Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das Verbrechersyndikat "Dreigestirn" macht der Polizei in der Großstadt schwer zu schaffen. Oberkommissarin Sahra Strelemann muss trotz großer Trauer, ihre Schwester und ihr Schwager waren bei einem Unfall ums Leben gekommen, die Leitung der Soko "Dreigestirn" übernehmen. Der vorherige Leiter diese Soko wurde tot aufgefunden und dessen Onkel, auch bei der Polizei tätig, war spurlos verschwunden! In dieser schwierigen Situation bekommt Sahra Unterstützung von Jasira Schmitz-Mbele, einer Kommissarin vom LKA. Doch die steht auch, ohne dass sie es weiß, auf der Todesliste des Syndikats!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 194
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Alle Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist rein zufällig.
Dieses Buch wurde geschrieben, gedruckt, ausgeliefert und bezahlt ohne staatlich-lippische Begabtenförderung!!
Diesen vierundzwanzigsten August sollte Sebastian Hagebaum sich in einem Kalender besonders kennzeichnen, dann das Blatt vorsichtig herausreißen und einrahmen. Denn dieser Tag sollte sein weiteres Leben für immer maßgeblich beeinflussen.
Sebastian war vierzehn Jahre alt und ging in die siebte Klasse der Realschule von Familienstadt. Er war so etwas wie der Außenseiter in dieser Klasse. Der Junge hatte auf der rechten Seite seines Gesichtes eine große Narbe quer über die Wange. Zusätzlich zog er das rechte Bein etwas nach.
Wie war das geschehen? Sebastian war elf Jahre alt, als das Haus seiner Eltern nach einer wirklich heftigen Explosion zusammenstürzte. Im Haus lebten auch die Großeltern von Sebastian. Die Oma hatte Schwierigkeiten mit dem Gasherd und verursachte die Explosion.
Was genau geschah, konnte nie geklärt werden. Von seiner ganzen Familie überlebte nur Sebastian schwer verletzt. Da weiter keine Verwandten zu finden waren, musste der kleine Junge in ein Heim. Dieses wurde von einem Orden betrieben. Seine Betreuerin war eine Nonne, Schwester Agnes. Im Laufe der Zeit wurde sie für ihn so etwas wie eine Ersatzoma. Sebastian war ein guter Schüler, aber er hatte keine richtigen Freunde. Da der Junge sein rechtes Bein nicht so belasten konnte, wie die gesunden Kinder, war es für ihn nicht möglich mit ihnen herumzutoben oder Fahrrad zu fahren. Auch die meisten Sportstunden konnte er nicht mitmachen, nur schwimmen machte ihm viel Spaß. Dadurch war Sebastian immer wieder dem Spott und dem Schabernack seiner Mitschüler ausgesetzt. Dazu kam, dass jeder wusste, dass er in einem Heim lebte. Kinder können grausam sein!
An diesem 24. August kam SIE in sein Leben – Anika Strelemann. Die Eltern des Mädchens waren beide Ärzte und hatten hier in Familienstadt eine neue große Gemeinschaftspraxis eröffnet. Sie hatten schon immer davon geträumt ein Haus und eine Praxis an der Nordsee zu besitzen. Ein Bekannter konnte ihnen dann dabei helfen, ihren Traum zu erfüllen.
Anika kam dadurch in die Klasse 7a der Realschule. Der einzige freie Platz war neben Sebastian Hagebaum. Neben ihm wollte keiner sitzen – aus den bekannten Gründen.
Anika wurde in kürzester Zeit zum Star dieser Klasse. Dabei hätten sie und Sebastian Geschwister sein können. Die beiden hatten die gleiche helle blonde Haarfarbe und blaue Augen. Anika trug ihre Haare offen und lang und wenn man in ihre Gesichter sah, war wirklich eine Ähnlichkeit zu erkennen. Zumindest wenn Sebastian seine heile Gesichtshälfte zeigte.
Anika behandelte ihren direkten Tischnachbarn nicht schlecht, aber schon nach wenigen Tagen redete sie nur noch mit Sebastian, wenn es unbedingt sein musste.
