Eine mörderische Tour - Katharina Kohal - E-Book
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Eine mörderische Tour E-Book

Katharina Kohal

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Beschreibung

"Eine mörderische Tour":
Ein Abenteuerurlaub der besonderen Art – so hatte Jo Meysner, Chef der Reiseagentur Special Travels, die Trekking-Tour zum Monte Roraima angekündigt. Und er hat nicht zu viel versprochen: Für die kleine Reisegruppe wird es tatsächlich ein unvergessliches Erlebnis, wenn auch in ganz anderem Sinn, als erwartet. Denn auf dem Hochplateau des Roraima geschieht ein Mord.
Mit der Aufklärung des Verbrechens wird der attraktive Comisario Garcia Hernández beauftragt. Schon bald erkennt er, dass der Mord geplant war. Für die Ermittlungen braucht er dringend Unterstützung und bekommt sie umgehend vom schnoddrigen Kriminalhauptkommissar Wiesmann.
Bei den Vernehmungen der Zeugen treten längst bewältigt geglaubte Ereignisse aus der Vergangenheit zu Tage. Und zeitweilig scheint es, als hätte jeder von ihnen ein Motiv.
Sowohl Garcia Hernández als auch Wiesmann wähnen sich bereits am Ziel, doch dann zeigt sich das Verbrechen in einem ganz anderen Licht.

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Eine mörderische Tour

 

Ein Kriminalroman

von Katharina Kohal

 

 

 

 

 

 

 

Texte: © Copyright Katharina Kohal

Alle Rechte vorbehalten

  Katharina Kohal c/o AutorenServices.de Birkenallee 24 36037 Fulda 

 

Bildmaterialien für das Coverfoto: © Copyright by Depositphotos: (Foto von sunsinger, Ausschnitt: La Proa, Mount Roraima, Venezuela) Alle Rechte vorbehalten

 

Das Buch

 

Brisante Tagebucheinträge und ein Mord:

Ein Abenteuerurlaub der besonderen Art – so hatte Jo Meysner, Chef der Reiseagentur Special Travels, die Trekking-Tour zum Monte Roraima angekündigt. Und er hat nicht zu viel versprochen: Für die kleine Reisegruppe wird es tatsächlich ein unvergessliches Erlebnis, wenn auch in ganz anderem Sinn, als erwartet. Denn auf dem Hochplateau des Roraima geschieht ein Mord.

Mit der Aufklärung des Verbrechens wird der attraktive Comisario Garcia Hernández beauftragt. Schon bald erkennt er, dass der Mord geplant war. Für die Ermittlungen braucht er dringend Unterstützung und bekommt sie umgehend vom schnoddrigen Kriminalhauptkommissar Wiesmann.

Bei den Vernehmungen der Zeugen treten längst bewältigt geglaubte Ereignisse aus der Vergangenheit zu Tage. Und zeitweilig scheint es, als hätte jeder von ihnen ein Motiv.

Sowohl Garcia Hernández als auch Wiesmann wähnen sich bereits am Ziel, doch dann zeigt sich das Verbrechen in einem ganz anderen Licht.

Das Buch
Prolog
Ein erstes Treffen
Tagebucheintrag, 04. März
Ankunft in Santa Elena
Tagebucheintrag, Ankunft in Santa Elena
Weiter durch die Gran Sabana
Tagebucheintrag, erster Tag der Tour
Aufbruch zum Base Camp
Tagebucheintrag, zweiter Tag der Tour
Aufstieg auf den Roraima
Tagebucheintrag, dritter Tag der Tour
Die Katastrophe
Der Tag danach
Der Comisario
Aufkommendes Misstrauen
Unerwarteter Beistand
Neue Informationen
Weitere Vernehmungen
Ein neuer Gedanke
Nächtliche Aktionen
Die Flucht
In der Steilwand
Abschied
Unwägbarkeiten
Ein Stück Alltag
Nur eine Vermutung
Eine Woche danach
Erkundigungen
Verstörende Entwicklungen
Gegenargumente
Gebotene Vorsicht
Ein Wiedersehen
Beweggründe
Überlegungen
Zwischen den Zeilen
Neue Erkenntnisse
Eine Wende
Auf der Zielgeraden
Das fehlende Puzzleteil
Fast die Wahrheit
Klare Verhältnisse
Montagmorgen
Epilog
Zum Schluss
Über die Autorin
Empfehlung

 

Prolog

Die Reiseagentur hatte längst geschlossen und er war allein. Seit mindestens fünf Minuten schon starrte er auf die Datei, die ihm per E-Mail zugeschickt wurde. »Sorry, mehr habe ich nicht gefunden«, stand im Begleittext. Aber für Jo Meysner, den Geschäftsführer der Reiseagentur Special Travels, war es genug: Er erkannte die Zusammenhänge. Das Geschehen um den Mord vor nunmehr vier Wochen zeigte sich plötzlich in einem ganz anderen Licht. Hauptkommissar Wiesmann und dem venezolanischen Comisario Garcia Hernández fehlte bislang das letzte Teil im Puzzle, doch ihm, Jo Meysner, hatte es im Grunde genommen der Zufall in die Hände gespielt. Jetzt kannte er das Motiv des Verbrechens. Und somit auch den Mörder.

Ruhelos lief er umher und überlegte, was jetzt zu tun sei. Dann griff er entschlossen zum Telefon. Nach dem vierten Klingelton vernahm er ein überraschtes »Hallo?«

Es war die Stimme des Mörders.

 

Teil I

Ein erstes Treffen

Noch vor einem Monat schien für Jo Meysner die Welt in Ordnung. Die Geschäfte liefen bestens, erst recht, seit er das Angebot seines Reiseunternehmens verkleinert hatte. Er hatte sich, wenn auch nicht auf die eigene Person bezogen, deutlich verschlankt. Ottonormalverbraucher-Pauschalreisen, wie er sie nannte, nahm er peu à peu aus dem Programm heraus. Stattdessen bediente er jetzt eine Nische, die sich ihm erst vor ein paar Jahren aufgetan hatte. Der Anlass hierfür war seine Reise als Backpack-Tourist durch Südamerika. Damals hatte er spontan beschlossen, Ähnliches künftig auch interessierten Kunden anzubieten, allerdings mit einigem Komfort und auf hohem Niveau. Seine Agentur hieß zu diesem Zeitpunkt noch Meisner-Reisen und er selbst Joachim Meisner. Aber beides fand er nun nicht mehr passend zu dem neuen Konzept. Es klang ihm zu bieder. Und so wurde aus seinem Namen Jo Meysner, und Meisner-Reisen nannte er in Special Travels um.

