Mehr als ein Delikt und Eine mörderische Tour - Katharina Kohal - E-Book

Mehr als ein Delikt und Eine mörderische Tour E-Book

Katharina Kohal

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Beschreibung

Zwei Krimis in einem Band

"Mehr als ein Delikt":
Ein Journalist wird ermordet. Schon bald vermutet Hauptkommissar Baumann einen Zusammenhang zu dessen investigativen Recherchen. Während Baumann und sein Assistent in dem Fall ermitteln, birgt ein Ausgrabungsteam in Süditalien einen sensationellen Fund, kämpft eine Berliner Firma mit unlauteren Mitteln ums Überleben und bereitet der Bruder des ermordeten Journalisten, der Künstler Sven Ludwig Richter, eine Vernissage vor. Wenig später wird auch auf ihn ein Mordanschlag verübt.
Für lange Zeit bleiben den Ermittlern die Zusammenhänge verborgen, bis Hauptkommissar Baumann schließlich die Hintergründe erkennt. Aber es sind nur Indizien, die ihn und seinen Assistenten schließlich auf die richtige Spur lenken. Beweise hat er nicht. Noch nicht.

"Eine mörderische Tour":
Ein Abenteuerurlaub der besonderen Art – so hatte Jo Meysner, Chef der Reiseagentur Special Travels, die Trekking-Tour zum Monte Roraima angekündigt. Und er hat nicht zu viel versprochen: Für die kleine Reisegruppe wird es tatsächlich ein unvergessliches Erlebnis, wenn auch in ganz anderem Sinn, als erwartet. Denn auf dem Hochplateau des Roraima geschieht ein Mord.
Mit der Aufklärung des Verbrechens wird der attraktive Comisario Garcia Hernández beauftragt. Schon bald erkennt er, dass der Mord geplant war. Für die Ermittlungen braucht er dringend Unterstützung und bekommt sie umgehend vom schnoddrigen Kriminalhauptkommissar Wiesmann.
Bei den Vernehmungen der Zeugen treten längst bewältigt geglaubte Ereignisse aus der Vergangenheit zu Tage. Und zeitweilig scheint es, als hätte jeder von ihnen ein Motiv.
Sowohl Garcia Hernández als auch Wiesmann wähnen sich bereits am Ziel, doch dann zeigt sich das Verbrechen in einem ganz anderen Licht …

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Katharina Kohal

Mehr als ein Delikt und Eine mörderische Tour

Zwei Kriminalromane

Inhaltsverzeichnis

Zum Inhalt der Bücher

Mehr als ein Delikt

Eine mörderische Tour

Zum Schluss

Über die Autorin

Leseprobe

Impressum

Zum Inhalt der Bücher

Mehr als ein Delikt

Mord, Betrug und eine Sommerromanze in trügerischer Idylle:

Ein Journalist wurde ermordet. Schon bald vermutet Hauptkommissar Baumann einen Zusammenhang zu dessen investigativen Recherchen. Während Baumann und sein Assistent in dem Fall ermitteln, birgt ein Ausgrabungsteam in Süditalien einen sensationellen Fund, kämpft eine Berliner Firma mit unlauteren Mitteln ums Überleben und bereitet der Bruder des ermordeten Journalisten, der Künstler Sven Ludwig Richter, eine Vernissage vor. Wenig später wird auch auf ihn ein Mordanschlag verübt. Für lange Zeit bleiben den Ermittlern die Zusammenhänge verborgen, bis Hauptkommissar Baumann schließlich die Hintergründe erkennt. Aber es sind nur Indizien, die ihn und seinen Assistenten schließlich auf die richtige Spur lenken. Beweise hat er nicht. Noch nicht.

Eine mörderische Tour

Brisante Tagebucheinträge und ein Mord:

Ein Abenteuerurlaub der besonderen Art – so hatte Jo Meysner, Chef der Reiseagentur Special Travels, die Trekking-Tour zum Monte Roraima angekündigt. Und er hat nicht zu viel versprochen: Für die kleine Reisegruppe wird es tatsächlich ein unvergessliches Erlebnis, wenn auch in ganz anderem Sinn, als erwartet. Denn auf dem Hochplateau des Roraima geschieht ein Mord. Mit der Aufklärung des Verbrechens wird der attraktive Comisario Garcia Hernández beauftragt. Schon bald erkennt er, dass der Mord geplant war. Für die Ermittlungen braucht er dringend Unterstützung und bekommt sie umgehend vom schnoddrigen Kriminalhauptkommissar Wiesmann. Bei den Vernehmungen der Zeugen treten längst bewältigt geglaubte Ereignisse aus der Vergangenheit zu Tage. Und zeitweilig scheint es, als hätte jeder von ihnen ein Motiv. Sowohl Garcia Hernández als auch Wiesmann wähnen sich bereits am Ziel, doch dann zeigt sich das Verbrechen in einem ganz anderen Licht …

Mehr als ein Delikt

von Katharina Kohal

Prolog

Etwas ratlos schaute sich Adrien Danesi in dem spartanisch eingerichteten Berliner Atelier um. Er war allein und hatte Zeit, die Werke genauer zu betrachten. Sein Bruder, der Maler Sven Ludwig Richter, war bei einem Kunden zu einer Ortsbesichtigung. Im Gegensatz zu Sven hatte Adrien den Nachnamen ihrer Mutter, einer gebürtigen Italienerin, angenommen. Adrien Danesi arbeitete als freischaffender Journalist. Seit Jahren war er recht erfolgreich und durchaus nicht bei jedem beliebt. Seine Berichte und Recherchen hatten ihm bereits eine Morddrohung eingebracht. Nun also stand er im Atelier seines Bruders und wartete. Es war ihm ein Rätsel, wie Sven vom Verkauf der Bilder leben konnte. Was er hier sah, waren für ihn keine Gemälde, sondern einfach auf weißer Leinwand verschmierte Farben. Eigentlich gefiel ihm hier nur ein einziges Bild: ein Porträt, das Sven vor ein paar Jahren von ihm gemalt hatte. Adrien schaute sich weiter im Atelier um und entdeckte eine großformatige Leinwand, die sein Bruder offenbar gerade bearbeitete. Kurzentschlossen zog er sich den farbbeschmierten Malerkittel über und griff nach einer der herumliegenden Farbtuben. Mit schwungvoller Geste drückte er einen kräftigen Streifen Kobaltblau auf die Leinwand, und dann noch einen zarteren in Ocker. Mal sehen, ob Sven etwas merken würde. Eine freundliche Stimme sprach ihn von hinten an. „Hallo, ich will Sie nicht lange stören.“ Halb im Umdrehen antwortete Adrien: „Ich nehme an, ... “ Mehr konnte er nicht sagen. Adrien Danesi konnte nie wieder etwas sagen. Der Schuss traf ihn direkt in den Kopf.

