Über uns der Himbeerstrauch - Kurt von der Heide - E-Book

Über uns der Himbeerstrauch E-Book

Kurt von der Heide

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Beschreibung

Vier Jungens treffen sich während der Ferien in Bad Sachsa, einer Stadt im Südharz. Dort bauten sie ihre Burgen in den meterhohen Himbeersträuchern. Sie schworen sich ewige Freundschaft und dann? Sie wurden älter und trennten sich. Jeder von ihnen trug sein Schicksal über Jahrzehnte hinweg. Sie trafen sich erst im Alter wieder und schauten auf ihr Leben zurück. Dramatischer konnten ihre Leben nicht verlaufen.

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„Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben.“

– Wilhelm von Humboldt

Inhaltsverzeichnis

Dr. Carol Peters

Niklas

Tobias und Larissa

Bernd Rosarius,

geboren 1945.

Schon mit zwölf Jahren schrieb er seine ersten Gedichte und Geschichten.

Erst im Ruhestand fand er die Möglichkeit zur Publikation.

Sein erster Gedichtband Sturmwind gedankliches Inferno erschien 2005 und sein zweiter Gedichtband Eiszeit die Gewohnheit zu Besuch ein Jahr später. Er ist in mehreren Anthologien mit Gedichten vertreten. Zwei eigene Anthologie-Projekte mit über dreißig Autoren organisierte er selbst: 2009 erschien sein erster Roman: Nur ein Brief Es folgten sechs weitere Gesellschaftsromane.

Seine große Leidenschaft ist die klassische Musik.

Kurt von der Heide,

geboren 1959 in Detmold, ist verheiratet und lebt in Lage. Der Maschinen- und Anlagenführer beschäftigt sich schon seit der Jugend mit dem Schreiben. Angefangen mit Tagebüchern und dann mit Reiseberichten ist er dort angekommen, wo er sich besonders heimisch fühlt: bei den Kurzgeschichten und Gedichten. Seine Lieblingsdichter sind Heine und Bonhoeffer. Das Motto bei seiner Lesung lautet: Vor Überraschungen ist man niemals sicher!

Dr. Carol Peters

Dr. Carol Peters verließ den drehbaren Sessel hinter seinem Schreibtisch aus massiver Eiche und ging zum Fenster. Er sah hinaus, beachtete nicht den Verkehr und das pulsierende Leben auf der Straße. Sein Blick starrte ins Leere. Er hörte nicht das zaghafte Klopfen an der Bürotür, die sich wie von Geisterhand öffnete. Seine Sekretärin Pauline Schwarz betrat das Büro und sagte. „Herr Doktor, ihr Termin?“ Dr. Peters drehte sich um und sah, wie Frau Schwarz seine Anwaltsrobe über die Besuchercouch legte.

„Sie sind in Gedanken Herr Peters. Ist alles in Ordnung?“ Der Anwalt nickte und antwortete

„Ja, haben Sie die Akte Zimmermann bereitgelegt.“ „Sie liegt auf dem Schreibtisch.“

Er sah auf die Uhr, bot seiner Sekretärin den Stuhl hinter dem Schreibtisch an. Er selbst setzte sich auf die Tischkante. „Ich erhielt eben einen Anruf von einem Freund, den ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe. Er wollte von mir die Telefonnummer eines Freundes haben, den er auch Jahrzehnte nicht gesehen hat, alles klar, kommen Sie noch mit?“ Sie nickte und saß zusammengesunken auf dem Chefsessel.

„Den Freund, den er suchte, war auch mein Freund, den ich ebenfalls Jahrzehnte nicht gesehen habe. Wir vier waren Kinder und sehr enge Freunde. Da gab es Niklas, den Tobias, den Pierre und mich. Pierre, Tobias und Niklas lebten in Bad Sachsa, der kleinen Stadt im Südharz. Ich lebte schon immer in Göttingen. In den Ferien besuchte ich stets meine Oma in Bad Sachsa, die dort eine kleine Wohnung hatte. Tobias wohnte im gleichen Ort, auf dem Reiterhof seiner Eltern. Wir vier Jungens trafen uns jeden Tag, spielten am Schmelzteich, badeten im Waldfreibad, rodelten am Ravensberg und besuchten den Märchengrund. Mit meiner Oma waren wir Gäste beim Kurkonzert im Park. Doch das wichtigste für uns war das Spielen in den Himbeersträuchern. Sie waren so hoch, dass wir nur den Mund aufmachen mussten, um Himbeeren zu naschen. In ihnen bauten wir auch unsere Burgen. Wir gelobten uns ewige Treue, und Freundschaft.“ Dr. Peters legte eine kurze Pause ein, ging zum Schrank und holte eine alte Postkarte vor. Er zeigte das Bild seiner Sekretärin. „Sehen Sie, so sah das alte Bad Sachsa aus.“

Er nahm auf der Schreibtischkante wieder Platz und fuhr fort.

