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Weihnachtskrimis regional – 12 mörderische Geschichten aus Niedersachsen für die schauerlich-schönste Zeit des Jahres! Niedertracht in Niedersachsen: Von Uelzen bis Göttingen, von der Nordsee bis zum Brocken wird gemordet und gemeuchelt. Neben Nina George, Sven Koch und Cornelia Kuhnert erzählen Christiane Franke, Fabian Skibbe, Linda Conrads, Maria Magdalena Lacroix, Regine Kölpin, Richard Birkefeld und Susanne Mischke in ihren Kurzkrimis von kriminellen Machenschaften vom Harz bis ans Meer. In dieser Reihe sind außerdem erschienen: »Alpenland in Mörderhand«, »Totschlag hinterm Deich«, »Mord-Mord-Ost«, »Blutiger Rhein« und »Spätzlemorde«.
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Seitenzahl: 213
Mordlust an der Leine
12 Weihnachtskrimis vom Harz bis ans Meer
Christiane Franke, Cornelia Kuhnert, Susanne Mischke, Fabian Skibbe, Linda Conrads, Richard Birkefeld, Maria Magdalena Lacroix, Nina George, Regine Kölpin, Richard Birkefeld, Susanne Mischke und Sven Koch
Knaur e-books
Weihnachtskrimis regional – 12 mörderische Geschichten aus Niedersachsen für die schauerlich-schönste Zeit des Jahres!
Niedertracht in Niedersachsen: Von Uelzen bis Göttingen, von der Nordsee bis zum Brocken wird gemordet und gemeuchelt. Neben Nina George, Sven Koch und Cornelia Kuhnert erzählen Christiane Franke, Fabian Skibbe, Linda Conrads, Maria Magdalena Lacroix, Regine Kölpin, Richard Birkefeld und Susanne Mischke in ihren Kurzkrimis von kriminellen Machenschaften vom Harz bis ans Meer.
In dieser Reihe sind außerdem erschienen: »Alpenland in Mörderhand«, »Totschlag hinterm Deich«, »Mord-Mord-Ost«, »Blutiger Rhein« und »Spätzlemorde«.
Adalbert, der Dodenbidder
Ich sorg dafür, dass Vadder vernünftig im Sarg zu liegen kommt.« Vetter Heino sieht Adalbert mit ernster Miene an. Adalbert nickt und räuspert sich.
»Ich …«, fängt er an.
»Lass man gut sein, Vetter. Du musst das nicht für mich tun. Is’ ja mein Vadder. Du kannst aber seine Aufgabe als Dodenbidder übernehmen. Kann er ja nu nich mehr selber machen.« Heino guckt bekümmert. »Brauchst bestimmt keine große Überredungskunst, um die sechs Sargdragers zusammenzukriegen. Da wollen ihm bestimmt alle diese letzte Ehre erweisen. Kannst sagen, dass ich das mit dem Waschen und Einkleiden allein hinkriege. Vielleicht hilfst du mir anschließend, ihn in den Sarg zu hieven?«
Eigentlich ist Adalbert ja zum Skatspielen gekommen, aber statt dass die Karten auf dem Tisch liegen und Schmalzbrote vorbereitet sind, hat Heino ihn mit der Nachricht empfangen, dass Johann im Laufe des Nachmittags gestorben sei. Tot hat er im Sessel gehangen, als Heino eintraf, und im Fernsehen lief »buten un binnen« auf N3.
»Muss wohl ein Infarkt gewesen sein«, vermutet Heino traurig. »Er hatte ja schon lange Probleme mit dem Herzen. Aber dennoch ist er damit einundneunzig geworden.«
Noch immer stehen sie im Schlafzimmer und blicken auf den Toten, den sie gemeinsam aus der Stube hierhergetragen haben. Der alte Dorfarzt Josef untersucht ihn gerade. Eigentlich praktiziert Josef ja nicht mehr, aber irgendjemand muss den Totenschein schließlich ausstellen, wo doch die Straßen nicht passierbar sind und deswegen kein anderer Arzt nach Ostermoor kommen kann.
