Mörder mögen keine Matjes - Krischan Koch - E-Book

Mörder mögen keine Matjes E-Book

Krischan Koch

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Fredenbüll goes Reeperbahn Der Herbststurm schwemmt einen Container mit Elektroschrott an Fredenbülls Küste: Zwischen Kabelsalat und ausrangierten Bildschirmen taucht ein Toter auf! Alles weist auf Mord hin – und darauf, dass die Tat in Hamburg begangen wurde. Für seinen siebten Fall muss Dorfpolizist Thies Detlefsen also in die Elbmetropole. Und die gesamte Belegschaft aus der ›Hidde Kist‹, inklusive Imbisshund Susi, kommt natürlich mit. Gemeinsam ermittelt es sich einfach besser auf dem gefährlichen Großstadtpflaster. Fredenbüll goes Reeperbahn ... wenn das mal gut geht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 269

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Krischan Koch

Mörder mögen keine Matjes

Ein Küsten-Krimi

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Für Vops und Wothi und unseren alten Freund Simon Callaghan

 

 

 

 

»Ich bin ein ruppiger Bursche und berüchtigt dafür, dass ich Wiener Hörnchen mit bloßen Händen zerdrücke.«

Philip Marlowe in ›Tote schlafen fest‹

1

»So gründliche Arbeit sieht man selten.« Phil Krotke erkennt sich im Spiegel seines schäbigen kleinen Bürobadezimmers kaum wieder. Er zieht mit der Rasierklinge eine Schneise durch den Schaum auf seinem lädierten Kinn. Sein linkes Auge ist geschwollen. Auf dem Hämatom schillern die ersten zarten Regenbogentöne. Die Augen sind blutunterlaufen. In der Nase kratzt verschorftes Blut. Das Kinn schmerzt bei jeder kleinsten Berührung mit der Rasierklinge. Unter seiner Schädeldecke spürt Krotke ein rhythmisches Hämmern, als wäre dort eine Party im Gange. Er betastet seinen Hinterkopf. Eine Weile wird die Feier wohl noch weitergehen.

Phil Krotke hat eine böse Nacht hinter sich. Die beiden Schläger im Freihafen hatten ihn ordentlich in die Mangel genommen. Der kurzsichtige kleine Dünne mit den dicken Brillengläsern war vor ihm umhergetänzelt und hatte mit dem Springmesser hektisch vor seiner Nase gefuchtelt. Phil war so abgelenkt gewesen, dass er die fleischige Faust des Dicken gar nicht hatte kommen sehen. Dann hatte er sich nur auf dessen platte, schiefe Nase und sein Ohr, das wie ein Mettbrötchen aussah, konzentriert. Erst hatte der Typ ihm einen Dampfhammerhaken in den Magen gerammt und dann sein Gesicht mit ein paar satten Geraden verarztet. Phil konnte nur noch zusehen, wie die regenglänzende, gepflasterte Straße hochklappte und ihm entgegenprallte.

Dabei hatte er nur wissen wollen, wo sein Partner Ray Kröger abgeblieben war. Kröger ist seit drei Tagen verschwunden, und Phil hat keinen blassen Schimmer, wohin. Als er Ray das letzte Mal zu Gesicht bekommen hat, war ihm nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen. Er trug wie immer seinen kobaltblauen zerbeulten billigen Anzug und hatte eine nicht angezündete Filterlose zwischen seinen Lippen hängen. Er hatte telefoniert, seine Achtunddreißiger in seinem Jackett verstaut, ihm kurz zugenickt und sich durch die Glastür ihrer gemeinsamen Detektei Richtung Treppenhaus verdrückt. Ray hatte nicht den Eindruck gemacht, dass er auf dem Sprung in den Urlaub war, und Gepäck hatte er auch nicht dabeigehabt. Wo ist sein Partner bloß abgeblieben?

Der Regen schwimmt an den Fenstern herunter. Durch die schlierigen Scheiben sind die Kräne am Hafen und die »Tanzenden Türme« am Ende der Reeperbahn kaum zu erkennen. In den Schlieren scheinen sie tatsächlich zu tanzen. Krotke massiert sich die Schläfen. Dann streicht er sich mit dem Handrücken vorsichtig über das scharfrasierte, lädierte Kinn. Das Rasierwasser brennt auf der Haut, und die Party unter seiner Schädeldecke ist immer noch in vollem Gange.

Er hängt mit einem heißen Kaffee in dem Drehsessel hinter seinem Schreibtisch, auf dem ein halbgegessenes Matjesbrötchen den herumliegenden Fotos und Notizen eines ungelösten Falles Gesellschaft leistet. Draußen herrscht die Sintflut. Phil pustet in seinen Kaffeebecher, als er im Treppenhaus auf einmal das Klackern von Pumps hört. In der Milchglasscheibe zum Flur mit dem spiegelverkehrten Schriftzug »Kröger & Krotke – Private Ermittlungen« erscheint die Silhouette einer Frau. Sie ist groß, hat lange gewellte Haare, und ihre Figur ist nicht zu verachten. Dafür hat Krotke einen Blick.

2

Vor zwei Tagen war ein erster schwerer Herbststurm über Nordfriesland hinweggefegt. Heute ist noch einmal ein milder Tag. Über den Wiesen am Deich liegt ein leichter Nebelschleier. In der anderen Richtung, über dem Watt, tropft die rote Sonne jetzt fast violett in die See. Die in den Rippelmarken stehenden Pfützen blinken wie rote Lichterketten. An der Badestelle Neutönninger Siel ist die Saison längst vorbei. Der Ausguck des weißen DLRG-Häuschens ist verrammelt. Die meisten Strandkörbe sind bereits für den Winter eingelagert. Tadje und ihr Freund Lasse haben es sich in einem letzten zurückgebliebenen Strandkorb gemütlich gemacht. Ihre beiden Fahrräder liegen daneben im Gras. Tadje ist zu ihrem Freund unter den großen Parka gekrochen. Die beiden küssen sich schon eine ganze Weile ausgiebig. Aber Tadje ist nicht recht bei der Sache.