„Als wir dreizehn bzw. vierzehn Jahre alt waren, trennten sich unsere Wege und wir sahen uns nicht wieder, doch Irrtum, einen sah ich wieder und das war Pierre.“

Der Anwalt legte seine Robe über den Arm, griff den Aktenordner Zimmermann und wollte das Büro verlassen. Einmal drehte er sich um und rief:

„Nach dem Gerichtstermin bin ich für heute nicht mehr zu sprechen Einer dieser Freunde hat mich eben angerufen und will ein Treffen mit uns, ich fasse es nicht, nach all den langen Jahren?“ „Okay“ rief die Sekretärin.

Pauline sah ihrem Chef lange hinterher. So aufgewühlt hatte sie ihn nie gesehen. Carol Peters war als Allgemeinanwalt tätig, später kurzzeitig Richter am Amtsgericht Göttingen, später wieder selbstständiger Allgemeinanwalt und steht jetzt mit fünfundsechzig Jahren kurz vor seiner Rente. Er wollte aber weiterarbeiten. Die Position des Richters hatte er verloren. In irgendeinem Fall musste er als Befangener dem Beschuldigten geholfen haben. Näheres wusste Frau Schwarz nicht. Sie nahm wieder im Vorzimmer Platz und ging ihrer Arbeit nach.

Nachdem Dr. Peters das Gespräch mit seinem Jugendfreund Tobias beendet hatte, wurde er nachdenklich. Er musste vor Gericht den Fall Zimmermann abschließen, dann konnte er sich mit der Vergangenheit beschäftigen. Tobias benötigte die Adresse von Niklas, die konnte ihm der Anwalt nicht geben, er hatte sie nicht mehr. Die Adresse von Pierre, konnte er nicht weitergeben, er war tot.

Diese Nachricht hatte Tobias getroffen. Es war ein Grund genug, sich zu treffen. Ein Treffen nach den vielen Jahren, war schon etwas Besonderes. Tobias wollte versuchen, Niklas ausfindig zu machen und es ging schnell. Nach der Gerichtsverhandlung klingelte Carols Handy und Tobias rief an. Er hatte alles organisiert. Zwei Tage später sollte das Treffen in Bad Sachsa stattfinden. Der Anwalt fuhr in seine Kanzlei und klärte mit Pauline Schwarz die weiteren Termine für die nächsten Tage.

„Sie müssen alle Termine verschieben. Lassen Sie sich etwas einfallen. Ich bin für drei Tage nicht zu erreichen. Sie haben meine Privatnummer. Wenn es wichtig ist, können Sie mich anrufen, aber nur wenn es wichtig ist. Ich verlasse mich auf Sie, wie immer. „Er fuhr mit seiner Hand über das kurze Haar seiner Sekretärin, die mit hochrotem Kopf eifrig nickte. Dr. Peters hatte sich im Hotel Garni in Bad Sachsa eingenistet. Er schlenderte durch das neue, kaum wiederzuerkennende Bad Sachsa und erfreute sich an diesem herrlichen Sonnentag. Kurz vor dem Eingang zum Kurpark stand ein Obstwagen. Der Verkäufer lachte Carol an und rief:

„Obst aus heimischer Erde, kommen sie, probieren ist nicht verboten.“

Carol ging auf den Wagen zu und fragte:

„Haben sie auch Himbeeren?“ „Natürlich mein Herr.“

Er zog aus der Rückwand seines Wagens ein Körbchen Himbeeren hervor und reichte sie dem Anwalt. „Was kosten die?“

Der Verkäufer zuckte mit den Schultern

„125 g 3 €. Es ist jetzt nicht die Zeit für Himbeeren. Die kommen aus Spanien.“ „Egal“ brummte Carol und sagte zu dem Verkäufer: „Früher gab es hier Himbeersträucher dicht an dicht. Als Kinder konnten wir darin unsere Burgen bauen.“

Er zeigte mit ausgestrecktem Arm in westliche Richtung.

