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"Eine mörderische Tour":
Ein Abenteuerurlaub der besonderen Art – so hatte Jo Meysner, Chef der Reiseagentur Special Travels, die Trekking-Tour zum Monte Roraima angekündigt. Und er hat nicht zu viel versprochen: Für die kleine Reisegruppe wird es tatsächlich ein unvergessliches Erlebnis, wenn auch in ganz anderem Sinn, als erwartet. Denn auf dem Hochplateau des Roraima geschieht ein Mord.
Mit der Aufklärung des Verbrechens wird der attraktive Comisario Garcia Hernández beauftragt. Schon bald erkennt er, dass der Mord geplant war. Für die Ermittlungen braucht er dringend Unterstützung und bekommt sie umgehend vom schnoddrigen Kriminalhauptkommissar Wiesmann.
Bei den Vernehmungen der Zeugen treten längst bewältigt geglaubte Ereignisse aus der Vergangenheit zu Tage. Und zeitweilig scheint es, als hätte jeder von ihnen ein Motiv.
Sowohl Garcia Hernández als auch Wiesmann wähnen sich bereits am Ziel, doch dann zeigt sich das Verbrechen in einem ganz anderen Licht.
"Cyber Chess mit tödlicher Rochade":
Eigentlich wollte die Journalistin Tanja Wegner nur einen Artikel über Cyberkriminalität schreiben – doch dann geschieht ein Mord, und sie gerät selbst unvermittelt ins Fadenkreuz der Täter.
Für Hauptkommissar Wiesmann und seinen Kollegen Garcia Hernández wird es zunehmend schwieriger, sie zu schützen, denn der unbekannte Gegner scheint immer einen Zug voraus zu sein.
Ein weiteres, sehr persönliches Problem kommt hinzu: Die attraktive Kommissarin Sylke Bischoff gehört diesmal zu Wiesmanns Team und fordert ihn auf ihre Art heraus.
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Inhaltsverzeichnis
Zum Inhalt der Bücher
Eine mörderische Tour
Cyber Chess mit tödlicher Rochade
Zum Schluss
Über die Autorin
Leseprobe: „Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus“
Leseprobe: „Ein fast perfektes Team“
Impressum
Eine mörderische Tour
Brisante Tagebucheinträge und ein Mord:
Ein Abenteuerurlaub der besonderen Art – so hatte Jo Meysner, Chef der Reiseagentur Special Travels, die Trekking-Tour zum Monte Roraima angekündigt. Und er hat nicht zu viel versprochen: Für die kleine Reisegruppe wird es tatsächlich ein unvergessliches Erlebnis, wenn auch in ganz anderem Sinn, als erwartet. Denn auf dem Hochplateau des Roraima geschieht ein Mord. Mit der Aufklärung des Verbrechens wird der attraktive Comisario Garcia Hernández beauftragt. Schon bald erkennt er, dass der Mord geplant war. Für die Ermittlungen braucht er dringend Unterstützung und bekommt sie umgehend vom schnoddrigen Kriminalhauptkommissar Wiesmann. Bei den Vernehmungen der Zeugen treten längst bewältigt geglaubte Ereignisse aus der Vergangenheit zu Tage. Und zeitweilig scheint es, als hätte jeder von ihnen ein Motiv. Sowohl Garcia Hernández als auch Wiesmann wähnen sich bereits am Ziel, doch dann zeigt sich das Verbrechen in einem ganz anderen Licht …
Cyber Chess mit tödlicher Rochade
Eigentlich wollte die Journalistin Tanja Wegner nur einen Artikel über Cyberkriminalität schreiben – doch dann geschieht ein Mord, und sie gerät selbst unvermittelt ins Fadenkreuz der Täter. Für Hauptkommissar Wiesmann und seinen Kollegen Garcia Hernández wird es zunehmend schwieriger, sie zu schützen, denn der unbekannte Gegner scheint immer einen Zug voraus zu sein. Ein weiteres, sehr persönliches Problem kommt hinzu: Die attraktive Kommissarin Sylke Bischoff gehört diesmal zu Wiesmanns Team und fordert ihn auf ihre Art heraus.
von Katharina Kohal
Prolog
Die Reiseagentur hatte längst geschlossen und er war allein. Seit mindestens fünf Minuten schon starrte er auf die Datei, die ihm per E-Mail zugeschickt wurde. „Sorry, mehr habe ich nicht gefunden“, stand im Begleittext. Aber für Jo Meysner, den Geschäftsführer der Reiseagentur Special Travels, war es genug: Er erkannte die Zusammenhänge. Das Geschehen um den Mord vor nunmehr vier Wochen zeigte sich plötzlich in einem ganz anderen Licht. Hauptkommissar Wiesmann und dem venezolanischen Comisario Garcia Hernández fehlte bislang das letzte Teil im Puzzle, doch ihm, Jo Meysner, hatte es im Grunde genommen der Zufall in die Hände gespielt. Jetzt kannte er das Motiv des Verbrechens. Und somit auch den Mörder. Ruhelos lief er umher und überlegte, was jetzt zu tun sei. Dann griff er entschlossen zum Telefon. Nach dem vierten Klingelton vernahm er ein überraschtes „Hallo?“ Es war die Stimme des Mörders.