Die Tochter des Fredenbüller Polizeiobermeisters und ihre Zwillingsschwester Telje machen im nächsten Sommer an der Husumer Theodor-Storm-Schule ihr Abitur. Während Telje Medizin studieren will und in den Herbstferien gerade ein Praktikum in einem Hamburger Krankenhaus macht, jobbt Tadje in Lara Brodersens Bioladen und hat noch keine Ahnung, was sie nach der Schule weiter vorhat. Der Bereich Wellness würde sie interessieren oder auch eine Ausbildung zur Tourismuskauffrau. »Und dann ins Reisebüro nach Husum oder in die Touri-Info nach Sankt Peter, oder was?« Telje hält nicht viel von den beruflichen Ambitionen ihrer Schwester. Und ihr Freund Lasse hat zu dem Thema gar keine Meinung und deshalb auch keine Lust, darüber zu reden. Lasse hat sich offenbar vorgenommen, den Nachmittag mit Küssen zu verbringen. Und Tadje küsst gedankenverloren einfach weiter mit. Doch dann löst sie sich plötzlich von ihrem Freund und deutet aufgeregt zum Wasser.

»Ey, Tadje, was is los?« Lasse ist vollkommen verdattert.

Seine Freundin ist unter dem Parka hervorgekrochen.

»Guck mal, was is das denn?«

»Hallo?! Vielleicht küssen wir uns gerade?« Lasse ist beleidigt.

»Is da ’n Schiff gekentert?« Tadje starrt fasziniert auf das Watt, wo keine hundert Meter vom Ufer entfernt ein großer Gegenstand im ablaufenden Wasser dümpelt. Es ist kein Schiff, sondern eine riesige Kiste aus Stahl, die in der Ebbe innerhalb kürzester Zeit immer deutlicher sichtbar wird.

»Das is ’n Container.« Auch Lasses Interesse ist jetzt geweckt. »Mega.«

Der letzte Rest einer romantischen Stimmung ist dahin. Der rotviolette Ball ist endgültig am Horizont abgetaucht. Im letzten Gegenlicht des rötlichen Himmels ist der Container jetzt immer deutlicher zu erkennen. Die großen Buchstaben einer Aufschrift ragen halb aus den müden Wellen heraus. Telje meint »HAN« und »MIN« entziffern zu können. Die beiden Jugendlichen rätseln über den Inhalt des großen Stahlbehälters, der irgendwo auf der Nordsee von Bord eines Frachters gefallen sein muss.

»Han Min? Das ist irgendwelche Plastikscheiße aus China«, überlegt Lasse. »Spielzeug … oder technische Geräte.«

»Technische Geräte? Vielleicht ’n ganzer Container voll mit dem neuen iPhone X?« Tadje ist gleich Feuer und Flamme. »Das wird doch auch alles in China produziert.«

»Ich weiß nicht.« Lasse ist skeptisch. »Ich tippe eher auf Plüschhasen, vollgepumpt mit irgendwelchen Giftstoffen.«

»Ach, hör doch auf! Dat wissen wir doch nich.«

»Doch! Hast du das nicht gelesen? Voll übel! Von dem Zeug werden die Kinder echt krank.« Aber auch Lasse möchte jetzt wissen, was sich in dem Container befindet.

Das Wasser ist inzwischen so weit abgeebbt, dass die große angerostete grüne Stahlkiste auf dem Watt steht. Es wird von Minute zu Minute dunkler. Nur im Westen glimmt noch ein letztes dunkelviolettes Schimmern. Über der See liegt jetzt ebenfalls ein Nebelschleier, der auch den Container umhüllt. Es regnet nicht, aber die Luft ist feucht.

Die beiden Jugendlichen ziehen sich ihre Schuhe aus und laufen durch das feuchte Watt.

»Voll nass«, jammert Lasse und zieht sich seine Wollmütze tief in die Stirn, als würde das etwas gegen kalte, nasse Füße nützen. Zuerst stapfen sie mutig auf den Container zu, dann nähern sie sich ihm mit vorsichtigen Schritten. Jetzt ist die übergroße Schrift deutlich zu erkennen. Lasse lässt den Lichtkegel seiner Handytaschenlampe über die großen Buchstaben HANMINSHIPPING streifen. Beide gehen prüfend einmal um die Stahlkiste herum. An den meterhohen Klappen an der schmalen Seite tropft das Wasser herunter. Tadje, die jetzt ebenfalls ihr Handy gezückt hat, leuchtet auf ein Schild, auf dem »Hamburg« und darunter »Blankenhorn Shipping« zu lesen ist. Der Name kommt den beiden irgendwie bekannt vor. An dem großen Riegel, mit dem die beiden Türen verschlossen sind, können sie kein Schloss entdecken und auch keine Plombe oder etwas Ähnliches. Die Lichtkegel der beiden Taschenlampen tanzen über die gewellten, giftgrünen, mit Roststellen übersäten Stahlwände.