»Jaja, ein Infarkt«, bestätigt Josef, drückt sich die Hand ins schmerzende Kreuz und kommt langsam wieder hoch. Er steckt das Stethoskop in seine abgegriffene lederne Arzttasche. »War ja mit zu rechnen, dass er irgendwann am Herzen stirbt.«
»Nu gibt’s erst mal was zum Aufwärmen.« Heino dreht sich um. Wie gut, dass heute Skatabend ist, sonst wäre Johanns Ableben womöglich ein paar Tage nicht aufgefallen. Seit Gerda tot ist, muss er ja allein zurechtkommen.
Adalbert und Josef folgen Heino in die Stube, wo sein Vetter aus dem antiken Büfett aus Mahagoni-Holz drei Schnapsgläser und die Buddel Korn holt. Großzügig gießt er ein.
»Auf meinen Vadder. Auf Johann Jürgensen. Möge der Herrgott seinen Spaß an dem ollen Sturkopp haben. Prost.«
»Prost.«
Alle drei leeren das Glas in einem Zug. Man stößt nicht an unter solchen Umständen. Da gibt es klare Regeln.
Umständlich kramt Josef ein Formular aus seiner Tasche. Und die Brille. »Ach nee, das war das Falsche«, sagt er mehr zu sich, als er das Gestell auf der Nase hat, und sucht nach dem richtigen. Er ist ein wenig eitel, obwohl er den grünen Star hat. Den hat er aber zu spät bemerkt, kann jetzt auf einem Auge fast gar nichts sehen, und auf dem anderen wird es auch immer schlechter. Mit krakeliger Schrift füllt Josef den Bogen aus.
Johann hat sich keinen guten Termin zum Sterben ausgesucht, denkt Adalbert. So kurz vor Weihnachten. Und bei diesem Wetter. Seit Wochen ist das Thermometer nicht mehr über minus sechs Grad Celsius geklettert, und seit drei Tagen peitschen Schneestürme über Ostfriesland. Manches Haus ist auf der Ostseite unter riesigen Schneewehen versteckt. Die malerischen Küstenhäfen sind zugefroren, und die Presse der gesamten ostfriesischen Halbinsel ist sich einig: So was hat es das letzte Mal bei der Schneekatastrophe im Februar 1979 gegeben. Zwar wird die Tageszeitung seit drei Tagen nicht mehr nach Ostermoor geliefert, weil die Straßen nicht passierbar sind, aber das Internet funktioniert, und Adalbert bringt sich natürlich regelmäßig auf den aktuellen Stand.
»Meinst du wirklich, ich soll von Haus zu Haus gehen und Johanns Tod verkünden?« Adalbert fühlt sich ein wenig unsicher in seinem nigelnagelneuen Amt als Dodenbidder. So richtig kennt er sich mit den hiesigen Gepflogenheiten nicht mehr aus, schließlich wohnt er erst seit kurzem wieder im Dorf. Hilke wollte ja lieber ein Häuschen in Rastede, weil sie da nah bei ihren ehemaligen Kollegen aus dem Krankenhaus und dicht an ihrem Lieblingsrestaurant ist. Aber das Leben in Rastede ist teurer als das in Ostermoor, und so hat Adalbert sich für sein Heimatdorf entschieden. Hilke hat seine Gründe zwar eingesehen, jammert aber nun seit knapp einer Woche, wie es denn werden soll, wenn sich das Wetter nicht bessert. Sie habe kaum noch Lebensmittelvorräte und überhaupt, die Weihnachtsgeschenke müsste sie noch besorgen, und wie denn bei solchen Straßenverhältnissen die Kinder zu den Feiertagen herfinden sollen, und was sie kochen soll, wenn es im Dorf nicht mal einen vernünftigen Supermarkt gibt und alles abgeschnitten wie in Sibirien ist.
So ungern Adalbert es sich eingesteht, vielleicht war es wirklich ein Fehler, in sein Geburtsdorf zurückzukehren. Da nützen die niedrigen Lebenshaltungskosten nichts, wenn Hilke schlecht gelaunt ist. Ständig wirft sie ihm vor, das Dorfleben zu glorifizieren, und verdreht die Augen, wenn seine Mutter vom Tag seiner Geburt erzählt. Für Adalbert selbst hat das was Romantisches. An einem tief verschneiten Freitag Anfang Dezember wurde er in der Kate nebenan geboren. Vor siebenundfünfzig Jahren. Der Sturm hatte die Schneeflocken um das kleine Haus getrieben und die Schreie der Mutter im Wind zerstreut, während sein Vadder es vorzog, beim Skatspiel mit Onkel Johann und Schwager Edo auf die Nachricht der Hebamme zu warten. Heinrich Jürgensen ist bannig stolz auf seinen Erstgeborenen gewesen und hat ihm den Namen des preußischen Prinzen Adalbert verpasst, obgleich seine Frau lieber einen ostfriesischen Otto an ihre Brust gedrückt hätte.
