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Hauptkommissar Wiesmann wusste, dass ihn Reisegesellschaften nervten, trotzdem hatte er die Rhein-Mosel-Flusskreuzfahrt gebucht. Doch entgegen seiner Vorbehalte fand er allmählich Gefallen an der Tour – und am Beobachten der Mitreisenden. Das merkwürdige Verhalten eines Mannes fiel ihm dabei besonders auf.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte er nicht, dass ihn die kommenden Ereignisse auf die Spuren eines bis dahin ungelösten Falles, den brachialen Einbruch in ein Leipziger Juweliergeschäft führen würden und die Ermittlungen ein unkalkulierbares Risiko bargen. Und er konnte nicht vorhersehen, dass diesmal Gefühle und Emotionen eine gewichtige Rolle spielten.
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Ein Kriminalroman
von Katharina Kohal
Inhaltsverzeichnis
Ein Überfall
Eine offene Rechnung
Das Bistro
Ein Kommissar on Tour
Theo Kölldeck
Unterwegs in Alken
Ungeduld
Der dritte Tag
Buddy
Tag vier der Reise
Der Clash
Ein Verdacht
Zurück im Alltag
Das Loin de la côte
Miriam
Ein Angebot
Eine Beunruhigung
Die Chefin
Der mysteriöse Fremde
In Bernkastel
Begegnungen
Neue Ängste
Ein angenehmer Abend
Nachtgedanken
Ein dunkler Punkt
Lichtblicke
Fatale Entscheidung
Der nächste Tag
Schmerzlicher Rückblick
Ein konkreter Plan
Eine neue Chance
Der Super-Recognizer
Entscheidende Erkenntnis
Unverhofft
Auf der Flucht
Konfrontationen
Miriam
Offene Fragen
Fragile Hoffnungen
Klärende Worte
Ermutigende Aussichten
Neue Chancen
Zurück im Alltag
Verborgene Emotionen
Entscheidungen
Zum Schluss
Impressum
Das Buch
Hauptkommissar Wiesmann wusste, dass ihn Reisegesellschaften nervten, trotzdem hatte er die Rhein-Mosel-Flusskreuzfahrt gebucht. Doch entgegen seiner Vorbehalte fand er allmählich Gefallen an der Tour – und am Beobachten der Mitreisenden. Das merkwürdige Verhalten eines Mannes fiel ihm dabei besonders auf.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte er nicht, dass ihn die kommenden Ereignisse auf die Spuren eines bis dahin ungelösten Falles, den brachialen Einbruch in ein Leipziger Juweliergeschäft führen würden und die Ermittlungen ein unkalkulierbares Risiko bargen. Und er konnte nicht vorhersehen, dass diesmal Gefühle und Emotionen eine gewichtige Rolle spielten.
Über die Autorin
Eine Prise Humor, ein Schuss Romantik und mitunter ein Hauch Fernweh sind die Zutaten für ihre Kriminalromane.
Katharina Kohal lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Mit dem Eintritt in den Ruhestand öffneten sich ihr neue Freiräume und Möglichkeiten, und sie entdeckte ihre Lust am Schreiben neu.
Bisher erschienen von ihr:
»Ein fast perfektes Team«,
»Mehr als ein Delikt«,
»Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus«,
»Eine mörderische Tour«,
»Cyber Chess mit tödlicher Rochade«,
»Verstörende Erinnerung« und
»Mosel, Morde und Miseren«.
Der 5. März 2019 war ein Dienstag, und es war in den frühen Morgenstunden in der Leipziger Innenstadt, genau um 3.54 Uhr. Das, was sie vorhatten, war minutiös geplant und bedurfte außer einer brutalen Entschlossenheit ein hohes Maß an Skrupellosigkeit. Das Fluchtauto, ein weißer Mazda CX-5, stand in einer Seitengasse bereit. In dem zweiten Wagen, einem blauen Skoda Octavia, der ebenfalls Stunden zuvor gestohlen wurde, saßen zwei schwarzgekleidete, maskierte Männer: Kölldeck und Buddy.
Letzterer entschied: »Jetzt!«
Kölldeck ließ den Motor an. Der Skoda raste los, direkt auf das Juweliergeschäft zu, rammte mit brachialer Gewalt die Eingangstür, riss das Rollgitter aus der Verankerung und zerstörte dabei das Sicherheitsglas.
Unmittelbar nach dem Crash stürmten beide Täter in den Laden. Der erwartete Warnton der Alarmanlage blieb aus. Oder wurde ein stummer Alarm ausgelöst?, schoss es Kölldeck durch den Kopf. Doch zu Überlegungen war keine Zeit. Er und Buddy begannen die Auslage der Frontschaufenster zu plündern. Alles wanderte in den bereitgehaltenen Rucksack. Dann schlug Buddy mit schwerem Werkzeug auf zwei weitere Schmuckvitrinen ein. Das Glas zerbarst unter den Schlägen. Auch deren Inhalt packte er in Sekundenschnelle in den Sack. Gleich darauf wandte er sich der größten Vitrine zu, sie war der Blickfang im Raum. Mit grimmiger Entschlossenheit rammte er die Frontglasscheibe ein. Hinter ihr lagen die wertvollsten Stücke: Das Herzstück war ein Ensemble, bestehend aus Collier, Ohrringen, Ring und Armband. Die hochkarätigen Brillanten waren in Platin gefasst. Endlich gab das Glas unter den brachialen Schlägen nach. Alles, was er greifen konnte, warf er in den Rucksack.
Unterdessen räumte Kölldeck das Schaufenster aus, das zur Messehofpassage zeigte. In ihm lagen Luxusuhren, Perlenketten, Diamantanhänger und Ringe aus. Schon Tage zuvor hatten sie durchs Schaufensterglas die wertvollsten und teuersten Exemplare ausgekundschaftet. Keines der Stücke lag preislich unter 6.000 €, ein paar Uhren sogar weit über 20.000 €. Wie im Rausch packte er alles, was in Reichweite lag, in den bereitgestellten Rucksack.
Plötzlich setzte die Alarmanlage, wenn auch mit Verzögerung, doch noch ein. Panisch sah Kölldeck sich nach seinem Kumpan um.
»Nerven behalten«, ermahnte der. »Das dauert, eh die hier sind. Los, weitermachen!«
Beide schlugen auf die letzte Vitrine ein, bis auch deren Glas zerbrach. Sekunden verstrichen, derweil der Alarmton ununterbrochen schrillte.
Kölldeck spürte den Schweiß, der ihm in die Augen rann und brannte. Aber er sackte weiter die Schmuckstücke ein, die in der zerschlagenen Glasvitrine lagen.
Die ganze Aktion hatte nicht länger als acht Minuten gedauert. Unter den gellenden Ton der Alarmanlage mischte sich jetzt Sirenengeheul. Erst aus der Ferne, dann bedrohlich nahe.
»Wir müssen weg!«, rief Buddy.
Das ließ Kölldeck sich nicht zweimal sagen. Ohnehin wollte er den Tatort schnellstmöglich verlassen und lief in Richtung Tür, schob sich an dem Skoda vorbei, dessen demolierte Frontschürze in das Geschäft ragte, riss sich dabei den rechten Jackenärmel auf und drehte sich hastig nach seinem Komplizen um. Mensch, wo bleibt der denn!, dachte er voller Ungeduld. Aber egal ob mit oder ohne Buddy: Er musste schleunigst verschwinden. Sein Ziel war der weiße Mazda, der um die Ecke in einer Seitenstraße stand.