Die anspruchsvollen Trekking-Touren, die Special Travels anbot, waren nicht billig, genaugenommen sogar recht kostenintensiv. Sie wurden nur für kleine Gruppen organisiert. Das Angebot richtete sich an körperlich fitte und finanziell gut gestellte Kunden, die das Abenteuer suchten. Meist handelte es sich dabei um nicht mehr ganz junge Teilnehmer, die den gebotenen Service zu schätzen wussten und bereit waren, entsprechend dafür zu zahlen. Zu diesem Service gehörte unter anderem, dass seine Reiseagentur die Abenteurer, wie Jo Meysner sie gerne nannte, auch abholte. Und das im sprichwörtlichen Sinn. Denn kurz vor Beginn einer jeden Tour fand ein erstes Treffen statt, bei dem sie sich untereinander und auch ihren Guide kennenlernten. Zudem bot sich die Gelegenheit, noch Hinweise zu geben oder Fragen zu stellen. Wann immer es Jo Meysner möglich war, begrüßte er seine Abenteurer persönlich. So auch heute.

Diesmal würde sie die Tour zum Roraima-Tepui führen, dem höchsten Tafelberg im Dreiländereck Brasilien, Venezuela und Guyana.

Seit langem schon war es Jo Meysners Wunsch, selbst einmal an einer solchen Expedition teilzunehmen. Aber als Geschäftsführer seiner Agentur war er unabkömmlich, er fand nicht die Zeit für derartige Touren. Das zumindest war die offizielle Version. Der eigentliche Grund war ein anderer: Die jahrelange Tätigkeit am Schreibtisch und das ständige Sitzen ließen ihn träge werden. Er fühlte sich körperlich einfach nicht mehr fit genug.

Nun also stand er das erste Mal vor seinen Abenteurern. Rasch glitt sein Blick über die Anwesenden: Vierzig Plus! Keiner der Teilnehmer mochte altersmäßig darunter liegen. Dieser geschätzte Altersdurchschnitt entsprach vollkommen seiner Erfahrung: Finanziell gut situierte Mittvierziger, die ein Abenteuer besonderer Art suchten.

Insgesamt hatten sieben Personen die Reise gebucht, drei Frauen und vier Männer. Nur sechs saßen in der Runde.

»Meine lieben Abenteurer. Ja, das sind Sie für mich!« So begann er jede seiner Begrüßungen, so auch diese. Mit routinierten Formulierungen stellte er sich, das Konzept der Agentur und noch einmal die Höhepunkte der kommenden Tage vor. Dabei hatte er Gelegenheit, die Anwesenden etwas näher zu betrachten. Meist genügte ihm ein kurzer Blick auf jeden Einzelnen, um dessen körperliche Verfassung und charakterliche Eigenheiten einzuschätzen. Dies gelang ihm ohne Unterbrechung seines Redeflusses.

Jetzt hörte er sich sagen: »Zum Kennenlernen von Land und Leuten mag die Reise wohl weniger geeignet sein, aber dafür werden Sie auf dieser anspruchsvollen Trekking-Tour eine grandiose Landschaft und eine einmalige Fauna und Flora erleben.« Dabei ruhten seine Augen für einen Moment auf einem sportlich durchtrainiert wirkenden Mann, möglicherweise war er der Jüngste der Gruppe. Schon dessen Körperhaltung verriet, dass er sich allen Strapazen der Reise stellen und diese problemlos bewältigen würde. Vermutlich war er der Draufgängertyp, den der Guide während der Tour von riskanten Alleingängen abbringen müsste.

Einen völlig anderen Eindruck bekam Jo Meysner von der schmächtigen blonden Dame neben ihm. Ihre Gesichtszüge waren durchaus ansprechend, doch wirkte sie insgesamt kühl und abweisend. Jo bezweifelte, dass sie den kommenden Anstrengungen gewachsen wäre. Doch vielleicht täuschte er sich.

Ebenso befürchtete er, dass die etwas mollige Brünette die körperlichen Herausforderungen unterschätzte. Sie wirkte keinesfalls trainiert, sondern eher behäbig und bequem. Sie hatte ein sympathisches, rundliches Gesicht und sah ihn erwartungsvoll an. Auf ihren brünetten Haaren lag ein rötlicher Schimmer.

»Die Tour wird einiges von Ihnen abverlangen, sowohl körperlich als auch mental. Doch der Anblick der ältesten geologischen Formationen unseres Planeten wird Sie für alle Strapazen entschädigen.«

Ähnlich aufgeschlossen wie die freundliche Brünette schien der Herr neben ihr Jos Erläuterungen zu folgen. Hin und wieder nickte er bestätigend. Im Kontrast zu den dunklen, fast schwarzen Haaren hatte er einen hellen Teint. Jo Meysner fielen seine kultivierten Hände auf, die er auf den übereinandergeschlagenen Beinen verschränkt hielt. Wahrscheinlich ein Intellektueller, ein Akademiker, der sich im Vorfeld der Reise ausführlich informiert und belesen hatte, war Jos erster Eindruck.

Neben ihm hatte die dritte weibliche Teilnehmerin Platz genommen. Sie saß sehr aufrecht und wirkte schlank und groß. Die dunkelblonden Haare trug sie straff zurückgebunden. Sie gaben ihrem Äußeren etwas Strenges, Ernstes. Auffallend waren ihre ausdrucksvollen graublauen Augen.

Den Stuhl um ein paar Zentimeter zurückgeschoben, saß der dritte männliche Teilnehmer etwas außerhalb der Runde. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt und die Beine weit von sich gestreckt. Insgesamt wirkte er robust und sehr selbstbewusst. Jo glaubte, in ihm einen Führungsmenschen zu erkennen, einen Manager vielleicht, der für ein paar Tage eine Herausforderung ganz anderer Art suchte. Sicher würde es ihm schwerfallen, in den kommenden Tagen die gewohnten Autoritätsansprüche abzulegen.

Jo kannte sich in dieser Hinsicht aus. Oftmals bestätigten sich seine ersten Eindrücke dann später durch die Erfahrungen des Guides. Dessen Aufgabe würde es auch in diesem Falle wieder einmal sein, aus der bunt zusammengewürfelten Truppe zumindest für die Dauer der kommenden Tage ein Team zu bilden.

»Wie ich eingangs schon erwähnte, wird es eine anspruchsvolle Tour werden, die durchaus ihre Risiken in sich birgt. Aber unser Guide wird Sie in gewohnter Weise sicher führen. Wichtig dafür ist, dass Sie sich strikt an seine Weisungen halten.« 

In diesem Moment betrat ein leger gekleideter Mann den Raum und nahm auf einem der freien Stühle Platz. Jo lächelte ihm zu.

»Und jetzt darf ich Ihnen Miguel, Ihren Guide vorstellen. Wie Sie gleich bemerken werden, ist er kein gebürtiger Venezolaner. Aber er lebt schon seit einigen Jahren dort, kennt sich bestens aus und spricht fließend Spanisch.«

Mit einem verlegenen Grinsen sah Miguel in die Runde. Was sein Äußeres betraf, so pflegte er das Klischee des lässigen Aussteigers. Die langen Haare trug er zu einem Zopf gebunden, von dem er sich, wollte er nicht unfreiwillig komisch erscheinen, wohl eines Tages trennen müsste. Und dieser Tag lag nicht mehr in allzu weiter Ferne. Denn auch Miguel hatte die Vierzig längst überschritten. Zu den abgetragenen Jeans trug er ein wie eben aus dem Rucksack hervorgezerrtes, zerknittertes Baumwollhemd. Seine bloßen Füße steckten in Ledersandalen. Schon deren Anblick ließ die anderen, da es jetzt Anfang März noch empfindlich kühl war, frösteln. In dem Moment öffnete sich die Tür, und der siebente Teilnehmer der Exkursion kam herein. Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm er auf dem letzten freien Stuhl Platz. Jo nickte zufrieden, jetzt war die Runde komplett. Er schwärmte noch ein wenig von der atemberaubenden Natur auf und rund um den Roraima.