»Na klar. Von Haus zu Haus und erzählst, dass Vadder gestorben ist«, bestätigt Heino und reißt ihn damit aus seinen Gedanken. »So hat er das auch immer gemacht, und so ist es Tradition. Du lädst die Nachbarn ein. Heut in drei Tagen ist Beerdigung, und wer möchte, kann übermorgen Abend zum Upwiesen kommen.«
Daran kann Adalbert sich noch aus seiner Kinderzeit erinnern. Damals fand er es spaßig, dass alle um den offenen Sarg bei einer Tasse Tee zusammensaßen und plauderten, als könne der Tote noch am Gespräch teilnehmen. Ja, in Ostfriesland gehört der Tod eben noch mit zum Leben. Dennoch hat Adalbert Zweifel, ob das mit der Beerdigung auch hinhaut.
Heino gießt noch einmal ein. »Prost.«
»Prost.« Adalbert merkt, dass seine Stimme zögerlich klingt.
Mit leisem Klirren landen die leeren Gläser auf dem niedrigen Couchtisch aus Glas, auf dem der Adventskranz auf einem goldfarbenen runden Teller mit Sternenausschnitten steht. Drei der roten Stumpenkerzen sind schon angebrannt. Engelshaar und goldlackierte Tannenzapfen zieren ihn. Hilke würde Zustände kriegen, wenn sie diesen Kranz sähe.
»Lass dir ruhig Zeit dabei«, sagt Heino. »Die Nachbarn laden dich auf einen Tee ein, und du erzählst ihnen von Vaddern. Und dass er ganz friedlich in seinem Fernsehsessel gestorben ist.« Er füllt die Gläser ein drittes Mal. »Den Pastor musst du auch einladen. Und notier dir, wer von den Frauen den Teekuchen backt. Lieber drei als nur einen. Die Leute haben immer ordentlich Appetit bei der Teetafel.«
»Is gut.« Adalbert sieht seinen Vetter bedröppelt an. Eine Frage hat er dennoch: »Sag mal, wenn kein Bestatter hier rauskommen kann, wo willst du denn für Onkel Johann einen Sarg herkriegen?« Einen Tischler gibt’s in Ostermoor nämlich schon lange nicht mehr, wie Adalbert weiß. Einen Bäcker auch nicht, aber der Schlachter ist noch da, morgens backt er als Nebengeschäft frische Brötchen auf, und einmal in der Woche ist Markt.
Sein Vetter blickt ihn nachsichtig an. »Man merkt, dass du lange weg gewesen bist«, sagt er. »Es ist nicht der erste harte Winter, der uns trifft. Darum haben wir in der Sakristei für solche Zwecke stets ein paar Särge auf Vorrat.« Bei diesen Worten schleicht sich ein verschmitztes Lächeln auf Heinos Gesicht. »Sieht ja keiner beim Gottesdienst. Und immer zu Beginn des Winters heben wir vorsorglich zwei Gräber aus. Damit wir unsere Toten beerdigen können, falls der Boden gefroren ist. So wie jetzt.«
Josef blickt vom Formular hoch und nickt. »Genau.«
Adalbert schluckt. Er hätte wirklich besser mit Hilke nach Rastede ziehen sollen. Doch er hat gedacht, in Ostermoor passiert nichts, außer dass der Hahn nachmittags um vier kräht statt morgens um sechs. Aber kaum ist der Laster des Umzugsunternehmens fort, setzt ein Schneesturm ein, und sein Onkel stirbt. Hilke sieht das bestimmt als schlechtes Omen. Hat sie vielleicht gar nicht so unrecht. Langsam beschleicht Adalbert der Verdacht, dass er mehr auf die Eingebungen und Gefühle seiner Frau hören sollte.