Ein erstes Treffen
Noch vor einem Monat schien für Jo Meysner die Welt in Ordnung. Die Geschäfte liefen bestens, erst recht, seit er das Angebot seines Reiseunternehmens verkleinert hatte. Er hatte sich, wenn auch nicht auf die eigene Person bezogen, deutlich verschlankt. Ottonormalverbraucher-Pauschalreisen, wie er sie nannte, nahm er peu à peu aus dem Programm heraus. Stattdessen bediente er jetzt eine Nische, die sich ihm erst vor ein paar Jahren aufgetan hatte. Der Anlass hierfür war seine Reise als Backpack-Tourist durch Südamerika. Damals hatte er spontan beschlossen, Ähnliches künftig auch interessierten Kunden anzubieten, allerdings mit einigem Komfort und auf hohem Niveau. Seine Agentur hieß zu diesem Zeitpunkt noch Meisner-Reisen und er selbst Joachim Meisner. Aber beides fand er nun nicht mehr passend zu dem neuen Konzept. Es klang ihm zu bieder. Und so wurde aus seinem Namen Jo Meysner, und Meisner-Reisen nannte er in Special Travels um. Die anspruchsvollen Trekking-Touren, die Special Travels anbot, waren nicht billig, genaugenommen sogar recht kostenintensiv. Sie wurden nur für kleine Gruppen organisiert. Das Angebot richtete sich an körperlich fitte und finanziell gut gestellte Kunden, die das Abenteuer suchten. Meist handelte es sich dabei um nicht mehr ganz junge Teilnehmer, die den gebotenen Service zu schätzen wussten und bereit waren, entsprechend dafür zu zahlen. Zu diesem Service gehörte unter anderem, dass seine Reiseagentur die Abenteurer, wie Jo Meysner sie gerne nannte, auch abholte. Und das im sprichwörtlichen Sinn. Denn kurz vor Beginn einer jeden Tour fand ein erstes Treffen statt, bei dem sie sich untereinander und auch ihren Guide kennenlernten. Zudem bot sich die Gelegenheit, noch Hinweise zu geben oder Fragen zu stellen. Wann immer es Jo Meysner möglich war, begrüßte er seine Abenteurer persönlich. So auch heute. Diesmal würde sie die Tour zum Roraima-Tepui führen, dem höchsten Tafelberg im Dreiländereck Brasilien, Venezuela und Guyana. Seit langem schon war es Jo Meysners Wunsch, selbst einmal an einer solchen Expedition teilzunehmen. Aber als Geschäftsführer seiner Agentur war er unabkömmlich, er fand nicht die Zeit für derartige Touren. Das zumindest war die offizielle Version. Der eigentliche Grund war ein anderer: Die jahrelange Tätigkeit am Schreibtisch und das ständige Sitzen ließen ihn träge werden. Er fühlte sich körperlich einfach nicht mehr fit genug. Nun also stand er das erste Mal vor seinen Abenteurern. Rasch glitt sein Blick über die Anwesenden: Vierzig Plus! Keiner der Teilnehmer mochte altersmäßig darunter liegen. Dieser geschätzte Altersdurchschnitt entsprach vollkommen seiner Erfahrung: Finanziell gut situierte Mittvierziger, die ein Abenteuer besonderer Art suchten. Insgesamt hatten sieben Personen die Reise gebucht, drei Frauen und vier Männer. Nur sechs saßen in der Runde. „Meine lieben Abenteurer. Ja, das sind Sie für mich!“ So begann er jede seiner Begrüßungen, so auch diese. Mit routinierten Formulierungen stellte er sich, das Konzept der Agentur und noch einmal die Höhepunkte der kommenden Tage vor. Dabei hatte er Gelegenheit, die Anwesenden etwas näher zu betrachten. Meist genügte ihm ein kurzer Blick auf jeden Einzelnen, um dessen körperliche Verfassung und charakterliche Eigenheiten einzuschätzen. Dies gelang ihm ohne Unterbrechung seines Redeflusses. Jetzt hörte er sich sagen: „Zum Kennenlernen von Land und Leuten mag die Reise wohl weniger geeignet sein, aber dafür werden Sie auf dieser anspruchsvollen Trekking-Tour eine grandiose Landschaft und eine einmalige Fauna und Flora erleben.“ Dabei ruhten seine Augen für einen Moment auf einem sportlich durchtrainiert wirkenden Mann, möglicherweise war er der Jüngste der Gruppe. Schon dessen Körperhaltung verriet, dass er sich allen Strapazen der Reise stellen und diese problemlos bewältigen würde. Vermutlich war er der Draufgängertyp, den der Guide während der Tour von riskanten Alleingängen abbringen müsste. Einen völlig anderen Eindruck bekam Jo Meysner von der schmächtigen blonden Dame neben ihm. Ihre Gesichtszüge waren durchaus ansprechend, doch wirkte sie insgesamt kühl und abweisend. Jo bezweifelte, dass sie den kommenden Anstrengungen gewachsen wäre. Doch vielleicht täuschte er sich. Ebenso befürchtete er, dass die etwas mollige Brünette die körperlichen Herausforderungen unterschätzte. Sie wirkte keinesfalls trainiert, sondern eher behäbig und bequem. Sie hatte ein sympathisches, rundliches Gesicht und sah ihn erwartungsvoll an. Auf ihren brünetten Haaren lag ein rötlicher Schimmer. „Die Tour wird einiges von Ihnen abverlangen, sowohl körperlich als auch mental. Doch der Anblick der ältesten geologischen Formationen unseres Planeten wird Sie für alle Strapazen entschädigen.