Wieder einmal verspürte er Fernweh und empfand mit Wehmut und wohl auch einer Portion Neid jene flirrende Stimmung zwischen Vorfreude, Erwartung und Nervosität, die sich vor jeder Reise unter den Teilnehmern einstellte.

Schließlich verabschiedete er sich mit den Worten: »Ob Sie es glauben oder nicht: Ich beneide Sie um das kommende Abenteuer!«

Mit einem frechen Grinsen raunte Miguel ihm zu: »Ich bewundere Sie … wolltest du doch sagen, oder?« Dann erhob er sich lässig und schaute in die Runde. »Meinen Namen kennt ihr ja bereits. Da wir die nächsten Tage gemeinsam verbringen werden, schlage ich vor, dass wir gleich von Anfang an zum Du übergehen.«

»Das müssen Sie schon jedem selbst überlassen.«

Die Bemerkung kam von der schmächtigen Blonden. Für einen Augenblick fühlte sich Miguel aus dem Konzept gebracht. Eine derart schroffe Abfuhr hatte er bis dahin nicht erlebt. Aber bevor er etwas erwidern konnte, bekam er Unterstützung von einem der Teilnehmer, von dem er sie am wenigsten erwartet hätte. Ausgerechnet der Typ, der Miguel mit verschränkten Armen und ausgestreckten Beinen gegenübersaß und ihn mit kritischem Blick zu mustern schien, sprang ihm jetzt bei.

»Mir ist der Vorschlag recht. Also, ich bin Torsten.« Herausfordernd schaute er in die Runde und dann zu der Blonden hinüber. Sie hielt seinem Blick stand.

»Das ist Ihre Sache. Mein Name ist Heike Eckert.«

Damit schienen die Fronten geklärt. Unbeeindruckt von dem kurzen Schlagabtausch richtete Torsten seinen Blick auf die Brünette.

»Und ich bin Britta«, kam sie der stummen Aufforderung nach.

Als er sich den anderen zuwenden wollte, unterbrach Miguel die begonnene Vorstellungsrunde. »Was euch auf unserer Tour erwarten wird, dürfte bekannt sein. So ungefähr zumindest. Und ihr habt alle die Liste mit der empfohlenen Ausrüstung erhalten. Für die Trekking-Tour solltet ihr nicht mehr als zehn Kilo Gepäck mitnehmen, den Rest könnt ihr in unserem Ausgangscamp in Santa Elena lassen. Die Nächte werden wir in Zelten verbringen. War schon jemand von euch in einem der lateinamerikanischen Staaten?«

»Ich, aber nur dienstlich«, meldete sich der vierte männliche Teilnehmer, der etwas verspätet hinzugekommen war. Er hieß Jens, hatte kurze dunkle Haare und lebhafte braune Augen, in denen ein verschmitztes Lächeln lag. Vom Äußeren her hätte man ihn für einen Lateinamerikaner halten können.

Miguel fragte weiter: »Wer von euch hat schon an ähnlichen Touren teilgenommen?«

Natürlich, der sportlich Durchtrainierte, er stellte sich als Frank vor, meldete sich. Miguel war nicht überrascht, dass auch Torsten diesbezügliche Erfahrungen gesammelt hatte. Früher nahm er an Bergsteigertouren teil, bis ihm der Job keine Zeit mehr dazu ließ. Weder Heike Eckert noch Britta hatten bisher derartige Touren unternommen.

»Für mich aber kein Problem«, behauptete Heike.

Britta hingegen schien nicht so sicher. »Ich hoffe, dass ich durchhalten werde.«

»In der Reisebeschreibung wurde die Tour als ausgesprochen anspruchsvoll bezeichnet. Oder hast du da was missverstanden?« Diese Bemerkung kam von Torsten.

Miguel lenkte rasch ein: »Ich denke, dass du alles problemlos schaffen wirst, Britta.« Sein Blick wanderte weiter und blieb bei der dritten Dame in der Runde hängen. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den er zu kennen glaubte: Es war eine Spur Resignation, die im Widerspruch zu ihrer selbstbewussten Haltung stand. In seltsamer Weise fühlte er sich berührt. Doch im nächsten Augenblick war dieser irritierende Eindruck verflogen. Sie stellte sich als Carolin vor, »Nennt mich bitte einfach Caro«, und erklärte, dass sie gerne und intensiv wandere, Bergtouren bisher aber noch nicht unternommen habe.

»Und wie sieht es bei dir aus?«, wandte sich Miguel an Jens.

»Mit Trekking-Touren habe ich wenig Erfahrungen. Aber eine Zeit lang hatte ich mal Freiklettern trainiert.« Beeindruckt schielte Frank zu ihm hinüber: Freeclimbing! Klettern ohne Absicherung, nur mit Händen und Füßen! Er selbst hatte es noch nie probiert.

Zum Schluss stellte sich Magnus vor. »Für mich wird es ebenfalls die erste Tour dieser Art werden.« Und etwas zögernd fügte er hinzu: »Ich gestehe, dass mir Laptop und Schreibtisch wesentlich vertrauter sind als Schlafsack und Wanderschuhe.« Torstens verständnislosen Blick deutete er richtig. Doch bevor dieser eine bissige Bemerkung machen konnte, nannte Magnus selbst den Grund dafür, warum er sich dennoch für die strapaziöse Tour entschieden hatte.

»Die Tafelberge hatten mich schon lange interessiert. Spätestens, seit ich Sir Arthur Conan Doyles Lost World gelesen hatte, stand für mich fest, dass ich sie irgendwann mit eigenen Augen sehen muss. Auf dem Roraima sind achtzig Prozent der Organismen endemisch, das bedeutet, dass ein Großteil der Flora und Fauna an keinem anderen Ort der Welt vorkommt.« Für ein, zwei Minuten brillierte er mit seinem Wissen, bis Miguel ihn höflich unterbrach und wieder auf organisatorische Belange zu sprechen kam.

»Insgesamt werden wir acht Tage unterwegs sein: je einen Tag für die An- und Abreise und sechs Tage für die eigentliche Trekking-Tour. Bitte überprüft nochmal sorgfältig eure Ausrüstung. Habt ihr sonst noch Fragen?«

»Wie sieht es eigentlich mit der Verpflegung während der Tour aus?«, wollte Britta wissen.