„Dort stehen jetzt nur noch Häuser.“ „Na ja“ antwortete der Obst- Verkäufer „das war vor meiner Zeit.“

Der Anwalt nahm das Schälchen zur Hand, winkte dem Verkäufer kurz zu und schlenderte die Hauptstraße entlang. Die leere Pappschale entsorgte er im nächsten Papierkorb. Sein Weg führte ihn zum Friedhof. Er suchte lange nach einem bestimmten Grab. Er fand es nicht und musste den dortigen Friedhofsgärtner direkt fragen.

„Ich suche das Grab von Pierre Cardoso.“ Der Arbeiter zeigte mit ausgestrecktem Arm auf eine Weggabelung.

„Ich kenne fast alle Gräber hier, hinter der Biegung finden sie den Toten, mit dem französischen Namen.“ Die Beschreibung war gut. Carol fand sofort das Grab mit der seltsamen Inschrift: „Hier ruht ein Mensch.“ Er war nur ein Mensch Pierre Cardoso, geboren und gestorben irgendwann.“ Ja, genau das passte zu dem Menschen Pierre. Das Grab war gut gepflegt. Wer war dafür verantwortlich? Carol sprach leise aber deutlich vernehmbar:

„Hallo Pierre, es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte. Ich habe für dich meine Karriere aufs Spiel gesetzt. Ich wusste auch dass du die Frau nicht umgebracht hast und du wusstest, wie sehr ich diese Frau geliebt hatte. Ich habe versucht dir zu helfen, aber dir war nicht zu helfen. Dein Tod hat mich entsetzt und nun stehe ich hier, treffe mich morgen mit Niklas und Tobias und wir werden auch über dich sprechen. Was soll ich ihnen sagen? Komm zurück für einen Tag, setze dich mit uns an einen Tisch und erzähle deine Geschichte selbst. Nein? Du kommst nicht? Dann muss ich wohl in den sauren Apfel beißen.“

Als Carol sich anschickte, das Grab zu verlassen, stand vor ihm eine Frau. „Bist Du es? Carol Peters? Älter bist Du geworden, aber doch habe ich dich wiedererkannt.“ „Entschuldigung, aber jetzt komme ich nicht mit. Wer sind Sie?“

„Ich verzeihe Dir das du mich nicht erkennst. Kannst Du dich an das kleine Mädchen erinnern, das hin und wieder bei Euch in den Himbeersträuchern war?“ „Judith? Bist Du Judith?“

Carols Überraschung war echt und sofort fragte er: „Pflegst du Pierres Grab?“ „Ja, das tue ich schon lange. Pierre hatte hier in seiner Heimatstadt keine Freunde mehr. Er war von Dir zum Schluss maßlos enttäuscht, obwohl er Dich immer geliebt hatte. Ich war die Einzige, die ihm hier noch etwas Halt gab, bis zu dem Tag, Du weißt welchen.“

Sie beugte sich tief auf das Grab hinunter, um ihre Blumen abzulegen. Sie zupfte etwas Unkraut und fragte, ohne aufzusehen:

„Was machst Du hier?“ „Ich treffe mich mit Niklas und Tobias. Pierre kann nicht mehr dabei sein.“

Judith erhob sich, ihre Augen funkelten, sie packte Carol an die Schultern und schrie, dabei lief ihr der Speichel aus dem Mund:

„Du hast ihn im Stich gelassen, deinen besten Freund, einen Mann mit gutem Herzen, einen Menschen wie man ihn selten findet. Du hast ihn jämmerlich in Stich gelassen.“

Sie drehte sich um und eilte davon. Verdutzt schaute Carol ihr lange hinterher.

„Sie irrt sich. Ich habe ihn nicht im Stich gelassen.“

Noch einmal wandte er sich dem Grab zu und rief: „Pierre, ich habe dich nicht im Stich gelassen. Ich kam um einen Tag zu spät.“

Carols Weg führte direkt in sein Hotel. Es war Freitag und der Obstwagen war gut besucht. Carol musste an Judith denken, was warf sie ihm vor? Sie kann doch nichts über die letzten Jahre wissen. Pierre hatte Kontakt zu ihr und was sie über Carol wusste, konnte sie nur von Pierre erfahren haben. Ob dass die Wahrheit war, zweifelte er an.