Tadje rüttelt an dem Riegel. »Das ist nicht verschlossen … aber das Ding klemmt.«

»Meinst du, dass wir das echt öffnen sollen?«

»Mann, Lasse, ich glaub’s nicht. Sei nich so’n Schisser!« Tadje zerrt weiter an dem Schloss herum. »Wir brauchen irgendetwas, womit wir das Ding aufhebeln können.« Die Polizistentochter ist voll bei der Sache.

So stapft Lasse noch einmal schnell zu seinem Fahrrad und holt sein dürftiges Werkzeug aus seiner Fahrradtasche. Der billige Schraubenzieher verbiegt gleich. Aber die Metallschieber lösen sich trotzdem. Mit vereinten Kräften können die beiden die Verriegelung lösen. Als sie an einem der Türflügel ziehen, kommt ihnen aus dem Inneren des Containers sofort ein Schwall Wasser entgegen. Beide haben augenblicklich durchnässte Hosenbeine. Aber dadurch lassen sie sich jetzt nicht mehr aufhalten. Lasse öffnet die Tür einen Spalt, während Tadje ihm mit ihrem Handy leuchtet. Die dicke Stahlklappe lässt sich nur schwer bewegen. Lasse zerrt mit beiden Händen daran. Als er sie ein weiteres Stück geöffnet hat, werden mit einem letzten Wasserschwall Blech und Plastikteile aus dem Inneren herausgespült. Verrostete Elektroteile, Glassplitter eines alten Fernsehers, mehrere zerdrückte VHS-Cassetten, eine Fernbedienung und zum Schluss zwei alte Mobiltelefone.

»Nach dem iPhone X sieht das nich aus«, bemerkt Lasse knapp. »Eher nach ein paar hundert Jahre alten Nokia-Knochen.« Beide leuchten das Innere des Containers ab.

Die Herkunft der meisten Teile lässt sich nicht mehr bestimmen. Es sind nur noch Kabel, Blechplatten mit Transistoren, das zerrupfte Innenleben ausrangierter Geräte, vorsintflutliche Videorecorder, zerschlagene Bildschirme und mehrere Kanister mit Flüssigkeiten, die durch die Dreckspuren auf dem Kunststoff verdächtig giftgelb hindurchschimmern. Die Lichtkegel der beiden Handylampen huschen über das Chaos aus Elektroschrott.

Plötzlich springt aus einer ausgedienten Musiktruhe, die ganz oben auf dem Müllberg unter der Containerdecke klemmt, etwas hervor. Ein seltsames Lebewesen, das Tadje und Lasse einen Riesenschreck einjagt. Sie können es in der Dunkelheit zuerst gar nicht erkennen. Aber dann hat Tadje das Tier im Lichtkegel ihrer Taschenlampe. Es ist ein kleiner Affe, der im kaltweißen Gegenlicht erstarrt stehen bleibt. Er sieht die beiden aus großen gelben Augen halb entsetzt, halb erstaunt und irgendwie interessiert an. Der Affe stößt ein kurzes »Uh-uh« aus. Dann springt er auf allen vieren von dem Schrottberg herunter und hüpft an den beiden Jugendlichen vorbei aufs Watt. Er wundert sich über den feuchten Sand. Irritiert schüttelt er eine Muschel von seiner Hand. Erst will er in den Container zurück. Aber dann überlegt er es sich anders und springt an Tadje hoch. Er klammert sich an sie, dann hat sie ihn gleich auf dem Arm. Für den kleinen Affen scheint das ganz selbstverständlich. Er blickt sie aus dem grauhaarigen Gesicht mit der weißen Zeichnung über den Augen freundlich an.

»Voll süß«, findet Tadje, nachdem sie den ersten Schreck überwunden hat. Zaghaft berührt sie den braunen Streifen längerer Haare mitten auf dem Kopf.

»Dieselbe Frisur wie Ove«, bemerkt Lasse.

»Du hast recht. Echt wie Oves Teppichfliese.« Die Ähnlichkeit mit der Frisur ihres Mitschülers, die wie der Rest einer Teppichfliese auf seinem ansonsten kahlrasierten Kopf klebt, ist unübersehbar.

Lasse nimmt Tadje das Handy mit der Taschenlampe ab. Während Tadje mit dem Affen auf dem Arm dasteht, leuchtet er noch einmal alles ab. Und dann bleibt der Lichtkegel auf einmal an einem menschlichen Körperteil hängen. Es sieht aus wie eine Hand und ein Arm in einem durchnässten blauen Jackett. Mitten aus zerschredderten Festplatten und einem wüsten Kabelcocktail starren zwei aufgerissene Augen aus einem bläulich fahlen Gesicht heraus.

3

»Die OP ist gut verlaufen!«, verkündet Antje euphorisch. »Piet muss natürlich noch liegen, aber er konnte schon wieder telefonieren.«

»Dat is ’n gutes Zeichen«, findet auch Klaas und lässt sich von Antje zur Feier des Tages ein Pils über den Glastresen reichen. »Denn Knie is nich so ganz ohne … wat man so hört.«

Die Stammbesetzung der »Hidden Kist« ist erleichtert. Die Operation in der Hamburger Endoklinik hatte Piet Paulsen auf die lange Bank geschoben. Doch zuletzt hatte er den täglichen Weg von seiner Wohnung zum Imbiss nur unter größten Schmerzen und mit einer Gehhilfe zurücklegen können. Paulsens Abwesenheit hinterlässt eine schmerzliche Lücke an Stehtisch Zwei. Postbote Klaas und Polizeiobermeister Thies Detlefsen wissen mit dem vielen Platz gar nichts anzufangen. Auch Antjes Grill läuft nur noch auf halber Flamme. Mit traurigem Blick stopft sie Putenfleischwürfel in eine Plastikdose. Bounty sieht ihr interessiert zu.