»Wir essen alles, was da kreucht und fleucht und am Wegesrand wächst«, erklärte Miguel mit todernster Miene. Als er Brittas verunsicherten Blick sah, versprach er schmunzelnd: »Selbstverständlich werden wir bestens versorgt. Eine Gruppe von Pemón-Indianern begleitet uns. Sie kümmern sich um die Zubereitung der Mahlzeiten und den Transport der Zelte.«

Frank schien ein wenig enttäuscht. »Wenn uns jede Mühe abgenommen wird, ist es doch keine Abenteuertour!«

Solche Diskussionen waren Miguel nicht fremd. Gerade, als er in scherzhaftem Ton vorschlagen wollte, dass Frank, sollte er während der Tour nicht ausgelastet sein, sich ja gerne nützlich machen könne, kam ihm Torsten zuvor.

»Ich verstehe eure Probleme nicht. Es steht doch alles in der Tourenbeschreibung, die ihr bekommen habt.«

»Und ich verstehe nicht, warum Sie sich da überhaupt einmischen«, entgegnete Heike in eisigem Ton. »Es ist die Aufgabe des Guides, derlei Fragen zu beantworten.«

Mit ausdrucksloser Miene nahm Torsten die Kritik entgegen. Nur an der Anspannung seiner Kiefermuskulatur war zu erahnen, was in ihm vorgehen mochte.

Miguel unterbrach die Diskussion und kam auf den anstrengendsten Teil der Etappe, den Aufstieg auf das Hochplateau des Roraima, zu sprechen. »Es geht steil bergauf. Nehmt daher nur das Nötigste mit, Richtwert sind zehn Kilo. Auf dem Plateau bleibt euch genügend Zeit für eigene Erkundungen. Ihr werdet einmalige Gesteinsformationen, Schluchten, Höhlen und eine kaum vorstellbare Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten vorfinden. Eine Besonderheit sind die fleischfressenden Pflanzen oder Karnivoren, wie sie bezeichnet werden.«

Der Begriff Karnivoren schien für Magnus das Stichwort zu sein. Er ließ es sich nicht nehmen, über sein Lieblingsthema zu dozieren. Lächelnd betonte er, dass er selbst sich ausschließlich von Pflanzen ernähre, also Veganer sei. 

Während dieser Umstand die anderen Teilnehmer nicht interessierte, sah Miguel Komplikationen bei der Verpflegung auf sich zukommen. Dafür musste eine Lösung gefunden werden. Etwas verärgert über diese neue Problematik und weil deren Verursacher noch immer selbstvergessen über die verschiedenen Arten der Karnivoren referierte, schaute er in die Runde. Dabei registrierte er, dass Torsten kurz davor war, zu explodieren, und auch Franks Geduld zu Ende ging. Genervt verdrehte er die Augen. Was Jens dachte, war schwer zu erahnen. Den Blick auf Magnus gerichtet, hörte er mit ausdrucksloser Miene zu. Caro schien mit ihren Gedanken weit entfernt.

Neben Heike Eckert, die nur mit Mühe eine bissige Bemerkung unterdrückte, saß Britta und schaute betreten zu Boden. Die Situation war ihr sichtlich peinlich.

Unterschiedlicher konnten die beiden Frauen kaum sein, fand Miguel. Wie Schneeweißchen und Rosenrot, nur dass die Charaktere in diesem Fall vertauscht schienen. Bei derartigen Betrachtungen war ihm entgangen, dass Magnus seinen Vortrag beendet hatte.

In die plötzliche Stille hinein verkündete Torsten: »Also, wenn es keine weiteren Fragen oder Hinweise gibt, machen wir doch einfach Schluss für heute.« Er stand auf und griff nach seiner Jacke. Die anderen sechs Augenpaare waren auf Miguel gerichtet.

»Sorry, ich war gerade in Gedanken. Ja, dann sehen wir uns wie besprochen übermorgen direkt am Terminal wieder. Ich freue mich auf euch und auf die kommende Tour.«

Beim Verabschieden gab er jedem die Hand. Und als Bestätigung seiner Beobachtungen nahm er Heikes festen Händedruck wahr, der im Widerspruch zu ihrer äußeren Erscheinung stand. Noch kräftiger war der von Torsten. Britta schüttelte ihm mit einem »Danke für die Erläuterungen« die Hand. Magnus gab ihm seine eher flüchtig, und Frank verabschiedete sich wie erwartet mit einem betont lässigen Handschlag. Miguel bedauerte, dass er den von Jens und Caro kaum wahrgenommen hatte. Er war abgelenkt durch eine Bemerkung, die Torsten im Hinausgehen fallen ließ. Und es klang nicht nett.

»Na, wie war’s?«, erkundigte sich Jo Meysner, als Miguel in dessen Büro kam.

»Na wie schon. Vermutlich werde ich mich wieder mal mit einem ambitionierten Extremsportler, einem verhinderten Führungstypen und einem belesenen Klugscheißer, der zu allem Übel auch noch ein eingefleischter Veganer ist, herumschlagen müssen. Neu in der Runde sind diesmal ein bissiges Schneeweißchen und ein naives Rosenrot.«

Jo wusste sofort, wen er meinte.

 

Tagebucheintrag, 04. März

 

Heute fand die Vorbesprechung zur Roraima-Reise statt. Für einen winzigen Augenblick hatte ich meine Emotionen nicht unter Kontrolle, denn auf die Begegnung war ich nicht vorbereitet. Themenschwerpunkte bei dem heutigen Treffen waren das Konzept von Special Travels, ein gegenseitiges Kennenlernen und letzte organisatorische Hinweise, wobei einige Missverständnisse ausgeräumt werden mussten.

Übermorgen geht es in aller Frühe los. Nach einem dreizehnstündigen Flug erreichen wir, ein Zwischenstopp und die Zeitverschiebung eingerechnet, am späten Nachmittag Caracas und fliegen im Anschluss mit einer Chartermaschine weiter bis nach Santa Elena. Nach einer Übernachtung im Hotel bringt uns ein Jeep zum Pemón-Dorf Paraitepuí. Von dort aus wandern wir in einem vier- bis fünfstündigen Fußmarsch durch die Gran Sabana zum Camp am Kukenan-Fluss. Dort werden wir die Nacht in Zelten verbringen.

 

Persönliche Aufzeichnungen, 04. März

 

Und hier meine Empfindungen, die nicht zum Reisebericht passen. Ich werde sie in dieser Form verfassen:

Es war die Stimme, an der ich ihn erkannte. Erst danach entdeckte ich in seinen Gesichtszügen den Menschen, der mein Leben von Grund auf zerstörte. Und augenblicklich spürte ich in mir wieder den tiefen Hass, den ich längst überwunden glaubte. Jedes Detail kehrte zurück, nichts war vergessen. Eine Sekunde lang nahm ich an, dass auch er mich wiedererkannte. Nur einmal bin ich ihm persönlich begegnet. Damals schenkte er mir kaum Beachtung, und so blieb ich ihm vermutlich nicht in Erinnerung. Dieser Umstand kommt mir nun zu Hilfe.

Nur nicht wegducken, war mein erster Impuls, als ich ihn heute nach all den Jahren wiedersah. Und so gelang es mir, mich der Situation entsprechend zu verhalten.