Bad Sachsa war nicht mehr das Bad Sachsa von früher, dennoch kam ihm einiges vertraut vor. Am nächsten Tag, am Samstag, sollte er seine Freunde nach Jahrzehnten der Abstinenz endlich wiedersehen. Mit einer gewissen Vorfreude legte er sich früh ins Bett. Er kannte die erste Frage, die man ihm stellen würde, warum er im Rentenalter immer noch arbeiten würde. Die zweite Frage würde sich um Pierre drehen. Am nächsten Tag traf man sich im Café Helmboldt. Man beschnupperte sich, ohne große Emotionen. Es gab keine wilden Umarmungen, sondern ein vorsichtiges Abtasten. Nachdem Carol die zwei zu erwartenden Fragen beantwortet hatte, zeigte er auf Niklas.

„Dich hätte ich vielleicht wiedererkannt aber Tobias? Es sind viele Jahre vergangen. Macht mir keinen Vorwurf das ich mich nicht gemeldet habe, von Euch hatte ich auch nichts gehört.“

Unsichtbar, aber deutlich spürbar war Pierre mit im Raum. Carol nahm ein Taschentuch zur Hand, schnäuzte sich einmal kräftig und sagte: „Ich werde Euch von Pierre ausführlich berichten, aber ich wäre dafür, ihn gemeinsam auf dem Friedhof zu besuchen. Er gehörte zu unserer Gemeinschaft.“

Das allgemeine Kopfnicken galt als Zustimmung.

„Pierre trank gerne einen Marillen-Schnaps. So lasst uns ein Glas mitnehmen und einen Schluck trinken, den Rest kippen wir auf sein Grab.“

Wieder ein allgemeines Kopfnicken. Carol orderte vier Glas Marille und gab der Wirtin zu verstehen, dass er die Gläser zurückbringen würde. So ging das Trio auf direkten Weg zum Friedhof. Von weitem sah Carol, wie Judith am Grab die Blumen pflegte. Mit einer Handbewegung hielt er seine Freunde zurück. „Judith ist wieder da.“

Niklas löste sich von der Gruppe, ging auf Judith zu und umarmte sie. Carol und Tobias folgten entspannt. Die Frau wandte sich Carol zu und sagte:

„Es tut mir leid Carol, dass ich Dich so angemacht habe, entschuldige bitte.“

Der Anwalt schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht was Pierre Dir erzählt hat, aber komm doch mit zu unserem Treffen, dann hörst du die Geschichte aus meiner Sicht.“

Judith nickte und sah zu, wie die drei Freunde ihre Gläser in die Luft hielten und ihren gemeinsamen Trinkspruch riefen:

„Freundschaft soll für immer halten, niemals darf sie je erkalten. Zum Wohle heben wir das Glas, Prost ihr Lieben, so das wars.“

Die drei tranken einen Schluck, den Rest schütteten sie auf ein Kommando auf Pierres Grab. Die vier Besucher verharrten eine kleine Weile auf dem Friedhof, dann gingen sie gemeinsam zu dem Ort, wo die Lebenswirklichkeit sich zeigte, wo die Vergangenheit wieder Gegenwart wurde. Dr. Carol Peters musste Farbe bekennen. Er musste die Wissenslücke um Pierre schließen und das tat ihm sehr weh.

Wir waren Kinder, als wir uns in den Ferien regelmäßig trafen, und in den hohen Himbeersträuchern unsere Burgen bauten. Wir genossen diese Zeit, träumten von einer unbeschwerten, glücklichen Zukunft. Die Jahre vergingen und unsere Wege trennten sich. Gemäß unserem Schwur auf ewige Freundschaft, verzichteten wir auf Einhaltung desselben und so zerbrach unsere Gemeinschaft durch reale Lebensumstände. Jeder von uns besuchte die Schule, lernte einen Beruf oder studierte. Familie, Verpflichtungen, Verantwortung war das Maß aller Dinge. Es war Geschichte, was schön für uns war.

