstieg dem Patrouillenfahrzeug ein ausgesprochen attraktiver Mann. Sein Vater stammte aus Ghana und seine Mutter aus Uster. Charles war vielseitig begabt. Er beherrschte drei Instrumente und hatte das Gymnasium fast ausschließlich mit Bestnoten abgeschlossen. Seine Eltern waren zu Recht stolz auf ihren Jungen. Umso irritierter waren sie, als er ihnen eröffnet hatte, dass er zur Polizei gehen wollte. Daraufhin hatte die Mutter Zurbrügg kontaktiert. Sie war Mitglied der Kirchenpflege gewesen, als er seine ersten Sporen als Pfarrer in Uster abverdient hatte. Er hatte damals einen guten Draht zur Familie des aufgeweckten Knaben. Dieser Draht wurde im Falle der Berufswahl wieder aktiviert. In zwei langen Gesprächen erzählte ihm Charles schließlich, dass er in der Pubertät des Öfteren wegen seiner Hautfarbe angefeindet und in zwei Fällen sogar zusammengeschlagen worden sei. »Ich hatte keine Chance. Ich konnte mich nicht wehren!«, hatte er verzweifelt geklagt. Für Zurbrügg war damit klar, dass Charles nur zur Polizei wollte, damit er sich in Zukunft gegen solche rassistischen Rüpel wehren und sie im Idealfall hinter Gitter bringen konnte. Das war in Zurbrüggs Augen keine segensreiche Motivation, zumal Charles mit seinen Gaben sehr viel mehr Gutes hätte in die Welt bringen können. Aber Charles schenkte den Worten des Pfarrers keinen Glauben. Er ging zur Polizei, ohne dort wirklich glücklich zu werden.
»Hey Zurbrügg! Was machst du denn da?«, fragte Charles mit freudigem Erstaunen.
»Dahinten liegt die Tote«, erklärte Werner, der neben dem Pfarrer stand. »Er hat sie umgebracht.«
»Wer behauptet das?«, fragte Charles. Und an Zurbrügg gewandt: »Dass ich dich hier sehe! Wie geht es dir? Das muss ich unbedingt meinen Eltern erzählen. Die werden sich freuen, von dir zu hören!«
»Bestell ihnen meine Grüße. Ich hoffe, es geht ihnen gut«, entgegnete Zurbrügg. Dann ging Werner wieder dazwischen und meinte, Charles solle sich doch mal die Sache anschauen, was er auch tat.
Dann nahmen die Dinge ihren Lauf. Noch bevor die Badi geräumt werden konnte, erschien Martina Hochstrasser, die junge Journalistin vom Meilener Anzeiger. Schnell verschaffte sie sich einen Überblick und fragte Badegäste darüber aus, was sie gesehen oder gehört hätten. Zurbrügg durfte sie nicht interviewen. Der saß bereits im Polizeiauto. Dafür stand Werner, der Dorfpolizist, mit allgemein gehaltenen Formulierungen zur Verfügung. Es gehe um ein Tötungsdelikt an einer noch nicht identifizierten Person, erklärte er. Dringend tatverdächtig sei Pfarrer Zurbrügg, der zwecks Befragung nun aufs Revier abgeführt werde. Allerdings gelte selbstverständlich auch ihm gegenüber die Unschuldsvermutung. Für weitere Informationen solle sich Martina an den Informationsdienst der Kantonspolizei wenden.