 

Ankunft in Santa Elena

Britta war mit dem Umpacken ihres Reisegepäcks noch immer nicht fertig. Das Reduzieren auf die empfohlenen zehn Kilo Tragegewicht fiel ihr schwer. Erschöpft warf sie sich auf den freien Sessel in dem engen Hotelzimmer.

»Ich bin völlig kaputt von dem langen Flug.«

Heike Eckert sah sie verständnislos an. »Wir haben doch den ganzen Tag nur gesessen und gegessen. Ich muss mich jetzt bewegen.« Ihr Rucksack stand fertiggepackt neben dem Bett.

Britta seufzte. Die permanente Effizienz der anderen ging ihr zunehmend auf die Nerven; sie unterstrich ihre eigene Unzulänglichkeit. Doch was blieb ihr anderes übrig, als sich mit der Situation zu arrangieren? Lieber hätte sie das Zimmer mit Caro geteilt. Aber die hatte das Einzelzimmer bekommen.

»Sind Sie denn gar nicht müde?«

Noch immer waren sie beim unpersönlichen Sie. Eine Antwort erhielt sie nicht, denn Heike Eckert verließ das Zimmer. Britta quälte sich aus dem Sessel und betrat das kleine Bad. Nachdem sie geduscht und die Kleidung gewechselt hatte, fühlte sie sich ein wenig besser und streckte sich auf ihrer Seite des schmalen Doppelbettes aus.

Sie musste wohl ein wenig eingeschlafen sein, denn ein lautes Klopfen riss sie aus ihrem Traum. 

»Fertigwerden zum Abendessen!« Es war Miguel. Gleich darauf pochte er an der nächsten Tür.

Später dann, nach einem reichlichen Abendessen, saß die Gruppe in der kleinen Lounge des Hotels beisammen, und Miguel stimmte alle auf den Start am nächsten Morgen ein.

»Pünktlich um acht geht’s los. Das heißt, dass wir uns spätestens um sieben zum Frühstück treffen und kurz vor acht startklar sein müssen. Zwei Jeeps werden uns durch die Gran Sabana bis zu dem 1.000 Meter hoch gelegenen Indianerdorf Paraitepuí bringen. Auf der Fahrt dorthin können wir in der Ferne schon die Tafelberge sehen. Allerdings sind sie meistens nebelverhangen.«

»Wie lange wird die Anfahrt dauern?«

»Ungefähr zwei Stunden. In Paraitepuí nehmen wir ein leichtes Mittagessen ein, danach beginnt die erste Etappe der Trekking-Tour. Wir wandern circa dreizehn Kilometer durch die Gran Sabana und erreichen am zeitigen Abend das Camp am Rio Kukenan. Dort erwartet uns ein warmes Abendessen. Auch die Zelte sind schon aufgebaut.«

»Das klingt alles sehr nach Komfort«, monierte Frank. »Müssen wir überhaupt noch was selber machen?«

»Ja, eure Beine in Bewegung setzen und später einige Höhenmeter überwinden«, erwiderte Miguel trocken. »Gibt es sonst noch Fragen?« 

Jetzt meldete sich Britta. »Du hast davon gesprochen, dass wir auf der Tour nicht mehr als zehn Kilo mitnehmen sollen. Wo lassen wir den Rest des Gepäcks?«

Torsten rollte genervt mit den Augen. »Es wurde doch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es hier in Santa Elena bleibt.«

Als Britta daraufhin betreten schwieg, sprang ihr Miguel bei. »Die Frage ist durchaus berechtigt. Alles überflüssige Gepäck deponieren wir in einem Raum hier im Hotel.«

Sie bedankte sich bei ihm mit einem kleinen Lächeln.

Da alle von der langen Anreise abgespannt und offensichtlich gereizt schienen, beendeten sie bald ihr abendliches Beisammensein und zogen sich zurück. Für diese Nacht teilten sich Frank und Jens ein Zimmer, Torsten und Magnus das andere.

»Woher kommt eigentlich der Vorname Magnus? Ich habe ihn bisher nur selten gehört.«

»Aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie groß an Geist«, erklärte er mit einem schiefen Grinsen. »Erspar dir alle Witze darüber, die wurden schon von meinen Mitschülern gemacht.« Dann schwiegen beide. Jeder widmete sich seinen Aufzeichnungen über den heutigen Tag.

Im Zimmer nebenan regte sich Britta auf: »Ich finde seine Art beleidigend und unverschämt. Wenn er so weitermacht, drehe ich ihm irgendwann den Hals um!« Heike Eckert wusste, dass sie von Torsten sprach.

»Davon würde ich dringend abraten.«

»Wieso?«

»Er ist zu dick. Ich meine seinen Hals.«

Momentan war Britta für Ironie unempfänglich. Aufgebracht fuhr sie fort: »Ich wage kaum noch, eine Frage zu stellen. Sofort stellt er mich als dämlich hin.«

»Jetzt lassen Sie sich doch nicht so verunsichern! Der wartet doch nur darauf, dass Sie auf die Provokationen eingehen.« Heike stand auf und packte ihr Tablet weg. »Vielleicht ist es nur seine persönliche Art, Kontakt aufzunehmen«, schob sie sarkastisch nach.

»Ganz bestimmt! Einen geschickteren Annäherungsversuch kann ich mir kaum vorstellen!«

Unterdessen hatte sich Heike entkleidet und ging ins Bad. In der Tür drehte sie sich noch einmal um.

Mit einem schiefen Lächeln behauptete sie: »Er mag Sie.«

Britta musste lachen. Diese Art von Humor hätte sie Heike Eckert gar nicht zugetraut. Für einen Moment hing sie ihren Gedanken nach, dann nahm sie ihren Laptop und begann zu schreiben. Zehn Minuten später, als Heike frisch geduscht und mit feuchtem Haar zurück ins Zimmer kam, hatte sie sich bereits auf ihrer Seite des Doppelbettes ausgestreckt und gähnte. Kurz darauf schlief sie ein. Heike dagegen lag noch lange wach und starrte in das Halbdunkel des Zimmers. Schließlich stand sie leise auf und nahm die Hälfte einer Schlaftablette. Ohne diese kam sie immer seltener aus.

 

Tagebucheintrag, Ankunft in Santa Elena

 

Ohne nennenswerte Zwischenfälle absolvierten wir den Flug bis Caracas. Dort empfingen uns wie erwartet angenehme 25 Grad Celsius. Am späten Nachmittag, als wir in Santa Elena ankamen, war es spürbar wärmer, fast heiß. In dem kleinen Hotel sind wir komfortabel untergebracht. Morgen wird es dann mit leichterem Gepäck vom 1.000 Meter hoch gelegenen Paraitepuí auf einem vierstündigen Fußmarsch durch die Gran Sabana in Richtung Roraima gehen. Die Wanderung durch die hügelige Hochebene sollte problemlos zu bewältigen sein. Im Camp am Rio Kukenan wird uns ein großartiger Ausblick auf die Tafelberge erwarten.