Sie war eben bildhübsch und stand deshalb im Focus der meisten Jungs aus ihrer Klasse. Anika genoss das und fühlte sich offensichtlich sehr wohl darin, im Mittelpunkt zu stehen. Sie war auch erst vierzehn Jahre alt, aber das Mädchen wusste genau was sie wollte und wie sie das ausnutzen konnte! Anika wirkte dabei aber nicht überheblich. Im Gegenteil, denn sie versuchte mit allen möglichst gut auszukommen und auch bei den Lehrern durch ihre ansprechenden Leistungen nicht negativ aufzufallen. Was ihr auch ohne Mühe gelang.
Sebastian fühlte sich zu Anika hingezogen. Auch wenn sie ihn in den Pausen nicht beachtete, hatte er einen großen Vorteil gegenüber den anderen Jungs - Anika saß direkt neben ihm!
Sebastian hatte Mühe sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Jeder ihrer Blicke, jedes Wort und jede zufällige Berührung lösten in dem Jungen etwas aus, was er sich anfangs nicht erklären konnte. Besonders die Berührungen elektrisierten ihn. Sebastian musste sich zusammenreißen diese nicht absichtlich herbeizuführen. Der Junge war verliebt! Doch wie sollte er damit umgehen?
Anika spukte ständig in seinem Kopf herum. Sebastian wollte mit ihr teilen – Schokolade, Kuchen und andere Süßigkeiten. Das Mädchen lehnte alles ab, aber das war ihm egal. Hauptsache Anika redete mit ihm und sah ihm in die Augen. Trotz ihrer Ablehnung machte ihn das glücklich!
Das klappte dann auch lange Zeit ohne große Probleme, aber irgendwann brauchte Sebastian jemanden zum Reden, jemanden dem er sich anvertrauen konnte. Das konnte nur Schwester Agnes sein. Ob aber eine Nonne in weltlichen Liebesdingen die richtige Ratgeberin war?
Es war kurz vor Weihnachten, als Sebastian sich Agnes anvertraute. Die beiden saßen beim Abendbrot. Der Junge genoss gerade den Luxus momentan mit der Nonne alleine in dem kleinen Heim zu wohnen. Es war sowieso nur Platz für vier Kinder bzw. Jugendliche. Sebastian fand es auf der einen Seite nicht schlecht, aber so war ihm leider auch die ganze Aufmerksamkeit von Agnes sicher – was schon etwas nervig sein konnte.
Doch Sebastian war im Innersten froh, dass Jugendamt und Kirche für ihn sorgten. Er selber hatte bei der Explosion seines Elternhauses ja alles verloren. Geerbt hatte er auch nichts, da seine ganze Familie ihr Vermögen in das Haus gesteckt hatte und dieses trotzdem noch mit hohen Schulden belastet war. Das Jugendamt musste alles für ihn regeln.
„Agnes, kann ich dich mal etwas fragen?“ Die Angesprochene bestrich gerade eine Scheibe Brot mit Butter und sah ihn leicht erstaunt an.
„Du kannst mich jederzeit alles Fragen, das weißt du doch!“ Sebastian biss jetzt von seiner schon belegten Scheibe Brot ab und kaute überlegend vor sich hin.
„Woran merkt man eigentlich, dass man einen Menschen gern mag – oder sogar liebt?“ Sebastian fragte das sehr zögerlich und schüchtern.
Agnes war inzwischen damit beschäftigt ihr Brot mit zwei Scheiben Käse zu belegen. Der Junge wartete geduldig auf eine Antwort. Agnes antwortete selten spontan bei einem schwierigen Thema, denn sie wollte nichts Unüberlegtes sagen und diese Frage war schwierig zu beantworten.
„Du merkst es daran, wenn du einen besonderen Menschen triffst, von dem du dir wünschst, dass er für immer bleibt. Aber natürlich gehört auch Herzklopfen dazu und das berühmte Kribbeln im Bauch. Oder das Gefühl der Sehnsucht, wenn dieser Mensch nicht bei dir ist. Damit beginnt eine lange Reise, aber das ist dann erst der Anfang!“
„Du meinst also auch, dass Anika für mich etwas Besonderes ist, weil ich immer an sie denken muss? Weil mein Herz klopft und die Welt still zu stehen scheint, wenn sie in meiner Nähe ist? Obwohl sie meine kleinen Geschenke und meine Hilfe stets abgelehnt hat? Obwohl sie nur mit mir spricht, wenn es sich nicht vermeiden lässt?“
Agnes musste lächeln. „Das ist der Anfang dieser Reise, kleiner Träumer. Zugegeben, am Anfang erscheint alles so, als würde es nie aufhören, als würde der Zug immer weiterfahren. Aber wenn der erste Tunnel kommt und es dunkel wird, dann kann man den anderen plötzlich nicht mehr sehen. Dann spürt man ihn noch – vielleicht aber auch nicht!“
Die Verwirrung bei Sebastian nahm von Wort zu Wort zu. Er hatte noch keine Ahnung von der Fahrtstrecke des Lebens und dachte, dass sie immer geradeaus durch Felder, Wiesen und ständigem Sonnenschein führen würde.