Eine umstrittene Theorie

Der lange, nasskalte Winter wollte offenbar kein Ende nehmen, denn auch jetzt, Ende März, ließ sich die Sonne kaum blicken, und der Himmel sah grau und trüb aus. Professor Hartwig stand, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, am Fenster seines Dienstzimmers im archäologischen Institut. Aber das kalte ungemütliche Frühjahrswetter war nicht der eigentliche Grund, der ihn freudlos aus dem Fenster schauen ließ. Der Grund seiner sorgenvollen Miene war ein Brief. Er war an ihn persönlich adressiert. Die Sekretärin hatte ihn zusammen mit der anderen Post auf seinen Schreibtisch gelegt. Professor Hartwig las ihn zweimal durch, aber der Inhalt wurde auch beim zweiten Mal nicht erfreulicher. Der Brief kam vom Rektor der Uni. Wieder einmal stand das archäologische Institut auf dem Streichprogramm. Alle Jahre wieder, so konnte man schon sagen. Aber diesmal schien es ernst zu sein. Die Haushaltsmittel der Uni fielen für dieses Jahr noch knapper aus als die Jahre zuvor. Im kommenden Jahr sollten ganze Institutionen geschlossen werden. Nun also stand die Existenz von Professor Hartwigs Institut zur Debatte. Nein, nicht zur Debatte, sondern es stand fest, dass es das archäologische Institut im nächsten Jahr nicht mehr geben wird. Er schaute grübelnd aus dem Fenster in das triste Grau hinaus. Aber dann schob er alle düsteren Gedanken weit von sich. Jetzt erst einmal Apulien, sechs herrliche Wochen Italien! Hartwigs Miene hellte sich auf. In ein paar Tagen würde es losgehen. Der Gedanke an Sonne, Olivenhaine und abends ein oder zwei Gläser Wein auf einer Terrasse im Süden Italiens besserte seine Stimmung sofort. Und er würde die nächsten Wochen mit jungen Leuten verbringen. Die Arbeit mit den Studenten und Doktoranden hatte er immer sehr genossen. Durch sie fühlte er sich mit seinen zweiundfünfzig Jahren junggeblieben. Natürlich war ihm bewusst, dass das Lächeln so mancher Studentin vor allem seiner Position und weniger seiner Person galt. Und diese Position würde mit der Schließung des Instituts erheblich geschwächt werden. Das schmerzte ihn umso mehr. Hartwig war überzeugter Single. Dabei war es keineswegs so, dass Frauen ihn nicht interessierten, ganz im Gegenteil. Aber durch seine egozentrische und mitunter recht bissige Art schaffte er es immer wieder, sich ernsthaften Beziehungen rechtzeitig zu entziehen. Den kommenden Wochen sah er mit Zuversicht entgegen, auch wenn er sich auf ein Abenteuer mit ergebnisoffenem Ausgang einließ. Doch falls sein Konzept aufginge, könnte die Schließung des Instituts eventuell noch abgewendet werden, und ihm, Professor Hartwig, würde endlich die Anerkennung zuteil, die er in den letzten Jahren so schmerzlich vermisste. Die Voraussetzung dafür war natürlich ein Erfolg bei den geplanten Grabungen in Apulien. Hartwigs Spezialgebiet war seit Jahren das Uluzzien, eine archäologische Kultur, in der erstmals der anatomisch moderne Mensch in Europa erschien. Datiert wird das Uluzzien auf einen Zeitraum zwischen 45.000 und 37.000 BP (vor unserer Zeit). Der Name der Kultur geht auf den Ort Uluzzo im südlichen Apulien zurück. Hier wurden in der Grotta del Cavallo Artefakte aus der sogenannten Uluzzien-Kultur gefunden, die vor allem aus Knochen- und Steinwerkzeugen bestanden. Besondere Aufmerksamkeit erregte hier ein Fund Anfang der 1960er Jahre. Zwei Milchzähne konnten anhand der Radiokarbonmethode auf ein Alter vor 45.000 bis 43.000 Jahre bestimmt werden. Weitere Untersuchungen ergaben, dass es sich hierbei um Milchzähne von Kindern anatomisch moderner Menschen handelte. Kunstgegenstände wurden aus dieser Zeit nicht ausgegraben. Professor Hartwig war allerdings davon überzeugt, dass der Mensch im Uluzzien sowohl die kognitiven Fähigkeiten als auch die handwerklich technischen Möglichkeiten hatte, auch menschliche Skulpturen aus Stein zu schaffen. Mit dieser Annahme hatte er bereits heftige Diskussionen provoziert und stand auf seinem Fachgebiet allein da. Oft wurde er unter Kollegen wegen seiner Theorie angegriffen, bestenfalls belächelt. Aber in Wagner, seinem langjährigen Assistenten, hatte er einen Verbündeten. Seit vielen Jahren war es ihr gemeinsames Ziel, eine Figur aus der Zeit des Uluzzien auszugraben, und damit die umstrittene These zu untermauern. Wagner war ein gutaussehender Mittvierziger, der in seiner nachdenklichen und unaufgeregten Art zu dem schnell aufbrausenden Hartwig einen ruhigen Gegenpol darstellte. Fast neidvoll musste der Professor denn auch erkennen, dass sich die Studenten mit ihren Problemen lieber an seinen Assistenten als an ihn persönlich wandten. Seit Beginn des Studiums der Archäologie war Wagner an Hartwigs Institut, zuerst als Student, dann als Doktorand und später als sein engster Mitarbeiter. In all den Jahren hatte er für Hartwig oft genug die Routinearbeiten erledigt und alle unliebsamen organisatorischen Aufgaben abgenommen. Hinter seinem Rücken wurde er auch Der ewige Assistent genannt. Im Vorjahr bekamen beide Kenntnis von einem sensationellen Fund in der Nähe von Torricella, einer kleinen Gemeinde in Apulien. Es war ein Zufallsfund. Bauarbeiter fanden beim Ausschachten gut erhaltene Teile eines menschlichen Unterkiefers. Die Untersuchungen mit der Radiokarbonmethode ergaben, dass die Knochenstücke aus einer Zeit von 42.000 bis 40.000 Jahren vor unserer Zeit stammten, also aus dem Uluzzien. Daraufhin wollte Hartwig unbedingt an gleicher Stelle Grabungen durchführen. Aber bislang fehlten die finanziellen Mittel dazu. Letztendlich war es Wagners Idee, mit dem Vorhaben an die Öffentlichkeit zu gehen, um auf diese Weise einen Sponsor zu gewinnen. Hartwig gelang es, in der Wochenendbeilage einer regionalen Zeitung auf sich und sein Spezialgebiet aufmerksam zu machen. In einem Interview berichtete er über die Uluzzien-Kultur, den Fund der Unterkieferteile im Vorjahr und die Möglichkeit, bei den geplanten Ausgrabungen in Apulien auf Artefakte oder gar menschliche Darstellungen aus dieser archäologischen Kulturepoche zu stoßen. Erst nach mehr als zwei Wochen meldete sich ein potentieller Interessent, ein Herr Kunzmann, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung des Benno Bonke Verlages. Hartwig war enttäuscht. Den Verlag schätzte er nicht besonders, schon dessen Namen fand er lächerlich, Benno Bonke! Wenn der Gründer aber so hieß, war Wagners Gegenargument. Nicht nur der Name missfiel Hartwig, sondern auch das Format des wissenschaftlichen Journals, das der Verlag monatlich herausbrachte. Nach seinem Empfinden war alles zu reißerisch aufgemacht, die Themen zu spektakulär gewählt und die Schreibart zu populärwissenschaftlich. Ein erstes Aufeinandertreffen von Hartwig und Kunzmann endete dementsprechend mit einer herben Enttäuschung. Erst Wagners nochmalige Bemühungen brachten eine Annäherung. Schließlich bot Kunzmann eine Zusammenarbeit zu beiderseitigem Nutzen an. Die Kosten für die Ausgrabungsarbeiten würde die Stiftung übernehmen, wenn im Gegenzug der Benno Bonke Verlag ein Exklusivrecht auf alle Berichterstattungen erhielt. Und zu diesen Bedingungen gehörte, dass eine Wissenschaftsjournalistin, Frau Louisa Dittmar, bei den Grabungen zugegen sein würde und uneingeschränkt fotografieren und Berichte schreiben konnte. Obwohl Hartwig sie noch nicht persönlich kannte, hatte er ihr gegenüber schon Vorurteile. Es gab mindestens zwei Gründe, warum ihm die Anwesenheit dieser Dame nicht behagte. Ein Grund war, dass er eine Störung bei den Arbeiten, eine Verkomplizierung der Abläufe befürchtete. Sie war eine Außenstehende und würde vor Ort nur hinderlich sein. Aber der eigentliche Grund seiner Aversion war ein anderer. Wohl nicht zu Unrecht nahm er an, dass ihm der Sponsor bei den bevorstehenden Grabungen auf die Finger schauen wollte. „Herr Wagner, wenn Sie meine Meinung dazu hören wollen: Auf diese Weise setzt uns die Stiftung eine Laus in den Pelz.“ Wagner grinste, er hatte die Dame bereits kennengelernt. Insgesamt würden außer Hartwig und Wagner noch vier weitere Personen an den Grabungsarbeiten teilnehmen: die Doktoranden Bianca Hoffmeister, Christin Körner, Jannik Wetzloff und David Menke. Von den Doktoranden hatte Jannik Wetzloff die größte Erfahrung und schon an mehreren Grabungen teilgenommen. Zurzeit schrieb er an seiner Dissertation, die er im Herbst abschließen und verteidigen wollte. Den kommenden Wochen in Apulien sah Jannik nun mit gespannter Erwartung entgegen, wohl auch weil Bianca die ganze Zeit in seiner Nähe sein würde. Aber er bezweifelte, dass sie seine Zuneigung erwiderte. Und wenn doch, so verstand sie es ausgezeichnet, dies zu verbergen. Meist begegnete sie ihm mit gutmütigem Spott oder zog ihn freundschaftlich auf, wenn er es mit seinem Arbeitseifer und Ehrgeiz wieder einmal übertrieb. Im Gegensatz zu der anderen Doktorandin, Christin Körner, war Bianca relativ frei von Eitelkeiten. Im Vordergrund stand ihre natürliche Ausstrahlung, ganz gleich, was sie trug. So beschränkte sich ihre Garderobe für die bevorstehende Zeit in Apulien auch nur auf die nötigsten Kleidungsstücke, und diese passten bequem in eine Reisetasche. Nicht so bei Christin. Es fiel ihr schwer, sich zu entscheiden. Mit ihrer schlanken, grazilen Figur stand ihr einfach alles gut. Nun stapelten sich die Kleidungsstücke auf ihrem Bett. Sie war noch immer unentschlossen, was sie für die nächsten sechs Wochen einpacken sollte. Schließlich nahm sie den ganzen Stapel und versuchte ihn in die Reisetasche zu packen. Verärgert stellte sie fest, dass die Tasche bei Weitem nicht ausreichte und sie nun doch einen Koffer nehmen musste. Kurzentschlossen legte sie noch ihr Sommerkleid obenauf, und dieses wiederum passte farblich perfekt zu ihren dunkelblauen Augen. Jannik missfiel der Gedanke, dass diesmal auch David Menke mit von der Partie sein würde. Er war ein Studienjahr unter Jannik gewesen. Eigentlich sollten sie sich fachlich nicht ins Gehege kommen. Trotzdem fühlte sich Jannik in Davids Gegenwart nicht so recht wohl. Dieser hatte zwar kaum Grabungserfahrungen, war aber wortgewandt und wirkte im Gegensatz zu Jannik sehr locker und entspannt. Und er hatte ein umfassendes Fachwissen. Wenn sie sich unterhielten, glaubte Jannik so manches Mal, ein arrogantes Lächeln um Davids Lippen zu bemerken, so als würde er sich über ihn lustig machen. Zudem sah Jannik in ihm einen starken Konkurrenten, wenn es in ein paar Monaten um die Bewerbung auf eine Assistentenstelle an einer der renommierten Universitäten ginge. Die Aussichten waren generell nicht vielversprechend und die Anzahl der offenen Stellen begrenzt. Ungeachtet aller Diskrepanzen stand für Jannik fest, dass sie sich beide in den kommenden Wochen irgendwie arrangieren müssten.