Währenddessen war Charles mithilfe der hinzugekommenen Kollegen darum bemüht, die Badi zu räumen. Der Erkennungsdienst wurde aufgeboten, und Zurbrügg abgeführt. Charles persönlich fuhr ihn nach Zürich in die Zentrale der Kantonspolizei. Unterwegs plauderte er mit seinem Pfarrer. »Das glaub ich nicht, dass ich dich festnehmen musste. Wer hat denn behauptet, dass du der Mörder seist?«
»Na ja, das habe ich so dem Bademeister gesagt. Und der hat’s der Polizei gemeldet. Und dann ist Werner gekommen und hat mich festgenommen.«
»Den Werner kenn ich. Ist ein lieber Kerl. Aber bei Dorfpolizisten muss man aufpassen. Die lassen sich schnell von Gerüchten beeindrucken. Wir in Zürich haben mehr Erfahrung mit Kapitalverbrechen. Du musst aufpassen, dass du nicht in Teufels Küche kommst.«
Charles lachte unwillkürlich bei dieser Formulierung. »Das wäre mal was, der Pfarrer in Teufels Küche! Du würdest dem Teufel die Suppe höchstpersönlich versalzen.« Und ohne Atem zu holen fuhr er fort: »Wie gesagt, du musst aufpassen. Du brauchst einen guten Anwalt. Der wird dafür sorgen, dass du schnell wieder draußen bist. Darauf kannst du Gift nehmen! Kennst du Walter Krummenacher?«
Zurbrügg kannte Krummenacher gut. Der Inhaber von Krummenacher & Partner war ein alter Dienstkamerad. Sie hatten im Panzerbataillon 11 zusammen Dienst geleistet. Krummenacher war Chef des Stabes und hatte den Laden stets bestens im Griff. Viele Diensttage hatten sie zusammen auf dem Waffenplatz Bure verbracht und manches Bier zu später Stunde zusammen getrunken. Eines Abends dann, sie waren die Letzten, die nach einer dreitägigen Stabsübung und der obligaten Abschlussfeier noch im Du Jardin saßen, vertraute der Stabschef dem Armeeseelsorger an, dass er eine Affäre mit seiner Assistentin habe. »Ich sehe sie häufiger als meine Frau. Wir haben eine wunderbare Zeit. Aber ich will meine Familie nicht verlassen. Die Kinder sind zwar bald ausgeflogen, aber ich liebe meine Frau immer noch.«
»An Scheidung hast du offensichtlich schon gedacht, nicht wahr?«, fragte Zurbrügg.
»Natürlich! Immer wieder! Aber ich schiebe den Gedanken stets weit weg von mir. Das darf einfach nicht sein.«
»Hast du denn noch gute Tage mit deiner Frau?«
»Was heißt gute Tage? Wir haben die Familie zusammen aufgebaut. Und sie braucht mich.«
»Bist du sicher? Vielleicht meinst du das ja nur. Es könnte doch auch sein, dass sie ebenfalls glücklicher wäre, wenn ihr euch scheiden lasst.«
»Müsstest du mir die Scheidung nicht ausreden? Die Bibel verbietet doch Scheidung!«
»Die Bibel ist vor allem an der Wahrheit interessiert. Und du scheinst im Moment in allerlei Lügengebilde gefangen zu sein.«
Aber auch Krummenacher glaubte Zurbrügg nicht. Wenige Wochen nach dem militärischen Wiederholungskurs entließ er seine Assistentin und ging mit seiner Frau auf eine Weltreise. Als sie das nächste Mal gemeinsam Dienst leisteten, lächelte Krummenacher Zurbrügg stets demonstrativ an und erklärte ihm schon beim ersten Bier, dass er froh sei, den Schritt zurückgemacht zu haben. Aber Zurbrügg durchschaute Krummenachers verkrampftes Lächeln. Zudem war sein Dienstkamerad als Chef des Stabes nun plötzlich unwirsch und ungeduldig. Kleinste Versäumnisse machten ihn wütend. Die schlechte Laune übertrug sich auf die Offiziere. Es wurde immer schwieriger, Stabsübungen erfolgreich zu bestehen.
Dennoch war Krummenacher dankbar, im Armeeseelsorger einen offenen Zuhörer und ehrlichen Gesprächspartner gefunden zu haben. Bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Mordsache »Badi Meilen« riet er seinem Mandanten, die Aussage zu verweigern. »Du musst dich nicht dazu äußern. Die Anklage hat deine Schuld zu beweisen. Du läufst ja nur Gefahr, dich selbst zu belasten. Dazu zwingt dich das Gesetz nicht.« Und dann fügte er noch an: »Ist ja völlig absurd, dich mit diesem schweren Vorwurf zu belasten. Das ist reine Verschwendung von Steuergeldern!«
Zurbrügg schwieg.