Die Nonne versuchte ganz angestrengt die richtigen Worte zu finden, denn das wollte sie sicher – die richtigen Worte finden, um Sebastian zu helfen. Der Junge war ihr nämlich sehr ans Herz gewachsen! „Wie soll ich dir das nur genauer erklären?“ Agnes vergaß zu essen, stand auf und streichelte Sebastian einmal über den Kopf. Sie lehnte sich an die Tischkante.
„Jemanden mögen beginnt mit einer großen Sehnsucht. Du denkst, die Welt ist ein großer Konzertsaal und du hörst immer deine Lieblingsmusik. Wenn der letzte Ton erklungen ist, hoffst du auf eine Zugabe.“
Agnes hielt inne, denn sie konnte deutlich sehen wie es in Sebastian arbeitete. „Jemanden mögen hängt nicht davon ab, was der andere tut – oder eben nicht. In deinem Fall ist es Anikas Ablehnung deiner Aufmerksamkeiten! Wenn es dir trotzdem so geht wie du eben beschrieben hast, dann ist sie wirklich etwas Besonderes für dich!“
„Also, wenn sie mich nicht mag, kann ich sie auch nicht mögen!“ dachte Sebastian. „Ich muss Anika vergessen, sie wird nie zu mir gehören!“
Große Gedanken für einen doch ziemlich überforderten 14jährigen Jungen. Er konnte noch nicht unterscheiden, ob er Anika einfach nur mochte, oder ob es wirklich tiefere Gefühle waren. Das war schon für viele Erwachsene zu schwer!
Schwester Agnes wusste nicht, ob ihm ihre Antwort wirklich weitergeholfen hatte. Sie würde auf jeden Fall morgen im Kloster nebenan für ihn beten! Etwas überfordert und verwirrt strich sich der Junge nun die Banknachbarin aus seinen Gedanken. Sie gehörte nicht zu ihm. Und damit sparte er sich weitere Fragen für später auf. Kurz danach ging Schwester Agnes. Sebastian war damals, wie gesagt, gerade erst vierzehn Jahre alt.
Wenige Wochen nach ihrem fünfzehnten Geburtstag war Anika mit ihren Eltern, Sören und Marie, bei Oma Hannah zu Besuch. Die drei saßen dort an der langen Kaffeetafel und wunderten sich, dass der Kuchenberg auf dem großen Tisch im Wohnzimmer von Hannah scheinbar nicht weniger wurde. Sören und Marie, 37 und 38 Jahre alt, waren freundliche und aufmerksame Eltern, deren ganzer Stolz ihre hübsche fünfzehnjährige Tochter war. Wenn man wissen wollte woher Anika ihr Aussehen hatte, brauchte man nur Marie anzusehen!
Hannah, die Gastgeberin und Mutter von Marie, hatte Geburtstag und wurde heute 64 Jahre alt. Sie war schon so lange Witwe, dass sich ihr einziges Enkelkind Anika nicht mehr an ihren Großvater erinnern konnte.
An dem großen Tisch saßen insgesamt zehn Personen. Hannahs Familie, auch wenn man weit entfernte Verwandte dazu rechnete, bestand aus ganz wenigen Personen. Heute waren nur diese drei Strelemanns vertreten. Maries jüngere Schwester Sahra war Polizistin und musste leider arbeiten. Sören hatte keine Geschwister und seine Eltern waren vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.