  

Persönliche Aufzeichnungen, 06. März

 

Ich habe mich dabei ertappt, wie ich den Blickkontakt meide, ihn aber dennoch beobachte.

Die Ereignisse zu jener Zeit traten im Laufe der Jahre in den Hintergrund. Doch nie vergaß ich die ohnmächtige Wut, die ich damals empfand. Jetzt ist alles wieder gegenwärtig.

Gleich nachdem ich ihn bei unserer ersten Zusammenkunft wiedererkannte, reifte in mir ein Plan. Bis zur Abreise blieb mir nur ein Tag, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Nun verspüre ich immer dringlicher den Wunsch nach Vergeltung.

 

Weiter durch die Gran Sabana

Zunächst verlief die Fahrt über eine gutausgebaute Asphaltstraße in Richtung Norden, später dann wurde der Weg ruppiger und ging schließlich in eine Schotterpiste über. Sie fuhren durch die Gran Sabana, in der Ferne kamen die wolkenverhangenen Bergmassive in Sichtweite. Nach reichlich zwei Stunden Fahrt hatte die Gruppe das Indianerdorf Paraitepuí, den Ausgangspunkt ihrer Wanderung, erreicht. Als erste sprangen Miguel und die beiden Fahrer aus den Jeeps.

»Von hier aus könnt ihr schon den Kukenan-Tepui und das Roraima-Massiv sehen. Sie wirken zum Greifen nah, aber die Distanz täuscht.«

Nachdem sich die Gruppe ein wenig im Dorf umgeschaut hatte, gab es ein leichtes Mittagessen in Form von Sandwiches und Obst. Danach luden die beiden Fahrer die Rucksäcke aus.

»Auf geht’s zu unserem ersten Etappenziel, dem Camp Kukenan.« Miguel schaute ermunternd in die Runde und gleich darauf besorgt auf Brittas prallgefüllten Rucksack. »Jedes Kilo zu viel wird dich während der Tour belasten!«

»Und dies sicher nicht nur hinsichtlich des Gepäcks.«

Mit hochrotem Gesicht wandte Britta sich ab. Sie wusste, dass Torsten auf ihre Figur anspielte.

»Wenn du möchtest, kann ich was zu mir in den Rucksack nehmen.« Als Britta für einen Moment zögerte, drängte Frank: »Nun komm schon. Ich meine es ernst.«

»Danke, das ist wirklich nett.« 

Etwas verlegen packte sie hastig ihre Regenjacke und das Badezeug um. Dabei entging ihr nicht Torstens nächste Bemerkung, dass wohl jeder in der Lage sein sollte, seinen Krempel selber zu tragen. Aber noch bevor sie etwas erwidern konnte, beteuerte Frank, dass er sowieso nicht ausgelastet sei und das zusätzliche Gewicht als sportliche Herausforderung betrachte.

Miguel hatte Torstens Bemerkungen gehört. Bei nächster Gelegenheit würde er ihn beiseitenehmen und ein paar passende Worte sagen. Aber jetzt mussten sie erst einmal los. Im Umdrehen rief er den anderen zu, dass jeder sein eigenes Tempo finden müsse, er selbst aber alle im Auge behalten und bei Bedarf entsprechende Pausen einlegen würde. Dann lief er, dicht gefolgt von Jens, Frank und Torsten, in mäßigem Tempo voran. In etwas größerem Abstand folgte Caro. Unschlüssig schaute Britta sich nach Heike Eckert um. Gerade als sie sich ihr anschließen wollte, zog diese zügig an ihr vorbei. Sie hörte Magnus’ Stimme neben sich.

»Ich kann’s noch gar nicht fassen! Jetzt sind wir tatsächlich hier.« Begeistert deutete er in Richtung der Tafelberge, die sich in der Ferne wie Festungen aus der weiten Ebene erhoben. 

Über Britta ergoss sich eine Flut an Informationen über die Beschaffenheit des Hochplateaus. Nur mit halbem Ohr hörte sie zu und lief schweigend neben ihm her. Die Wanderung durch die Savannenlandschaft mit ihrem leichten, aber steten Anstieg strengte sie zusehends an. Auch Magnus musste irgendwann mit seinen Kräften haushalten. Endlich versiegte sein Redefluss.

 

 

Am frühen Nachmittag erreichten sie die erste Flussüberquerung. Frank saß barfuß am Ufer und wartete. Kurz nach ihm trafen auch die anderen ein. Miguel drehte sich besorgt nach Magnus und Britta um. Aber auch sie kamen wenig später hinzu. Beide hatten gerötete Gesichter, Magnus, da ihm die Hitze zu schaffen machte, und Britta vor Anstrengung und weil sie weitere Bemerkungen von Torsten befürchtete. Aber dieser schenkte ihr keine Beachtung, sondern hatte seinen Blick auf die Tafelberge gerichtet. Sie schienen zum Greifen nah.

»Wie lange schätzt du noch?«

»Ich denke, in einer reichlichen Stunde sind wir am Camp Kukenan. Passt bei der Flussüberquerung auf, dass ihr nicht wegrutscht. Ihr solltet vorsichtshalber Socken anziehen.« 

Sie begannen, durch die Strömung zu waten. Britta biss die Zähne zusammen und stieg durch das eiskalte Wasser, immer darauf bedacht, auf den glatten Steinen nicht auszugleiten oder anderweitig auf sich aufmerksam zu machen. Endlich hatte auch sie das gegenüberliegende Ufer erreicht. Die Gruppe legte eine Pause ein und trocknete die Füße in der Sonne.

Auf der bisherigen Wegstrecke hatten sie immer wieder kleine Zwischenstopps eingelegt, um die spektakuläre Landschaft mit ihrer seltenen Flora zu fotografieren. Magnus nutzte die Pausen, um zu zeichnen. Auch jetzt saß er etwas abseits und hatte einen kleinformatigen Skizzenblock vor sich. Mit zügigen Strichen brachte er das Wesentliche zu Papier. Dann ging es weiter.

Der Weg führte nun beständig bergan. Eine Weile lief Miguel neben Frank an der Spitze der Gruppe, doch dann ließ er sich zurückfallen, bis er auf gleicher Höhe mit Torsten war.

»Auch wenn dir’s schwerfällt, Torsten, halte dich bitte mit bissigen Bemerkungen zurück. Sie vermiesen die Stimmung.«

Verärgert erwiderte er: »Ich persönlich habe mich schon lange vor Beginn der Roraima-Tour gründlich vorbereitet. Das Gleiche erwarte ich auch von den anderen. Diese blöde Fragerei ist einfach nervig. Außerdem sollte sich jeder vorher darüber im Klaren sein, ob er der körperlichen Herausforderung überhaupt gewachsen ist. Wenn das nicht der Fall ist, kann man eben nicht an solch abenteuerlichen Touren teilnehmen. Die ganze Reise war teuer genug, und ich möchte sie jetzt genießen.«

»Irgendwie müssen wir in den nächsten Tagen alle miteinander auskommen. Ich fände es durchaus in Ordnung, wenn die Herren den drei Frauen in schwierigen Situationen auch mal helfen.«

Sofort schoss Torsten dagegen: »Die dürre Blonde ist zäh wie eine Bergziege, die kommt bestens alleine klar. Auch die Große, Caro oder wie sie heißt, braucht keine fremde Hilfe. Aber die zimperliche Dicke geht mir gewaltig auf die Nerven. Außerdem ist sie empfindlich wie eine Mimose.«

»Hast du was gegen Frauen?«

»Im Gegenteil. Ich war jahrelang mit einer verheiratet.«

»Kaum zu glauben«, erwiderte Miguel lakonisch. Dann lief er zügig weiter und setzte sich wieder an die Spitze der Gruppe.