Das alles war genau fünf Jahre, zwei Monate und zehn Tage her. Was aus seinem ehemaligen Komplizen geworden war, wusste Kölldeck nicht; sie hatten sich seitdem nicht mehr gesehen. Aber er hatte eine vage Ahnung.
Jetzt stieg er aus dem Zug, lief den Bahnsteig entlang, dann weiter durch die große Halle und verließ ein paar Minuten später den Leipziger Hauptbahnhof.
Das meiste war ihm sofort wieder vertraut, die lauten Verkehrsgeräusche, das Gedränge an der Zentralhaltestelle, selbst die Gerüche glaubte er wiederzuerkennen.
Kölldeck hielt die Nase in die kühle Frühlingsluft. Die nächsten Tage würde er brauchen, um sich einzurichten, neu zu orientieren, eventuell auch alte Verbindungen zu erneuern. Und dann erst würde er seinen Plan umsetzen, den er sorgfältig erdacht hatte.
Seit nunmehr fünf Wochen war Theo Kölldeck in Leipzig, seinem vertrauten Umfeld. Vielleicht fühlte er sich innerlich noch nicht so richtig angekommen, doch zumindest gelang es ihm, so nach und nach ein Stück des gewohnten Alltags zurückzugewinnen. Der Start war ganz passabel.
In den vergangenen Jahren fand er ausreichend Gelegenheit, sich an jenen Moment im Juweliergeschäft zu entsinnen, als das Sirenengeheul des Polizeieinsatzwagens bedrohlich lauter wurde. Damals kam er nicht dazu, die entscheidenden Details wahrzunehmen. Im Ohr hatte er noch Buddys dringende Mahnung: »Wir müssen weg! Los, lauf!« Das waren die letzten Worte, die er von seinem Komplizen gehört hatte.
Immer wieder kam Kölldeck die Szene in Erinnerung, wie er selbst sich hastig an dem demolierten Skoda vorbei zwängte und sich nach Buddy umdrehte. Etwas stimmte nicht in dem Augenblick. Aber das fiel ihm erst im Nachhinein auf. Manches konnte er nur erahnen, doch unterdessen glaubte er, zu wissen, wie alles zusammenhing.
Jetzt würde er seine Mission, die schon zu einer Art persönlicher Obsession geworden war, endlich erfüllen können. Er hatte eine Rechnung offen. Und die würde er, komme, was wolle, begleichen. So war zumindest der Plan. Doch die Zeit dafür war knapp: In reichlich einem Monat, am 1. August, würde er eine neue Arbeitsstelle antreten. Den Freiraum, der ihm bis dahin blieb, musste er nutzen.
Auch wenn die Recherchen, die er täglich seit seiner Ankunft betrieben hatte, recht erfolgreich waren, so nahm doch alles Weitere seine ganze Aufmerksamkeit und Zeit in Anspruch. Das Gesicht hatte er sich sorgsam eingeprägt, und der erhoffte Erfolg war den Aufwand wert.
Vor zwei Tagen hatte ihm der Zufall in die Hände gespielt. Aber genaugenommen war es kein Zufall, sondern das Ergebnis seiner Beharrlichkeit, dass er die entscheidende Information bekam. Er fand sie in einem neutralen Umschlag. Der Absender des Briefes bestand aus einer Fantasieadresse, denn weder Ort noch Postleitzahl existierten in der Realität. Wie alle anderen Postsendungen öffnete er auch diese mit äußerster Sorgfalt. Enthalten war ein persönlicher Reiseplan, ausgestellt von einem Leipziger Touristikunternehmen. Außer den Terminen 05.07. bis 12.07. standen der Name des Reisenden und die konkreten Angaben zum Start und des Routenverlaufs darin. Kölldeck hätte die Angelegenheit als normale Reiseunterlagen betrachtet, wäre da nicht dieses Post-it auf dem Deckblatt. Die Handschrift kannte er: »Treffen am bekannten Ort«, war auf dem gelben Klebezettel zu lesen – weder eine Orts- noch eine Zeitangabe, nur diese dürftigen vier Worte. Aber sie reichten ihm, um zu erkennen, wer sie geschrieben hatte.
Alle Zweifel waren mit einem Schlag verflogen; jetzt war er sicher, dass er die richtige Spur gefunden hatte. Endlich gab es einen konkreten Anhaltspunkt, der seine weiteren Aktivitäten bestimmte.
Bis zum Start der Reise, am 5. Juli, blieben ihm knapp zwei Wochen Zeit.
Kölldeck zückte sein Smartphone und fotografierte den Reiseplan und den handschriftlichen Klebezettel ab. Dann schob er die Unterlagen wieder in das Kuvert, klebte es sorgfältig zu und steckte es in den Briefkasten zurück.
Miriam hatte ihn gleich entdeckt. Wie immer saß der schweigsame Fremde etwas abseits von den anderen Gästen, bestellte einen Kaffee und ließ sich die Tageszeitung geben.
Obwohl sie den Mann nie zuvor gesehen hatte, kamen ihr die Gesichtszüge seltsam bekannt vor. Sie erinnerten sie an jemanden, doch sie kam nicht darauf, an wen. Das erste Mal, als sie ihn bemerkte, fiel er ihr auf, weil er ihrer Ansicht nach nicht zu den üblichen Gästen passte, weder altersmäßig noch vom Verhalten her. Sie schätzte den Mann auf Anfang fünfzig. Die Leute, die hier verkehrten, waren deutlich jünger, gesellig und originell gekleidet. Ein paar verkrachte Existenzen, Möchtegern- oder echte Künstler waren darunter, die meisten aber waren Besitzer kleinerer Boutiquen. Einige kannte sie namentlich und war mit ihnen per du. Und immer blieb trotz aller Geschäftigkeit auch Zeit für eine Plauderei zwischendurch. Doch mit dem distanzierten Fremden, der vor zwei Wochen zum ersten Mal hier auftauchte, unterhielt sie sich nie. Sie wagte nicht, ihn anzusprechen. Und wenn er seinen Kaffee bestellte, sah er an ihr vorbei. Generell schien er die Gesellschaft der anderen zu meiden. Miriam fragte sich, warum er überhaupt hier war. Vielleicht wartete er ja auf jemanden? Sie verschwendete keinen weiteren Gedanken daran und widmete sich ihren Aufgaben. Obwohl es heute wieder mal turbulent zuging, wechselte sie mit ihren Gästen ein paar Worte. Wie an den meisten Wochentagen herrschte im Loin de la côte auch an diesem Mittwochnachmittag reger Betrieb. Alles musste flott von der Hand gehen.
Das kleine Bistro befand sich in einem ehemaligen Industriegebäude in Lindenau, einem Leipziger Stadtteil, und galt als Geheimtipp. Obwohl das Ambiente eher unauffällig und der Ort unspektakulär war, hatte das Loin de la côte etwas Besonderes an sich. Die beschwingte Atmosphäre lag vor allem an Miriam und Jérôme, ihrem Kollegen. Die Art, wie sie sich bei der Bedienung der Gäste tänzerisch umeinander bewegten, sorgsam darauf bedacht, sich nicht zu berühren, mutete wie eine durchdachte Choreografie an. Er schlängelte sich mit einem entwaffnenden Lächeln an ihr vorbei, wie um zu signalisieren, dass es keineswegs seine Absicht sei, ihr zu nahe zu treten.