Da keine Fluchtgefahr bestand, wurde er schon bald aus der Untersuchungshaft entlassen. Als er in der Küche auf seine Frau traf, wich sie seinem Begrüßungskuss aus.
»Was hast du getan?«
»Ich hatte eine Affäre mit Julia. Ich habe sie umgebracht.«
Mit großen, aber nicht ungläubigen Augen sah Evelyn Zurbrügg ihren Mann an. Sie wollte etwas sagen oder fragen. Aber dann trat der kleine Robert, ihr Jüngster, in die Tür und fragte: »Mama, wann gibt es Essen?«
»Du kannst deine Geschwister rufen. Wir essen jetzt«, antwortete sie und stellte Butter und Milch auf den Tisch.
Der Mord in der Badi war in Meilen natürlich Gesprächsthema Nummer eins. Kaum jemand kannte die Tote, aber alle kannten den verdienten Pfarrer Zurbrügg. Der Meilener Anzeiger brachte die Geschichte als Titelstory, und in den Ausgaben danach beschäftigten sich zahllose Leserbriefe mit dem Thema. Nur ein Bruchteil der Einsendungen konnte abgedruckt werden. Wenn eine Schreiberin auch nur zu erwägen wagte, dass man bei einem Menschen nie abschließend wissen könne, wozu er fähig sei und es deshalb zumindest denkbar sei, dass auch ein Pfarrer zu einer so schrecklichen Tat fähig sei, trafen in der nächsten Woche sogleich Dutzende Briefe von empörten Lesern ein, die es unglaublich fanden, dass man das Ansehen des geschätzten Pfarrers Zurbrügg derart in den Dreck ziehen konnte.
Auch im Pfarrhaus wurde fleißig die Zeitung gelesen.
»Es scheint niemand zu glauben, dass du Julia umgebracht hast.«
»Ja. Keiner«, antwortete Zurbrügg.
»Ich glaube dir. Und darum werde ich dich verlassen.«
Und so packte sie die drei Kinder in ihr Auto und fuhr davon. Zurbrügg sah noch, wie ihr Wagen in die Seestrasse einbog und schließlich seinen Blicken entschwand. Es schmerzte ihn sehr, dass dies geschah. Aber er musste es um des Experiments willen ertragen.
Als im Dorf bekannt wurde, dass die Frau des Pfarrers samt den Kindern aus dem Pfarrhaus ausgezogen sei, ergoss sich ein weiterer Schwall von Leserbriefen in die Redaktion des Meilener Anzeigers. Enttäuscht waren die Schreiberinnen und Schreiber, dass die Frau des Pfarrers ausgerechnet jetzt ihren Mann verlasse, da er doch besonders auf ihre Unterstützung angewiesen sei. Man konnte in Meilen nicht glauben, dass der Pfarrer in dieser schweren Krise allein gelassen wurde. Habe man sich nicht einst die Treue in guten wie in schlechten Zeiten versprochen?
Schließlich kam es zur Gerichtsverhandlung. Den Vorsitz hatte Othmar Staub, ein ebenso freundlicher wie rundlicher Mann, der seiner Pensionierung entgegenging und sich weit über die Fachkreise hinaus als strenger, aber menschenfreundlicher Richter einen Namen gemacht hatte. Zurbrügg und er waren beinahe Nachbarn und spielten seit Jahren einmal in der Woche zusammen bei den Senioren des FC Meilen Fußball. Othmar hatte zwar zunehmend Mühe, seinen dicken Bauch dem Ball hinterherzutragen, aber die meisten Mitspieler hatten mit fortschreitendem Alter mit demselben Problem zu kämpfen, sodass der Fußballspaß immer gemächlicher und der anschließende Trinkspaß immer ausgedehnter wurde.