Die anderen Personen an der Kaffeetafel waren Freunde und Nachbarn von Hannah. Anika machte es nichts aus, die Jüngste von allen zu sein. Sie wurde von den anderen aber auch als Erwachsene behandelt. Karl-Heinz, ein Nachbar von Hannah, gab gerade zwei seiner berühmten oder auch gefürchteten Witze zum Besten. Sogar Anika gab sich Mühe die Witze nicht zu vergessen.
„Auf einem großen Ball der vornehmen Gesellschaft tanzt ein Paar miteinander. Nach einem Blick in die tieferen Regionen ihres Tanzpartners, sagt sie zu ihm: "Mein Herr ihr Geschäft steht offen!" Er: "Es ist mir peinlich hinunterzuschauen. Können Sie mir sagen, ob der Geschäftsführer auch herausschaut?" Sie (nach einem prüfenden Blick): "Nein - nur die beiden Prokuristen..."
Noch bevor das Gelächter für diesen ersten Witz ganz verklungen war, folgte schon der Zweite.
„Eine Oma steigt im Kaufhaus im Erdgeschoss in den Aufzug. Im ersten Stock steigt eine total aufgedonnerte junge Frau ein und zieht eine riesen Parfümwolke hinter sich her. Sie schaut herablassend auf die Oma und meint: "Chanel No. 5 -- 50 ml 100 Euro!" Im zweiten Stock steigt eine noch mehr aufgedonnerte junge Frau ein und zieht leider eine noch größere Parfümwolke hinter sich her und meint noch herablassender: "Cartier 50 ml -- 250 Euro!" Im vierten Stock will die Oma aussteigen, sie lässt eine wirklich einzigartige Duftwolke hinter sich und sagt ganz cool beim Aussteigen: "Rosenkohl von Aldi 200 g -- 99 Cent“!
Das aufbrausende Gelächter wollte kein Ende nehmen. Oma Hannah kam danach auf Anika zu.
„Du bist doch bestimmt noch nicht mit dem Kuchen fertig! Greif zu und nimm dir noch ein Stück von der Mokka-Sahne Torte. So sportlich wie du bist, kannst du noch etwas vertragen!“
Hannahs Mokka-Sahne Torte war eine berühmte Spezialität. Überhaupt waren ihre Kuchenbuffets schon legendär. Anika musste lachen und wehrte mit gespieltem Entsetzen ab.
„Nein, nein Oma! Wenn ich noch ein Stück Torte esse, dann platze ich! Soviel Kuchen wie ich heute in mich hineingestopft habe, esse ich sonst in einem Monat!“
Das war die absolute Wahrheit. Anika war eine durchtrainierte Sportlerin. Sie spielte im Verein und achtete natürlich auf ihre Ernährung, aber wenn man bei Hannah zu Kaffee und Kuchen eingeladen war, sollte man vorher nichts gegessen haben.
„Nana, jetzt übertreibst du aber!“ erwiderte Anikas Oma schmunzelnd, bevor sie ihrer Enkelin einen dicken Schmatzer auf die Wange gab. Die beiden verstanden sich wirklich bestens. Dann ging Hannah weiter zum nächsten Gast und versuchte den zu überreden noch ein Stück Kuchen zu essen.
Sören und Marie hatten diese Szene lächelnd beobachtet. Auf einmal griff Sören in die rechte Hosentasche und nahm sein Handy heraus. Er sah kurz darauf und wandte sich dann an Marie und Anika.
„Ich habe eine Unwetterwarnung auf mein Handy bekommen. Es soll Sturm mit über 100km/h geben und örtlich auch Starkregen. Wir sollten uns verabschieden und losfahren, damit wir zu Hause sind bevor der Schlamassel dann richtig losgeht.“
Seine Frau und seine Tochter waren einverstanden. Frühzeitig zu fahren war sicher vernünftig, denn der Heimweg würde eine Stunde dauern. Marie übernahm es, ihrer Mutter die schlechte Nachricht zu überbringen.
„Mama, wir müssen uns verabschieden! Sören hat eine Unwetterwarnung erhalten und wir wollen jetzt fahren, damit wir da nicht hineingeraten!“ Hannah war natürlich enttäuscht, aber sie konnte diese Entscheidung verstehen.