»Prost«, sagt Heino. Wie gut, dass Adalbert heute Mittag eine zweite Portion Grünkohl gegessen hat. Hilke kocht ihn mit Gänseschmalz, Zwiebeln und Hafergrütze; das Fleisch legt sie zum Garen obenauf. Schmeckt bannig gut. Das Fett, das beim Kochen in den Kohl gesickert ist, saugt wohl den Alkohol auf, jedenfalls spürt Adalbert maximal einen einzigen Korn.
»Für mich nicht mehr. Danke. Ich muss mal wohin, und dann will ich auch los«, sagt er, als Heino die Flasche schon wieder in der Hand hat. Im Aufstehen fasst Adalbert kurz an seine Hosentasche. Ja, das Smartphone ist drinnen. Vielleicht sollte er noch einmal ein Foto machen. »Für mich auch keinen mehr, ich muss auch los«, sagt Josef und erhebt sich schwerfällig.
Nachdem er seinen schwarzen Anzug angezogen und den Zylinder von Onkel Johann aufgesetzt hat, beginnt Adalbert seinen Rundgang bei Meta Harms, der Nachbarin zur Linken. Meta ist zehn Jahre jünger als Johann. Adalbert erinnert sich, dass sie schon eine Kittelschürze trug, als er noch ein Kind war. In ihrem kleinen Häuschen hat er das Gefühl, als sei die Zeit stehengeblieben, obwohl sie eine flotte Frisur trägt, die sie jünger aussehen lässt. Als er damals weggegangen ist, waren ihre Haare schon von grauen Fäden durchsetzt. Allerdings zu einem Knoten am Hinterkopf aufgesteckt.
»Ach, min Jung«, lamentiert sie, als er im Windfang den Schnee von seiner Jacke abgeklopft hat, »muss denn der olle Sturkopp ausgerechnet so kurz vor Weihnachten sterben? Aber er hat ja schon immer gern alles durcheinandergebracht. Nun komm man erst mal rin in die gute Stube.« In ihrer gemütlichen Wohnküche sitzen sie vor einer Tasse Ostfriesentee. Mit Kluntje und Wulkje, ganz wie es sich gehört. Auch in dieser Küche steht ein Adventskranz. Meta zündet die Kerzen mit einem langen Kaminstreichholz an. »Nein, nein, nein. Dass er ausgerechnet jetzt sterben muss. Ausgerechnet jetzt.« Neugierig schiebt sie ihr Kinn vor, auf dem weiße Barthaare sprießen. »Sah es heute wieder so unordentlich bei ihm aus? Der ließ ja alles fallen, wenn der vom Feld ins Haus kam. Schon Gerda hat sich regelmäßig darüber aufgeregt, dass sie nur deshalb Rückenprobleme hätte, weil sie ständig hinter Johann herräumen musste.« Meta verzieht das Gesicht, reckt den Hals und lehnt sich kopfschüttelnd zurück. »Wenn ich bei ihm drüben war, hab ich auch alles aufgehoben. Und ordentlich weggepackt. Hab mit ihm geschimpft, dass er nicht so hart schuften soll. Er hätte den Hof längst auf Heino überschreiben müssen. Dann wäre Heino bestimmt auch schon verheiratet, und Johann hätte sich an Enkelkindern erfreuen können. Aber Johann hat einen diebischen Spaß dran gehabt, seinen Sohn wie einen Knecht zu behandeln. Und jetzt … Aber egal.« Meta seufzt. »Seinen letzten Streich kann er Heino ja nun nicht mehr spielen.«
»Nee. Nun gehört der Hof ja Heino«, sagt Adalbert, dem es nicht gefällt, dass Meta über seinen gerade verstorbenen Onkel herzieht. Er kennt Johann nur als zwar etwas kauzigen, aber humorvollen Mann. »Was war das denn für ein Streich?«, fragt er trotzdem.
»Johann wollte mich heiraten. Das wollte er Heino an Heiligabend verkünden.« Meta sieht ganz ernst aus, als sie das sagt.
»Du machst jetzt ’nen Scherz«, vermutet Adalbert, obwohl er sich das fast nicht vorstellen kann, so traurig wie sie ist.