Nach einer reichlichen Stunde hatten sie das Camp erreicht. Die Temperatur war hier deutlich kühler und angenehmer als in den Weiten der Savanne, die sie in der fünfstündigen Wanderung durchquert hatten. Wie von Miguel angekündigt, standen die Zelte schon da. Er ging hinüber zu den Pemón-Indianern, die mit der Zubereitung der Mahlzeiten beschäftigt waren. Auf Spanisch besprach er mit ihnen den weiteren Ablauf des Abends. Bald darauf kehrte er zur Gruppe zurück.

»Ihr könnt die Rucksäcke jetzt in den Zelten unterbringen. Wer möchte, kann noch ein kühles Bad im Rio Kukenan nehmen.«

In der Annahme, dass er das Zelt mit Jens teilen würde, stellte Frank sein Gepäck ab. Umso erstaunter war er, als Magnus wenig später durch die Öffnung schaute.

»Es ist dir doch recht?«, erkundigte er sich höflich.

»Ja … klar.«

Bald darauf stiegen alle, außer Britta und Magnus, in den Rio Kukenan. Auch Britta hätte sich gerne nach der langen Wanderung ein wenig abgekühlt, doch vor Torsten wagte sie sich nicht im Badeanzug zu zeigen.

Eine halbe Stunde später gab es ein warmes Abendessen. Es schmeckte hervorragend.

»Und du willst wirklich auf die gebackenen Schweinelenden und all die herrlichen Käsesorten verzichten?«, fragte Britta ungläubig. 

Aber Magnus winkte ab. »Es gibt doch noch so viel anderes ohne tierische Zutaten, die Bohnen- und Linsengerichte zum Beispiel, oder die frittierten Kochbananen und Maisfladen. Außerdem hat das Essen bei mir nicht die Priorität …«

»... die es für dich hat«, ergänzte Torsten mit einem Blick in Brittas Richtung.

Jens stieß ihn an. »Das war nicht nett.«

»Ich bin nicht nett!«

Die Gespräche bei Tisch zogen sich nur schleppend dahin. Selbst das venezolanische Bier vermochte nicht die angespannte Stimmung aufzulockern. Nur Miguel und Magnus bemühten sich um gemeinsame Gesprächsthemen und kamen bald auf den folgenden Tag und die Besonderheiten, die sie übermorgen auf dem Roraima erwarten würden, zu sprechen. Magnus begann wieder über die verschiedenen Orchideenarten, Flechten und Gräser zu referieren.

»Die hohe Steilwand und das andere Klima auf dem Hochplateau haben zu einer Isolation gegenüber dem Regenwald und der Savanne geführt. Das ist auch der Grund dafür, warum fast alle Organismen endemisch sind.«

»Was bedeutet eigentlich endemisch?«, erkundigte sich Britta.

Als hätte Torsten nur auf diese Frage gewartet, meinte er mit einem boshaften Lächeln: »Magnus erklärt es sicher gern nochmal.« Doch der schwieg dazu. Also dozierte Torsten selber: »In der Biologie bedeutet der Begriff das Auftreten von Pflanzen und Tieren in einer bestimmten, klar abgegrenzten Umgebung.«

»Wortwörtlich auswendig gelernt. Alle Achtung!« Heike hatte den entsprechenden Eintrag unterdessen bei Wikipedia gefunden und mit Torstens Erklärung verglichen.

An diesem Punkt beendete Miguel das Beisammensein. Er stand auf und wünschte eine gute Nacht. Auch Britta ging zum Zelt. Sie brauchte noch ein paar Minuten für sich alleine. Als Heike Eckert wenig später hinzukam, bedankte sie sich bei ihr.

»Wofür?«, fragte sie verwundert.

»Dafür, dass Sie ihm Kontra gegeben haben.«

»Ich verstehe nicht, warum Sie das nicht selber tun«, erwiderte sie knapp. Damit war das Thema für sie erledigt. Beide holten ihre Tablets hervor und schrieben die Eindrücke des heutigen Tages nieder. Torstens neuerliche verbale Attacken erwähnte Britta mit keinem Wort. Daran wollte sie sich später nicht erinnern. Nach ein paar Minuten steckte sie ihr Gerät weg, kroch in den Schlafsack und schlief bald darauf ein.

Im Nachbarzelt beging Frank den Fehler, noch einmal nachzufragen, woher Magnus seine detaillierten Kenntnisse hatte.

»Ich habe viel Fachliteratur dazu gelesen, weil mich die Tafelberge schon immer interessierten. Als Junge habe ich den Roman von Arthur Conan Doyle The Lost World regelrecht verschlungen. Obwohl darin nie der Name des Roraima erwähnt wird, ist er aber eindeutig gemeint. Lange Zeit wurde darüber spekuliert, ob man auf dem Tafelberg auch ausgestorbene Tierarten finden würde.«

Minutenlang dozierte er über die Pflanzen- und Tierwelt, die sie oben erwarten würde, bis Frank mit einem knappen »Na fein, das werden wir ja alles sehen« die langatmigen Erläuterungen unterbrach.

In der folgenden halben Stunde widmeten sie sich schweigend ihren Aufzeichnungen und Fotografien. Dann steckte Frank seinen Laptop weg und streckte sich auf der Isomatte aus. Magnus schien wieder mal kein Ende zu finden, er blätterte unschlüssig im Skizzenblock und ergänzte hier und da ein Detail. Nach fünf Minuten schaltete er die Beleuchtung aus und legte sich ebenfalls hin.

Wie die Nächte zuvor lag Heike noch lange wach. Neidvoll vernahm sie Brittas leise Schnarchgeräusche. Schließlich suchte sie in ihrer Kulturtasche nach den Schlaftabletten. Durch das Rascheln in ihrem Schlaf gestört, wälzte sich Britta auf die andere Seite. Aber gleich darauf waren wieder ihre gleichmäßigen Atemzüge zu hören. Endlich fand Heike die Schachtel, drückte eine Schlaftablette heraus und zerteilte sie. Doch an ein Getränk, um sie schlucken zu können, hatte sie nicht gedacht. Mit Widerwillen zerbiss sie die halbe Tablette und würgte sie herunter. Die trockene Substanz blieb an ihrem Gaumen kleben und löste einen Hustenanfall aus. 