„Das ist natürlich sehr schade, aber ich verstehe euch. Ihr habt ja den weitesten Weg und müsst dann vorsichtig fahren.“ Hannah musste schmunzeln. „Damit ihr aber unterwegs nicht verhungert, packe ich euch auch noch etwas Kuchen ein!“
Das Geburtstagskind verabschiedete sich von ihrer Familie mit Umarmungen und zwei Teller voller Kuchen.
„Damit mein Engel nicht verhungert“, meinte sie dazu augenzwinkernd. Damit war natürlich Anika gemeint, die mit ihren langen blonden und fast goldenen Haaren beinahe wie ein Engel aussah. Das ihre Enkeltochter bald wirklich einen Engel, einen Schutzengel brauchen würde, konnte Hannah nicht ahnen.
Als die drei losfuhren, winkte sie ihnen hinterher, bis ihr der Arm weh tat. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihr breit. Als Hannah sich umdrehte und zu den anderen Gästen ins Haus ging, hatte sie Tränen in den Augen.
Sören, Marie und Anika fuhren gut gelaunt und mit vollen Bäuchen nach Hause. Anika saß hinten, hatte Kopfhörer in den Ohren und hörte Musik über ihr Smartphone.
Marie hatte es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht und hielt sich mit einer Hand den Bauch. „Puuh“, stöhnte sie etwas gequält. „Ich esse aber nie wieder so viel Kuchen!“ Ihr Mann musste lachen.
„Erstens hast du das beim nächsten Besuch bei deiner Mutter schon wieder vergessen. Zweitens haben wir noch jede Menge Kuchen mitgenommen und drittens sagst du das nach jedem Besuch bei deiner Mutter!“
Marie sackte nach diesen Worten noch mehr in sich zusammen, erwiderte aber nichts. Sören, als Fahrer des Wagens, war aber froh rechtzeitig bei Hannah losgefahren zu sein. Denn je näher sie Familienstadt kamen, umso bedrohlicher wirkte die dunkle Wolkenwand, der sie entgegenfuhren. Auch der Wind hatte jetzt so stark zugenommen, dass Sören sehr langsam fahren musste, um das Auto in der Spur zu halten. Er meinte zu seiner Frau:
„In zehn bis fünfzehn Minuten sind wir zu Hause. Glücklicherweise regnet es noch nicht. Der Sturm reicht mir schon!“ Marie nickte zustimmend und Anika bekam sowieso nichts mit. Sie hatte die Augen geschlossen und hörte ihre Musik. Das war das Letzte, was sie für lange Zeit hören sollte!
Sören fuhr durch eine Rechtskurve. Danach kam noch ein kurzes Stück freies Feld und dann der Ortseingang. Dort musste er in die zweite Straße links abbiegen und sie waren zu Hause. Soweit die Theorie.
Auf der linken Seite der Straße standen einige Bäume und der Sturm peitschte durch deren Äste. Sören fuhr durch die Rechtskurve und sah nur noch etwas Großes, dunkles rasend schnell auf sich zukommen. Er versuchte noch zu bremsen und auszuweichen, aber Sören hatte keine Chance! Nur ein ganz kurzer entsetzlicher Schmerz, dann wurde er gnädiger Weise für immer in die Ewigkeit aufgenommen. Sörens Frau hatte sowieso die Augen zu und starb, ohne ihre Lieben noch einmal gesehen zu haben. Nur Anika hörte trotz der Kopfhörer dieses furchtbare Geräusch, als der Baum auf das Auto krachte. Durch den ruckartigen Stillstand wurde sie nach vorne gegen den Sitz ihrer Mutter geschleudert. Das rettete ihr Leben!
Was war geschehen? Eine Buche konnte der Kraft des Sturmes nicht standhalten und stürzte ausgerechnet auf das Auto der Strelemanns. Ausgerechnet deshalb, weil man weit und breit kein anderes Auto auf der Straße sehen konnte.
Schicksal auch noch, weil Mitarbeiter von der Stadt gerade diesen Baum gekennzeichnet hatten. Er sollte gefällt werden, weil er krank und innen hohl war! Sören hatte nach durchfahren der Kurve, keine Chance zu reagieren. Auch wenn die Buche nicht sehr groß war, setzte sie dem Leben von Marie und Sören ein jähes Ende!