Die Kinderzeit war nur ein kleiner Teil unseres Lebens und versank in der Bedeutungslosigkeit, bis heute. Ich hatte mein juristisches Staatsexamen hinter mir und befand mich in einem Referendariat in einer Anwaltskanzlei. Dort traf ich nach vielen Jahren das erste Mal wieder auf Pierre. Er hatte erfahren, von wem auch immer, dass ich Jura studiert habe. Er wollte mich unbedingt sprechen und fragte in der Anmeldung nach meinem Namen. Die Mitarbeiterin wies ihm eine Besucherecke zu und rief mich an. Als ich Pierre sah, erschrak ich. Er war sehr dünn, abgemagert bis auf die Knochen, verhärmtes Gesicht. Er kam auf mich zu, umarmte mich und flüsterte „Hilf mir alter Freund.“ Ich drückte ihn langsam auf die Besuchercouch zurück und fragte ihn, was denn los sei. Erst unterhielten wir uns über alte Zeiten, doch ich spürte, dass ihn diese Erinnerungen quälte. Er wollte etwas anderes loswerden.

„Pierre, erzähle, was ist los?“

Der Kaffeeautomat in der Besucherecke lud mich förmlich dazu ein, zwei Pappbecher mit Kaffee zu entnehmen, um sie dreiviertel gefüllt auf den Tisch zu stellen. Pierre trank einen Schluck und sagte: „Du bist doch Anwalt und kannst mir raten. Vor zwei Jahren wollte ich Kunstgeschichte studieren. Ich kann gut malen und modellieren, das haben mir Fachleute bestätigt. Du weißt das ich Halbfranzose bin. Mein Vater ist ein konservativer strammer Deutscher und meine Mutter eine friedfertige Französin. Meine Mutter leidet unter meinem Vater. Er demütigt sie, schlägt sie sogar manchesmal. Als ich einmal dazwischen ging, schlug er auch mich und drohte mir den Unterhalt zu streichen. Ich bin finanziell von ihm abhängig.

Er hat einen Gebrauchtwagenhandel, verdient gutes Geld. BAföG wurde mir abgelehnt. Meine Mutter versucht mir so gut es geht zu helfen, kommt aber gegen diesen Mann nicht an.“ Pierre trank erneut einen Schluck, mittlerweile kalten Kaffee und fuhr dann mit ernster Miene fort.

„Er hat mir lachend alle Zulagen gestrichen. Ich weiß jetzt nicht, wie ich mein Dachzimmer bezahlen und meinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Vater meinte, ich solle mir einen Job suchen, zum Studieren wäre ich zu blöd. Tatsächlich bin ich das erste Mal durch die Aufnahmeprüfung gefallen. Die Wiederholungsprüfung hätte ich nicht bezahlen können. Meine Frage an meinen Anwaltsfreund, kann ich meinen Vater auf Unterhalt verklagen?“

Ich musste nicht lange überlegen und antwortete: „Ist überall nachlesbar. Wenn Du keinen Beruf erlernst, keinen abgeschlossenen Beruf hast, oder dich im Studium befindest, müssen Deine Eltern Dir bis maximal siebenundzwanzig Jahre Unterhalt zahlen. Du bist fünfundzwanzig, also müssen sie zahlen. Deine Mutter kann es nicht, also Dein Vater.“

„Das weiß ich“ warf Pierre ein, „aber ich studiere zurzeit nicht.“

Nun war ich auch überfragt und bat Pierre um Geduld. Ich wollte mich genau informieren und mich bei ihm melden. Ich sah, wie mein Freund zitterte, wie ihn die Situation förmlich mitnahm. Als ich ihn verabschiedete, versprach ich ihm, mich um seinen Fall zu kümmern. Er tat mir leid. Es ging mir durch und durch, ihn in diesem Zustand zu sehen. Ihr wisst, wie fröhlich er als Kind war, wie seine Augen leuchteten und wie zufrieden und glücklich er die Welt umarmen konnte, und dass in diesem Elternhaus! Positive Nachrichten hatte ich für ihn nicht. Telefonisch konnte ich ihn nicht erreichen, also machte ich mich auf den Weg zu seiner Dachwohnung in der Göttinger Kirchturmspitze.