“ Ähnlich aufgeschlossen wie die freundliche Brünette schien der Herr neben ihr Jos Erläuterungen zu folgen. Hin und wieder nickte er bestätigend. Im Kontrast zu den dunklen, fast schwarzen Haaren hatte er einen hellen Teint. Jo Meysner fielen seine kultivierten Hände auf, die er auf den übereinandergeschlagenen Beinen verschränkt hielt. Wahrscheinlich ein Intellektueller, ein Akademiker, der sich im Vorfeld der Reise ausführlich informiert und belesen hatte, war Jos erster Eindruck. Neben ihm hatte die dritte weibliche Teilnehmerin Platz genommen. Sie saß sehr aufrecht und wirkte schlank und groß. Die dunkelblonden Haare trug sie straff zurückgebunden. Sie gaben ihrem Äußeren etwas Strenges, Ernstes. Auffallend waren ihre ausdrucksvollen graublauen Augen. Den Stuhl um ein paar Zentimeter zurückgeschoben, saß der dritte männliche Teilnehmer etwas außerhalb der Runde. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt und die Beine weit von sich gestreckt. Insgesamt wirkte er robust und sehr selbstbewusst. Jo glaubte, in ihm einen Führungsmenschen zu erkennen, einen Manager vielleicht, der für ein paar Tage eine Herausforderung ganz anderer Art suchte. Sicher würde es ihm schwerfallen, in den kommenden Tagen die gewohnten Autoritätsansprüche abzulegen. Jo kannte sich in dieser Hinsicht aus. Oftmals bestätigten sich seine ersten Eindrücke dann später durch die Erfahrungen des Guides. Dessen Aufgabe würde es auch in diesem Falle wieder einmal sein, aus der bunt zusammengewürfelten Truppe zumindest für die Dauer der kommenden Tage ein Team zu bilden. „Wie ich eingangs schon erwähnte, wird es eine anspruchsvolle Tour werden, die durchaus ihre Risiken in sich birgt. Aber unser Guide wird Sie in gewohnter Weise sicher führen. Wichtig dafür ist, dass Sie sich strikt an seine Weisungen halten.“ In diesem Moment betrat ein leger gekleideter Mann den Raum und nahm auf einem der freien Stühle Platz. Jo lächelte ihm zu. „Und jetzt darf ich Ihnen Miguel, Ihren Guide vorstellen. Wie Sie gleich bemerken werden, ist er kein gebürtiger Venezolaner. Aber er lebt schon seit einigen Jahren dort, kennt sich bestens aus und spricht fließend Spanisch.“ Mit einem verlegenen Grinsen sah Miguel in die Runde. Was sein Äußeres betraf, so pflegte er das Klischee des lässigen Aussteigers. Die langen Haare trug er zu einem Zopf gebunden, von dem er sich, wollte er nicht unfreiwillig komisch erscheinen, wohl eines Tages trennen müsste. Und dieser Tag lag nicht mehr in allzu weiter Ferne. Denn auch Miguel hatte die Vierzig längst überschritten. Zu den abgetragenen Jeans trug er ein wie eben aus dem Rucksack hervorgezerrtes, zerknittertes Baumwollhemd. Seine bloßen Füße steckten in Ledersandalen. Schon deren Anblick ließ die anderen, da es jetzt Anfang März noch empfindlich kühl war, frösteln. In dem Moment öffnete sich die Tür, und der siebente Teilnehmer der Exkursion kam herein. Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm er auf dem letzten freien Stuhl Platz. Jo nickte zufrieden, jetzt war die Runde komplett. Er schwärmte noch ein wenig von der atemberaubenden Natur auf und rund um den Roraima. Wieder einmal verspürte er Fernweh und empfand mit Wehmut und wohl auch einer Portion Neid jene flirrende Stimmung zwischen Vorfreude, Erwartung und Nervosität, die sich vor jeder Reise unter den Teilnehmern einstellte. Schließlich verabschiedete er sich mit den Worten: „Ob Sie es glauben oder nicht: Ich beneide Sie um das kommende Abenteuer!“ Mit einem frechen Grinsen raunte Miguel ihm zu: „Ich bewundere Sie … wolltest du doch sagen, oder?“ Dann erhob er sich lässig und schaute mit einem verschmitzten Lächeln in die Runde. „Meinen Namen kennt ihr ja bereits. Da wir die nächsten Tage gemeinsam verbringen werden, schlage ich vor, dass wir gleich von Anfang an zum Du übergehen.“ „Das müssen Sie schon jedem selbst überlassen.“ Die Bemerkung kam von der schmächtigen Blonden. Für einen Augenblick fühlte sich Miguel aus dem Konzept gebracht. Eine derart schroffe Abfuhr hatte er bis dahin nicht erlebt. Aber bevor er etwas erwidern konnte, bekam er Unterstützung von einem der Teilnehmer, von dem er sie am wenigsten erwartet hätte. Ausgerechnet der Typ, der Miguel mit verschränkten Armen und ausgestreckten Beinen gegenübersaß und ihn mit kritischem Blick zu mustern schien, sprang ihm jetzt bei. „Mir ist der Vorschlag recht. Also, ich bin Torsten.“ Herausfordernd schaute er in die Runde und dann zu der Blonden hinüber. Sie hielt seinem Blick stand. „Das ist Ihre Sache. Mein Name ist Heike Eckert.“ Damit schienen die Fronten geklärt. Unbeeindruckt von dem kurzen Schlagabtausch richtete Torsten seinen Blick auf die Brünette. „Und ich bin Britta“, kam sie der stummen Aufforderung nach. Als er sich den anderen zuwenden wollte, unterbrach Miguel die begonnene Vorstellungsrunde. „Was euch auf unserer Tour erwarten wird, dürfte bekannt sein. So ungefähr zumindest. Und ihr habt alle die Liste mit der empfohlenen Ausrüstung erhalten. Für die Trekking-Tour solltet ihr nicht mehr als zehn Kilo Gepäck mitnehmen, den Rest könnt ihr in unserem Ausgangscamp in Santa Elena lassen. Die Nächte werden wir in Zelten verbringen. War schon jemand von euch in einem der lateinamerikanischen Staaten?“ „Ich, aber nur dienstlich“, meldete sich der vierte männliche Teilnehmer, der etwas verspätet hinzugekommen war. Er hieß Jens, hatte kurze dunkle Haare und lebhafte braune Augen, in denen ein verschmitztes Lächeln lag. Vom Äußeren her hätte man ihn für einen Lateinamerikaner halten können. Miguel fragte weiter: „Wer von euch hat schon an ähnlichen Touren teilgenommen?