»Ja, muss ich einfrieren«, erklärt die Imbisswirtin. »Putenschaschlik ›Hawaii‹ hab ich praktisch nur für Piet auf der Karte. Wird ansonsten wenig genommen. Aber er is ja hoffentlich bald wieder da.« Mit einem Seufzer schiebt Antje die Tupperdose ins Gefrierfach. Imbisshündin Susi, auch kein großer Schaschlik-Fan, gibt ein missbilligendes Knurren von sich.

»Wir wollen mal hoffen, dat er wieder der Alte wird.« Klaas macht sich offenbar doch Sorgen.

»Freunde, nu mal ganz relaxt.« Althippie Bounty hebt beschwichtigend die Hände. »Es ist eine Knie-Op. Und selbst wenn er mit dem neuen Knie nich ganz so gut unterwegs ist, das Sitzen auf dem Barhocker im Imbiss wird er ja wohl noch hinkriegen.«

»Ja, Piet is ’n Fighter«, davon ist Thies überzeugt. »Aber vielleicht gefällt ihm dat in Hamburg so gut, dass er dableiben will. Telje ist ja auch grad wegen Praktikum unten.«

»Hamburg is doch keine Stadt für Piet«, wendet Antje ein.

»Nee, Piet is Fredenbüller durch und durch.« Klaas kennt seinen Imbissfreund. »Vor allem is er kein Stadtmensch … als ehemaliger Landmaschinenvertreter.«

»Damit er sich in der großen Stadt nich so einsam vorkommt, besuchen wir ihn morgen im Krankenhaus. Ich mach ihm ’n schönes Lunchpaket.« Antje sorgt sich immer, dass ihre Stammgäste außerhalb der »Hidden Kist« nichts Richtiges zu essen bekommen.

»Wir brauchen nur noch ’n fahrbaren Untersatz«, bemerkt Bounty. Antje und Klaas sehen zuerst Thies und dann den Schimmelreiter auffordernd an, der auf einem Barhocker vor dem neuen Spielautomaten sitzt und das Gerät mit Geldmünzen füttert.

Den Flipper, den Piet im letzten Jahr bei einer Pokerrunde im Hinterzimmer des Bredstedter Spielsalons gewonnen hatte, hat Antje nach zähem Ringen aus dem Imbiss verbannt und gegen einen »Action Star Explosion Compact« eingetauscht. Seitdem bringt der Schimmelreiter die Walzen mit den Dollarzeichen, Ananas und Kleeblättern zum Rotieren, begleitet von einem durchdringenden »Dadadüdadadüdüdüda«. Sehr viel seltener klimpern dann auch mal ein paar vereinzelte Zehn-Cent-Stücke in die dafür vorgesehene Münzmulde.

»Im Grunde genommen rentiert sich dat nicht«, hatte Paulsen gleich zu bedenken gegeben. »Da lohnt sich Pokern schon eher.« Aber da war der »Explosion« schon an der Wand zwischen Doppelkühlschrank und Garderobenhaken montiert.

»Alles klar, ich fahr euch!« Für eine Spritztour in seinem tiefergelegten Mustang ist Schimmelreiter Hauke Schröder immer zu haben.

Antje will den Imbiss für einen Tag schließen. Nur Thies weiß noch nicht recht, ob er überhaupt mitfahren kann. Der Fredenbüller Polizeiobermeister ist schließlich immer im Dienst. Aktuell macht er sich Hoffnungen auf einen neuen Fall. Vor der Küste von Kampen und St. Peter-Ording sind zwei Container angespült worden, einer mit Salzwiesenlamm, Lübecker Marzipan und Labskaus in Dosen und ein weiterer mit Elektroschrott. Thies findet das irgendwie verdächtig. Vielleicht sollte er doch besser vor Ort bleiben.

Bei der Planung des morgigen Ausflugs nach Hamburg ist es spät geworden. Antje belegt gerade noch einen Croque »Störtebeker« mit Hering und Krabben. Die Kühltasche mit ein paar Bieren ist bereits fertig gepackt. Die Imbissrunde ist gerade im Aufbruch, als Tadje und ihr Freund Lasse in »De Hidde Kist« stürmen. Tadje hat den kleinen Affen auf dem Arm.

»Echt, Papa, wieso hast du dein Handy wieder nich an?! Akku leer, oder was?« Tadje ist vollkommen außer Atem, und Lasse, der Blasse aus ihrer Klasse, ist um die Nase herum mal wieder kalkweiß mit einem Stich ins Grünliche. Der Affe lässt seinen Blick interessiert über Glastresen, Fritteusen und das gesamte Interieur und die Gäste des kleinen Imbisses schweifen.

»Wat ist dat denn?«, staunt Thies. Den anderen hat es ganz die Sprache verschlagen. Antje, Bounty, Klaas, der Schimmelreiter und auch Schäfermischling Susi starren den Affen ungläubig an. Das Tier blickt aus seinen wachen gelben Augen erwartungsvoll zwischen Stehtisch Eins und Zwei hin und her. Dann springt es Tadje unverhofft vom Arm, schwingt sich behände über den Glastresen und stürzt sich gierig auf den Croque »Störtebeker«. Er schnappt sich das große Fischbrötchen und bringt sich mit seinem Imbiss auf dem Spielautomaten, dem »Action Star Explosion«, in Sicherheit.

»Wo kommt der denn her?«, will Bounty wissen.

»Haben wir hier neuerdings ’n Urwald, oder wat?«, fragt sich der Schimmelreiter.