»Nee, nee, das stimmt schon. Ich krieg ja nicht so viel Rente, und Johann hat gemeint, dann hab ich wenigstens noch ’n büschen was dazu, wenn er mal stirbt. Er hat mir seit Gerdas Tod jeden Monat was gegeben. Und er hat gesagt, wenn’s sonst einfach wegfällt, kann ich ja auch seine Rente kriegen.«
Adalbert ist baff. Da hat er gedacht, in Ostermoor passiert nichts, und dann ist es hier doller als in der Großstadt. »Wie ist das denn nun, backst du einen Teekuchen?«
»Natürlich. Und noch ’nen Quarkstollen. Mit Rosinen drin und Mandeln. Is’ schließlich bald Weihnachten. Johann hat den immer so gern gegessen.«
Am Ende seiner Dodenbidder-Runde hat Adalbert vier Teekuchen-Zusagen, fünf weitere Korn getrunken, siebzehn Nachbarn wollen zum Upwiesen kommen, und die sechs Sargdragers hat er auch. Neben seinem eigenen Vater wollen Edo vom Nachbarhof, Frerich Freksen, Schlachter Hinrich, der Ortspolizist Reemt Freese, der immer behauptet, er sei kein einfacher Polizist, sondern ein Kommissar, und natürlich Adalbert selbst diese Aufgabe übernehmen.
Der Pastor macht sich gleich Notizen für die Andacht, die er bei der Gelegenheit als Abschied von Johann halten will.
»Eine Andacht? Beim Upwiesen?«
»Das ist Tradition, aber das Tröstelbier gibt’s erst bei der Teetafel.«
»Aha.« Adalbert merkt, dass er wirklich kein richtiger Ostfriese mehr ist, denn er kennt sich überhaupt nicht aus. Aber vielleicht war er noch zu jung, als er die letzte Beerdigung in Ostermoor miterlebt hat.
»Magst ’nen Korn?« Der Pastor hat die Flasche schon in der Hand.
Adalbert schüttelt den Kopf. Inzwischen spürt er den Alkohol doch im Blut, Hilkes Grünkohl hin oder her.
»Jaja, das Herz«, sagt der Pastor und genehmigt sich einen Doppelten und gleich noch einen Einfachen hinterher. »War wohl alles ein büschen viel Aufregung für Johann in der letzten Zeit.«
»Wieso? Was war denn los?« Da hat Heino ja gar nichts von erzählt. Aber vielleicht denkt man an solche Dinge auch nicht, wenn man seinen Vadder tot im Sessel findet.
»Na, die Regionalplanung hat ausgerechnet Johanns Land als Vorrangfläche für einen Windpark bestimmt. Mann, das war eine Aufregung im Dorf. Und Johann war vielleicht sauer. Der wollte kein solch modernes Zeug auf seinen Ackern, der wollte, dass alles so bleibt, wie es ist. Frerich Freksen hingegen, der Sohn vom alten Ubbo, der hätte sein Land liebend gern für einen Windpark hergegeben. Johann hat gewettert, Frerich sei nur zu faul zum Arbeiten, deshalb wolle er die neuen Windmühlen. Johann hätte nichts dagegengehabt, wenn Frerich die Dinger auf sein Land gestellt hätte. Aber das ging eben nicht, und das hat ihm wohl den Rest gegeben. Armer Kerl. Hätte er mal nach Gerdas Tod den Grund auf Heino überschrieben. Dann hätte er sich mit alldem gar nicht rumärgern müssen. Dann hätte er vielleicht mit Meta noch ein paar schicke Kreuzfahrten machen und seinen Lebensabend genießen können.« Der Pastor hebt das Schnapsglas, diesmal ist nur ein Einfacher drin. »Auf deine letzte Reise, Johann«, sagt er und spült den Korn hinunter.
»Mit Meta«, wiederholt Adalbert nachdenklich.
»Na ja.« Der Geistliche zwinkert ihm zu. »Johann war ein stattlicher Mann. Auch mit Anfang neunzig noch. Und Meta eine bodenständige Frau. Wenn man sie mal ohne Kittelschürze sieht …«
Hilke hat das Feuer im Kachelofen entfacht, als Adalbert nach Hause kommt. Die Teekanne mit der ostfriesischen Rose steht auf dem Tisch, daneben ein Teller mit Schmalzbroten. Drei dicke rote Stumpenkerzen brennen auf dem Adventskranz. Hätte Adalbert in den vergangenen knapp dreißig Ehejahren nach einer Erklärung dafür gesucht, weshalb er Hilke liebt, so wäre dieser Empfang einer der Gründe gewesen.