Sie waren kein Paar, und so sollte es, zumindest nach Miriams Vorstellungen, auch bleiben.
Ihren Heimatort hatte sie vor Jahren verlassen und war in der Anonymität der Großstadt untergetaucht. Eine Rückkehr war ausgeschlossen. Dafür gab es einen sehr persönlichen Grund, über den sie nie sprach, auch nicht mit ihren neugewonnen Leipziger Freunden. Und erst recht nicht mit Jérôme.
Im Stadtteil Lindenau, einem belebten Viertel mit originellen Geschäften, Cafés, alternativen Ateliers und kleinen Galerien hatte Miriam eine neue Heimat gefunden. Das Flair entsprach genau ihrer Mentalität. Und von dieser wiederum profitierte das Loin de la côte. Den Namen des Bistros hatte sich Jérôme erdacht, eine Reminiszenz an seine bretonische Heimat. Die Bezeichnung, die übersetzt »Weit entfernt von der Küste« bedeutete, fand die Chefin irreführend und damit unpassend für das in einem ehemaligen Industriegebiet gelegene Bistro. Doch nach einigen Überlegungen stimmte sie zu. Es fiel zumindest auf und hob sich von den herkömmlichen Namen ab.
Corinna Wilbert, eine kompetente Geschäftsfrau undefinierbaren Alters, führte seit ein paar Jahren das kleine Bistro. Warum sie ausgerechnet in die Gastronomie eingestiegen war, wussten Miriam und Jérôme nicht, wie ihnen generell kaum etwas aus dem Leben ihrer Chefin bekannt war. Nur, dass sie früher in einer anderen Branche tätig war, hatten sie zufällig erfahren. Im Loin de la côte kümmerte sie sich ausschließlich um die finanziellen Belange, alles Weitere, die Organisation des täglichen Betriebes, Einkäufe, Kochen und Bedienung der Gäste, überließ sie ihren beiden Angestellten. Nur hin und wieder ließ sie sich im Bistro blicken. Miriam und Jérôme war es recht, und sie hatten sich daran gewöhnt, dass ihre Chefin häufig nicht zugegen war, so hatten sie freie Hand und schmissen den Laden weitestgehend ohne sie.
Jetzt sah Miriam zu dem Fremden hinüber, der still in einer Ecke des Gastraumes saß. Obwohl die Tageszeitung aufgeschlagen vor ihm lag, nahm er das Geschehen um ihn herum akribisch wahr. Sein Blick wanderte ständig zur Tür oder glitt über die Köpfe der anderen Gäste hinweg. Kurzzeitig blieb er an einem Mann hängen, der gerade das Bistro betrat. Bevor dieser in seine Richtung schauen konnte, sah er weg und vertiefte sich in die Zeitungslektüre.
Miriam kannte den Neuankömmling nur flüchtig, auch ihn hatte sie hier im Loin de la côte zum ersten Mal vor ein oder zwei Monaten gesehen. Altersmäßig schätzte sie ihn auf Ende vierzig. Jetzt bestellte er einen Cappuccino. Im Gegensatz zu dem schweigsamen Fremden zeigte er sich etwas aufgeschlossener, doch meistens saß auch er allein am Tisch. Hin und wieder wechselte Miriam ein paar Worte mit ihm.
»Kennen Sie hier jemanden von den anderen Gästen?«, wollte sie wissen.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, niemanden. Ich habe früher mal in der Gegend gewohnt. Aber alles hat sich seitdem stark verändert.« Dann fragte er, wie lange es das Bistro schon gäbe. Damals hätte er es nicht bemerkt.
Miriam gab bereitwillig Auskunft. Zuvor sei an dieser Stelle ein Geschäft gewesen. Das Loin de la côte existierte erst seit vier Jahren, hieß aber früher anders. Sie hatte es nur unter dem neuen Namen kennengelernt.
»Sind Sie und der junge Mann die Eigentümer?«
Sie lachte: »Schön wär’s. Es gehört unserer Chefin, Frau Wilbert.«
»Dann hat sie sich wohl den merkwürdigen Namen des Bistros ausgedacht?«
»Nein, das war die Idee meines Kollegen.« Mit den Worten »So, ich muss jetzt leider weitermachen«, nahm sie das leere Geschirr vom Tisch und verschwand in Richtung Küche, wo Jérôme sich um die Zubereitung der Galettes Bretonnes kümmerte.
Flusskreuzfahrten muss man mögen – oder die Finger davon lassen. Hauptkommissar Wiesmann mochte sie ganz eindeutig nicht. Trotzdem hatte er die Tour gebucht.
Genervt sah er sich um. Er hatte es ja gleich gewusst: Das war nichts für ihn. Aber Karen Wolf, seine Kollegin, hatte ihn überredet, ein paar Tage freizunehmen, und ihm einen Katalog mit Last-Minute-Flussreisen auf den Tisch gelegt. Zuerst hatte er das Ansinnen rundum abgelehnt, doch nach weiterer Überlegung und weil ihm nichts Besseres einfiel, fand er den Vorschlag gar nicht so verkehrt. Auf der MS Silverstar mit dem Reiseverlauf Rhein-Mosel waren noch Plätze frei. Also buchte er die letzte verfügbare Einzelkabine. Und vorgestern, an einem Dienstag, ging es los. Wiesmann wurde in den frühen Morgenstunden um fünf Uhr zwanzig von einem Großraumtaxi abgeholt. In Großkugel stieg er in einen bereitstehenden Bus um, und die Fahrt verlief weiter bis Köln, dem Ausgangspunkt der Schiffsreise. Vom zeitigen Aufstehen einmal abgesehen war das Ganze für ihn sehr komfortabel. Auch die Einschiffung erfolgte problemlos wie vorgesehen um vierzehn Uhr.
Was er sich von den acht Tagen Flusskreuzfahrt erhoffte, wusste er selbst nicht so genau. Wahrscheinlich versprach er sich ein wenig Abwechslung vom Arbeitsalltag, der in den letzten Monaten außer einem Mordfall vor allem von Routinearbeiten, wie zum Beispiel der Aufklärung von Eigentumsdelikten, geprägt war. Vielleicht aber suchte er auch etwas Abstand zu seinem neuen Mitarbeiter, Kommissar Völlner.
Seit Wiesmann vor einem halben Jahr nach Leipzig in die Polizeiinspektion versetzt wurde, nur vorübergehend, wie es hieß, war der andere ständig in seiner Nähe. Sie saßen gemeinsam in einem Dienstzimmer, und das passte Wiesmann gar nicht. Nicht weil er ernsthaft etwas an dem jüngeren Kollegen auszusetzen hätte, aber dessen permanent gute Laune und Redseligkeit gingen ihm zurzeit auf die Nerven. Er brauchte ein paar Tage Ruhe, wollte einfach mal abschalten, für sich allein sein.
Und genau dafür war die MS Silverstar der falsche Ort. Um ihn herum wimmelte es in erschlagender Überzahl von gesprächigen Mitreisenden, meistens Senioren. Manche von ihnen waren körperlich eingeschränkt, aber erwartungsvoll schienen sie alle. Auf siebzig Plus schätzte Wiesmann das Durchschnittsalter. Mit seinen dreiundfünfzig Jahren fühlte er sich eindeutig fehl am Platz.