»Neeee!« Tadje schüttelt den Kopf. »Badestelle Neutönninger Siel.«

4

Phil Krotke wusste gar nicht, dass die Fahrt von Sankt Pauli zum Falkensteiner Ufer eine halbe Weltreise ist. Auftraggeber aus Blankenese hat er eher selten. Und diese vornehme Familie Steenwoldt ist eigentlich auch gar nicht sein Kunde. Sie hatten seinen Partner Ray Kröger beauftragt. Worum es dabei wirklich geht, weiß Krotke immer noch nicht. Die junge Vivian Steenwoldt hatte sich am Vortag bei dem Besuch in seinem Büro reichlich nebulös ausgedrückt. Und dann hatte sie ein Kuvert mit zwanzig druckfrischen gelben Zweihunderteuroscheinen aus ihrer Handtasche gezaubert. Ihre Schwester habe sich wieder eingefunden. Für sie sei der Auftrag erledigt und die ganze Sache abgeschlossen.

Phil kann die Scheine verdammt gut gebrauchen. Aber er weiß nicht recht, was er von der ganzen Sache halten soll. Er war gestern auch nicht gut in Form gewesen, und dann hatte die großgewachsene Lady in ihrem perfekt sitzenden Kostüm ihm zusätzlich die Sinne geraubt. Als die Frau mit den hohen Wangenknochen, dem blassen Teint und dem leicht asiatischen Einschlag ihm rauchend am Schreibtisch gegenübersaß, war alles nur noch an ihm vorbeigerauscht. Eigentlich wollte sie Ray sprechen, und dann hatte sie vage etwas von ihrer Schwester und von Drogen angedeutet. Ray habe möglicherweise noch Unterlagen und Fotos, die sie jetzt zurückhaben wollte. Phil war gestern nicht in der Verfassung gewesen, sich näher damit zu beschäftigen. Doch dass Ray heute immer noch nicht aufgetaucht ist, gibt ihm allmählich zu denken.

Viel schneller als Schritttempo kann er kaum fahren. Der Regen trommelt mit schweren Tropfen auf das Autodach seines alten Ford Capri. Phil hängt an der Kiste mit der mintgrünen Metalliclackierung und der Zweikommadreilitermaschine.

Auf der Elbchaussee sieht es aus, als würde gerade die Welt untergehen. Immer wieder kommen ihm Scheinwerfer entgegen. Die Autos dahinter sind kaum zu erkennen. Das spritzende Wasser unter den Kotflügeln beim Durchfahren der Pfützen ist lauter als das Motorengeräusch. In Teufelsbrück steht das Wasser mehr als eine Hand breit auf dem Asphalt. Auch von oben schüttet es unaufhörlich. Es kommt ihm vor, als würde er durch ein Aquarium fahren. Die Scheibenwischer des Fords klatschen wie ein müdes Publikum. Gegen die Regenmassen haben sie keine Chance. Für einen Sekundenbruchteil sind immer mal wieder die Lichter oder eine über die Straße hetzende Gestalt mit Regenschirm schemenhaft zu erkennen, dann verschwimmt alles sofort wieder in diffusen Schlieren.

Nach einer halben Ewigkeit biegt Krotke in das Falkensteiner Ufer ein. Hier kommt ihm kein einziges Auto mehr entgegen. Es ist erst Nachmittag, aber die Dämmerung stülpt sich bereits über die Stadt. Die Lichter der Straßenlaternen spiegeln sich auf dem regennassen Pflaster. Die Gegend ist wie ausgestorben. Für einen Moment bleibt Krotke im Wagen sitzen. Dann fischt er sich ein Regencape von der Rückbank des Capris und läuft über den von riesigen Rhododendren gesäumten Kiesweg zur Villa der Steenwoldts. Im Vorüberlaufen sieht er in einer erleuchteten Garage den Chauffeur mit einem überdimensionierten Lappen an einem silbernen Bentley herumwischen, der neben einem italienischen Sportwagen und einer Mercedes-Limousine neueren Datums parkt. Neben der Garage leuchtet ein Gewächshaus mit einem Kuppeldach durch die Dämmerung. Krotke meint, hinter den beschlagenen Scheiben ein paar Vögel und einen Affen zwischen den tropischen Pflanzen herumturnen zu sehen. Davor leuchten kurz mehrere Koikarpfen orangefarben aus einem Teich, über den eine Regendusche mit dicken Tropfen platschend hinwegfegt. Phil sieht das nur aus dem Augenwinkel. Er hat es eilig, schnell ins Trockene zu kommen.

Auf sein Läuten hin öffnet ein Mann, der wie ein Butler aussieht und vermutlich auch einer ist. Krotke kommt sich vor wie in einem Detektivfilm aus den Neunzehnhundertvierzigerjahren. Er ist ja auch Detektiv, aber die Vierzigerjahre sind ein Weilchen her. Der Mann bittet ihn in eine Halle, die über zwei Stockwerke der Villa reicht. In ihrer Mitte schwebt ein überdimensionierter Kronleuchter. Die geschwungene Marmortreppe, die an einem schmiedeeisernen Jugendstilgeländer ins Obergeschoss führt, ist mit einem schon recht mitgenommenen roten Läufer ausgelegt. An den holzvertäfelten Wänden hängen Ölporträts von Männern mit Nickelbrillen und Monokeln, die Ahnengalerie der Familie Steenwoldt, nimmt Krotke an.

»Sie möchten zu Frau Vivian Steenwoldt, vermute ich. Wen darf ich melden?«, fragt der Butler in altmodischem Hamburgisch.

»Das vermuten Sie ganz richtig.« Phil überreicht ihm seine Visitenkarte.