Leicht angeschickert vom vielen Korn und angefüllt von den vielen Gesprächen um seinen Onkel, lässt er sich in den dunkelroten Ohrensessel fallen und berichtet. Aufmerksam hört Hilke ihm zu.
Das Teegeschirr steht auf der großen Truhe im Wohnzimmer, die gefüllten Porzellankannen werden auf Stövchen warm gehalten. Wo sonst der Couchtisch steht, liegt nun Johann im Sarg. Friedlich sieht er aus. Heino hat ihm sein schönstes Hemd angezogen und die schwarze Krawatte. Dem Anlass entsprechend. Man legt zu einer Beerdigung keinen farbenfrohen Schlips an, hat Heino gesagt, nicht mal zu seiner eigenen. Darüber hat Adalbert noch nie nachgedacht, aber es stimmt natürlich, eine schwarze Krawatte sieht würdiger aus. Die roten Pünktchen, die ihm schon vorgestern aufgefallen sind, kann man immer noch in Johanns Gesicht sehen.
»Seit wann hatte er eigentlich die Allergie?«, fragt Adalbert seinen Vetter. »Ist ja blöd, sich im hohen Alter noch mit so was rumplagen zu müssen.«
»Der hatte keine Allergie.«
Einige der Klappstühle, die sie über die rutschigen Schneestraßen vom Gemeindehaus herübergetragen haben, stehen um den Sarg herum, andere lehnen an der Wand. Jeder, der Johann die Ehre erweisen möchte, kriegt auch einen Sitzplatz.
Adalbert beobachtet Heino. Der wirkt gelassen und kein bisschen traurig. Kein Wunder, er erbt ja jetzt den Hof.
Das Geschnatter der Anwesenden beim Upwiesen erinnert Adalbert an die Schar der Gänse, die er im letzten Frühjahr in Dangast gesehen hat. Richtig lebhaft geht es rund um Johanns Sarg zu. »Weißt du noch, wie Johann …«, beginnen viele Sätze, und beinahe hat Adalbert das Gefühl, sein Onkel wäre mittenmang in dieser netten Runde. Er selbst sitzt neben Reemt, dem Dorfpolizisten, mit dem er auf seiner Dodenbidder-Runde lange geschnackt hat. Hilke und Meta kümmern sich um den Tee, und sowieso hilft jeder mit, als seien sie nicht nur eine Dorfgemeinschaft, sondern eine große Familie.
Immer noch ist der Wind eisig, aber zumindest hat es aufgehört zu schneien, als Adalbert und Hilke dick vermummt auf die alte Kirche mit den gotischen Fenstern zulaufen. Das Gotteshaus bildet den Mittelpunkt des Friedhofes und wurde auf einer Warf errichtet. Nachbarn kommen ihnen entgegen, schließen sich dem Trauerzug an. Ein schwerer Weg liegt vor ihnen. Den Sarg haben Adalbert und die anderen fünf Sargträger schon am frühen Vormittag in die Kirche geschafft, in deren Altarraum sich bereits die Weihnachtskrippe und auch ein festlich geschmückter Tannenbaum befinden. Zwei Tage noch bis Heiligabend.
Der Pastor hält eine Trauerpredigt, die bei allen gut ankommt, und trotz der Kälte tragen die Sargdragers Johann nach der Aussegnung dreimal um den Friedhof. Gegen den Uhrzeigersinn. Dem Teufel entgegen. Ganz wie es der Tradition entspricht. Die ganze Zeit über läuten die Kirchenglocken, so dass auch jene, die krank sind oder wegen der vereisten Straßen den Weg in die Kirche nicht gewagt haben, in Gedanken dabei sein können.
»Ich geh schon mal vor«, raunt Meta Adalbert zu, als die Kondolenzbezeugungen am Grab stattfinden, »kümmer mich um den Butterkuchen und mach das Tröstelbier warm. Dann ist alles fertig, wenn ihr gleich kommt.«
Adalbert nickt und beobachtet seinen Vetter, der gefasst die Beileidsbekundungen entgegennimmt. Frerich Freksen wirft Heino einen neidvollen Blick zu. Das scheint ihm zu gefallen, denn prompt erhellt ein kleines Lächeln das Gesicht seines Vetters.