Er holte sich an der Theke ein Bier, all-inclusive, verschwand aufs Oberdeck und suchte sich ein Plätzchen weitab von den wenigen anderen Passagieren, die sich um diese Zeit dort aufhielten. Für die nächste halbe Stunde würde man ihn in Ruhe lassen, dann gäbe es das Abendessen. Die gemeinsamen Mahlzeiten im Schiffsrestaurant waren die Situationen, die er bei der Buchung der Reise nicht bedacht hatte. Sie und die unvermeidlichen Tischgespräche stellten für ihn die größte Herausforderung dar. Er könnte keineswegs ungestört an einem Einzeltisch, allein für sich, in Ruhe das Essen genießen, unbeachtet von den Mitreisenden, nein, Wiesmann wurde ein Platz an einem Sechsertisch zugewiesen. Das passte ihm überhaupt nicht, denn er musste Konversation betreiben, sich mit den anderen unterhalten. Gegen seine Tischnachbarn, ein älteres Ehepaar, eine Frau mit ihrer erwachsenen Tochter und den alleinreisenden Herrn, der ihm gegenübersaß und so ungefähr in seinem Alter war, hatte er zunächst nichts einzuwenden. Trotzdem strengte ihn das Beisammensein an. Wie selbstverständlich wurde er in die Gespräche mit eingebunden, und wollte er nicht gänzlich unhöflich erscheinen, musste er zumindest Antwort geben. Auch der andere Herr ihm gegenüber wäre vermutlich lieber für sich allein geblieben. Er war höflich, wirkte distanziert und äußerte sich nur, wenn er direkt angesprochen wurde. In unbeobachteten Momenten, so glaubte Wiesmann bemerkt zu haben, wanderte sein Blick durch das Bordrestaurant, so als suche er jemanden und wolle sich vergewissern, dass derjenige noch da sei. Dann widmete er sich wieder schweigend seiner Mahlzeit.
Gestern Abend, kurz bevor die MS Silverstar in Bonn anlegte, fiel ihm auf, dass sich der Mann in der Nähe der Rezeption aufhielt. Er saß reglos in einer Sesselgruppe und schien zu beobachten, wer das Schiff verließ. Augenblicke später sah Wiesmann, wie der andere eilig von Bord ging.
Er selbst verbrachte den Abend mit einem Spaziergang an der Uferpromenade, schlenderte am ehemaligen Bonner Regierungsgebäude vorbei bis zum Langen Eugen, dann kehrte er um. Nach einer halben Stunde war er wieder an Bord der Silverstar. Womit sich die anderen Gäste beschäftigten, interessierte ihn nicht, es war ihm egal. Er selbst ließ sich an der Theke ein Bier ausschenken, all-inclusive natürlich, und setzte sich aufs Oberdeck. Als es zu kühl wurde, ging er in seine Kabine und zappte sich durch die Fernsehprogramme. Eine Viertelstunde später schlief er darüber ein.
Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr verließ das Schiff Bonn. So stand es im Programm, und Wiesmann bemerkte es durch die einsetzenden Motorengeräusche. Begleitet vom sanften Tuckern fiel er bald darauf in einen leichten Schlaf. Um sieben Uhr dreißig weckte ihn der Bordfunk, eine halbe Stunde später stieg er hinunter ins Restaurant, das Frühstücksbuffet war eröffnet.
Wiesmann bediente sich ausgiebig. Zurück am Tisch war wieder die übliche Konversation angesagt, in gleicher Runde wie am Abend zuvor. Diesmal hielt er es wie sein Tischgegenüber: Er begrüßte die anderen und widmete sich dann schweigend Kaffee und Brötchen.
Den Vormittag verbrachte er auf dem Oberdeck und ließ geruhsam die Landschaft vorüberziehen. In regelmäßiger Abfolge kamen Weinberge, kleine Ortschaften, Schlösser und Burgen ins Blickfeld, kommentiert vom Reiseleiter über den Bordfunk. Wiesmann versuchte gar nicht erst, sich die Namen zu merken, nur die Burgen Katz und Maus waren ihm später noch erinnerlich. Ebenso das Schloss Stolzenfels. Er genoss das Nichtstun und gab sich seinen Betrachtungen hin. Wenn er sich so umschaute, stellte er fest, dass er doch nicht zu den jüngsten Reiseteilnehmern gehörte, wie er anfangs annahm. Unter den Gästen waren altersmäßig unterschiedliche Gruppen, die hier an Bord offenbar gemeinsam mit der Familie ein paar Urlaubstage verbrachten. So zum Beispiel ein älteres Ehepaar, sie mochten Mitte siebzig sein, mit ihren beiden Töchtern und deren Partnern. Die Frauen glichen sich auf frappierende Weise: Ihre rundlichen Gesichter, die Form der Nasen und der Augenpartie – alles deutete darauf hin, dass sie Zwillinge waren. Und als würden sie diese Ähnlichkeit betonen wollen, trugen beide die gleichen Brillen und denselben Kurzhaarschnitt.
Noch eine andere Gruppe erweckte seine Aufmerksamkeit: Es handelte sich um drei Männer, altersmäßig schätzte er sie auf Ende vierzig. Auf den ersten Blick hielt er sie für Kollegen oder ehemalige Schulfreunde, die sich einen gemeinsamen Kurzurlaub gönnten. Doch dann bemerkte er eine gewisse Distanz zwischen ihnen. Vielleicht waren sie gar nicht miteinander befreundet, sondern hatten sich auf der Schiffsreise kennengelernt. Jetzt standen sie an der Reling auf dem Oberdeck, jeder ein Bier in der Hand.
Sein Blick fiel auf zwei Frauen, beide vielleicht etwas jünger als er. Sie waren ihm schon im Bordrestaurant aufgefallen, weil sie zu den Mahlzeiten gemeinsam erschienen und generell oft beisammen waren. Rein äußerlich und in ihrem Verhalten unterschieden sie sich auffallend voneinander: Die eine, groß und ziemlich korpulent mit einer brünetten Kurzhaarfrisur, redete fast ununterbrochen. Die zweite, eine vornehm wirkende Dame mit schulterlangem, blondiertem Haar und Mittelscheitel, schien wesentlich zurückhaltender. Meist hörte sie mit blasierter Miene schweigend zu, manchmal nickte sie zustimmend. Ob sie befreundet waren oder sich auf der Reise kennengelernt hatten, war nicht ersichtlich. Zu den Mahlzeiten saßen die beiden Frauen an einem Sechsertisch, der sich genau hinter seinem befand. Daher hatte er das Gerede und Gegacker der Brünetten ständig im Ohr.
Momentan hielten sie sich, ebenso wie viele der anderen Reisegäste, auf dem Oberdeck auf.
Die Stimme aus dem Bordfunk riss Wiesmann aus seinen Betrachtungen: Als einer der Höhepunkte wurde die Loreley angekündigt. Er hatte keine hohen Erwartungen, aber die Statue unterhalb der Spitze des Felsens hätte er fast übersehen; er fand sie mickrig, enttäuschend klein. Ein erhabenes Gefühl kam beim besten Willen nicht auf. Zu seinem Verdruss erklang jetzt auch noch das allseits bekannte Lied von Heinrich Heine: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«. Er, Wiesmann, wusste es erst recht nicht. Ohnehin waren ihm derartige Sentimentalitäten fremd, er bezeichnete sie als Gefühlsduselei. Und doch konnte er sich einer aufkommenden Melancholie nicht ganz entziehen. Alle um ihn herum schienen jedenfalls beeindruckt und zückten ihre Smartphones, um den Augenblick festzuhalten.