Wieder einmal hatte Wagner seinem Chef die gesamte Organisation und Vorbereitung abgenommen. Für die Fahrt nach Torricella und den Transport des Equipments hatte er zwei Vans gemietet und als preiswerte Unterkunft im Internet ein Bauernhaus gefunden. Komfort würde es kaum geben, aber der Platz wäre ausreichend und die Sanitäranlagen in akzeptablem Zustand. Und die Stiftung des Benno Bonke Verlags würde den Aufenthalt bezahlen. Hartwig konnte zufrieden sein, alles verlief nach Plan. Ja, wäre da nicht diese Wissenschaftsjournalistin, die der Sponsor bei den Grabungsarbeiten unbedingt dabeihaben wollte. Hartwig seufzte. Zumindest würde sie mit dem Flieger nachkommen und nicht wie alle anderen in einem der Vans mitfahren. So bliebe ihm ihre Anwesenheit wenigstens während der langen Fahrt erspart. In seinem Dienstzimmer besprach er mit Wagner gerade die letzten Details zur Reise, als es energisch klopfte und gleich darauf eine attraktive Dame den Raum betrat. „Guten Tag, meine Herren!“ Und an Hartwig gewandt: „Dittmar ist mein Name. Ich werde Ihre Grabungsarbeiten dokumentieren. Herrn Dr. Wagner hatte ich ja bereits kennengelernt.“ Augenblicklich fand sich Hartwig in seinen Vorurteilen bestätigt – und irgendwie überrumpelt. Vor ihm stand also die Wissenschaftsjournalistin, eine selbstbewusste Erscheinung, groß und schlank mit langen blonden Haaren. Sie trug Stiefeletten mit hohen Absätzen und in passender Farbe dazu eine modische Lederjacke. „Wie sieht es mit den Vorbereitungen aus? Wann fahren Sie los?“ Für einen Moment verschlug es Hartwig die Sprache, aber dann entgegnete er gereizt: „Wir brauchen niemanden weiter für die Dokumentation der Grabungsarbeiten, das erledigt ein ausgebildeter Mitarbeiter unseres Teams. Wenn Sie für Ihre Zeitschrift ein paar Bilder machen wollen, dann ist das Ihre Sache, bitte schön. Aber geben Sie sich keinen allzu großen Erwartungen hin. Die Ausgrabungsarbeiten sind in der Regel alles andere als spektakulär, mitunter sehr mühselig und die Ausbeute nur spärlich. Ich befürchte, dass Ihre Berichterstattung magerer ausfallen könnte, als Sie annehmen.“ Louisa Dittmar lächelte. „Da machen Sie sich mal keine Gedanken. Es ist nicht die erste Expedition, an der ich teilnehme. Und mit Enttäuschungen kann ich durchaus umgehen. Also wann startet Ihre Gruppe?“ „Morgen früh.“ „Das passt. Ich fliege übermorgen ab Berlin und komme am frühen Abend in Bari an. Wenn mich dort jemand von Ihnen abholen könnte?“ Hartwig nickte nur, und Wagner unterdrückte ein Grinsen. Nach seinem Gespräch mit Kunzmann hatte er die resolute Dame kurz kennengelernt. Nachdem sie gegangen war, meinte Hartwig vorwurfsvoll: „Sie hätten mich warnen müssen!“

Als die Abreise unmittelbar bevorstand, verstaute das Grabungsteam alle Gerätschaften in die beiden Vans. Hinzu kamen die persönlichen Dinge wie Isomatten, Schlafsäcke, Reisetaschen – und Christins Koffer. Sie alle verspürten Vorfreude auf die kommende Expedition. Vor ihnen lag eine spannende und vielversprechende Zeit. Selbst Hartwig war bester Laune. Die Querelen an der Uni, die Zukunftssorgen und die unvermeidliche Anwesenheit der Journalistin hatte er erst einmal verdrängt. Am nächsten Morgen in aller Frühe startete das Team. Der Routenplaner gab eine Fahrzeit von über zwanzig Stunden an. Sie mussten also eine Zwischenübernachtung einplanen. „Das scheint ja ein kleines Kaff zu sein. Also ins Navi kann ich den Ort nicht eingeben. Wo wollen wir eigentlich Zwischenstation machen?“ Jannik tippte vergebens auf dem Navi herum. „Gib doch erst einmal Bari ein. Von dort aus werden wir dann weitersehen. Außerdem haben wir ja auch noch den Autoatlas dabei. Und wegen der Übernachtung werden wir einfach schauen, wie weit wir am ersten Tag kommen.“ Bianca Hoffmeister dachte pragmatisch. Und sie hatte für die kommende Reise noch einen weiteren Vorzug: Sie sprach fließend italienisch.

 

Eine erste Spur

Hauptkommissar Baumann trat ans Fenster des Dienstzimmers. Mit seiner stattlichen Figur füllte er fast den gesamten Fensterrahmen aus. „Du wirst mir langsam zu stattlich“, hatte Sylke, seine Frau, erst vor kurzem festgestellt und dabei auf den unübersehbaren Bauchansatz angespielt. Erfolglos hatte sie sich bemüht, ihn zu einer gesünderen Ernährung zu bringen. Aber seine Gegenargumente waren immer der unregelmäßige Tagesablauf und die vielen Überstunden. Klar, er ernährte sich ungesund, aß zwischendurch und trank spätabends zu Hause gerne noch ein Bier. Und meist blieb es nicht bei dem einen. Völlner, sein Assistent, hatte diese Probleme offensichtlich nicht. Na gut, er war ja auch mindestens fünfzehn Jahre jünger als er selbst. Wie alt genau, wusste er nicht. Vielleicht so Anfang dreißig? Täglich hatte er eine Lunch Box mit geschnittenem Gemüse dabei. Baumann bezweifelte, dass Völlner sie freiwillig mitnahm. Wahrscheinlich versorgte ihn seine Freundin. Mit kaum verhohlener Schadenfreude beobachtete Baumann denn auch, wie Völlner in Momenten des größten Hungers lustlos nach der Plastikschachtel griff und an dem rohen Gemüse knabberte. „Hier, Chef, wollen Sie auch mal?“, bot er dann an, und jedes Mal lehnte Baumann mit einem verächtlichen „Nee, danke!“ ab. Völlner genoss sichtlich die seltenen Gelegenheiten, wenn er und Baumann zur Mittagszeit in einem Gasthof einkehrten und bestellte dann meist etwas Deftiges, Ungesundes. „Arbeitsessen“ bezeichneten sie die gemeinsamen Mahlzeiten, bei denen sie ungestört über einen aktuellen Fall diskutieren, Theorien entwickeln und wieder verwerfen konnten. Doch meist kauften sie unterwegs in aller Eile ein paar belegte Brötchen oder aßen zu Mittag in der Kantine. Baumann schaute auf die Uhr. Um diese Zeit müsste die Urnenbeisetzung vorüber und Völlner bald zurück sein. Die Beisetzung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Außer Sven Ludwig Richter und einem Pfarrer wäre nur Völlner dabei. Für den wenig wahrscheinlichen Fall, dass sich der Mörder von Adrien Danesi in der Nähe aufhielt, wollte Baumann seinen Mitarbeiter vor Ort haben. Mit dem Stand der bisherigen Ermittlungen war er nicht unzufrieden. Zumindest hatten sie seit gestern einen neuen Anhaltspunkt. Die Tatsache, dass Adrien Danesi vor nunmehr einer Woche ausgerechnet im Atelier seines Bruders erschossen wurde, ließ Sven Ludwig Richter in den Augen der Mordkommission zumindest zeitweilig als Hauptverdächtigen erscheinen. Doch ein Motiv war nicht erkennbar, auch die Wahl des Tatortes schien absurd. Nachdem Richter als Täter ausgeschlossen wurde, sah es dann ganz danach aus, als galt der Mord ihm selbst und als wäre Adrien Danesi irrtümlicherweise erschossen worden. Bei der Vernehmung hatte Baumann gefragt: „Könnte es sein, dass der Täter Sie und Ihren Bruder verwechselt hat und eigentlich Sie umbringen wollte?“ Doch Sven entgegnete: „Warum sollte mich jemand ermorden wollen? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Adrien hingegen hatte sich durch seine Tätigkeit als Journalist einige Feinde gemacht. Vor ein paar Monaten bekam er sogar eine Morddrohung. Ich kann mich aber nicht entsinnen, worüber er damals recherchierte. Von seiner Arbeit sprach er kaum.“ Auch für Baumann schien es nach weiteren Überlegungen schlüssig, dass man den Mord im Zusammenhang mit Danesis Tätigkeit als Journalist sehen musste. Möglicherweise war ihm jemand unbemerkt auf das Gelände gefolgt, auf dem sich in einem Teil der ehemaligen Fabrikgebäude nun Ateliers, Werkstätten und Galerien befanden. Und allem Anschein nach hatte der Täter dann den Augenblick abgepasst, in dem sich Danesi allein im Atelier seines Bruders aufhielt. Unter diesem Aspekt begannen Baumann, Völlner und die Kollegen von der Spurensicherung Adrien Danesis Wohnung noch einmal gründlich zu durchsuchen. In Aktenschränken und Schubladen war eine Unmenge von Fotomaterial untergebracht. Schon das Sichten der älteren Aufnahmen dauerte Tage. Schließlich fanden sie unter anderem einen Arbeitsoverall. Als Baumann die Taschen abklopfte, fühlte er einen festen Gegenstand. Es war eine kleine kompakte Kamera, die in der Brusttasche steckte. Aufmerksam schauten sich Baumann und Völlner die Bilder auf dem Display an. Adrien Danesi hatte offenbar einen Job bei einem Lebensmittelhersteller angenommen und heimlich die Maschinen und Anlagen in den Betriebsräumen fotografiert. Die Bilder zeigten gravierende hygienische Missstände bei der Herstellung von Konserven. Diese Aufnahmen waren immerhin ein erster Anhaltspunkt und könnten zu einer Spur bei der Aufklärung des Mordes führen. Baumann wandte sich vom Fenster ab und nahm am Schreibtisch Platz. Nervös tippte er mit dem Kugelschreiber auf der Tischplatte herum. Außer auf die Rückkehr seines Mitarbeiters wartete er jetzt auf einen Anruf. Ohne die Information, um welchen Lebensmittelhersteller es sich handelte, kam er momentan nicht weiter. Und Geduld war seine Stärke nicht.