Die Wendeltreppe nach oben dauerte ewig und brachte mich schon körperlich an die Grenzen. Ich klopfte an seiner Tür, die war nur angelehnt. Als ich das eine Zimmer betrat, erschrak ich. Er lag auf einer Luftmatratze und schlief. Daneben zwischen seiner Liege und dem Türrahmen stand ein Topf mit kalten Nudeln. Es gab einen Tisch, zwei Holzstühle und eine nackte Birne als Deckenbeleuchtung. Auf der Erde stapelten sich Bücher und Zeichnungen aller Art. Schnell raus hier, dachte ich und weckte etwas unsanft meinen Freund. Pierre erschrak als er mich sah:

„Wo kommst du her?“ stotterte er. „Na von draußen du Spaßvogel. Warum gehst du nicht ans Telefon?“

„Warum sollte ich, meistens rufen Leute an, denen ich Geld schulde.“ Ich warf ihm eine Jacke und die Schuhe zu und rief: „Los komm, wir gehen in die Kneipe.“

Unterwegs erzählte ich ihm wie seine Chancen stehen und die waren nicht rosig. Es galt einen Prozess zu vermeiden. Ich riet ihm sich mit seinem Vater zu einigen. „Gib ihm, was er von dir haben will und du bekommst von ihm, was du haben willst.“ „Er will, dass ich einen Beruf erlerne und Geld verdiene, mehr nicht.“

Ich vergaß noch zu erwähnen, als wir sein Zimmer verließen, griff er noch in den Topf kalter Nudeln, füllte damit seine Hand und verschlang diese genüsslich. Mir wurde übel, als ich das sah.

In seiner Stammkneipe waren sehr wenig Gäste. Wir setzten uns an einen Tisch und bestellten beim Wirt zwei Bier. Pierre suchte die Toilette auf und der Wirt brachte die Getränke an unseren Tisch.

„Bezahlen sie das Bier?“ fragte er süffisant. „Ihr Freund hat bei mir schon einen Deckel gemacht, mehr geht nicht.“ Ich nickte und fingerte aus meiner Geldbörse einen Schein heraus.

„Die nächsten zwei Biere bezahle ich gleich mit. Sagen sie mal, kennen sie Pierre gut?“ Der Wirt nickte. „Ja, er ist hier das Unikum. Früher sagte man dazu Klassenclown. Er geht nicht wie andere Menschen über den Fußboden, sondern springt von Tisch zu Tisch, ob dort Gäste sitzen oder nicht. Wenn andere vorwärtslaufen, läuft er rückwärts. Er ist anders als andere, aber nicht unmöglich. Es gibt viele Gäste, die ihn mögen.“

Pierre kam zurück und ich sagte zu ihm: „Ich rede mit deinem Vater.“

Zuerst wollte Pierre nicht meine Einmischung. Ich sah, wie sein Körper zitterte, wenn er über seinen Vater sprach. Es ist besser, so dachte ich, würde ich den Vater allein sprechen. „Ich gehe mit“ flüsterte er mir zu, „Er ist mein Erzeuger.“ So gingen wir zu ihm. Unterwegs versuchte ich mir noch ein Bild von dem Vater zu machen. Als Kind habe ich ihn gesehen, wenn wir Ferien in Bad Sachsa machten. Mir war nichts an ihm aufgefallen, was mir in Erinnerung geblieben wäre. Als ich plötzlich vor dem großen, breitschultrigen Mann stand und davor den schlanken, zitternden Pierre sah, konnte ich die Hilflosigkeit meines Freundes verstehen. Selbstsicher reichte ich erst der Mutter Julia meine Hand, dann dem Hausherrn, der sie nahm und kräftig drückte. „Kennen wir uns?“ sagte er und ich nickte. „Als Kind war ich mit Ihrem Sohn befreundet, jetzt haben wir uns wiedergetroffen und ich wollte seine Eltern begrüßen.“

Pierre beugte sich linkisch nach vorne und rief. „Mein Freund ist Anwalt.“ Der Vater runzelte die Stirn. „Braucht mein Sohn einen Anwalt? Vielleicht sogar gegen mich?“

Ich versuchte die Bemerkung schnell zu übergehen.

„Nein, mir tut der Lebensumstand meines Freundes leid, und ich wollte sie bitten, Hilfe zu leisten. Ich würde mich auch engagieren.“ Ich sah wie die Stirnadern des Vaters anschwollen, als er gleichzeitig schrie.

„Ich helfe ihm, wenn er einen Beruf erlernt, arbeitet und Geld verdient.“ „Er möchte aber Kunstgeschichte studieren und ich sehe sein großes Talent.“ Der Vater blieb wütend. „Vielleicht gehören Sie auch zu der Rauschgift Conection, der der Junge angehört. Es sind alles nutzlose Objekte, die ins Arbeitslager gehören.“

Oh, dachte ich. Das ist noch ein ewig Gestriger, ein übriggebliebener Alt-Nazi, Vorsicht Carol, bleib ganz vorsichtig.