“ Natürlich, der sportlich Durchtrainierte, er stellte sich als Frank vor, meldete sich. Miguel war nicht überrascht, dass auch Torsten diesbezügliche Erfahrungen gesammelt hatte. Früher nahm er an Bergsteigertouren teil, bis ihm der Job keine Zeit mehr dazu ließ. Weder Heike Eckert noch Britta hatten bisher derartige Touren unternommen. „Für mich aber kein Problem“, behauptete Heike. Britta hingegen schien nicht so sicher. „Ich hoffe, dass ich durchhalten werde.“ „In der Reisebeschreibung wurde die Tour als ausgesprochen anspruchsvoll bezeichnet. Oder hast du da was missverstanden?“ Diese Bemerkung kam von Torsten. Miguel lenkte rasch ein: „Ich denke, dass du alles problemlos schaffen wirst, Britta.“ Sein Blick wanderte weiter und blieb bei der dritten Dame in der Runde hängen. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den er zu kennen glaubte: Es war eine Spur Resignation, die im Widerspruch zu ihrer selbstbewussten Haltung stand. In seltsamer Weise fühlte er sich berührt. Doch im nächsten Augenblick war dieser irritierende Eindruck verflogen. Sie stellte sich als Carolin vor, „Nennt mich bitte einfach Caro“, und erklärte, dass sie gerne und intensiv wandere, Bergtouren bisher aber noch nicht unternommen habe. „Und wie sieht es bei dir aus?“, wandte sich Miguel an Jens. „Mit Trekking-Touren habe ich wenig Erfahrungen. Aber eine Zeit lang hatte ich mal Freiklettern trainiert.“ Beeindruckt schielte Frank zu ihm hinüber: Freeclimbing! Klettern ohne Absicherung, nur mit Händen und Füßen! Er selbst hatte es noch nie probiert. Zum Schluss stellte sich Magnus vor. „Für mich wird es ebenfalls die erste Tour dieser Art werden.“ Und etwas zögernd fügte er hinzu: „Ich gestehe, dass mir Laptop und Schreibtisch wesentlich vertrauter sind als Schlafsack und Wanderschuhe.“ Torstens verständnislosen Blick deutete er richtig. Doch bevor dieser eine bissige Bemerkung machen konnte, nannte Magnus selbst den Grund dafür, warum er sich dennoch für die strapaziöse Tour entschieden hatte. „Die Tafelberge hatten mich schon lange interessiert. Spätestens, seit ich Sir Arthur Conan Doyles Lost World gelesen hatte, stand für mich fest, dass ich sie irgendwann mit eigenen Augen sehen muss. Auf dem Roraima sind achtzig Prozent der Organismen endemisch, das bedeutet, dass ein Großteil der Flora und Fauna an keinem anderen Ort der Welt vorkommt.“ Für ein, zwei Minuten brillierte er mit seinem Wissen, bis Miguel ihn höflich unterbrach und wieder auf organisatorische Belange zu sprechen kam. „Insgesamt werden wir acht Tage unterwegs sein: je einen Tag für die An- und Abreise und sechs Tage für die eigentliche Trekking-Tour. Bitte überprüft nochmal sorgfältig eure Ausrüstung. Habt ihr sonst noch Fragen?“ „Wie sieht es eigentlich mit der Verpflegung während der Tour aus?“, wollte Britta wissen. „Wir essen alles, was da kreucht und fleucht und am Wegesrand wächst“, erklärte Miguel mit todernster Miene. Als er Brittas verunsicherten Blick sah, versprach er schmunzelnd: „Selbstverständlich werden wir bestens versorgt. Eine Gruppe von Pemón-Indianern begleitet uns. Sie kümmern sich um die Zubereitung der Mahlzeiten und den Transport der Zelte.“ Frank schien ein wenig enttäuscht. „Wenn uns jede Mühe abgenommen wird, ist es doch keine Abenteuertour!“ Solche Diskussionen waren Miguel nicht fremd. Gerade, als er in scherzhaftem Ton vorschlagen wollte, dass Frank, sollte er während der Tour nicht ausgelastet sein, sich ja gerne nützlich machen könne, kam ihm Torsten zuvor. „Ich verstehe eure Probleme nicht. Es steht doch alles in der Tourenbeschreibung, die ihr bekommen habt.“ „Und ich verstehe nicht, warum Sie sich da überhaupt einmischen“, entgegnete Heike in eisigem Ton. „Es ist die Aufgabe des Guides, derlei Fragen zu beantworten.“ Mit ausdrucksloser Miene nahm Torsten die Kritik entgegen. Nur an der Anspannung seiner Kiefermuskulatur war zu erahnen, was in ihm vorgehen mochte. Miguel unterbrach die Diskussion und kam auf den anstrengendsten Teil der Etappe, den Aufstieg auf das Hochplateau des Roraima, zu sprechen. „Es geht steil bergauf. Nehmt daher nur das Nötigste mit, Richtwert sind zehn Kilo. Auf dem Plateau bleibt euch genügend Zeit für eigene Erkundungen. Ihr werdet einmalige Gesteinsformationen, Schluchten, Höhlen und eine kaum vorstellbare Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten vorfinden. Eine Besonderheit sind die fleischfressenden Pflanzen oder Karnivoren, wie sie bezeichnet werden.