Tief in Gedanken versunken lief Sven Richter den Weg vom Friedhof zurück zum Auto. Passend zu seiner niedergeschlagenen Stimmung fing es nun an zu nieseln. Der auffrischende Wind wehte ihm den Regen ins Gesicht. Die Ereignisse der letzten Tage hatten Sven kaum Zeit zur Trauer gelassen. Zum ersten Mal im Leben empfand er es als Erleichterung, dass seine Eltern nicht mehr lebten. Für sie wäre der Mord an Adrien ein zu heftiger Schlag gewesen. Jetzt nach der Urnenbeisetzung hatte Sven wieder Zeit für sich. Nachdem er das Auto auf dem Gelände geparkt hatte, ging er zögerlich auf das alte Backsteingebäude zu, in dem sein Atelier lag. Bis gestern war die Tür zu seinen Räumen versiegelt. Aber jetzt war die Spurensicherung abgeschlossen, und er konnte die Räumlichkeiten wieder betreten. Das Leben und die Arbeit mussten weitergehen; er hoffte, durch die Malerei zur Normalität zurückzufinden. Wie ein Fremder bewegte er sich durch das spartanisch eingerichtete Atelier und blieb vor seinem unfertigen Bild stehen. Da sah er es: Adrien hatte, wahrscheinlich um ihn zu provozieren, auf die Leinwand zwei schwungvolle Streifen aufgetragen, einen kräftigen in Kobaltblau und dann noch einen zarteren in Ocker. Augenblicklich wurde er von einer ihm bis dahin ungekannten Wehmut ergriffen. Das Bild wollte er, so wie es war, belassen. Die beiden Farbstreifen waren die letzte Handlung seines Bruders.

Unterdessen hatten die Mitarbeiter herausgefunden, um welchen Lebensmittelhersteller es sich bei den Aufnahmen handelte. Es war eine Konservenfirma im Großraum von Berlin. Ein Herr Peterson war der Inhaber. Baumann und Völlner erschienen kurz nach Beginn der Frühschicht im Büro der Firma und verlangten nach dem Chef. „Herr Peterson ist dienstlich unterwegs“, verkündete die Sekretärin und wollte sich wieder ihrem Tagesgeschäft zuwenden. Baumann zeigte seinen Dienstausweis. „Ja, dann rufen Sie ihn doch an und sagen ihm, dass wir ihn dringend sprechen müssen.“ Kurz darauf erschien Peterson, weit entfernt konnte er demnach nicht gewesen sein. Er hatte eine gedrungene, untersetzte Figur und eine ungesunde Gesichtsfarbe. Sein Anzug saß äußerst knapp, über der Gürtellinie sah man deutlich den Bauchansatz. „Was gibt’s?“ Ungehalten schaute er in die Runde. Hauptkommissar Baumann stellte sich vor, zeigte auch Peterson seinen Dienstausweis und gleich darauf die Aufnahmen. „Diese Bilder wurden in den Betriebsräumen Ihrer Firma aufgenommen.“ „Wer hat die gemacht?!“ Petersons Gesichtsfarbe ging nun in ein tiefes Rot über. „Nicht Sie, sondern ich frage“, stellte Baumann sofort klar. „Kennen Sie diesen Mann?“ Er legte Peterson ein Foto von Adrien Danesi vor. „Ja, er wurde vor kurzem bei uns eingestellt, ist aber schon mindestens seit einer Woche nicht zur Arbeit erschienen.“ „Aus seiner Sicht sehr verständlich.“ „Wie meinen Sie das?“ Aus Petersons Stimme klang unverhohlener Argwohn. „Herr Danesi wurde vor einer Woche ermordet.“ Schweigen. „Wann genau haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?“ „Sie glauben doch nicht im Ernst …!“ „Ich glaube gar nichts. Herr Danesi hatte offensichtlich ohne Ihr Wissen und Ihre Zustimmung Aufnahmen von den Betriebsräumen gemacht. Er war Journalist und wollte, so nehmen wir jetzt an, hygienische Missstände in der Lebensmittelbranche offenkundig machen.“ „Was hatte er dann hier zu suchen? Sind Sie von der Hygiene oder von der Polizei?“ „Ich hatte mich bereits vorgestellt. Wir möchten uns auch mit Ihren Mitarbeitern unterhalten.“ „Die Geschäfte im Unternehmen führt Herr Unger“, erwiderte Peterson eisig. Mit einer unwilligen Geste gab er der Sekretärin zu verstehen, ihn anzurufen. Nach wenigen Minuten betrat ein junger Mann den Raum. Anders als sein Chef war Unger eine gepflegte Erscheinung und im Umgang zuvorkommend und höflich. „Womit kann ich behilflich sein?“ „Bitte zeigen Sie uns die Betriebsräume des Unternehmens.“ „Sehr gerne. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Unger führte die beiden Ermittler zu einem benachbarten Gebäude und ließ sie eintreten. Baumann verschlug es die Sprache. Das konnten nicht die Anlagen sein, die Danesi heimlich fotografiert hatte! Sie befanden sich in einem kleinen Raum und bekamen durch eine Glaswand Einblick in einen hellen, sauberen Betriebsraum. An den wenigen Arbeitsplätzen standen fünf Mitarbeiter in weißen Overalls, sie trugen Einweg-Hauben und Handschuhe. Getrennt vom Produktionsbereich konnten Besucher, Kunden oder die Geschäftsleitung durch die große Glasscheibe die Arbeitsprozesse beobachten. Zum ersten Mal kamen Baumann Zweifel, ob sie auf der richtigen Spur waren. Wenn das alles nur nicht ein großer Irrtum war.

Aufbruch nach Apulien

Am ersten Tag kamen sie bis Trient und legten dort eine Zwischenübernachtung ein. Jetzt in der Vorsaison war es nicht allzu schwierig, ein Quartier für eine Nacht zu finden. Am darauffolgenden Morgen ging es in aller Frühe weiter. Jannik bedauerte, dass Bianca diesmal im anderen Van saß. Aber in den nächsten Wochen würde er noch viel Zeit in ihrer Nähe verbringen können. Und er würde seine Chance nutzen. Das hatte er sich fest vorgenommen. Nun saß Jannik schon seit Stunden hinter dem Steuer. Rücken und Nacken schmerzten ihm von der langen Fahrt, und laut Navi waren es immer noch mehr als 120 km bis zum Ziel. Wagner war in seine Unterlagen vertieft. Und als hätte er Janniks Gedanken verstanden, bot er sofort an: „Wenn Sie möchten, kann ich Sie ablösen. Sie fahren jetzt schon viel zu lange.“ Erleichtert fuhr Jannik bei der nächstbesten Gelegenheit rechts ran. Der andere Van hielt ebenfalls. Nachdem sich alle kurz die Beine vertreten hatten, ging es weiter. Auch die folgende Strecke zog sich endlos hin. „Bis jetzt sieht es nicht gerade nach Bella Italia aus. Viele Gewerbegebiete und Landwirtschaft.“ David saß am Steuer des anderen Vans und war sichtlich genervt von der eintönigen Landschaft und der langen Fahrerei. „Du wirst deine Klischees bald bekommen“, vertröstete ihn Bianca. Sie saß auf dem Beifahrersitz und hatte den Autoatlas aufgeschlagen. „In der Höhe von Bari geht es auf die SS16, die Strada Statale Adriatica in Richtung Monopoli. Ich nehme an, dass wir dann einen Blick auf das übliche Postkartenmotiv, die blaue Adria, haben werden.“ „Und sicher wieder auf ein Gewerbegebiet kurz vor Torricella“, ergänzte David. Vom Rücksitz des Vans meldete sich nun Professor Hartwig. „Apropos Bari. Um welche Uhrzeit kommt Frau Dittmar eigentlich an?“ Bianca schaute auf ihr Smartphone. „Das würde zeitlich gerade passen. In einer Stunde landet der Flieger. Wollen wir gleich zum Flughafen?“ Die Option bot sich förmlich an. Und so kam es, dass eine Stunde später die energiegeladene, bestens gelaunte und auffällig gut gekleidete Louisa Dittmar einem übermüdeten, von der langen Fahrt leicht gereiztem Team gegenüberstand. Alle schauten sie mit unverhohlener Neugier an, auch Hartwig. Das Outfit der Dame übertraf offensichtlich alle Erwartungen und fand durchaus Gefallen bei den männlichen Teilnehmern der Gruppe. Christins Blick war zu entnehmen, dass sie die ganze Aufmachung mehr als unpassend fand. Bianca war es einfach egal. Sie wollte so schnell wie möglich weiter nach Torricella. Der Koffer und die Reisetasche von Louisa Dittmar wurden in einem der Vans verstaut, und weiter ging die Fahrt auf Monopoli zu. Wie erhofft gab es von der Strada Statale Adriatica ein paar herrliche Ausblicke auf das Meer. Und dann kam, wie bereits vermutet, in Höhe von Monopoli die Abfahrt in ein weniger attraktives Gebiet. Die nächste Enttäuschung war die Unterkunft. Alles sah schäbiger und heruntergekommener aus als auf den Fotos. Etwas schadenfroh schielte Christin zu Louisa Dittmar hinüber. Wie würde wohl dieses Luxusweibchen auf die Aussicht reagieren, für die nächsten sechs Wochen hier Quartier zu beziehen? Aber das Luxusweibchen zückte ihr Smartphone und entfernte sich ein paar Schritte. Schweigend begannen Hartwig und die anderen, das Equipment aus den Vans zu holen. Frau Dittmar kam zurück. „Halt, einen Moment! Ich habe gerade mit Herrn Kunzmann gesprochen. Finanziell wäre es in Ordnung, wenn wir uns etwas Ansprechenderes suchen. Ich schlage vor, wir steigen wieder ein und fahren durch Torricella. Bestimmt finden wir eine bessere Unterkunft.“ Nach einem winzigen Augenblick der Überraschung äußerten sich alle zustimmend und erleichtert. Selbst Hartwig ließ sich erstaunlich schnell auf das Angebot ein. Und Christin erwog die Möglichkeit, dass Louisa Dittmar vielleicht doch nicht so fehl am Platze sei, wie sie zuerst annahm. Auf jeden Fall reagierte sie spontan und lösungsorientiert. Die Fahrt ging noch ein paar Minuten weiter. Tatsächlich fanden sie bald ein recht passables Ferienhaus mit Blick auf Olivenhaine. Der Umstand, dass Vorsaison war und der Ort nicht unmittelbar in Meeresnähe lag, machte es möglich, das Quartier zu einem akzeptablen Preis anzumieten. Wieder begannen alle, das Gepäck aus den Autos zu laden, diesmal jedoch in wesentlich besserer Stimmung. Der Platz im Haus war ausreichend und die Lage der Räume ideal. Der größte Raum sollte als gemeinsames Besprechungs-, Arbeits- und Wohnzimmer genutzt werden. Er ging praktischerweise in den Küchenbereich über. Mittlerweile war es Zeit zum Abendessen. Brot, Butter, Käse, Salami, zwei Flaschen Rotwein und Mineralwasser hatten sie auf einem Zwischenstopp kurz vor Monopoli gekauft. Auf der Terrasse hinter dem Haus wurde der Tisch gedeckt, und bald breitete sich Urlaubsstimmung aus. Hartwig räusperte sich und fand ein paar passende Worte als Einstimmung auf die bevorstehenden Aufgaben. Er dankte auch Louisa Dittmar für ihre Initiative, ad hoc eine angemessene Unterkunft zu suchen, und ergänzte in süffisantem Unterton: „Natürlich wünsche ich auch Ihnen viel Erfolg bei der Berichterstattung für Ihr … Journal.“ Sie überhörte die spöttische Nuance und erhob ihr Glas: „Bitte nennen Sie mich doch alle einfach Louisa!“