Dann war ein geräuschvolles Knacken aus dem Lautsprecher und gleich darauf die mittlerweile wohlbekannte Stimme des Reiseleiters zu vernehmen. Er kündigte das Mittagessen an. Schon wieder essen! Wenn das so weiterginge, so waren Wiesmanns berechtigte Befürchtungen – und sicher nicht nur seine, würde er auf dieser achttägigen Flussreise ordentlich zulegen. Ohnehin störte ihn sein Bauchansatz zunehmend, und wollte er verhindern, dass dieser zu einer Wampe ausartete, musste er schleunigst gegensteuern. Dafür war diese Urlaubsreise natürlich völlig ungeeignet. Sein neuer Mitarbeiter Völlner hatte diese Probleme offenbar nicht. Kein Wunder, er war ja mindestens fünfzehn Jahre jünger, trieb sicher regelmäßig Sport und ernährte sich gesund.
Die Stimme des Reiseleiters lud ein zweites Mal, diesmal mit Nachdruck, zum Mittagessen ein. Also erhob Wiesmann sich und stieg die Treppen hinunter zum Bordrestaurant ins untere Deck.
Seine Tischnachbarn saßen schon da und hatten Getränke und Vorspeisen gewählt.
Bald drehte sich das Gespräch um die Heimatorte. Das freundliche ältere Ehepaar war aus Münster angereist, und die beiden Frauen, Mutter und Tochter, aus Bremerhaven. Wiesmann und der andere Alleinreisende kamen nicht umhin, zu erwähnen, dass sie in Leipzig wohnten.
»Leipzig!«, äußerte der ältere Herr erfreut. »Zu DDR-Zeiten war ich immer zur Frühjahrsmesse dort und hab auch später dienstlich oft in der Stadt zu tun gehabt. Da hat sich ja in den letzten Jahren viel getan. Wie sieht es eigentlich mit dem ehemaligen Astoria-Hotel aus? Geht es da baulich irgendwann weiter? Wie ich gelesen habe, gab es Querelen mit einem benachbarten Hotel wegen Staub- und Lärmbelastungen. Aber soweit ich informiert bin, wurde der Baustopp unterdessen wieder aufgehoben. Wäre ja auch jammerschade, wenn ein so geschichtsträchtiges Gebäude baulich brachliegen würde.«
Wiesmann hob die Schultern. »Da kann ich nicht mitreden. Ich lebe nur vorübergehend in Leipzig.« Er war raus aus der Diskussion.
Die Augen des gesprächigen Herrn aus Münster ruhten jetzt auf dem anderen Alleinreisenden. »Aber Sie sind Leipziger. Man hört es am Dialekt«, meinte er schmunzelnd.
»Ich bin erst vor Kurzem wieder nach Leipzig gezogen«, erklärte er knapp. Damit war das Thema für ihn erledigt.
Nach dem Mittagessen verzog sich Wiesmann wieder aufs Oberdeck. Momentan war er zufrieden, er genoss die Ruhe und schaute entspannt in die Landschaft. Ab und an rieselten über den Bordfunk ein paar Informationen zu den Ortschaften und Burgen, ohne dass er sie bewusst aufnahm. Die Ruine Ehrenfels schob sich ins Blickfeld, bald darauf der Mäuseturm auf der Rheininsel vor Bingen und zehn Minuten später die Stadt Bingen an der Nahe-Mündung. Die Zeit verging auf geruhsame Weise. Wiesmann befürchtete, dass er an dieser Art des Müßigganges letzten Endes Gefallen finden könnte. Was sollte er seiner Kollegin Karen Wolf erzählen, wenn sie ihn in einer Woche fragen würde, wie er die Reise fand? Prima, ständig gegessen, einiges gesehen, wenig unternommen.
Kurz nach sechzehn Uhr stand in Rüdesheim das Andockmanöver an, das diesmal, weil es nicht genügend Schiffsanleger gab, an ein bereits vor Anker liegendes Fahrgastschiff erfolgte. Ein durchaus üblicher Vorgang, wie Wiesmann erfuhr. Mit einem Seufzer verließ er seine bequeme Lage auf dem Oberdeck und begab sich zur Rezeption. Um auf die Uferpromenade zu gelangen, mussten er und die anderen Passagiere der MS Silverstar das Foyer des vorgelagerten Passagierschiffes durchqueren.
Für Rüdesheim hatte er eine Führung gebucht. Er war nicht überrascht, dass der alleinreisende Tischnachbar wieder in der Lounge wartete. Später, als es mit dem »Winzerexpress« hinauf in die Weinberge ging, war er auch dabei, ebenso bei der anschließenden Besichtigung von »Siegfrieds Mechanischem Musikkabinett«. Er hielt sich die ganze Zeit im Hintergrund auf, so als wolle er nicht gesehen werden. Wiesmann verschwendete keinen weiteren Gedanken an das seltsame Verhalten seines Tischnachbarn und hörte den Erläuterungen und Instrumentenvorführungen aufmerksam zu.
Nach dem Besuch des Kabinetts fuhr er mit der Seilbahn hoch zum Niederwalddenkmal. An dem pompösen Denkmal mit der alles überragenden Germania fand er wenig Gefallen, aber die Aussicht, die er von dort oben hatte, genoss er. Offenbar empfanden andere das ebenso: Er sah die blonde Dame auf einer der Bänke sitzen. Diesmal war sie allein, ohne ihre geschwätzige Begleiterin. Etwas weiter entfernt hielt sich sein wortkarger Tischnachbar auf. Wiesmann suchte sich ebenfalls einen Platz. Er war sicher, dass keiner der beiden ihn ansprechen würde.
Nachdem er am frühen Abend wieder unten in Rüdesheim angekommen war, beendete er seinen Ausflug mit einem Gang durch die Drosselgasse. Sie war kürzer und schmaler und um diese Tageszeit weniger belebt, als er sich das vorgestellt hatte.
Pünktlich um neunzehn Uhr erschien er zum Abendessen. Das Gespräch bei Tisch drehte sich diesmal um die bevorstehenden Ausflugsziele und den weiteren Reiseverlauf. Wiesmann bemerkte eine gewisse Angespanntheit seines Gegenübers. Dessen Augen wanderten ruhelos über die Köpfe der anderen hinweg, so als suche er jemanden.
Auf Wiesmanns fragenden Blick hin erklärte er: »Ich dachte, dass ich an Bord einen alten Bekannten treffe. Offensichtlich ist er nicht hier.« Dann widmete er sich wieder seiner Mahlzeit, und kaum, dass er sie beendet hatte, erhob er sich und wünschte einen angenehmen Abend.
Trotz der Erklärung kam Wiesmann das Verhalten merkwürdig vor; er dachte aber nicht weiter darüber nach. Bald verabschiedete er sich ebenfalls von der Tischrunde, um nochmal das Schiff zu verlassen. Als er am Empfangsbereich vorbeikam, saß da wieder der schweigsame Tischnachbar. Den Blick hielt er auf den schmalen Gang gerichtet, der zum Panoramasalon führte.