“ Der Begriff Karnivoren schien für Magnus das Stichwort zu sein. Er ließ es sich nicht nehmen, über sein Lieblingsthema zu dozieren. Lächelnd betonte er, dass er selbst sich ausschließlich von Pflanzen ernähre, also Veganer sei. Während dieser Umstand die anderen Teilnehmer nicht interessierte, sah Miguel Komplikationen bei der Verpflegung auf sich zukommen. Dafür musste eine Lösung gefunden werden. Etwas verärgert über diese neue Problematik und weil deren Verursacher noch immer selbstvergessen über die verschiedenen Arten der Karnivoren referierte, schaute er in die Runde. Dabei registrierte er, dass Torsten kurz davor war, zu explodieren, und auch Franks Geduld zu Ende ging. Genervt verdrehte er die Augen. Was Jens dachte, war schwer zu erahnen. Den Blick auf Magnus gerichtet, hörte er mit ausdrucksloser Miene zu. Caro schien mit ihren Gedanken weit entfernt. Neben Heike Eckert, die nur mit Mühe eine bissige Bemerkung unterdrückte, saß Britta und schaute betreten zu Boden. Die Situation war ihr sichtlich peinlich. Unterschiedlicher konnten die beiden Frauen kaum sein, fand Miguel. Wie Schneeweißchen und Rosenrot, nur dass die Charaktere in diesem Fall vertauscht schienen. Bei derartigen Betrachtungen war ihm entgangen, dass Magnus seinen Vortrag beendet hatte. In die plötzliche Stille hinein verkündete Torsten: „Also, wenn es keine weiteren Fragen oder Hinweise gibt, machen wir doch einfach Schluss für heute.“ Er stand auf und griff nach seiner Jacke. Die anderen sechs Augenpaare waren auf Miguel gerichtet. „Sorry, ich war gerade in Gedanken. Ja, dann sehen wir uns wie besprochen übermorgen direkt am Terminal wieder. Ich freue mich auf euch und auf die kommende Tour.“ Beim Verabschieden gab er jedem die Hand. Und als Bestätigung seiner Beobachtungen nahm er Heikes festen Händedruck wahr, der im Widerspruch zu ihrer äußeren Erscheinung stand. Noch kräftiger war der von Torsten. Britta schüttelte ihm mit einem „Danke für die Erläuterungen“ die Hand. Magnus gab ihm seine eher flüchtig, und Frank verabschiedete sich wie erwartet mit einem betont lässigen Handschlag. Miguel bedauerte, dass er den von Jens und Caro kaum wahrgenommen hatte. Er war abgelenkt durch eine Bemerkung, die Torsten im Hinausgehen fallen ließ. Und es klang nicht nett. „Na, wie war’s?“, erkundigte sich Jo Meysner, als Miguel in dessen Büro kam. „Na wie schon. Vermutlich werde ich mich wieder mal mit einem ambitionierten Extremsportler, einem verhinderten Führungstypen und einem belesenen Klugscheißer, der zu allem Übel auch noch ein eingefleischter Veganer ist, herumschlagen müssen. Neu in der Runde sind diesmal ein bissiges Schneeweißchen und ein naives Rosenrot.“ Jo wusste sofort, wen er meinte.
Tagebucheintrag 04. März
Heute fand die Vorbesprechung zur Roraima-Reise statt. Für einen winzigen Augenblick hatte ich meine Emotionen nicht unter Kontrolle, denn auf die Begegnung war ich nicht vorbereitet. Themenschwerpunkte bei dem heutigen Treffen waren das Konzept von Special Travels, ein gegenseitiges Kennenlernen und letzte organisatorische Hinweise, wobei einige Missverständnisse ausgeräumt werden mussten. Übermorgen geht es in aller Frühe los. Nach einem dreizehnstündigen Flug erreichen wir, ein Zwischenstopp und die Zeitverschiebung eingerechnet, am späten Nachmittag Caracas und fliegen im Anschluss mit einer Chartermaschine weiter bis nach Santa Elena. Nach einer Übernachtung im Hotel bringt uns ein Jeep zum Pemón-Dorf Paraitepuí. Von dort aus wandern wir in einem vier- bis fünfstündigen Fußmarsch durch die Gran Sabana zum Camp am Kukenan-Fluss. Dort werden wir die Nacht in Zelten verbringen.
Persönliche Aufzeichnungen, 04. März
Und hier meine Empfindungen, die nicht zum Reisebericht passen. Ich werde sie in dieser Form verfassen: Es war die Stimme, an der ich ihn erkannte. Erst danach entdeckte ich in seinen Gesichtszügen den Menschen, der mein Leben von Grund auf zerstörte. Und augenblicklich spürte ich in mir wieder den tiefen Hass, den ich längst überwunden glaubte. Jedes Detail kehrte zurück, nichts war vergessen. Eine Sekunde lang nahm ich an, dass auch er mich wiedererkannte. Nur einmal bin ich ihm persönlich begegnet. Damals schenkte er mir kaum Beachtung, und so blieb ich ihm vermutlich nicht in Erinnerung. Dieser Umstand kommt mir nun zu Hilfe. Nur nicht wegducken, war mein erster Impuls, als ich ihn heute nach all den Jahren wiedersah. Und so gelang es mir, mich der Situation entsprechend zu verhalten.
Ankunft in Santa Elena
Britta war mit dem Umpacken ihres Reisegepäcks noch immer nicht fertig. Das Reduzieren auf die empfohlenen zehn Kilo Tragegewicht fiel ihr schwer. Erschöpft warf sie sich auf den freien Sessel in dem engen Hotelzimmer. „Ich bin völlig kaputt von dem langen Flug.“ Heike Eckert sah sie verständnislos an. „Wir haben doch den ganzen Tag nur gesessen und gegessen. Ich muss mich jetzt bewegen.“ Ihr Rucksack stand fertiggepackt neben dem Bett. Britta seufzte. Die permanente Effizienz der anderen ging ihr zunehmend auf die Nerven; sie unterstrich ihre eigene Unzulänglichkeit. Doch was blieb ihr anderes übrig, als sich mit der Situation zu arrangieren? Lieber hätte sie das Zimmer mit Caro geteilt. Aber die hatte das Einzelzimmer bekommen. „Sind sie denn gar nicht müde?“ Noch immer waren sie beim unpersönlichen Sie. Eine Antwort erhielt sie nicht, denn Heike Eckert verließ das Zimmer. Britta quälte sich aus dem Sessel und betrat das kleine Bad. Nachdem sie geduscht und die Kleidung gewechselt hatte, fühlte sie sich ein wenig besser und streckte sich auf ihrer Seite des schmalen Doppelbettes aus. Sie musste wohl ein wenig eingeschlafen sein, denn ein lautes Klopfen riss sie aus ihrem Traum. „Fertigwerden zum Abendessen!“ Es war Miguel. Gleich darauf pochte er an der nächsten Tür.