»Private Ermittlungen«, liest der Typ in der gestreiften Weste laut vor. Er platziert Phil, während er ihn bei Vivian Steenwoldt anmeldet, auf einem durchgesessenen Samtsofa. Von hier hat Krotke eine Glasmalerei auf einem hohen Fenster, ebenfalls im Jugendstil, im Blick. Sie zeigt einen Jüngling in Lendenschurz, der seiner Freundin mit graziler Geste offenbar aus einem Teich heraushelfen möchte, in dem fünf weitere Mädchen baden. Die Ladys tragen lediglich ihr wallendes Haar. Auf Badebekleidung hat die Damenriege verzichtet. Eigentlich müsste man dem jungen Mann etwas zur Hand gehen, überlegt Krotke, denn allein scheint der Junge mit den Mädchen nicht recht weiterzukommen.

Mitten in diese Überlegungen stolpert, statt der eleganten Vivian Steenwoldt von gestern, ein junges Mädchen von der Galerie die Treppe herunter. Sie trägt zerrissene Vintage-Jeans und ein weites weißes, nicht besonders zugeknöpftes Herrenoberhemd. An ihrem Nacken lugt ein Tattoo mit japanischen oder chinesischen Schriftzeichen heraus.

»Nanu, wen haben wir denn da?«, flötet sie und wirft die blondierten Haare in den Nacken, sodass sie im Licht des Kronleuchters gleißen.

»Ich warte auf Ihre …« Weiter kommt Phil, der sich aus dem Samt erhoben hat, gar nicht, da torkelt ihm das Mädchen auch schon direkt in die Arme. Damit sie nicht auch noch bei der Badegesellschaft im Jugendstilfenster landet, fängt Krotke sie lieber auf.

»Hoppla, Sie kommen ja gleich zur Sache.« Sie hängt sofort an seinen Schultern. Phil lässt sie wieder aus seinem Arm. Einen besonders sicheren Stand hat sie allerdings nicht. Dass sie außer Butterkeksen zum Fünfuhrtee noch etwas anderes genascht hat, sieht er auf den ersten Blick. Sie hält sich an ihm fest.

»Sie sind nett«, zirpt sie lallend. »Ein richtig netter Junge …«

Krotke sieht tatsächlich immer noch recht gut aus mit seinem markanten Kinn, den kurz geschnittenen Haaren und dem teuren Jackett, das er sich vor Urzeiten nach einem lukrativen Auftrag mal geleistet hat. Inzwischen ist das Sakko wie auch sein Besitzer deutlich in die Jahre gekommen. Aber Phils abgetragener Charme hat immer noch eine gewisse Wirkung auf die Damenwelt. Dass er laufend seinen berühmten Kollegen Philip Marlowe zitiert, finden sie schrullig charmant. Manche halten ihn für einen dieser Typen, die beim Küssen die Zigarette nicht aus dem Mund nehmen. Aber das scheint einigen Ladys sogar zu gefallen.

»Richtig süß«, zwitschert das Mädchen. »Vielleicht ein bisschen klein geraten.«

»Das nächste Mal komme ich auf Stelzen und mit einem Tennisschläger unterm Arm.«

Sie kichert. »Haben Sie eine Zigarette für mich?«

Krotke schüttelt eine filterlose Chesterfield aus der Schachtel. »Dürfen Sie denn überhaupt schon rauchen?«

»Wenn Sie es meiner großen Schwester nicht verraten.«

Der Detektiv bemerkt zuerst gar nicht, dass plötzlich ein Affe am Geländer aus dem ersten Stock herunterturnt. Er stürzt sich auf die Zigarettenpackung, reißt Phil die Schachtel aus der Hand und pest die Treppe wieder hinauf.

»Hier sind scheinbar alle knapp mit Zigaretten«, knurrt Krotke und zupft sich am Ohrläppchen.

»Mister Wong!«, quiekt das Mädchen schrill. »Gib das sofort wieder her!« Der Affe stößt ein kurzes »Uhh-uhh« aus. Er nimmt eine Zigarette, die aus der Packung herausguckt, zerbröselt sie zwischen den Fingern, dann wirft er die Schachtel von der Galerie haarscharf an dem Kronleuchter vorbei nach unten.

»Gewöhnt er es sich gerade ab?« Der Detektiv sammelt seine Chesterfield wieder ein. Das Mädchen in den Vintage-Jeans sieht ihn an. Eben hat sie noch durch ihn hindurchgesehen. Jetzt begutachtet sie prüfend sein in allen Farben schillerndes Veilchen.

»Sind Sie Boxer?«

»Wie kommen Sie denn darauf?« Krotke grinst müde, gibt ihr Feuer und zündet sich selbst eine an. »Aber ich muss Sie enttäuschen, so schnell geh ich vor Ihnen nicht auf die Bretter.«

»Wie süß«, zwitschert sie. »Sie sehen wirklich nett aus. Ohne das blaue Auge wären Sie richtig ansehnlich.«

»Da müssen Sie mich erst mal in Badehose sehen.« Er linst zu dem Badenden im Fenster hinüber und nimmt einen tiefen Zug.

In dem Moment kommt der Butler in die Halle zurück. »Frau Steenwoldt erwartet Sie.« Er verzieht keine Miene. Wortlos reicht er Phil einen Aschenbecher, in dem er seine Zigarette ausdrücken kann. »Wenn Sie mir folgen mögen.«

Das Mädchen torkelt hinter ihnen her, und auch der Affe ist wieder zur Stelle.

»Der scheint ja zur Familie zu gehören«, bemerkt der Detektiv.