Jannik und David waren dabei, in ihrem Zimmer die Reisetaschen auszupacken. „Was schätzt du, wie alt sie ist?“ „Louisa?“ „Natürlich, wer denn sonst.“ „Vergiss es, du bist definitiv zu jung für sie …“ „… und du definitiv zu blöd. Nein, mal im Ernst. Wie alt schätzt du sie?“ David ließ nicht locker. „Das ist schwer zu sagen. Vielleicht knapp über vierzig?“ „Auf jeden Fall ist sie sehr attraktiv.“ Christins Bemerkungen drehten sich ebenfalls um Louisa Dittmars Person, wenn auch in weniger wohlwollendem Ton. „Ich bin mal gespannt, was die Dame morgen an der Grabungsstelle anhaben wird. Die hochhackigen Schuhe und den anderen modischen Kram kann sie ja wohl vergessen.“ Mit einem Blick auf Christins halbausgepackten Koffer bot Bianca lächelnd an: „Sag mir, wenn ich dir helfen soll!“ Sie und Christin teilten sich ebenfalls ein Zimmer. Die drei anderen Räume wurden als Einzelzimmer genutzt.

Am nächsten Morgen ging es gleich nach dem Frühstück zur Ausgrabungsstelle. Sie war nicht sehr weit von der Unterkunft entfernt, höchstens zwei Kilometer. Aber da die Gerätschaften transportiert werden mussten, fuhren sie mit den Vans. Für das Ausgrabungsteam war es ein Glücksfall, dass das Erdreich durch die früheren Ausschachtungsarbeiten bereits tief abgetragen war. Aber der Boden war ausgetrocknet und an manchen Stellen hart wie Beton. Das würde die Arbeit erschweren. Als Grabungsfläche legte Hartwig rund um die Stelle, an der der Kieferknochen gefunden wurde, eine Fläche von ca. vier mal fünf Metern fest. Mit Spatel, Spitzkellen und weiteren Feinstwerkzeugen begannen alle, sich Millimeter um Millimeter tiefer zu arbeiten. Sobald jemand auf etwas Hartes stieß, wurde die Stelle vorsichtig mit dem Pinsel freigelegt. Doch bisher waren es nur unbearbeitete Steine, die sie im Erdreich fanden.

In den Abendstunden wehte meist ein leichter Lufthauch und trug den Duft von Wildkräutern herüber. Aus der Ferne hörte man das Zirpen der Zikaden. Für das Team waren es die angenehmsten Stunden nach den anstrengenden Arbeitstagen. Da die Küche des Ferienhauses bestens ausgestattet war, ergab es sich, dass abends gemeinsam gekocht und das Essen auf der Terrasse hinter dem Haus eingenommen wurde. Bei milden Temperaturen und einem herrlichen Ausblick auf die Olivenhaine saß die Gruppe oft bis in die späten Abendstunden beisammen. Und doch schlich sich von Tag zu Tag eine spürbare Frustration ein. Die Alltagsroutine bei den Ausgrabungen war ermüdend und hatte bisher nichts Spektakuläres ans Tageslicht gebracht. Hartwig fühlte sich zusehends unter Druck und nahm nicht zu Unrecht an, dass sein Sponsor nun bald Ergebnisse erwartete. Die Aussage Kein Ergebnis ist auch ein Ergebnis, würde Kunzmann nicht zufriedenstellen. Seit zehn Tagen wurde nun bereits gegraben und die Abtragungen Schicht für Schicht akribisch dokumentiert. Bisher wurde nichts Auffälliges oder Nennenswertes gefunden. Und wie Hartwig vorausgesehen hatte, begann sich Louisa Dittmar sichtlich zu langweilen. Immer öfter setzte sie sich ab und erkundete mit ihrer Kamera die weitere Umgebung. Ihr augenscheinliches Desinteresse an der Grabung entging Hartwig nicht. „Ja, Frau Dittmar, das ist nun mal so bei Archäologen. Viel Routinearbeiten und wenig Sensationelles. Sicher nichts für Ihre Zeitschrift.“ „Ich habe ja gar nichts gesagt. Aber könnte es nicht doch sein, Herr Professor Hartwig, dass Sie sich mit Ihrer Theorie und der Auswahl der Grabungsstätte gewaltig verspekuliert haben?“ Hartwig verschlug es die Sprache, aber dann reagierte er umso heftiger: „Wenn Ihnen die Angelegenheit für Ihr Journal hier nicht spektakulär genug ist, dann reisen Sie doch einfach ab! Ich werde Sie ganz bestimmt nicht aufhalten. Versprochen. Oder schreiben Sie doch einfach eine nette Homestory und knipsen ein paar schöne Fotos für Ihr Blatt. Passt doch prima: ein hübsches Ferienhaus in idyllischer Landschaft, ein fleißiges aber erfolgloses Ausgrabungsteam und ein schrulliger Professor. Na, wie wäre das?!“ Aber zu seiner Verblüffung warf Louisa lachend den Kopf zurück, wobei ihre langen, blonden Haare schwungvoll nach hinten fielen. Sein Wutausbruch verlief offensichtlich ins Leere. „Was glauben Sie denn, was ich in den letzten Tagen gemacht habe?“ Und genau so war es auch, im Prinzip hatte Hartwig mit seinen sarkastischen Bemerkungen den Nagel auf den Kopf getroffen. Vier, fünf Tage lang hatte sie die Ausgrabungsarbeiten von früh bis abends beobachtet und mit der Kamera dokumentiert. Aber bald schon sah sie sich etwas ausgiebiger in der näheren Umgebung um und fotografierte die Landschaft. Doch das war nicht ihre eigentliche Aufgabe. Ein Reiseführer über Apulien sollte es nun wirklich nicht werden. In unbeobachteten Momenten hatte sie Fotos vom Alltag des Grabungsteams geschossen und schrieb dazu an einem Text. Im Plauderton berichtete sie über die Anstrengungen aber auch über die heiteren Situationen hier vor Ort. Am späten Nachmittag saß sie dann an ihrem Laptop und bearbeitete die Aufnahmen und den Text. Es waren viele Bilder von den Grabungen, Schnappschüsse von Hartwig, Wagner und dem ganzen Team, Aufnahmen von der Runde, wie sie mittags unter dem Sonnensegel Picknick machten und Ciabatta mit Salami, Käse und Oliven aßen. Aber die schönsten Fotos entstanden abends, wenn sich fast alle in der Küche aufhielten, gemeinsam das Essen vorbereiteten oder beim Kochen mit einem Glas Rotwein in der Hand zuschauten und dabei zwanglos plauderten. Vor der Küchenarbeit drückte sich Louisa erfolgreich. Keiner nahm es ihr übel, denn sie konnte vieles, aber kochen nun gerade nicht. Stattdessen lag sie mit ihrer Kamera von den anderen unbemerkt auf der Lauer. Das Ergebnis sollte ein Special für die Zeitschrift werden; sie dachte da an eine Beilage in Hochglanz. Hartwig würde sie dafür hassen.