Wie schon am Nachmittag musste Wiesmann wieder das Foyer des vorgelagerten Passagierschiffes durchqueren, um auf die Uferpromenade zu gelangen.
Eine halbe Stunde später, auf dem Rückweg zum Schiff, kam ihm eine Menschenmenge entgegen, sie waren alle auf dem Weg in die Rüdesheimer Altstadt. Unter ihnen erkannte er ein paar Mitreisende der MS Silverstar, so zum Beispiel die blonde Frau und die geschwätzige Brünette. Ebenso sah er einen der Männer aus der Dreiergruppe, von denen er annahm, dass sie Kollegen oder Schulfreunde sein könnten. Diesmal war er ohne die beiden anderen unterwegs. Auch den wortkargen Tischnachbarn entdeckte Wiesmann, er lief in einigem Abstand hinterher. Berufsbedingt hatte er ein feines Gespür für Auffälligkeiten entwickelt, und so war er jetzt sicher, dass der Kerl jemanden verfolgte. Aber wen? Etwa eine der Frauen? Die Brünette oder die Blonde? Die Sache begann ihn zu interessieren. Er nahm sich vor, sein Tischgegenüber ein wenig im Blick zu behalten. Kurzentschlossen wechselte er die Richtung und folgte ihm. Doch in dem abendlichen Gewimmel der nunmehr belebten Drosselgasse verlor er ihn bald aus den Augen. Frustriert kehrte er wieder um.
Am Anleger angekommen sah er, dass hinter der MS Silverstar unterdessen ein weiteres Passagierschiff angelegt hatte. Wie schon zuvor durchquerte er das Foyer des vorgelagerten ersten Schiffes, um auf die MS Silverstar zu gelangen, die nunmehr in der Mitte lag. Frustriert stellte Wiesmann fest, dass ihm damit der abendliche Ausblick aus seinem Kabinenfenster versperrt war. Er fluchte, doch dann holte er sich ein Bier und stieg aufs Oberdeck. Hier zumindest war der Blick frei, auch wenn er links und rechts von ihm auf die Decks der Nachbarschiffe guckte. Und er war fast völlig allein. Die meisten der Gäste waren zu einem spätabendlichen Bummel in Rüdesheim unterwegs oder hielten sich im Panoramasalon bei Wein und Bordunterhaltung auf. Nichts für Wiesmann. Er nahm nochmal den Reiseplan zur Hand. Für den morgigen Tag standen die Orte Alken und Zell auf dem Programm.
Nicht alles, doch das Wesentliche lief bisher nach Plan. Aber die ganze Angelegenheit schien komplizierter, als er ursprünglich annahm. Momentan hatte er Ruhe, die Zielperson seiner Verfolgungsaktion konnte nicht unbemerkt entkommen. Und er war sicher, dass die entscheidende Phase des Unterfangens noch bevorstand. Demnach hatte er nichts verpasst. Für einen Augenblick reflektierte er über das bisherige Geschehen.
Auf Umwegen hatte er ihre Adresse herausgefunden. Das war nicht ganz einfach, denn sie hatte in den letzten Jahren ihren Wirkungsbereich gewechselt. Doch er wusste, wo er ansetzen musste. Mit einer Finte, er sei ein ehemaliger Klassenkamerad aus der Schulzeit und wolle ein Klassentreffen organisieren, bekam er die neue Arbeitsstätte und durch sorgsame Observation, genauer gesagt durch Verfolgung, auch die Wohnadresse heraus. Alles andere ergab sich wie von selbst. Es waren nunmehr zwei Punkte, an denen er seine Beobachtungen ansetzte, und die in den darauffolgenden Tagen zur täglichen Routine wurden. Beides fiel ihm relativ leicht. Doch er stand unter Druck. Sein neuer Job, den er im nächsten Monat antreten würde, ließe ihm kaum Zeit für das, was er unbedingt zu Ende bringen musste. Tagelang stagnierten die Nachforschungen, es kam nichts Entscheidendes dabei raus – bis er dann den Umschlag mit den Unterlagen fand. Von da an nahm sein Plan konkrete Gestalt an. Die Frau, die er in Leipzig gesucht, gefunden und observiert hatte, würde ihn zum eigentlichen Ziel führen: zu Buddy.
Kölldeck war sicher, dass er auf dem Schiff nicht erkannt wurde; sie hatten ja keinen Kontakt zueinander gehabt. Und außerdem hatte er sich verändert. Äußerlich und vor allem in seinem Wesen. Die vergangenen Jahre hatten ihn härter gemacht – mit Blessuren an Leib und Seele. Wenn er in den Spiegel schaute, sah er ein finsteres Gesicht mit einem strengen Zug um den Mund. Und es kostete ihn einige Mühe, anderen gegenüber seine Entschlossenheit zu verbergen. Bisher, so nahm er zumindest an, war ihm das gelungen. Um nicht in Schwierigkeiten zu geraten, beschränkte er den Kontakt zu seinen Mitreisenden auf das Nötigste; wichtig war nur, dass er nicht auffiel. Doch die ganze Aktion zerrte an seinen Nerven, er musste dranbleiben, das Ziel war zum Greifen nah. Aber er wusste nicht, an welchem Ort und wann er endlich die Chance bekäme, Buddy zu stellen. Auf dem Post-it, das er abfotografiert hatte, war nur »Treffen am bekannten Ort« zu lesen. Das erschwerte die Aktion enorm. So war er ständig darauf gefasst, dass der Augenblick gekommen sei. Unter den Passagieren befand sich der Gesuchte nicht, sonst hätte er ihn längst bemerkt. Solange die MS Silverstar unterwegs war, konnte er entspannen. Doch sobald sie anlegte, musste er die Situation im Auge behalten. Ausflüge hatte er absichtlich nicht gebucht, damit er flexibel agieren konnte. Wenn die Frau das Schiff verließ, heftete er sich an deren Fersen. So zum Beispiel an dem Abend in Bonn, oder bei der Tour in Rüdesheim. Da war es ihm im letzten Moment gelungen, sich unter die Teilnehmer für die Fahrt im »Winzerexpress« zu mischen. Anders als erwartet hielt die Bahn nicht oben in den Weinbergen an. Kölldeck nahm an, dass sie dort alle aussteigen würden, aber die Panoramarundfahrt endete am Musikkabinett. Er musste schnell reagieren und sich ein Ticket besorgen, um an der Führung teilzunehmen. Die ganze Zeit über behielt er sie im Auge, ebenso oben am Niederwalddenkmal. Diesmal war er sicher, dass hier das Treffen stattfände, doch nichts dergleichen geschah.
Nach dem Abendessen musste Kölldeck erneut zum Landgang auschecken. Und augenblicklich, als er das Foyer des vorgelagerten Schiffes durchquerte, erkannte er das Risiko, sie aus den Augen zu verlieren. Die Situation barg die Gefahr, dass sich der geheime Treffpunkt an Bord des anderen Kreuzfahrtschiffes befand. Doch nein, die Frau, die er angestrengt verfolgte, ließ sich im Strom der Menge in Richtung Drosselgasse treiben und steuerte auf den Freisitz einer der Gaststätten zu.