Später dann, nach einem reichlichen Abendessen, saß die Gruppe in der kleinen Lounge des Hotels beisammen, und Miguel stimmte alle auf den Start am nächsten Morgen ein. „Pünktlich um acht geht’s los. Das heißt, dass wir uns spätestens um sieben zum Frühstück treffen und kurz vor acht startklar sein müssen. Zwei Jeeps werden uns durch die Gran Sabana bis zu dem 1.000 Meter hoch gelegenen Indianerdorf Paraitepuí bringen. Auf der Fahrt dorthin können wir in der Ferne schon die Tafelberge sehen. Allerdings sind sie meistens nebelverhangen.“ „Wie lange wird die Anfahrt dauern?“ „Ungefähr zwei Stunden. In Paraitepuí nehmen wir ein leichtes Mittagessen ein, danach beginnt die erste Etappe der Trekking-Tour. Wir wandern circa dreizehn Kilometer durch die Gran Sabana und erreichen am zeitigen Abend das Camp am Rio Kukenan. Dort erwartet uns ein warmes Abendessen. Auch die Zelte sind schon aufgebaut.“ „Das klingt alles sehr nach Komfort“, monierte Frank. „Müssen wir überhaupt noch was selber machen?“ „Ja, eure Beine in Bewegung setzen und später einige Höhenmeter überwinden“, erwiderte Miguel trocken. „Gibt es sonst noch Fragen?“ Jetzt meldete sich Britta. „Du hast davon gesprochen, dass wir auf der Tour nicht mehr als zehn Kilo mitnehmen sollen. Wo lassen wir den Rest des Gepäcks?“ Torsten rollte genervt mit den Augen. „Es wurde doch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es hier in Santa Elena bleibt.“ Als Britta daraufhin betreten schwieg, sprang ihr Miguel bei. „Die Frage ist durchaus berechtigt. Alles überflüssige Gepäck deponieren wir in einem Raum hier im Hotel.“ Sie bedankte sich bei ihm mit einem kleinen Lächeln. Da alle von der langen Anreise abgespannt und offensichtlich gereizt schienen, beendeten sie bald ihr abendliches Beisammensein und zogen sich zurück. Für diese Nacht teilten sich Frank und Jens ein Zimmer, Torsten und Magnus das andere. „Woher kommt eigentlich der Vorname Magnus? Ich habe ihn bisher nur selten gehört.“ „Aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie groß an Geist“, erklärte er mit einem schiefen Grinsen. „Erspar dir alle Witze darüber, die wurden schon von meinen Mitschülern gemacht.“ Dann schwiegen beide. Jeder widmete sich seinen Aufzeichnungen über den heutigen Tag. Im Zimmer nebenan regte sich Britta auf: „Ich finde seine Art beleidigend und unverschämt. Wenn er so weitermacht, drehe ich ihm irgendwann den Hals um!“ Heike Eckert wusste, dass sie von Torsten sprach. „Davon würde ich dringend abraten.“ „Wieso?“ „Er ist zu dick. Ich meine seinen Hals.“ Momentan war Britta für Ironie unempfänglich. Aufgebracht fuhr sie fort: „Ich wage kaum noch, eine Frage zu stellen. Sofort stellt er mich als dämlich hin.“ „Jetzt lassen Sie sich doch nicht so verunsichern! Der wartet doch nur darauf, dass Sie auf die Provokationen eingehen.“ Heike stand auf und packte ihr Tablet weg. „Vielleicht ist es nur seine persönliche Art, Kontakt aufzunehmen“, schob sie sarkastisch nach. „Ganz bestimmt! Einen geschickteren Annäherungsversuch kann ich mir kaum vorstellen!“ Unterdessen hatte sich Heike entkleidet und ging ins Bad. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. Mit einem schiefen Lächeln behauptete sie: „Er mag Sie.“ Britta musste lachen. Diese Art von Humor hätte sie Heike Eckert gar nicht zugetraut. Für einen Moment hing sie ihren Gedanken nach, dann nahm sie ihren Laptop und begann zu schreiben. Zehn Minuten später, als Heike frisch geduscht und mit feuchtem Haar zurück ins Zimmer kam, hatte sie sich bereits auf ihrer Seite des Doppelbettes ausgestreckt und gähnte. Kurz darauf schlief sie ein. Heike dagegen lag noch lange wach und starrte in das Halbdunkel des Zimmers. Schließlich stand sie leise auf und nahm die Hälfte einer Schlaftablette. Ohne diese kam sie immer seltener aus.
Tagebucheintrag, Ankunft in Santa Elena
Ohne nennenswerte Zwischenfälle absolvierten wir den Flug bis Caracas. Dort empfingen uns wie erwartet angenehme 25 Grad Celsius. Am späten Nachmittag, als wir in Santa Elena ankamen, war es spürbar wärmer, fast heiß. In dem kleinen Hotel sind wir komfortabel untergebracht. Morgen wird es dann mit leichterem Gepäck vom 1.000 Meter hoch gelegenen Paraitepuí auf einem vierstündigen Fußmarsch durch die Gran Sabana in Richtung Roraima gehen. Die Wanderung durch die hügelige Hochebene sollte problemlos zu bewältigen sein. Im Camp am Rio Kukenan wird uns ein großartiger Ausblick auf die Tafelberge erwarten.
Persönliche Aufzeichnungen, 06. März
Ich habe mich dabei ertappt, wie ich den Blickkontakt meide, ihn aber dennoch beobachte. Die Ereignisse zu jener Zeit traten im Laufe der Jahre in den Hintergrund. Doch nie vergaß ich die ohnmächtige Wut, die ich damals empfand. Jetzt ist alles wieder gegenwärtig. Gleich nachdem ich ihn bei unserer ersten Zusammenkunft wiedererkannte, reifte in mir ein Plan. Bis zur Abreise blieb mir nur ein Tag, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Nun verspüre ich immer dringlicher den Wunsch nach Vergeltung.