Der elfte Tag brachte, wenn auch nicht im eigentlichen Sinn ihrer Erwartungen, eine Sensation. Professor Hartwig fand einen menschlichen Zahn. Mit einem feinen Pinsel legte er ihn frei. Zu Recht konnte er annehmen, dass dieser genau zu dem Unterkiefer gehörte, der im Jahr zuvor bei den Ausschachtungsarbeiten zufällig gefunden wurde, und dessen Datierung auf eine Zeit von 42.000 bis 40.000 Jahre BP fiel. Ob es sich tatsächlich um einen Zahn aus dem Uluzzien handelte, würden die späteren Untersuchungen zeigen. Louisas Kamera klickte ununterbrochen, und Jannik dokumentierte sorgsam die Fundstelle. Alle schienen begeistert und sichtbar erleichtert, dass es nun, wenn auch keine Steinskulptur, so doch einen höchst wertvollen anderen Fund gab. Die Stimmung war so gelöst, wie seit Tagen nicht mehr. Am Abend standen Bianca und Christin am Herd. Sie probierten ein typisches apulisches Gericht aus: Cicatelli mit Zucchini, Kirschtomaten, Sellerie, Garnelen und einer würzigen Soße. Dazu wurden zwei Flaschen apulischen Rotweins geöffnet. Christin sah in ihrem sommerlichen Kleid hinreißend aus; der leichte Leinenstoff umspielte ihre schlanke Figur. Voller Bewunderung schauten die männlichen Teilnehmer zu ihr herüber, als sie die selbstgemachte Pasta in einer Schüssel auf die Terrasse trug und dann mit einer anmutigen Bewegung am Tisch Platz nahm. Aber Jannik hatte nur Augen für Bianca. Bianca war einfach Bianca. Sie sorgte sich nicht um die zwei, drei Kilo, mit denen sie möglicherweise über ihrem Idealgewicht lag, sie aß, was ihr schmeckte und kleidete sich mit dem, was sie als bequem empfand. Jetzt trug sie kurze Shorts und lief barfuß über die warmen Terrassenfließen. Es waren ihre natürliche Ausstrahlung, das Selbstverständnis und ihre Präsenz, die andere in ihren Bann zogen. Wagner lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute in die Ferne. Der Anblick der Olivenhaine in der Abendstimmung gefiel ihm. Im Prinzip mochte er auch die Runde, in der er saß. Wären da unterschwellig nicht der Erfolgsdruck und die Sorgen, die unausgesprochen über allem lagen, könnte er die Zeit hier in vollen Zügen genießen. Sein Blick wanderte zu Louisa Dittmar. Welche Rolle mochte sie wohl tatsächlich spielen? Hatte Kunzmann sie, wie von Hartwig unterstellt, zur Kontrolle mitgeschickt? Vielleicht war das Misstrauen ihr gegenüber auch völlig unbegründet. Wagner hatte nach ihrem Namen gegoogelt und fand bestätigt, dass sie als Wissenschaftsjournalistin arbeitete. Und eigentlich gefiel sie ihm. Nun ja, mitunter war sie nervig und überdreht, aber sie war vor allem auch sehr unterhaltsam, intelligent und attraktiv. Wie ernst mochte wohl das Geplänkel zwischen Hartwig und ihr sein? Schwer zu sagen. Doch es gab andere Probleme, als sich derartigen Betrachtungen hinzugeben. Und passend zu den Wolken, die nun allmählich am Himmel aufzogen, verfinsterte sich sein Blick wieder. Jetzt war es Louisa, die ihn verstohlen beobachtete: ein attraktiver Mann, aber immer etwas distanziert und sehr ernst. Vermutlich ist er mit seiner Arbeit verheiratet, waren Louisas Gedanken. Und mit dieser Einschätzung lag sie wohl nicht ganz falsch. Mehr als eine Beziehung war bereits an seinem beruflichen Ehrgeiz zerbrochen. Louisa schaute weiter in die Runde. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass sie David offensichtlich gefiel. Professor Hartwig riss sie aus ihren Betrachtungen. „Bei aller Gemütlichkeit. Auch wenn wir heute einen ganz wesentlichen Fund freigelegt haben, so dürfen wir doch unser eigentliches Ziel, die Suche nach Artefakten aus dem Uluzzien nicht aus den Augen verlieren. Es stellt sich die Frage: Wollen wir an gleicher Stelle noch tiefer gehen oder das Areal vergrößern? Auf jeden Fall befinden wir uns in den Schichten, in denen der Kieferknochen und nun auch dieser Zahn gefunden wurden. Was meinen Sie dazu, Jannik?“ Wagner zuckte zusammen – sein Chef überging ihn einfach! Und Jannik hatte offenbar schon einen Vorschlag parat. „Ich würde das Areal erweitern und über die bisherige Fläche hinausgehen. Hierzu habe ich mal eine Zeichnung gemacht, wie die zusätzliche Grabungsfläche aufgeteilt werden könnte.“ Er stand auf, um den Plan zu holen. Verstohlen schaute Louisa zu Wagner hinüber. Der saß steif und mit zusammengepressten Lippen auf seinem Stuhl. Jannik kam zurück und legte den Plan auf den inzwischen freigeräumten Tisch. „Ich habe mir gedacht, dass wir die bisherige Grabungsfläche nach allen Seiten um jeweils einen Meter erweitern könnten. Das klingt erst einmal nach nicht sehr viel zusätzlicher Fläche, aber immerhin wären es weitere zweiundzwanzig Quadratmeter. Das Areal sähe dann so aus.“ Er deutete auf die Zeichnung. „Wir könnten uns an den Grabungsrändern der bisherigen Fläche beginnend weiter nach außen vorarbeiten.“ Alle beugten sich nun über Janniks Plan. Der Himmel hatte sich unterdessen komplett zugezogen, und bald fielen die ersten schweren Regentropfen. Eilig wurde das Blatt zusammengefaltet, und das ganze Team verzog sich in das geräumige Wohnzimmer. Schließlich meinte Bianca: „Ja, das klingt eigentlich logisch, doch so sensationell finde ich die Idee nun auch wieder nicht.“ Sie hatte sich von Janniks Überlegungen mehr erhofft, hatte aber auch keinen besseren Vorschlag. Gemeinsam wurde auf der Zeichnung eine Aufteilung vorgenommen und genau bestimmt, wer an welcher Stelle dann am nächsten Morgen graben sollte. „Wenn es in irgendeiner Weise weiterhilft, kann ich ja mal mitbuddeln“, war Louisas wohl nicht ganz ernst gemeintes Angebot. „Wirklich sehr nett, Frau Dittmar, aber von buddeln kann hier keine Rede sein. Knipsen Sie mal lieber weiter“, konterte Hartwig sofort. Als sich alle zu ihren Zimmern begaben, sprach Wagner seinen Chef an. „Meine Meinung ist jetzt wohl gar nicht mehr gefragt? Sie haben sich gleich an Jannik gewendet.“ „Um Himmels willen! So war es wirklich nicht gemeint! Mir ist es einfach wichtig, die jungen Mitarbeiter zu fordern. Und ich wollte mal testen, was Jannik sich über den weiteren Fortgang der Grabungen gedacht hat. Hätten Sie eine andere Idee oder einen Vorschlag?“ Aber Wagner winkte ab. „Nein, ist schon gut.“ Im Zimmer meinte David leichthin: „Du hast dir ja offensichtlich richtig Gedanken gemacht, wie es weitergehen soll. Hast du übrigens Wagners Gesicht gesehen, als Hartwig nach deiner Meinung fragte? Sieht fast so aus, als wäre der Kronprinz abgesetzt und du jetzt der Liebling des Chefs“, spottete er weiter. „Da kann ich doch nichts dafür, wenn Hartwig mich und nicht Wagner gefragt hat. Der hätte seine Ideen schließlich auch vorbringen können. Aber vielleicht hat er ja keine.“ Jannik gähnte und streckte sich auf dem Bett aus. Für ihn war das Thema damit erledigt.

Die Morgensonne schien intensiver als sonst ins Zimmer, und Louisa wusste sofort, dass sie wieder verschlafen hatte. Schon das dritte Mal in den elf Tagen. Aber was machte das schon. Offensichtlich war sie allein im Haus; die anderen waren natürlich bereits mit den beiden Vans losgefahren. Louisa ging ins Bad und dann hinunter in die Küche. Kaffee, Milch und Kekse standen für sie auf dem Frühstückstisch bereit. Immerhin. Nachdem sie gefrühstückt hatte, ging sie zu Fuß zur Grabungsstätte. Die Luft war klar und etwas kühler als die Tage zuvor. In der Nacht hatte es geregnet. Hin und wieder sah sie Pfützen auf dem Weg. Natürlich, auch in Apulien gab es Regentage. Nach einer knappen halben Stunde war sie bei den anderen vor Ort. Viel hatte sie bisher nicht verpasst. Die Erweiterung des Areals war abgesteckt, und jeder grub nun auf der ihm zugewiesenen Fläche. Louisa hielt die neue Situation fotografisch fest und machte sich ein paar Notizen. Nach dem Mittagspicknick unterm Sonnensegel setzte die übliche Schläfrigkeit ein. Hartwig streckte sich auf einer Plane aus und zog seinen Sonnenhut tief über die Augen. Diese Positur hatte Louisa schon mehrmals fotografiert und reizte sie nun nicht mehr. Am frühen Nachmittag gingen die Grabungen weiter. Plötzlich hielt David inne. „Ich glaube, hier ist etwas!“, rief er den anderen zu. „Sicher wieder ein Stein.“ „Nein, es ist etwas Rundes, Schwarzgrünes, mit Einkerbungen an den Seiten!“ Jetzt kamen auch die anderen hinzu. Keiner sagte ein Wort, es war, als hielten alle den Atem an. Bianca fand als Erste die Sprache wieder: „Nun mach doch mal weiter und grab ihn aus!“ „Lass uns doch wenigstens noch für ein paar Sekunden glauben, dass es eine Venus sein könnte. Die Venus von Torricella!“, wandte Christin in betont theatralischem Unterton ein. Dann begannen alle gemeinsam den Fund freizulegen. Während Louisa ununterbrochen fotografierte, stand Hartwig regungslos daneben und starrte auf die Stelle, an der das augenscheinlich bearbeitete Gestein so nach und nach zum Vorschein kam. Jannik konnte seine Euphorie kaum bremsen. „Es scheint etwas Figürliches zu sein!“ Und nun begannen alle wild zu spekulieren. Nur Wagner wirkte ruhig und beherrscht. Mit ein paar Handgriffen legte er den Rest des Fundes frei. Endlich löste sich Professor Hartwig aus seiner Starre und begann die Figur zu vermessen. „Jannik, notieren Sie: Die Höhe beträgt 19,8 cm, die breiteste Stelle 7,5 cm. Auffallend sind die breiten Hüften, die ausladenden Brüste und der relativ kleine Kopf. Wie Christin ganz recht orakelte, handelt es sich tatsächlich um eine Venus. Das Faszinierende ist, dass sie sehr naturalistisch dargestellt wurde. Das Gesicht ist nur angedeutet, aber die Haare sind durch die kleinen Einkerbungen am Kopf sehr detailliert ausgearbeitet. Das Gewicht beträgt … einen Moment …486,46 g. Das Gestein, aus dem sie gefertigt wurde, scheint Serpentin zu sein. An der Figur sind deutliche Arbeitsspuren zu erkennen. Meiner Vermutung nach wurde sie mit einer Art Stichel bearbeitet.“ Hartwig holte tief Luft und meinte dann: „Ich kann es immer noch nicht fassen und bin einfach sprachlos.“ „Na, ganz so sprachlos scheinen Sie ja nicht zu sein. Ganz im Gegenteil, es sieht eher nach einem Anfall von Logorrhoe aus.“ Die Bemerkung kam von Louisa. Aber Hartwig ignorierte sie und dozierte weiter. „Die Figur erinnert mich sofort an die Venus von Savignano, nur dass unser Fund ca. 2 cm kleiner und ungefähr 100 g leichter ist, aber dafür vielleicht 15.000 Jahre älter! Die Skulptur lag in der gleichen Schicht, in der ich gestern den Zahn ausgegraben habe. Wenn die C14-Datierung also ergibt, dass es sich um einen Zahn aus dem Uluzzien handelt, können wir daraus schließen, dass auch die Steinfigur aus dieser Epoche stammt. Somit wäre dies die bisher älteste figürliche Darstellung und der Fund eine Sensation! Wir müssen sofort die Uni informieren.“ „Und unbedingt den Verlag und die Stiftung“, ergänzte Louisa. Doch Hartwig unterbrach sie brüsk: „Frau Dittmar, Sie halten sich bitte zurück! Für eine Berichterstattung in den Medien ist es noch viel zu früh. Ich schlage vor, dass wir die Grabung für einen kurzen Zeitraum unterbrechen und ein Teil von uns morgen nach Berlin zurückfliegt. Herr Wagner, wenn Sie sich bitte um die Meldung an die hiesigen Behörden und um die Untersuchung der Fundstücke in einem italienischen Labor kümmern würden. Jannik, erkundigen Sie sich, wann morgen ein Flieger nach Berlin geht, und buchen Sie für Herrn Dr. Wagner, für mich und für sich einen Flug.“ Nach kurzer Überlegung entschied er: „David sollte auch mitkommen. Bianca und Christin werden vor Ort die Stellung halten. In ein paar Tagen sind wir wieder zurück und setzen die Grabungen fort. Bianca, Sie können am besten Italienisch. Lassen Sie das Areal absichern und schauen Sie sich in der Zwischenzeit vor Ort nach weiteren Arbeitskräften um. Ich dachte an vier bis fünf Helfer für einen Zeitraum von ca. drei Wochen. Die Bezahlung regle ich in Berlin mit Herrn Kunzmann.“ Von Professor Hartwig ging ein ungewöhnlicher Enthusiasmus aus. So hatten ihn seine Mitarbeiter schon lange nicht mehr erlebt. Entschlossen wandte sich Louisa an Jannik. „Buchen Sie für mich bitte auch gleich einen Flug mit.“