»Nein, der hat seine eigene Familie.« Der Butler rümpft kaum sichtbar die Nase. »Die Steenwoldts besitzen vier Javaneraffen … das heißt, zurzeit sind es nur drei.«

»Die kleine Mai-Li ist weggelaufen«, lallt das Mädchen mit trauriger Stimme.

»Und Mister Wong, Sie haben zum Salon keinen Zutritt.« Der strenge Diener verzieht keine Miene.

5

Der Butler führt Krotke in einen großzügigen Raum mit einem spektakulären Blick auf die Elbe. Hinter der zum Fluss abfallenden, parkähnlichen Gartenanlage, die von der aufkommenden Dunkelheit verschluckt wird, schiebt sich gerade ein beleuchteter Containerriese, begleitet von zwei Schleppern, durchs Bild. Der Raum ist mit dicken asiatischen Teppichen, mit Stilmöbeln und allerlei asiatischen Kunstgegenständen eingerichtet. Es duftet penetrant nach Orchideen, die in einer chinesischen Vase auf einem Beistelltisch stehen. An einer Wand hängt ein historischer Gobelin mit zwei asiatischen Edelmännern in langen Gewändern. Auf einem alten chinesischen Schrank droht eine kleinere Elefantenherde aus Ebenholz einen Samurai aus Porzellan über den Haufen zu rennen. In dem hohen Raum schwebt der nächste Kronleuchter. Die Stühle mit den roten Sitzpolstern und der fernöstlichen Ornamentik in der filigranen Rückenlehne sehen nach teuren Antiquitäten aus. Aber wirklich beurteilen kann Krotke das nicht. Er sammelt keine Antiquitäten, abgesehen von den alten Rechnungen, die sich auf seinem Schreibtisch stapeln.

»Wie ich sehe, haben Sie sich bereits mit meiner Schwester Carmen angefreundet.« Vivian Steenwoldt trägt heute statt Kostüm eine Hausjacke aus Samt mit asiatischen Stickereien und einem gesteppten Inlay.

»Ihre Schwester? Ja, wir haben uns schon kennengelernt.« Phil blickt zwischen den beiden hin und her. Auch heute Nachmittag, im Licht des Kronleuchters, ist Vivian Steenwoldt einen Blick wert. Sie ist auch zu Hause sorgfältig geschminkt, die gewellten, strähnig blondierten Haare sehen aus wie frisch frisiert, und sie duftet, wie der Taj Mahal im Mondlicht aussieht. An ihrer rechten Hand stecken gleich mehrere Karat.

Sie sieht anders aus als die Frauen, mit denen Phil sonst zu tun hat. Aber sie sieht umwerfend aus, findet er. Die Schwestern, die aparte Blankeneser Kaufmannstochter und die deutlich jüngere durchgeknallte Göre auf Kokain, Crack oder sonst was, könnten unterschiedlicher kaum sein. Aber bei dem asiatischen Einschlag mit den hohen Wangenknochen und den leicht schrägstehenden Augen ist die Ähnlichkeit unübersehbar. Und beide haben für eine Asiatin ungewöhnlich blonde Haare.

Carmen pustet ihm eine Lunge voll Rauch ins Gesicht. »Ist er nicht süß?«, lallt sie kichernd.

»Carmen, lässt du mich mit Herrn … ähhh … Krotke mal allein.« Ihr Ton ist bestimmt.

»Vivian möchte Sie ganz für sich haben. Wieder wichtige Geschäfte, oder was?« Sie wirft ihrer Schwester einen beleidigten Blick zu und schwirrt aus dem Raum.

Vivian bietet ihm einen Platz auf einem der altenglischen Stilsessel an. »Gibt es etwas Neues, Herr Krotke? Haben Sie etwas von Ihrem Partner gehört? Wohl nicht, sonst würde vermutlich Herr Kröger hier sitzen, oder?«

»Hat er sich bei Ihnen gemeldet?« Krotke kommt gleich zur Sache. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« Phil streicht sich mit der Innenseite des Daumens über seine geschwollene Unterlippe.

»Das ist eine Weile her. Aber wir haben vor ein paar Tagen telefoniert. Er behauptete, er habe neue Erkenntnisse.« Vivian schlägt die langen Beine übereinander. »Dann ist er zu unserem Treffen nicht erschienen.« Sie hält kurz inne. »Und wenig später musste er auch gar nicht mehr erscheinen. Sein Auftrag hatte sich erledigt.«

»Womit hatten Sie ihn denn beauftragt? Ich war wohl gestern nicht so ganz aufnahmefähig.« Aber sobald er der attraktiven Reederstochter gegenübersitzt, hat Krotke schon wieder Probleme, sich zu konzentrieren. »Sie sagten, die Geschichte hat etwas mit Ihrer Schwester zu tun …?«

»Ja, mein Vater und ich hatten Ihren Partner beauftragt. Meine Schwester war verschollen …« Sie macht eine Pause. »Sie ist da ganz offenbar in die falschen Kreise geraten.«

»Die falschen Kreise. Soso.« Krotke versucht ein müdes Grinsen. Er fingert im Jackett nach seinen Chesterfield. »Darf man hier rauchen?«

Sie reicht ihm wortlos einen Aschenbecher aus Jade. Er zündet sich eine Filterlose an. »So ganz verstehe ich das immer noch nicht.«

Ihr Blick gibt ihm zu verstehen, dass er wohl auch nicht so ganz zu den richtigen Kreisen gehört. Sie windet sich. »Wissen Sie … es geht auch um … Drogen.«

»Der Zusammenhang ist nicht zu übersehen«, stellt Phil fest. »Aber Kröger und ich, wir sind keine Drogentherapeuten, wir sind Privatdetektive.«

»Wie gesagt, meine Schwester hat sich wieder eingefunden und …« Die schöne Vivian ist inzwischen noch etwas blasser geworden.