Weiter durch die Gran Sabana
Zunächst verlief die Fahrt über eine gutausgebaute Asphaltstraße in Richtung Norden, später dann wurde der Weg ruppiger und ging schließlich in eine Schotterpiste über. Sie fuhren durch die Gran Sabana, in der Ferne kamen die wolkenverhangenen Bergmassive in Sichtweite. Nach reichlich zwei Stunden Fahrt hatte die Gruppe das Indianerdorf Paraitepuí, den Ausgangspunkt ihrer Wanderung, erreicht. Als erste sprangen Miguel und die beiden Fahrer aus den Jeeps. „Von hier aus könnt ihr schon den Kukenan-Tepui und das Roraima-Massiv sehen. Sie wirken zum Greifen nah, aber die Distanz täuscht.“ Nachdem sich die Gruppe ein wenig im Dorf umgeschaut hatte, gab es ein leichtes Mittagessen in Form von Sandwiches und Obst. Danach luden die beiden Fahrer die Rucksäcke aus. „Auf geht’s zu unserem ersten Etappenziel, dem Camp Kukenan.“ Miguel schaute ermunternd in die Runde und gleich darauf besorgt auf Brittas prallgefüllten Rucksack. „Jedes Kilo zu viel wird dich während der Tour belasten.“ „Und dies sicher nicht nur hinsichtlich des Gepäcks.“ Mit hochrotem Gesicht wandte Britta sich ab. Sie wusste, dass Torsten auf ihre Figur anspielte. „Wenn du möchtest, kann ich was zu mir in den Rucksack nehmen.“ Als Britta für einen Moment zögerte, drängte Frank: „Nun komm schon. Ich meine es ernst.“ „Danke, das ist wirklich nett.“ Etwas verlegen packte sie hastig ihre Regenjacke und das Badezeug um. Dabei entging ihr nicht Torstens nächste Bemerkung, dass wohl jeder in der Lage sein sollte, seinen Krempel selber zu tragen. Aber noch bevor sie etwas erwidern konnte, beteuerte Frank, dass er sowieso nicht ausgelastet sei und das zusätzliche Gewicht als sportliche Herausforderung betrachte. Miguel hatte Torstens Bemerkungen gehört. Bei nächster Gelegenheit würde er ihn beiseitenehmen und ein paar passende Worte sagen. Aber jetzt mussten sie erst einmal los. Im Umdrehen rief er den anderen zu, dass jeder sein eigenes Tempo finden müsse, er selbst aber alle im Auge behalten und bei Bedarf entsprechende Pausen einlegen würde. Dann lief er, dicht gefolgt von Jens, Frank und Torsten, in mäßigem Tempo voran. In etwas größerem Abstand folgte Caro. Unschlüssig schaute Britta sich nach Heike Eckert um. Gerade als sie sich ihr anschließen wollte, zog diese zügig an ihr vorbei. Sie hörte Magnus’ Stimme neben sich. „Ich kann’s noch gar nicht fassen! Jetzt sind wir tatsächlich hier.“ Begeistert deutete er in Richtung der Tafelberge, die sich in der Ferne wie Festungen aus der weiten Ebene erhoben. Über Britta ergoss sich eine Flut an Informationen über die Beschaffenheit des Hochplateaus. Nur mit halbem Ohr hörte sie zu und lief schweigend neben ihm her. Die Wanderung durch die Savannenlandschaft mit ihrem leichten aber steten Anstieg strengte sie zusehends an. Auch Magnus musste irgendwann mit seinen Kräften haushalten. Endlich versiegte sein Redefluss.
Am frühen Nachmittag erreichten sie die erste Flussüberquerung. Frank saß barfuß am Ufer und wartete. Kurz nach ihm trafen auch die anderen ein. Miguel drehte sich besorgt nach Magnus und Britta um. Aber auch sie kamen wenig später hinzu. Beide hatten gerötete Gesichter, Magnus, da ihm die Hitze zu schaffen machte, und Britta vor Anstrengung und weil sie weitere Bemerkungen von Torsten befürchtete. Aber dieser schenkte ihr keine Beachtung, sondern hatte seinen Blick auf die Tafelberge gerichtet. Sie schienen zum Greifen nah. „Wie lange schätzt du noch?“ „Ich denke, in einer reichlichen Stunde sind wir am Camp Kukenan. Passt bei der Flussüberquerung auf, dass ihr nicht wegrutscht. Ihr solltet vorsichtshalber Socken anziehen.“ Sie begannen, durch die Strömung zu waten. Britta biss die Zähne zusammen und stieg durch das eiskalte Wasser, immer darauf bedacht, auf den glatten Steinen nicht auszugleiten oder anderweitig auf sich aufmerksam zu machen. Endlich hatte auch sie das gegenüberliegende Ufer erreicht. Die Gruppe legte eine Pause ein und trocknete die Füße in der Sonne. Auf der bisherigen Wegstrecke hatten sie immer wieder kleine Zwischenstopps eingelegt, um die spektakuläre Landschaft mit ihrer seltenen Flora zu fotografieren. Magnus nutzte die Pausen, um zu zeichnen. Auch jetzt saß er etwas abseits und hatte einen kleinformatigen Skizzenblock vor sich. Mit zügigen Strichen brachte er das Wesentliche zu Papier. Dann ging es weiter. Der Weg führte nun beständig bergan. Eine Weile lief Miguel neben Frank an der Spitze der Gruppe, doch dann ließ er sich zurückfallen, bis er auf gleicher Höhe mit Torsten war. „Auch wenn dir’s schwerfällt, Torsten, halte dich bitte mit bissigen Bemerkungen zurück. Sie vermiesen die Stimmung.“ Verärgert erwiderte er: „Ich persönlich habe mich schon lange vor Beginn der Roraima-Tour gründlich vorbereitet. Das Gleiche erwarte ich auch von den anderen. Diese blöde Fragerei ist einfach nervig. Außerdem sollte sich jeder vorher darüber im Klaren sein, ob er der körperlichen Herausforderung überhaupt gewachsen ist. Wenn das nicht der Fall ist, kann man eben nicht an solch abenteuerlichen Touren teilnehmen. Die ganze Reise war teuer genug, und ich möchte sie jetzt genießen.“ „Irgendwie müssen wir in den nächsten Tagen alle miteinander auskommen. Ich fände es durchaus in Ordnung, wenn die Herren den drei Frauen in schwierigen Situationen auch mal helfen.“ Sofort schoss Torsten dagegen: „Die dürre Blonde ist zäh wie eine Bergziege, die kommt bestens alleine klar. Auch die Große, Caro oder wie sie heißt, braucht keine fremde Hilfe. Aber die zimperliche Dicke geht mir gewaltig auf die Nerven. Außerdem ist sie empfindlich wie eine Mimose.“ „Hast du was gegen Frauen?“ „Im Gegenteil. Ich war jahrelang mit einer verheiratet.“ „Kaum zu glauben“, erwiderte Miguel lakonisch. Dann lief er zügig weiter und setzte sich wieder an die Spitze der Gruppe.