Anika hatte Glück: dort wo ihr Kopf gewesen war, hatte ein Ast das Dach durchschlagen. Er war nicht besonders dick, aber das Autodach konnte der Wucht nicht standhalten. Das Mädchen wurde ja durch den plötzlichen Stillstand des Autos nach vorne gegen den Sitz ihrer Mutter geschleudert. Dabei erlitt sie einige stark blutende Wunden im Gesicht und am Hinterkopf. Doch auch der Rücken wurde stark in Mitleidenschaft gezogen. Anika war bewusstlos und das war das Beste, was ihr passieren konnte. So bekam sie nichts mit, nichts von ihren Schmerzen und auch nicht davon, dass sie von einer Sekunde zur anderen Vollwaise geworden war. Anika saß eingeklemmt, bewusstlos und stark blutend auf der Rückbank des Autos.
Sebastian Hagebaum war auf dem Weg zurück ins Heim. In seiner Freizeit fuhr er so oft er konnte zum Hof von Rolf Henrich. Der Landwirt war schon etwas älter und freute sich, dass Sebastian ihm so gut wie möglich etwas Arbeit abnahm. Der Junge verdiente sich so noch ein ordentliches Taschengeld.
Herr Henrich wollte Sebastian mit dem Auto zurück ins Heim bringen, aber der Junge meinte, dass der Weg mit seinem Mofa auch nur fünfzehn Minuten dauern würde und der Regen bis jetzt noch nicht eingesetzt hätte. So kämpfte Sebastian sich mit seinem Mofa durch den Sturm.
Der kleine Seitenweg, der zum Hof von Herrn Henrich führte, mündete nur 150m hinter der Kurve auf die Hauptstraße. Nachdem der Junge die Einmündung zur Straße erreicht hatte, konnte er sofort sehen, dass nur wenige Meter von ihm etwas Schreckliches geschehen war!
So schnell wie möglich fuhr Sebastian zu der Unglücksstelle. Ohne darüber nachzudenken, war ihm bewusst, dass er der einzige Mensch weit und breit war, der in diesem Moment helfen konnte.
An der Unfallstelle angekommen bot sich Sebastian ein entsetzliches Bild. Die Motorhaube und der Bereich von Fahrer und Beifahrer hatten die volle Wucht der umstürzenden Buche zu spüren bekommen.
Sebastian stieg vom Mofa und ließ es einfach auf den Boden fallen. Der Junge war so aufgeregt, dass er sogar zuerst versuchte, über den Baum zu klettern. Das war natürlich Blödsinn mit seinem kranken Bein. Die Fahrerseite war ihm zugewandt, darum ging Sebastian als erstes zur Fahrertür. Das heißt, zu dem, was einmal eine Tür gewesen war. Mühsam kämpfte er sich durch Äste und Zweige des umgestürzten Baumes. Als Sebastian dann einen Blick in den vorderen Teil des Wagens werfen konnte, bot sich ihm ein Anblick, den er so schnell nicht vergessen würde.
Genau dort wo Fahrer und Beifahrer saßen, oder sitzen sollten, war das Auto regelrecht zusammengedrückt worden. Außer Blut und Baumstamm sah Sebastian nur noch zwei Beine. Er begann am ganzen Körper zu zittern und konnte einen Brechreiz gerade noch unterdrücken. Hier war niemanden mehr helfen. Der Tod hatte auf grausame Weise zugeschlagen.
Der Blick von Sebastian fiel auf den hinteren Teil des Autos. Die hintere Tür auf der Beifahrerseite stand zur Hälfte auf. War da vielleicht noch jemand im Auto? Sebastian konnte es von da wo er stand, nicht sehen. So schnell wie es die vielen Äste, der Sturm und seine Behinderung zuließen, lief er um das Auto herum. Nachdem Sebastian dann einen Blick in das Innere des Wagens werfen konnte, musste er mehr als einmal hinsehen, bevor er mit großem Entsetzen erkannte wer da blutend und eingeklemmt auf der Rückbank des Autos saß: Anika, seine Anika!