»… und hat immer noch ein Drogenproblem«, brummt der Detektiv. »Hat sie sich mit Drogen vielleicht selbst ein paar Euros dazuverdient, weil Papa mit dem Taschengeld so knauserig ist?« Könnte Vivian das mit den falschen Kreisen gemeint haben?

»Wie Sie ganz richtig sagen, das ist nicht Ihr Metier.« Vivian sieht Phil an, dass der sich schon wieder kaum konzentrieren kann. Dann wird sie sehr geschäftsmäßig. »Ihr Partner hatte den Auftrag, sie wieder aufzutreiben. Das ist ihm, wie Sie sich eben überzeugen konnten, gelungen.«

»Oder ist die Kleine in den zerrissenen Jeans von selbst wieder aufgetaucht?«, fragt Krotke dazwischen.

Vivian hebt die Augenbrauen. »Das restliche Honorar plus Spesen haben Sie gestern von mir erhalten. Über die Höhe können Sie sich nicht beklagen, oder?« Sie verzieht ihre roten Lippen zu einem süffisanten Lächeln. »Für mich ist der Fall erledigt.«

Krotke nimmt einen Zug aus seiner Chesterfield und zupft an seinem Ohrläppchen. »Für mich fängt der Fall gerade erst an. Ihre Schwester mag ja wieder da sein, dafür ist mein Partner jetzt von der Bildfläche verschwunden.«

6

Nachdem Tadje und Lasse aufgeregt in die »Hidde Kist« gestürmt sind und von ihrem Fund an der Badestelle Neutönninger Siel berichtet haben, schreitet Thies sofort zur Tat. Zusammen mit seiner Tochter und ihrem Freund fährt er zu dem Fundort des Toten. Klaas, Bounty und Imbisshund Susi, die bei der Ermittlungsarbeit schon oft wertvolle Dienste geleistet hat, sind mit von der Partie. Antje und Hauke Schröder haben in der »Hidden Kist« derweil ein Auge auf den kleinen Affen, der es sich zusammen mit dem Schimmelreiter vor dem »Explosion Compact« gemütlich gemacht hat. Hauke füttert den Spielautomaten mit ein paar Zwanzigcentstücken. Die Walzen rotieren kaum, schon drückt der kleine Affe in Windeseile hintereinander die leuchtenden Tasten des Gerätes. Prompt bleiben nebeneinander drei Ananas, drei Palmen und immer wieder drei Bananen stehen, worauf eine wahre Münzflut aus dem Gerät herausrasselt. Der Affe gibt ein begeistertes »Uh-uh-uh-uh« von sich. Der Schimmelreiter bringt nur ein knappes »Scheiße, is dat geil« heraus. »Wenn du so weitermachst, haben wir den Explosion heute Abend noch leer geräumt.«

Die anderen sind mittlerweile in Neutönninger Siel eingetroffen. Der kleine Ort liegt wie ausgestorben da. Er besteht ohnehin nur aus der Badestelle mit der DLRG-Bude, einem Schleusenhaus und dem Ausflugslokal »Café Wattblick«. Auch in dem Lokal ist heute Nacht alles dunkel. Im Augenblick wirft der Mond ein letztes fahles Licht über das Watt, das jetzt wie eine Mondlandschaft aussieht. Vom Süden kommt Wind mit ein paar Regentropfen auf. Wolken schieben sich allmählich über den ganzen Himmel. Thies hat sich seine Öljacke übergezogen und zieht sich die Polizeimütze tief in die Stirn.

Der Container steht gespenstisch mitten im Wattenmeer. Das Wasser hat sich so weit zurückgezogen, dass demnächst Niedrigwasser sein müsste. Thies und die anderen laufen mit Taschenlampen zu dem Container. Der Tote liegt unverändert zwischen dem Elektroschrott. Der kobaltblaue Ärmel seines Anzuges leuchtet im Schein des Lichtkegels von Thies’ Taschenlampe. Die toten Augen starren aus einem aufgedunsenen kalkweißen Gesicht ins Leere. Die Haare kleben nass an der Stirn. Im Gesicht und am ganzen Kopf sind undeutlich Verletzungen, Hämatome und im Wasser aufgeweichte Schnitte und Platzwunden zu erkennen. Der Rest des Körpers liegt verborgen unter einem Berg von Elektroschrott.

Thies, Klaas, Tadje, Lasse, Bounty und Susi stehen konsterniert vor dem Container. Lasse tendiert unter seiner Wollmütze schon wieder verdächtig ins Grünliche. Kurz verschlägt es allen die Sprache.

Der Fredenbüller Polizeiobermeister findet sie als Erster wieder. »Han Min? Dat liegt irgendwo in China, oder?« Die anderen zucken die Schultern.

»Komisch, wat hat er zwischen den ganzen technischen Geräten zu suchen?«, fragt sich der Postbote.

»Wahnsinn«, entfährt es Bounty. »Echt der Wahnsinn, was der Spätkapitalismus alles an Schrott produziert.«

»Ja, Schrottplatz auf See«, konstatiert Klaas.

Susi schnüffelt an verrosteten Transistoren und einem in seine Einzelteile zerlegten Röhrenfernseher. Sie bleibt kurz in einem Knäuel aus Kabeln hängen, schnauft verärgert und wendet sich dann angeekelt ab.