Kölldeck nahm am Nachbartisch Platz und bestellte einen Riesling. Vergebens wartete er darauf, dass etwas geschah. Fast hatte er damit gerechnet, dass sie sich hier an dieser Stelle treffen würden, dann müsste er schnell reagieren. Nur, um sich zu vergewissern, griff er in die Innentasche seines Jacketts. Er spürte das kühle Metall und stellte beruhigt fest, dass seine Hand dabei nicht zitterte.
Zwei Stunden später, nachdem er unverrichteter Dinge zum Schiff zurückgekehrt war, sah er, dass hinter der MS Silverstar ein drittes Fahrgastschiff vor Anker lag. Er erkannte sofort das Dilemma. Es wäre eine weitere Möglichkeit, sich dort zu treffen. Doch die Frau, die er so beharrlich im Auge behielt, suchte ihre eigene Kabine auf.
Es dauerte lange, bis Kölldeck in den Schlaf fand. Zuvor hatte er nochmals gründlich den folgenden Reiseablauf und die Ausflugsangebote studiert. Über Nacht ginge es auf dem Rhein durch einige Schleusen zurück, wieder vorbei am Loreley-Felsen und dann auf der Mosel weiter. Am Vormittag stand der Ort Alken mit der möglichen Besichtigung der Burg Eltz auf dem Programm. Wenn sich dort nichts Neues ergäbe, würde er bis zum Abend Ruhe haben. Er könnte auf dem Oberdeck der Silverstar entspannen oder im Panoramasalon einen Kaffee trinken. Um den Anschein eines normalen Urlaubers zu wahren, würde er sich unter die anderen Passagiere mischen. Erst ab 19.30 Uhr wäre wieder seine ganze Aufmerksamkeit erforderlich. Denn dann würden sie in Zell anlanden. Hier bestand die Option, das Schiff zu einem Abendbummel zu verlassen.
Über dem Gedanken, dass die aufwendige Aktion jetzt bald ein Ende hätte, schlief Kölldeck schließlich ein.
Über Nacht waren die MS Silverstar und die beiden anderen Fahrgastschiffe, zwischen denen sie gelegen hatte, weitergefahren. Wiesmann hatte nichts davon mitbekommen. Als er gegen sieben Uhr wach wurde, waren sie schon in Alken.
Nach dem Frühstück überlegte Wiesmann, was er heute unternehmen könnte. Das Wetter an diesem dritten Tag der Schiffsreise war wenig verlockend; der Himmel zeigte sich bewölkt. Den Ausflug auf die Burg Eltz hatte er nicht gebucht, sicher könnte er das nachholen, doch dazu hatte er keine Lust. Den ganzen Vormittag auf dem Schiff verbringen wollte er aber auch nicht, deshalb zog er seine Regenjacke über und ging zur Rezeption, um auszuchecken. Einige andere Gäste hielten sich dort auf und warteten auf die Reiseleitung. Der wortkarge Tischnachbar war nicht darunter. Wiesmann zwängte sich an der Gruppe vorbei und trat ins Freie. Der Blick in den Himmel verhieß nichts Gutes: Graue Wolken verdeckten die Sonne, aber zumindest regnete es nicht. Trotz der wenig verheißungsvollen Wetteraussichten entschied er sich, hinauf zur Burg Thurant zu wandern – bei seiner Behäbigkeit ein ambitioniertes Unterfangen. Schon beim Treppenaufstieg zur Kirche St. Frank ging ihm kurzzeitig die Puste aus. Er gönnte sich eine kurze Pause und schaute auf den Wegweiser zur Burg. Dann quälte er sich weiter, beständig bergan. Der Aufstieg durch das Waldstück auf dem schmalen Weg kam ihm endlos vor. Mehrmals musste er innehalten, und unglücklicherweise setzte auch noch ein heftiger Regenschauer ein. Fluchend suchte er Schutz unter einem Felsvorsprung. Sobald der Regen etwas nachließe, so beschloss er grimmig, würde er umkehren, den Abstieg hinunter in den Ort hinter sich bringen und dann zum Schiff zurückkehren. Doch was sollte er dort? Bis zur nächsten Mahlzeit müßig in der Panoramalounge rumhängen und warten? Nein, das kam nicht in Frage. Also setzte er sich, kaum dass der Regenguss in ein leichtes Nieseln übergegangen war, in Bewegung und stieg über den steilen Waldweg weiter bergan. Der Weg war durch den Regen aufgeweicht und matschig, mehrmals rutschte Wiesmann aus, doch er kämpfte sich nach oben in Richtung Burg. Missmutig stellte er sich vor, mit welcher Leichtigkeit seine Kollegin Karen Wolf und sein Mitarbeiter Völlner den Aufstieg bewältigen würden.
Endlich hatte er es geschafft. Auf dem Parkplatz unterhalb der Burg Thurant standen ein paar Autos. Demnach musste es auch eine bequeme Zufahrtsstraße geben, die er auf seinem Weg durch Alken wohl übersehen hatte. Schnaufend kam er am Burgtor an und hielt inne. Zumindest war er hier oben nicht allein. Die Zwillingsfrauen vom Schiff kamen ihm entgegen, der Aufstieg zur Burg und der Regenguss schienen ihnen nichts ausgemacht zu haben. Beide waren bestens gelaunt. Leichtfüßig und mit flottem Schritt traten sie den Rückweg durch die Weinberge hinab in den Ort Alken an. Wiesmann nahm sich vor, später den gleichen Weg zu wählen. Unterdessen hatte der Nieselregen aufgehört und es wurde heller. Der Himmel klarte auf.
Wiesmann schaute sich noch ein wenig im Burginnenhof um – und war nicht überrascht, dort die blonde Dame zu sehen. Diesmal war sie allein, ihre redselige Begleiterin fehlte. Er nickte ihr zu und setzte seinen Rundgang fort. Kurz darauf bemerkte er den Mann, den er schon gestern Abend ohne die beiden anderen aus der Männerdreiergruppe in die Altstadt von Rüdesheim gehen sah. Er schien nicht in Eile zu sein, sondern besichtigte in Ruhe den Innenhof.
Für eine Besichtigung des Gebäudes war die Zeit zu knapp, deshalb beschränkte Wiesmann seine Erkundungen auf das Lesen der Info-Tafeln zur Burggeschichte – und sah vor einem der Schilder seinen schweigsamen Tischnachbarn stehen. Er hatte Wiesmann noch nicht bemerkt. Den Blick hielt er nicht auf die Schrift gerichtet, sondern auf den Weg, der sich durch die Weinberge schlängelte. Dort marschierten in einiger Entfernung zwei Frauen. Wiesmann vermutete, dass es die Zwillinge waren. Hinter den beiden lief eine weitere Person. Bei näherem Hinschauen erkannte er, dass es die Blondine war. Und in größerem Abstand zu ihr sah er jetzt den einzelnen Mann aus der Dreiergruppe, den er vor kurzem im Burginnenhof angetroffen hatte. Der schweigsame Tischnachbar stand noch immer vor der Info-Tafel, den Blick auf die sich entfernenden Personen gerichtet. Er schien nicht zu bemerken, dass Wiesmann ihn beobachtete. Er wartete einen Augenblick und lief dann zügig los. Nachdem er die anderen fast eingeholt hatte, verlangsamte er sein Tempo wieder. Scheinbar ohne Eile wanderte er hinter ihnen her.