Sebastian überlegte nicht lange. Er wollte die Autotür weiter öffnen, doch die war verbogen und er brauchte all seine Kraft, um sie ganz weit aufzubekommen. Nun konnte der Junge einen richtigen Blick in das Innere des Wagens werfen. Anika saß dort zusammengesunken auf der Rückbank. Der Körper wurde aber noch von dem Sicherheitsgurt gehalten. Dort wo sie bis vor wenigen Minuten noch gesessen hatte, war das Dach des Autos von einem Ast eingedrückt worden, der zum Teil auf den Kopfstützen der Rückbank und zum Teil auf der Abdeckung des Kofferraums zu liegen kam. Der Kopf und Oberkörper von Anika waren blutverschmiert. Auch ihr Gesicht wies tiefe Schnittwunden auf. Ihre schönen langen Haare klebten an vielen Stellen durch Blut zusammen. Wobei momentan niemand sagen konnte, wieviel Blut von Anika war und wieviel leider von ihren erschlagenen Eltern.
Das Handy lag neben ihr und im rechten Ohr war noch der Kopfhörer. Der linke baumelte vor ihrer Brust. Das Mädchen atmete flach und kaum erkennbar. Anika hatte riesiges Glück gehabt. Hinter ihr der etwas dünnere Ast, vor ihren Augen, die glücklicherweise geschlossen waren und das Furchtbare nicht erkennen konnten, der Stamm der umgestürzten Buche. Die hatte in diesem Bereich nur einen weiteren Ast – den auf der Ablage hinter ihr. Sebastian starrte voller Panik auf das Mädchen, mit der er seit zwei Jahren die Schulbank teilte. „Anika, Anika! Kannst Du mich hören? Was ist los mit Dir?“
Dem Jungen war sich nicht bewusst, dass er diese Worte mit aller Kraft hinausgeschrien hatte. Das war in dieser Situation aber genau richtig. Doch bekam Sebastian keine Antwort. „Anika, antworte doch!“ Er griff mit einer Hand an die ihm zugewandte rechte Schulter. Keine Reaktion!
Die ganze Zeit vermied es Sebastian seinen Blick im inneren des Autos schweifen zu lassen, denn überall war Blut zu sehen. Nicht nur Anikas Blut! Als das Mädchen nicht auf ihn reagierte, kam der Junge endlich auf die richtige Idee. Hilfe musste her! Sein Blick fiel auf Anikas Handy, das neben ihr auf der Rückbank lag. Sebastian hatte kein eigenes und er wollte gerade danach greifen, als sein Blick durch Zufall auf den Teil des Autos fiel, das einmal die Motorhaube gewesen war. Was er dort sah, ließ ihn vor Angst fast erstarren – es fing da vorne an zu qualmen! „Nein, nicht das auch noch!“ sagte er zu sich selbst. Sebastian nahm das Handy, zog den Kopfhörer heraus und steckte es in seine Hosentasche. Für ihn war es jetzt wichtiger Anika aus dem Auto zu befreien, als mit dem Handy Hilfe zu rufen.
Als erstes musste Sebastian den Sicherheitsgurt lösen. Er beugte sich noch mehr ins Auto hinein und betätigte den roten Auslöser des Gurtes. Es ertönte dieses leicht schabende Geräusch, das man normalerweise hörte, wenn der Gurt sich löste, aber nichts geschah. Sebastian konnte den Gurt nicht herausziehen!
Er versuchte es immer wieder, doch es rührte sich nichts. Sebastian konnte aber auch nicht so zupacken wie er wollte, denn er musste schließlich auf Anika Rücksicht nehmen. In seiner Verzweiflung versuchte er diesen Gurt, auch wenn er noch im Gurtschloss feststeckte, ihn irgendwie über Anika hinüberzuziehen. Aber auch das war vergeblich, der Gurt saß so stramm, dass er sich nicht einen Zentimeter bewegte. Auf Sebastians Stirn bildete sich Schweiß. Vor Anstrengung aber auch vor Angst, denn ein Blick nach vorne zeigte dem Jungen, dass der Qualm in kürzester Zeit viel stärker geworden war. Zu allem Übel wurde der durch den starken Wind direkt in das Wageninnere zu den beiden geweht.
Sebastian warf einen Blick nach oben in den sehr dunkel werdenden Himmel. Die schwarze Regenwand kam langsam aber sicher näher, außerdem sah er in der Ferne auch Blitze Richtung Erde fahren. Was er nicht wissen konnte: unter dem Auto näherte sich der Tod in Form von langsam auslaufendem Benzin! Der Junge musste handeln, und zwar schnell!