„Nein, ich bin in einem Anwaltsbüro, trinke und rauche nicht und nehme kein Rauschgift. Hören sie, ich will ihrem Sohn nur helfen.“

Plötzlich trat die Mutter nah an ihrem Mann heran und flüsterte: „Lass uns helfen, schau dir den Jungen doch einmal an.“

Der Vater unwirsch, wie er war, drückte mit der rechten Schulter seine Frau an die Seite und raunte ihr zu:

„Halte dich da raus. Er ist so geworden, wie du es gewollt hast. Er ist ein Waschlappen, ein Weichei, eine Missgeburt.“

Die Mutter lief weinend aus dem Raum und ich musste mich zurückhalten. Ich musste die Nerven behalten. Pierre konnte es nicht. Er stürzte auf seinen Vater zu, ich konnte ihn noch gerade zurückhalten, „Wir zeigen dich an“ schrie er wie von Sinnen. „Du tötest meine Mutter und mich. Du bist ein Schwein.“ Als hätte der Vater auf die Worte gewartet, so zeigte er auf die Tür.

„Dort hat der Maurer ein Loch gelassen, nennt man Tür. Verschwindet und lasst euch hier nicht wieder sehen.“

Nun kannte ich den Vater und ich fühlte mich Pierre gegenüber verpflichtet. „Pierre“ sagte ich zu ihm, und nahm ihn freundschaftlich in den Arm.

„Ich spreche mit meiner Kanzlei und wir werden deinen Vater auf Unterhalt verklagen. Ich strecke dir die Miete für drei Monate vor.“

Meine Kanzlei hatte nichts dagegen, dass ich einen Unterhalts-Fall übernehmen wollte. Peanuts waren das für sie. Solche Verfahren kommen nicht sehr oft vor Gericht, man erzielt vorher schon Kompromisse. Pierres Vater war schon ein anderes Kaliber. Ihm einen Kompromiss abzuringen, sah ich als sehr schwierig an. Ich bat Pierre um zehn Tage Geduld, da ich einerseits die Schrift vorbereiten wollte und andererseits das Tagesgeschäft in meinem Beruf nicht vernachlässigen sollte.

Pierre musste mir noch die Vollmacht unterschreiben und so ging ich einige Tage später, zum zweiten Mal in seine Behausung. Was ich vorfand war schier eine Katastrophe. Pierre lag auf der Luftmatratze, seine Augen waren verdreht, sein Atem mehr als schwach. Neben ihm lagen drei verschiedene Tablettenröhrchen. Ich erkannte sofort seinen lebensbedrohlichen Zustand und rief die Notarztzentrale an, die sehr schnell kamen und meinen Freund ins Krankenhaus brachten.

Ich sah mich in dem Raum noch etwas um, und fand auf dem Tisch einen kleinen gelben Zettel. Auf dem Zettel stand, und das las sich wie ein Hilfeschrei, nur das Wörtchen „Mama“. Widerwillig, aber doch sorgenvoll fuhr ich zum Haus des Vaters. Etwas musste geschehen sein, denn ich sah viele Polizei und Notarztwagen an der Straße stehen. Ein Polizist wollte mich nicht durchlassen. Ich sagte ihm, dass ich ein Anwalt der Familie sei und schon öffnete man mir die Absperrung.

Im Haus traf ich auf den am Küchentisch sitzenden Vater. Hektische Betriebsamkeit durch verschiedene Institutionen waren zu erkennen, darunter auch ein Bestattungsunternehmen. Zwei Männer in schwarzen Anzügen trugen einen Sarg aus dem Haus. „Was ist hier los?“ fragte ich in die Runde. Als der Vater mich sah rief er: „Was wollen sie hier?“ Ich gab ihm zu verstehen, dass ich als Anwalt seines Sohnes fungiere. Er tippte sich an die Stirn und rief:

„Dann sagen sie ihm, er hätte seine Mutter so aufgeregt, dass sie sich aufgehängt hat.“

Pierres Mutter war tot und wie mir die Notärzte bestätigten, hatte sie sich im ehemaligen Kinderzimmer erhängt. Dass sein Sohn im Krankenhaus lag, schien den Vater weniger zu interessieren. Ich konnte eins und eins zusammenzählen und mir war klar, dass Pierre vom Tod der Mutter erfahren hatte und selbst aus dem Leben scheiden wollte. Natürlich fand ich sofort eine Erklärung für den mütterlichen Freitod. Die sensible Frau saß zwischen zwei Stühlen. Ihren Mann musste sie ertragen und konnte ihren Sohn nicht helfen, darum hat sie diesen Weg genommen.