Auch für Wiesmann wurde es Zeit, den Rückweg anzutreten. Der Weg durch die Weinberge war deutlich bequemer zu laufen als der steile Pfad durch das Waldstück, den er herzu gewählt hatte. Im Nachhinein ärgerte er sich, dass er im Ort den Hinweis auf den moderaten Wanderweg wohl übersehen hatte.
Vor seinen Augen tat sich jetzt ein freier Blick über die Weinhänge auf; wenn er zurückschaute, sah er die Burg Thurant. Minutenlang waren die fünf Personen, die vor ihm liefen, aus seinem Blickfeld entschwunden. Welch merkwürdige Konstellation, dachte er. Es war augenfällig, dass der Wortkarge jemandem folgte. Fast hatte es den Anschein, als sei er hinter der blonden Frau her. Doch sein Verhalten passte nicht dazu. Wenn es seine spezielle Art wäre, Kontakt aufzunehmen, hätte er bei der Dame mit Sicherheit keinen Erfolg. Blöder konnte man sich kaum anstellen, dachte Wiesmann. Für das hartnäckige Beobachten musste es andere Gründe geben.
Am Wegrand entdeckte er eine Bank und setzte sich. Für ein paar Minuten genoss er den Blick über den Weinberg hinauf zur Burg Thurant.
Kölldeck zwang sich zur Ruhe. Noch war nichts verloren. Doch mit jedem weiteren Tag der Schiffsreise und den bisher ereignislosen Landgängen wuchs seine Ungeduld. Hatte er etwas übersehen? Nein, das glaubte er nicht. Der Weg durch die Weinberge hinauf zur Burg Thurant war übersichtlich, ebenso der Burginnenhof. Nur wenige Besucher hielten sich bei dem regnerischen Wetter dort auf. Merkwürdigerweise auch der Dicke vom Sechsertisch. Eigenartig, dass er trotz seines Phlegmas, noch dazu bei dem Regen, zu der Wanderung aufgebrochen war. Auf dem Weg hinauf hatte Kölldeck ihn nicht gesehen, er musste demnach einen anderen Aufstieg gewählt haben. Umso überraschter war er, als er ihn dann im Innenhof der Burg sah. Seiner Ansicht nach gehörte er nicht zur typischen Klientel von Flusskreuzfahrten – ebenso wenig wie er selbst. Ihn beschlich eine diffuse Beunruhigung, die nichts mit seinem eigentlichen Vorhaben zu tun hatte. Nein, das zunehmende Unbehagen hatte andere Gründe. Er befürchtete, dass er beobachtet wurde. Sicher nicht von dem phlegmatischen Dicken, der wollte nur seine Ruhe und ging den Mitreisenden weitestgehend aus dem Weg. Gezwungenermaßen saß er bei den Mahlzeiten mit am Tisch oder hielt sich auf dem Oberdeck auf. Ein Wunder, dass er in Rüdesheim an dem Ausflug mit dem Winzerexpress und der Besichtigung des Musikkabinetts teilgenommen hatte. Danach sah er ihn oben am Niederwalddenkmal. Nein, Kölldeck spürte es mit jeder Faser seines Körpers: Die Gefahr drohte aus anderer Richtung. Doch woher genau, konnte er vorerst nicht erkennen.
Heute Vormittag, bei seiner Verfolgung hoch auf die Burg Thurant war er seinem Ziel wieder nicht nähergekommen. Am Abend würde das Schiff in Zell anlegen. Es wäre die nächste Gelegenheit, seinen verschwundenen Komplizen aufzuspüren. Doch bis dahin blieben noch ein paar Stunden Zeit. Wie zur Vergewisserung sah er sich in der Panoramalounge um. Die Frau, die ihn zu Buddy führen sollte, saß unweit von ihm entfernt, augenscheinlich in ein Gespräch vertieft.
Kölldeck bediente sich nochmal am Kuchenbuffet. Für den Nachmittag auf dem Schiff hatte sich die Küchencrew nach eigenem Bekunden etwas Besonderes einfallen lassen: »Erdbeerschmaus« stand auf dem Tagesprogramm. Dazu gab es wieder die übliche musikalische Umrahmung. Die Musik war nicht sein Geschmack, im Grunde genommen nervte sie ihn, trotzdem blieb er im Salon bei den anderen sitzen und versuchte, ein wenig zu entspannen. Wenigstens für die kommenden Stunden, bis das Schiff in Zell anlegen würde. Für die Begegnung mit Buddy fühlte er sich gewappnet, auch wenn er nicht wissen konnte, wie dieser auf den »Überraschungsbesuch« reagieren würde. Denn eine Überraschung würde es mit Sicherheit werden – und ganz bestimmt keine erfreuliche. Doch er musste es hinter sich bringen, so oder so. Wieder zeichnete sich dieser verbitterte Zug um seine Mundwinkel ab. Im gleichen Augenblick, als ihm dies bewusst wurde und er versuchte, entspannt zu wirken, spürte er einen verstohlenen Blick. Es war nur ein undefinierbares Gefühl, mehr nicht. Sofort wandte er den Kopf in die vermutete Richtung, doch er sah nichts, was seinen Verdacht bestätigte. Die Gäste unterhielten sich und waren mit dem Verzehr der Erdbeerdesserts beschäftigt. Keiner schaute zu ihm hin. Doch Kölldeck wusste, dass sein Instinkt ihn nicht täuschte. In den letzten fünf Jahren, genaugenommen seit dem Überfall auf das Leipziger Juweliergeschäft, hatte er sein Gespür für brenzlige Situationen geschärft. Dies war wichtig, um Risiken rechtzeitig zu erkennen und reagieren zu können. Aber diesmal wusste er nicht, woher die Gefahr kam. Sicher nicht von den Mitreisenden, die sich zu ihm gesetzt hatten. Er hatte seinen Platz so gewählt, dass er einen Großteil des Panoramasalons überblicken konnte. Zusätzlich zu seinem eigentlichen Ziel, Buddy aufzuspüren, musste er herauszufinden, wer ihn die ganze Zeit beobachtete. Scheinbar absichtslos wanderten seine Augen über die Köpfe der anderen Gäste hinweg. Dabei versuchte er sich zu erinnern, ob ihm eine der Personen bekannt vorkäme. Auf sein Gedächtnis hatte er sich immer verlassen können. Nur selten vergaß er ein Gesicht, eine Stimme oder Geste. Mit dieser Fähigkeit und einem erhöhten Maß an Misstrauen gelang es ihm, sich in potentiellen Gefahrensituationen zu schützen. Doch in den letzten Wochen, so gestand er sich ein, hatte er gewisse Vorsichtsmaßnahmen vernachlässigt. Zu sehr war er mit seiner Mission beschäftig. Möglicherweise hatte er dabei etwas Wesentliches übersehen. Gedanklich ging er einige Situationen durch, bei denen er sich in der Öffentlichkeit zeigen musste, angefangen beim Ermitteln ihrer neuen Arbeitsstätte. Oder wurde er gesehen, als er ihre Wohnung observierte? Ein weiterer Schwachpunkt war das tägliche Öffnen des fremden Briefkastens. Er hatte zwar strikt darauf geachtet, dass ihn niemand dabei sah, aber ein gewisses Restrisiko blieb immer. Das Bistro fiel ihm ein. Dort hatte er sich, seit er wieder in Leipzig war, fast jeden Tag aufgehalten. Doch wem sollte er da aufgefallen sein?