Der Butterkuchen schmeckt. Adalbert liebt dieses trockene, mit Zucker und Mandeln belegte Blechkuchenbackwerk, das warme Tröstelbier hingegen, in dem Brotstücke schwimmen, ist nicht so sein Fall, doch die Trauergäste langen ordentlich zu. Erneut machen Anekdoten über Johann die Runde, aber man wendet sich auch wieder dem Leben zu.
»Wird denn jetzt der Windpark auf deinem Grund gebaut?«, fragt Frerich, und sein Blick ist nicht mehr nur neidisch, sondern auch ein bisschen lauernd. Er hat wohl immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, selbst die Windanlagen aufstellen zu können.
»Selbstverständlich«, gibt Heino aufgeräumt als Antwort. »Man darf sich dem Fortschritt nicht verschließen. Jeder muss seinen Beitrag zur Energiewende leisten.«
»Hört, hört«, sagt Edo, der mal wieder an seinem Hörgerät rumfummelt. Wahrscheinlich hat er gar nicht mitgekriegt, dass sein Neffe jetzt das umsetzen will, was sein Bruder auf gar keinen Fall zugelassen hätte.
Nach zwei Stunden sind alle Anekdoten erzählt, Kuchen, Tee und Tröstelbier geleert, und die Gäste verabschieden sich.
»Kopp hoch«, sagt Schlachter Hinrich, als er geht. Er klopft Heino auf die Schulter, Meta gibt ihm mit einem lauten Schniefen die Hand; die ostfriesische Verabschiedung fällt so aus, wie die Ostfriesen sind. Wortkarg, aber herzlich.
Nur Reemt und Adalbert bleiben zurück.
»Wollt ihr noch ’nen Korn?«, fragt Heino, der sichtlich erleichtert ist, die Teestunde hinter sich gebracht zu haben. Er holt die Flasche aus dem Büfett.
Reemt und Adalbert schütteln den Kopf.
»Ich muss jetzt leider dienstlich werden«, sagt Reemt mit leichtem Bedauern in der Stimme, »aber ich habe zumindest so lange gewartet, bis die Gäste fort waren.«
»Was ist denn los?« Heino kneift die Augen zusammen, und eine steile Falte teilt seine Stirn.
»Ich muss dich mitnehmen«, antwortet Reemt. »Du bist des Mordes an deinem Vater verdächtig. Ich muss dich bei mir im Gästezimmer einschließen, bis das Tauwetter einsetzt und wir nach Wittmund zum Kommissariat fahren können.«
»Was ist das denn für ’n Unsinn?« Heino lacht schrill. »Wir haben meinen Vater gerade beerdigt, und nun behauptest du, ich hätte ihn umgebracht? Da sieht man mal wieder, warum du es nicht zu Höherem als einem einfachen Dorfpolizisten gebracht hast.«
»Kommissar«, korrigiert Reemt ungerührt.
»Ach, ist doch wurscht! Wie willst du das denn beweisen?«
In diesem Augenblick fühlt sich Adalbert ziemlich unwohl, doch es nützt nichts, nun muss er Farbe bekennen.
»Mir kam das mit den roten Pünktchen merkwürdig vor«, gibt er zu. »Hilke hat da nämlich neulich mal was von erzählt. Das war an ihrem letzten Arbeitstag in Oldenburg. Und darum hab ich Onkel Johanns Lider angehoben. Da waren auch die Punkte. Und im Mund auch. Da hab ich eben mit dem Handy Fotos gemacht, als du Edo zur Tür gebracht hast. Und die hab ich Hilke gezeigt. Die hat gesagt, das sieht aus wie Tod durch Ersticken.«
»Du dummer Hund.«
Adalbert guckt schuldbewusst drein, aber eigentlich müsste sich ja Heino schuldig fühlen.