Mein nächster Weg führte mich direkt ins Krankenhaus auf die Station 2a in Zimmer 202. Pierre war wieder ansprechbar. Sein Magen wurde ausgepumpt und sein Gesamtzustand wieder hergestellt.

„Warum hast du mich gerettet?“ sprach er leise zu mir und ich antwortete ebenso leise, „Weil du mein Freund bist.“ Pierre versuchte sich aufzurichten, ich half ihm dabei. Er gab mir einen Brief und sagte: „Mutter hat den Brief an mich geschrieben. Ich wollte mit Vater noch einmal reden und bin zu ihm gegangen. Wir stritten uns erneut und ich rannte in mein ehemaliges Kinderzimmer, mein Vater hinter mir her. Wir erstarrten als seine Frau und meine Mutter am Seil hing. Vater rannte aus dem Zimmer, um den Notarzt zu rufen. Ich kniete nieder und weinte bitterlich. Meine Mutter war meine einzige positive Anlaufstelle. Sie war eine gütige, auf Harmonie bedachte Frau. Es war kein Selbstmord. Mein Vater hat sie umgebracht.“ Ich erschrak von dieser Aussage und fragte: „Woher willst du das Wissen?“ „Lese den Brief“ er zeigte auf den Umschlag in meiner Hand und ich las.

„Mein lieber Junge, ich werde dir nicht helfen können. Ich komme gegen deinen Vater nicht an. Ich habe Angst vor ihm. Du sollst wissen, dass ich dich immer geliebt habe, und ich konnte es dir nie zeigen. Verzeih mir mein Junge.“

Darunter stand mit schnörkeliger Hand geschrieben der Satz „Er hat es getan.“ „Aber Pierre“ wollte ich konkret wissen. „Wieso hat sie Zeit gehabt, in der Todesangst, noch einen Satz zu schreiben. Wie soll dein Vater sie aufgehängt haben?“

„Er hat sie mit dem Seil erdrosselt und dann aufgehängt. Vorher konnte sie noch diesen Satz kritzeln. Bitte nimm den Brief an dich und gib ihn der Polizei. Vater soll eine Mordanklage bekommen.“

Für Mord bin ich nicht zuständig, schoss es mir durch den Kopf, das müssen meine Kollegen machen. Ich konnte nichts weiter unternehmen, als den Brief der Polizei zu geben. Trotzdem kam mir der Brief und das Geschehen im Haus Cardoso mehr als seltsam vor. Sollte die Polizei ermitteln, war mein einziger Gedanke.

Staatsanwalt Herold bekam den Aktenordner Cardoso auf seinen Schreibtisch. Den Mann kannte ich gut. Er war gerecht, aber auch nicht frei von Vorurteilen. Er bat mich in sein Büro, um mir kommentarlos den Brief zu übergeben. Ich kannte den Inhalt und wollte seine Meinung hören.

„Sie verteidigen den Burschen, wenn es zu einem Meineid kommt?“ Ich nickte und antwortete. „Warum soll es dazu kommen. Sein Vater wird doch angeklagt.“ „Eben drum, daran zweifele ich. Das einzige Beweismittel ist dieser Zusatz und den hat nicht die Frau geschrieben. Das Gutachten des Grafologen liegt vor.“ „Sie denken Pierre selbst hätte den Satz geschrieben?“ „Genau. Klagen wir den Vater an, wird es teuer für den Sohn. Reden Sie ihrem Mandanten gut zu. Er soll hierherkommen, seine Anschuldigung widerrufen, die Manipulation zugeben und das Protokoll unterschreiben, dann kommt er mit einem blauen Auge rechtzeitig davon. Eine Spende an den Kinderschutzbund reicht als Strafe aus.“

Ich erreichte Pierre in seiner Stammkneipe „D-Zug.“ Er war schon angetrunken, freute sich aber als er mich sah.

„Hast du mal etwas von Niklas und Tobias gehört?“ lallte er und fiel mir förmlich in die Arme. Ich schleppte ihn mühselig nach Hause und sorgte dafür das er wieder nüchtern wurde.