Am Abend wurden zwei Flaschen Sekt geöffnet. „Auch wenn die Auswertung der beiden Funde noch nicht begonnen hat, so haben wir heute doch allen Grund, die Ausgrabung zu feiern. Ich möchte mich bei Ihnen für Ihr unermüdliches Engagement und ganz besonders bei David bedanken, der ja auf die Skulptur gestoßen ist.“ Die Stimmung war an diesem Abend ausgelassen und fröhlich. Selbst Wagner wirkte entspannt, doch dann gab er zu bedenken: „Ich möchte Ihnen keinesfalls die Laune verderben, aber wir müssen uns alle vor voreiliger Euphorie schützen. Es ist noch nicht erwiesen, dass es sich bei der Skulptur tatsächlich um ein Kunstwerk aus dem Uluzzien handelt. Die Figur und der Zahn könnten auch durch Erdverrutschungen in diese Schichten gelangt sein. Hoffentlich erleben wir keine Enttäuschung.“ Doch niemand wollte Dr. Wagners Zweifel hören. Spät abends reflektierten Bianca und Christin in ihrem Zimmer noch einmal über den ereignisreichen Tag. „Bist du enttäuscht, dass wir beide nicht mit nach Berlin fliegen?“, wollte Christin wissen. „Eigentlich nicht. Was sollen wir dort? Es wird Gespräche, Glückwünsche und wahrscheinlich auch Interviews geben. Und mehr, als auf die Auswertung der Untersuchungen zu warten, können sie dort auch nicht. Aber es wäre echt toll, wenn sich für die Zukunft des archäologischen Institutes nun doch noch etwas Positives ergäbe. Ich würde es Hartwig und Wagner sehr wünschen.“

Der Schein trügt

Die ganze Sache gefiel ihm nicht, ganz und gar nicht. Etwas war faul daran, und Hauptkommissar Baumann hatte ein Gespür für Unstimmigkeiten. Dieser Unger erschien ihm einfach zu glatt. Seine Umgangsformen waren im Gegensatz zu Petersons Auftritt sehr verbindlich und ließen ihn vertrauenswürdig erscheinen. Doch das war nur Schein, anders konnte er es sich nicht erklären. Und was er ihnen als Produktionsraum präsentierte, stimmte nicht mit dem überein, was auf Danesis Kamera zu sehen war. Aber es musste sich um den gleichen Konservenhersteller handeln. Peterson selbst bestätigte ja, dass Danesi bis vor kurzem bei ihm gearbeitet hatte. Verärgert schlug Baumann mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte und stand auf. Irgendwie war es Peterson und Unger gelungen, ihn zu täuschen. Auf eine gewisse Weise passten beide perfekt zusammen: Zuerst musste er sich mit dem cholerischen Inhaber auseinandersetzen, und in der Zwischenzeit konnte sich dessen Geschäftsführer bestens vorbereiten. Kurzentschlossen griff Baumann zum Telefon. Als Völlner ihm wenig später gegenübersaß, fragte er: „Ist Ihnen bei der Besichtigung der Konservenbude etwas aufgefallen? Kam Ihnen im Nachhinein irgendwas merkwürdig vor?“ Völlner musste nicht lange überlegen. „Na ja, der Betriebsraum macht einen sehr cleanen Eindruck. Alles wirkt irgendwie zu perfekt, zu vorbildlich. Und höchstens fünf oder sechs Angestellte waren zu sehen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Peterson in diesem Raum mit so wenigen Anlagen einen so großen Umsatz machen kann. Seine Firma ist ja regional nicht gerade unbekannt.“ „Bis vor Kurzem kannte ich die gar nicht“, gab Baumann zu. „Vielleicht gehen Sie auch nicht so oft einkaufen. Das macht sicher Ihre Frau?“ Der scharfe Blick seines Vorgesetzten wies ihn zurecht. „Aber was Sie zum Betriebsraum und der Anzahl der Mitarbeiter gesagt haben, ist auch mein Eindruck. Mir kommt es so vor, als hätten uns die beiden Herren nur das gezeigt, was wir sehen dürfen. So etwas wie eine gläserne Produktionsstätte sollte es wohl darstellen. Wissen Sie was, Völlner? Ich werde nochmal ganz unbemerkt und unangemeldet dort auftauchen, natürlich nicht allein. Wer weiß, ob man mich sonst zu Konserven verarbeiten würde.“ Völlner verzog leicht angewidert das Gesicht, aber das war wohl nicht die Reaktion, die Baumann erwartet hatte. Ungehalten wies er daraufhin: „Danesi ist der Sache nachgegangen und wurde ermordet! Wir dürfen die beiden Herren nicht unterschätzen. Daher ist es ratsam, dass wir bei einem weiteren Besuch die Dienstwaffen bei uns tragen.“ „Aber sowohl Peterson als auch Unger hatten zum Zeitpunkt des Mordes ein Alibi“, erinnerte Völlner. „Ja, aber so eindeutig sind sie nicht. An dem Vormittag war jeder von ihnen angeblich dienstlich unterwegs. Der Geschäftspartner kann zwar bestätigen, mit Peterson gesprochen zu haben, aber der Zeitraum ist sehr vage. Und bei Unger klafft zwischen Abfahrt vom Kunden und Ankunft bei seiner Dienststelle ebenfalls eine zeitliche Lücke. Also los, fahren wir nochmal hin.“

Völlner parkte den Dienstwagen etwas entfernt vom Haupteingang. Sie betraten das Gelände diesmal durch eine Art Wirtschaftseingang und nahmen den Weg, der hinter dem Bürogebäude entlangführte. Das Betriebsgelände war überschaubar und gepflegt, und wie schon beim ersten Besuch war weit und breit kein Mensch zu sehen. Ungesehen kamen sie zu dem Gebäude, in dem die modernen Anlagen standen. Es war verschlossen. Sie liefen um das Objekt herum, um einen Blick durch die großen Fenster zu werfen. Der Betriebsraum schien unbeleuchtet zu sein, und nach einigen sportlichen Bemühungen gelang es Völlner, nach innen zu schauen. Der Raum war dunkel und leer. Kein Mensch arbeitete darin. In dem Moment kam ein Mitarbeiter des Betriebes auf sie zu. „Was gibt’s? Sucht ihr was Bestimmtes?“ Es klang alles andere als freundlich. Baumann zeigte seinen Dienstausweis. „Scheiße!“, entfuhr es dem Arbeiter. „Sie können mir doch bestimmt ein paar Fragen zum Betrieb und den Angestellten beantworten.“ „Dazu bin ich nicht befugt. Im Grunde genommen gehöre ich auch nicht hierher. Ich komme hier eigentlich nur zufällig vorbei. Fragen Sie doch den Chef, Herrn Peterson, oder Herrn Unger.“ „Jetzt frage ich aber Sie. Und Sie sind verpflichtet, meine Fragen zu beantworten“, entgegnete Baumann scharf. Dann deutete er auf das Betriebsgebäude, vor dem sie standen. „Warum wird hier momentan nicht produziert?“ „Das weiß ich nun wirklich nicht. Gestern war hier noch volles Ballett, mit Führung und Verkostung und so.“ „Und heute ist tote Hose? Das glauben Sie doch selbst nicht! Wo ist denn Ihr Arbeitsplatz?“ Mit einer vagen Kopfbewegung deutete der Mitarbeiter in Richtung des Gebäudes. „Sie sagten doch aber gerade, dass Sie eigentlich nicht hierhergehören und nur zufällig vorbeigekommen seien.“ Baumann hatte nun einen härteren Ton angeschlagen. Ich dummes Luder, hätte ich die beiden bloß nicht angesprochen, waren die Gedanken des Angestellten. „Wie ist Ihr Name?“, wollte Baumann nun wissen. Der Unbekannte zögerte einen Augenblick. „Scholz“, kam es dann unwillig heraus. „So, Herr Scholz, es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder Sie zeigen uns auf der Stelle, wo Ihr richtiger Arbeitsplatz ist, oder Sie begleiten uns zum Kommissariat.“ „Wenn ich Ihnen den zeige, dann war das mal mein Arbeitsplatz. Ich sagte Ihnen ja bereits, dass ich nicht befugt bin, den Betrieb zu zeigen. Peterson würde mich hochkant rausschmeißen.“ Dann schaute er besorgt zum Bürogebäude hinüber. „Es reicht schon, wenn mich hier jemand mit Ihnen quatschen sieht.“ Herr Scholz sah so bekümmert aus, dass Baumann geneigt war, ihm zu glauben. „Wann haben Sie Feierabend?“ „Jetzt.“ „Dann schlage ich vor, dass Sie allein vorausgehen und draußen vor dem Gelände auf uns warten.“ Scholz schien erleichtert. „Das geht in Ordnung. Also bis gleich.“ Baumann und Völlner blieben noch einen Augenblick vor dem leeren Betriebsgebäude stehen und verließen dann ungesehen ebenfalls das Gelände. Draußen schauten sie sich nach allen Seiten um. Aber von Scholz war weit und breit nichts zu sehen.