»Adalbert hat mir die Bilder geschickt«, erklärt Reemt. »Und die in der Rechtsmedizin in Oldenburg vermuten das Gleiche wie er. Eigentlich hätte ich dich schon vorgestern verhaften müssen, aber Adalbert bat mich, bis nach der Teestunde zu warten. Konntest ja sowieso nich’ weg bei dem Wetter.«
»Ha!«, ruft Heino jetzt. »Damit hättet ihr eher kommen müssen. Nun ist Vaddern beerdigt, und ihr werdet ihn ja wohl nicht exhumieren wollen.«
»Brauchen wir nicht«, erklärt Reemt nachsichtig. »Wir haben den Sarg zwar ins Grab senken und jeden sein Schäufelchen Erde draufwerfen lassen, aber weiter ist keine Erde ins Grab gekommen. Auch die Sargbänder waren noch dran. Während wir hier reden, ist der Sarg längst wieder oben. Wir haben mit dem Schlachter gesprochen, Hinrich stellt uns seinen Kühlraum so lange zur Verfügung, bis die Straßen wieder passierbar sind. Nee, nee, nee, Heino«, sagt Reemt bedauernd, »warum konntest du nicht warten, bis dein Vater von allein stirbt?«
»Der olle Sturkopp!«, bricht es aus Heino heraus. »Der wollte die Windkraftanlagen ums Verrecken nicht, dabei bringen die uns pro Jahr vierzigtausend Euro! Pro Stück!« Heino versucht es im beschwörenden Tonfall. »Reemt, Vadder war einundneunzig. Nu häng doch die Sache nicht an die große Glocke. Ihr beiden, Adalbert und du, ihr kriegt auch was ab. Jeder zehntausend. Pro Jahr. Was haltet ihr davon?«
Reemt schüttelt den Kopf. »Keine Chance.«
Auch Adalbert verneint.
Schließlich ist er der Erbe des Jürgensschen Landbesitzes und damit derjenige, der die hohen Summen kassiert, wenn sein Vetter für den Mord an Onkel Johann im Gefängnis sitzt. Ja, es war fast so etwas wie Gottes Fügung, dass Hilke und er nicht nach Rastede, sondern nach Ostermoor gezogen sind.
Feliz Navidad
Es ist ein Grad unter null, und pünktlich zum ersten Advent legen sich die ersten weißen Flocken wie Puderzucker über den Weihnachtswinterwald am Holzmarktbrunnen. An den Ständen des Weihnachtsmarktes rund um die Marktkirche glitzern Lichterketten. Überall setzen sich mit Kugeln geschmückte Weihnachtsbäume in Szene, und der Duft von Glühwein, Feuerzangenbowle und Schmalzkuchen liegt in der Luft. Schräg gegenüber dem Kirchenportal ist eine Bühne aufgebaut. Die Menschen stehen dicht gedrängt davor und lauschen dem Chor. So auch Felicia und ihr Mann Adrian. Als die Sänger nach Dreaming of a white Christmas auch noch Lulajze Jezuniu – Schlafe, mein Jesuskind anstimmen, steigen Felicia Tränen in die Augen. »Frédéric Chopin hat das Lied mit seinem Scherzo in h-Moll unsterblich gemacht.«
Adrian legt den Arm um seine Frau und drückt sie an sich. »Und erst die Weihnachtsklavierstücke von Béla Bartók! Die sind unvergleichlich, wenn du sie spielst.«
Die Musik hat gewechselt. Feliz Navidad dringt nun von der kleinen überdachten Bühne zu ihnen herüber. Felicia drückt Adrians Hand. »Weißt du, wovon ich manchmal träume? Einfach mit einem One-way-Ticket in die Karibik fliegen und neu durchstarten. So wie in dem Film neulich.«
»Träum weiter, Kleines. Solche wie wir kommen nicht mal an den Goldstrand.«
Eine feste Schneeschicht von 30 Zentimetern liegt kurz vor dem dritten Advent über ganz Norddeutschland. Beständige Minusgrade sorgen dafür, dass nichts wegtaut. Die Räumdienste arbeiten ununterbrochen, auch heute, einem Freitag, an dem es überhaupt nicht hell werden will.
Adrian packt seine Trompete in den Koffer. Ausnahmsweise darf er allein den Mercedes seines Chefs steuern. Werner Blumenthal hat einen wichtigen Termin. Auch mal schön, den Schwätzer nicht neben sich sitzen zu haben, denkt Adrian und will gerade den elektronischen Starter bedienen, als sein Handy vibriert. Felicia.
»Adrian«, stammelt sie leise. Kälte steigt in ihm hoch, noch eisiger als der Frost draußen vor der Autotür. »Du musst sofort kommen.«