Erschrocken fuhr Britta hoch. »Was ist denn los?« Aber augenblicklich erkannte sie die Situation und griff nach ihrer Wasserflasche. »Hier, versuch mal, was zu trinken!« Hastig nahm Heike ein paar kräftige Schlucke. Endlich gelang es ihr, die Tablettenreste hinunter zu spülen. Übrig blieb ein ekeliger, bitterer Geschmack im Mund. Als Heike wieder zu Atem kam, fragte Britta: »Woran hast du dich denn so fürchterlich verschluckt?« Versehentlich war sie zum Du übergegangen.

»Ich hatte eine Tablette genommen.« 

In der Zwischenzeit war Miguel aus seinem Zelt gekrochen und leuchtete mit der Taschenlampe in Richtung des Damenzeltes.

»Braucht ihr Hilfe?« 

Heike verneinte und betonte, dass alles wieder in Ordnung sei. Die Sache war ihr peinlich. Irgendwann, weit nach Mitternacht, schlief sie endlich ein.

 

Tagebucheintrag, erster Tag der Tour

 

Nach einem leichten Mittagessen in dem Pemón-Dorf Paraitepuí ging es zu Fuß durch die Savannenlandschaft der Gran Sabana. In der Ferne waren schon die nebelverhangenen Tafelberge einschließlich des Roraima zu sehen. Die Flussüberquerung bewältigten wir problemlos. Nach einer fünfstündigen Wanderung, Pausen eingerechnet, erreichten wir unser Camp. Wer wollte, konnte noch ein Bad im Kukenan nehmen. Das vorzügliche Abendessen entschädigte für die Mühen der anspruchsvollen Wanderung.

  

Persönliche Aufzeichnungen, 07. März

 

Es muss an jenem Tag begonnen haben, als sie ihm zum ersten Mal begegnete. Ich hatte keine Ahnung, wo es war, vermutlich auf diesem Kongress. Von da an schien sie wie verändert. Eine Zeit lang wusste ich nicht, woran es lag, bis ich die Ursache erkannte: Sie hatte sich verliebt. Wanda, der ich mich so eng verbunden fühlte, war mir plötzlich fremd geworden. Bislang hielt ich sie für eine lebenskluge Frau. Doch dann begann ich an ihrem kritischen Urteilsvermögen zu zweifeln. Ganz eindeutig hatte er sie mit seiner charismatischen Art geblendet und mit Leichtigkeit um den Finger gewickelt. Sie vertraute ihm mehr als mir und verletzte mich damit zutiefst. Eifersucht gepaart mit Misstrauen ergibt eine explosive Mischung. Im Nachhinein muss ich gestehen: Ich verhielt mich ihr gegenüber mitunter ungerecht und reagierte oft ungehalten. Und dieser Umstand trug letztendlich dazu bei, dass sie sich immer mehr von mir entfernte. Obwohl ich das Unheil kommen sah, traf es mich dann mit voller Wucht.

 

Aufbruch zum Base Camp

Überrascht schaute Frank aus dem Zelt: Um ihn herum war dichter Nebel. Unter lauten Unmutsäußerungen krochen nun auch die anderen aus ihren Zelten.

»Damit müssen wir hier rechnen. Aber wartet’s ab: Nach dem Frühstück kann es schon wieder ganz anders aussehen.«

Miguel wusste, wovon er sprach, und er behielt Recht. Nachdem alle reichlich gefrühstückt und sich auf die heutige Etappe eingestimmt hatten, schien bald wieder die Sonne. Allen war bewusst, dass ein anstrengender Tag bevorstand. Es würde ständig bergauf gehen, und zwei Flüsse müssten überquert werden, der Rio Tek und der Rio Kukenan.

»Du hast die ganze Zeit kein Wort gesagt«, stellte Heike fest. 

Mit einer knappen Kopfbewegung deutete Britta in Richtung Torsten, der einige Meter vor ihnen lief. Fast neidvoll nahm sie zur Kenntnis, dass Caro ganz offensichtlich kein Problem mit ihm zu haben schien. Beide wanderten nebeneinander und unterhielten sich angeregt.

»Ignorier ihn doch einfach«, empfahl Heike, dann beschleunigte sie ihr Schritttempo, bis sie auf gleicher Höhe mit Miguel und Frank war.

Bald kamen sie am ersten Fluss an und überquerten ihn ohne größere Schwierigkeiten. Wenig später dann, beim Rio Kukenan, wurde es weitaus komplizierter. Der Wasserstand war höher als bei dem kleineren Rio Tek. Hier erwies sich die Durchquerung als echte Herausforderung, zumal die Strömung das Waten im Wasser erschwerte und die Tiefe nur schwer abzuschätzen war. Miguel behielt alle im Auge und hielt sich bereit, zu helfen.

Mit einem Aufschrei glitt Britta auf einem Stein aus und landete im kalten Wasser. Sofort versuchte Miguel, zu ihr zu gelangen. Doch vor ihm war Frank zur Stelle, reichte ihr die Hand und zog sie ans Ufer.

Britta vermied es, in Torstens Richtung zu schauen. Aber der widmete sich seiner Fotoausrüstung, die er, wie von Miguel empfohlen, wasserdicht verpackt hatte.

Die Sonne trocknete die nassgewordene Kleidung schnell, und nach einer zehnminütigen Rast ging es weiter, stetig bergauf. An einem Orchideenfeld hielten sie inne.

»Hier, eine riesige Karnivore!«, rief Magnus begeistert.

»Wie ernährt sie sich eigentlich?«

»Meist fangen sie Insekten oder sogar kleine Frösche mit Klebe- oder Klappfallen. Wenn sich die Beute den beiden Blatthälften nähert …«, er demonstrierte den Vorgang mit seinen nebeneinandergelegten Handflächen, »… dann wird das Insekt mit einer schnellen Schließbewegung eingefangen. Das ist die seltenere Form der Fangmethoden. Es gibt nämlich auch noch die Fallgrubenfallen …«

»Lass mal gut sein«, unterbrach ihn Frank, und Miguel mahnte zum Weitergehen.

»Wir haben noch eine gewaltige Strecke vor uns. Insgesamt werden es elf Kilometer sein, immer bergan.«

Die Vegetation wurde merklich üppiger und ging in einen dichten Urwald über. Nicht weit vor ihnen tauchten Nebelfelder auf, die sich an den steilen Wänden des Roraima festhielten.

Nach einer knappen Stunde hörten sie Stimmen und entdeckten wenig später auf einer kleinen Lichtung die Pemón-Indianer. Sie hatten einen Mittagslunch vorbereitet.

»Im Base Camp gibt es dann ein warmes Abendessen«, versprach Miguel.

»Das ist ja Service pur!«

»Ich nenne es Verhätschelung«, war Franks nicht ganz ernst gemeinter Kommentar dazu.

»Du kannst dir ja Kröten oder Schlangen fangen.«

»Schlangen?!« Britta sprang entsetzt auf.

»Es sind nur kleine, und die verschwinden, wenn sie dich hören.« Die Bemerkung kam von Torsten. Immerhin war der zynische Ton verschwunden, es klang eher nach gutmütigem Spott.

---ENDE DER LESEPROBE---