Eitelkeiten

„Hm, sieht doch gar nicht schlecht aus.“ Philipp Ziegler sah sich die Liste von Sven Richters Bildern an. Sie umfasste achtundzwanzig Gemälde aus den letzten zwei Jahren. Zieglers Galerie lag auf einem ehemaligen Industriegelände, auf dem auch Sven Ludwig Richter und noch andere, meist junge Maler ihre Ateliers hatten. Die verlassenen Fabrikhallen auf dem alten Industriegrundstück wurden vor ein paar Jahren weitestgehend saniert und dann von einer Verwaltungsgesellschaft als Ateliers, Galerien und Werkstätten zu akzeptablen Preisen vermietet. Der herbe Charme des Geländes und der alten Backsteinbauten ließ viel Raum für innovative Projekte und freies Gestalten. Vor fünf Jahren gründeten die hier ansässigen Künstler und Galeristen den Verein Junger Berliner Maler. Über diesen Verein wurden Vernissagen und Ausstellungen organisiert und finanziert. Zieglers Galerie war nicht die einzige auf dem Terrain, aber zu ihm hatte Sven den besten Kontakt. Und jetzt bereitete Philipp Ziegler eine Vernissage vor, auf der Svens Bilder gezeigt werden sollten. „Warum nimmst du nicht die beiden Landschaftsbilder mit rein?“, fragte Ziegler. „Das ist meiner Ansicht nach Folklore. Ich finde meine abstrakt-expressionistischen Bilder vom letzten Jahr viel stärker, irgendwie intensiver.“ „Du solltest aber zumindest partiell die Sehgewohnheiten der Betrachter berücksichtigen.“ Ziegler strich sich das Stirnhaar zurück und fuhr fort: „Ich bin immer für eine gute Mischung aus Avantgardismus und Konvention. Du willst ja schließlich auch verkaufen. Vielleicht solltest du außer den Landschaftsbildern auch das Portrait zeigen.“ „Das will ich auf keinen Fall verkaufen. Es ist ein Portrait von meinem Bruder. Du weißt schon, von Adrien.“ „Verstehe.“ „Auch nicht die Leinwand, auf der Adrien kurz vor seinem Tod noch was draufgemalt hat.“ „Schon klar. Neben den beiden Bildern bringen wir den Vermerk unverkäuflich an. So etwas macht das Ganze noch interessanter. Wir schauen uns gleich die Hängung der Bilder an. Am Freitagmorgen, so gegen acht Uhr, hole ich sie mit dem Transporter bei dir im Atelier ab. Ist es okay, wenn Lena an dem Eröffnungsabend zwei, drei Stücke auf der Spanischen Gitarre spielt?“, wollte Ziegler wissen. Sven grinste. „Wenn Lena spielt, ist das immer okay.“ „Die Vernissage steht jetzt auf unserer Homepage, die Einladungen sind verschickt und die Flyer wurden in ein paar Kneipen, Cafés und Buchläden ausgelegt. Schau dir nochmal den Katalog an. Die Drucke finde ich farblich gut gelungen. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich alle Aufnahmen in deinem Atelier gemacht habe. Dadurch wirken sie authentischer. Außerdem ist das Licht dort einfach perfekt. Die Fotografien im Katalog zeigen deine künstlerische Entwicklung über eine Epoche von zwei Jahren. Prima, Sven! Heute ging noch ein kleiner Beitrag an die Presse. Er müsste also morgen auf der Kulturseite erscheinen. Ich denke, das wird eine runde Sache. Mensch, ich freue mich, dass du dich wieder aufgerappelt hast!“ Philipp Ziegler schlug ihm wohlwollend auf die Schulter.

Sven arbeitete oft mit dem Spachtel, drückte die Farben direkt aus der Tube auf die Leinwand und vermischte sie dort gegebenenfalls mit dem Finger oder dem Handballen. Oft beließ er auch die reinen Farben so, wie sie aus der Tube kamen. Von der gegenständlichen Malerei hatte er sich in den letzten Jahren immer weiter entfernt. Nicht unbedingt zu seinem Vorteil, wie sein Bruder Adrien einmal anmerkte. Anfangs zeichnete Sven noch Figuren und Objekte und begann, mit groben Pinselstrichen die Umrisse so lange zu abstrahieren, bis nur noch Flächen, Bögen und Streifen übrigblieben. Seit zwei oder drei Jahren verzichtete er ganz auf die Zeichnungen und trug die Farbkompositionen frei von allen Formen auf die Leinwände auf. Adrien konnte diese Art von Kunst nicht so recht verstehen. Woran erkenne ich, dass es Kunst ist und nicht irgendein Geschmiere? Ein bisschen fühle ich mich bei der abstrakten Malerei wie im Märchen Des Kaisers neue Kleider. Ich warte nur darauf, dass jemand mal bei einer Ausstellung laut ruft: „Aber das ist ja gar keine Kunst!“ Woran erkenne ich also, dass der Künstler wirklich malen kann und den Betrachter nicht bloß verarschen will? Dies war ein Disput zwischen Sven und seinem Bruder, der nun nicht mehr zu Ende geführt werden konnte.

Erhoffter Erfolg

Nach der Ankunft in Berlin nahm Hartwig sofort Kontakt zum Dekan seiner Fakultät auf. In einem ausführlichen Gespräch informierte er ihn über den Verlauf der Grabung und insbesondere über den Fund der Skulptur. „Das klingt ja sehr vielversprechend. Ich gratuliere Ihnen zu den sensationellen Funden, Herr Kollege! Sobald die Auswertung der Altersbestimmung vorliegt, werde ich veranlassen, dass der aktuelle Stand Ihrer Ausgrabungsergebnisse auf der Homepage unserer Uni erscheint. Könnten Sie mir bitte den Bericht noch schriftlich zukommen lassen?“ „Mein Assistent, Herr Dr. Wagner, hat ihn bereits vorbereitet. Wir hoffen nun auf ein schnellstmögliches Ergebnis aus dem italienischen Labor und natürlich auch, dass der Zahn und somit auch die Statuette aus dem Zeitraum des Uluzzien stammt. Wenn sich unsere Hoffnungen erfüllen sollten, wäre der Fund die bisher älteste figürliche Darstellung in dieser Form und eine Bestätigung meiner Theorie. Aber selbst, wenn die Datierung nicht ganz unseren Erwartungen entspräche, wäre die Skulptur eine Sensation.“ „Verstehe.“ Nachdem sich beide verabschiedet hatten und Hartwig wenig später in sein Institut zurückkehrte, waren Wagner, Jannik und David gerade dabei, die vor Ort erstellten Dokumentationen auszuwerten. An Hartwig gewandt teilte Wagner mit: „Der Bericht ist fertig. Ich muss nur noch die Passage mit den Ergebnissen der Altersbestimmung einfügen. Dann kann er an die Pressestelle der Uni gehen.“ „Gute Arbeit, Herr Wagner.“ Hartwig war zufrieden. Wenn alles perfekt weiterliefe und es keine bösen Überraschungen gäbe, würde er seinen Ruf stabilisieren, die Widersacher mit ihren verletzenden Äußerungen ein für alle Mal zum Schweigen bringen und die Zukunft des archäologischen Institutes absichern. Hartwig riss sich aus diesen erfreulichen Vorstellungen und fing Wagners verlegenen Blick auf. „Allerdings gibt es da etwas, was Sie nicht gerade freuen wird.“ Für einen Augenblick durchfuhr es Hartwig eiskalt. Aber Wagners Miene entnahm er, dass es sich nicht um ein ernsthaftes Problem handeln konnte. Denn dieser versuchte vergeblich, ein Grinsen zu unterdrücken. In der Hand hielt er die Sonderbeilage einer Zeitschrift. Es war nicht irgendeine Zeitschrift, sondern eine Ausgabe des Benno Bonke Verlages. Hartwig riss sie ihm aus der Hand. Ein paar Augenblicke las er schweigend und blätterte weiter, dann brach es förmlich aus ihm heraus: „Das ist eine Unverschämtheit! Sehen Sie sich das an: auf Hochglanz eine Reportage mit Fotos von der Ausgrabung! Haben wir Frau Dittmar nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie sich mit ihrem Geschreibe noch bis zur Auswertung des Fundes zurückhalten soll? Sie nimmt das Ergebnis ja regelrecht vorweg! In marktschreierischem Stil schreibt sie von einem Jahrhundertfund, und dass die Geschichte der Archäologie nun umgeschrieben werden muss! So ein Unsinn und wie peinlich. Ohne unsere Zustimmung dürfte das gar nicht gedruckt werden.“ Hartwig war außer sich. „Und hier, die Fotos! Muss denn das sein, dass wir beim Abendbrot und ich beim Mittagsschlaf fotografiert werden? Wen interessiert das? Wenn Sie mich fragen, ist das reinste Boulevardpresse, einfach unseriös. Warum nur wurden wir mit dieser Frau gestraft!“ Wutentbrannt warf er die Sonderbeilage auf den Boden. Wagner hob sie schweigend wieder auf. Dann meinte er: „Ganz einfach, weil der Geldgeber es so bestimmt hat und auch ein großes Stück von dem Kuchen, der noch gar nicht gebacken wurde, abbekommen will. Und deshalb müssen wir wohl oder übel in den sauren Apfel der Sorte Louisa beißen“, meinte er mit einem säuerlichen Lächeln.