Nach einer reichlichen Stunde hatten sie das Camp erreicht. Die Temperatur war hier deutlich kühler und angenehmer als in den Weiten der Savanne, die sie in der fünfstündigen Wanderung durchquert hatten. Wie von Miguel angekündigt, standen die Zelte schon da. Er ging hinüber zu den Pemón-Indianern, die mit der Zubereitung der Mahlzeiten beschäftigt waren. Auf Spanisch besprach er mit ihnen den weiteren Ablauf des Abends. Bald darauf kehrte er zur Gruppe zurück. „Ihr könnt die Rucksäcke jetzt in den Zelten unterbringen. Wer möchte, kann noch ein kühles Bad im Rio Kukenan nehmen.“ In der Annahme, dass er das Zelt mit Jens teilen würde, stellte Frank sein Gepäck ab. Umso erstaunter war er, als Magnus wenig später durch die Öffnung schaute. „Es ist dir doch recht?“, erkundigte er sich höflich. „Ja … klar.“ Bald darauf stiegen alle, außer Britta und Magnus, in den Rio Kukenan. Auch Britta hätte sich gerne nach der langen Wanderung ein wenig abgekühlt, doch vor Torsten wagte sie sich nicht im Badeanzug zu zeigen. Eine halbe Stunde später gab es ein warmes Abendessen. Es schmeckte hervorragend. „Und du willst wirklich auf die gebackenen Schweinelenden und all die herrlichen Käsesorten verzichten?“, fragte Britta ungläubig. Aber Magnus winkte ab. „Es gibt doch noch so viel anderes ohne tierische Zutaten, die Bohnen- und Linsengerichte zum Beispiel, oder die frittierten Kochbananen und Maisfladen. Außerdem hat das Essen bei mir nicht die Priorität …“ „... die es für dich hat“, ergänzte Torsten mit einem Blick in Brittas Richtung. Jens stieß ihn an. „Das war nicht nett.“ „Ich bin nicht nett!“ Die Gespräche am Tisch zogen sich nur schleppend dahin. Selbst das venezolanische Bier vermochte nicht die angespannte Stimmung aufzulockern. Nur Miguel und Magnus bemühten sich um gemeinsame Gesprächsthemen und kamen bald auf den folgenden Tag und die Besonderheiten, die sie übermorgen auf dem Roraima erwarten würden, zu sprechen. Magnus begann wieder über die verschiedenen Orchideenarten, Flechten und Gräser zu referieren. „Die hohe Steilwand und das andere Klima auf dem Hochplateau haben zu einer Isolation gegenüber dem Regenwald und der Savanne geführt. Das ist auch der Grund dafür, warum fast alle Organismen endemisch sind.“ „Was bedeutet eigentlich endemisch?“, erkundigte sich Britta. Als hätte Torsten nur auf diese Frage gewartet, meinte er mit einem boshaften Lächeln: „Magnus erklärt es sicher gern nochmal.“ Doch der schwieg dazu. Also dozierte Torsten selber: „In der Biologie bedeutet der Begriff das Auftreten von Pflanzen und Tieren in einer bestimmten, klar abgegrenzten Umgebung.“ „Wortwörtlich auswendig gelernt. Alle Achtung!“ Heike hatte den entsprechenden Eintrag unterdessen bei Wikipedia gefunden und mit Torstens Erklärung verglichen. An diesem Punkt beendete Miguel das Beisammensein. Er stand auf und wünschte eine gute Nacht. Auch Britta ging zum Zelt. Sie brauchte noch ein paar Minuten für sich alleine. Als Heike Eckert wenig später hinzukam, bedankte sie sich bei ihr. „Wofür?“, fragte sie verwundert. „Dafür, dass Sie ihm Kontra gegeben haben.“ „Ich verstehe nicht, warum Sie das nicht selber tun“, erwiderte sie knapp. Damit war das Thema für sie erledigt. Beide holten ihre Tablets hervor und schrieben die Eindrücke des heutigen Tages nieder. Torstens neuerliche verbale Attacken erwähnte Britta mit keinem Wort. Daran wollte sie sich später nicht erinnern. Nach ein paar Minuten steckte sie ihr Gerät weg, kroch in den Schlafsack und schlief bald darauf ein. Im Nachbarzelt beging Frank den Fehler, noch einmal nachzufragen, woher Magnus seine detaillierten Kenntnisse hatte. „Ich habe viel Fachliteratur dazu gelesen, weil mich die Tafelberge schon immer interessierten. Als Junge habe ich den Roman von Arthur Conan Doyle The Lost World regelrecht verschlungen. Obwohl darin nie der Name des Roraima erwähnt wird, ist er aber eindeutig gemeint. Lange Zeit wurde darüber spekuliert, ob man auf dem Tafelberg auch ausgestorbene Tierarten finden würde.“ Minutenlang dozierte er über die Pflanzen- und Tierwelt, die sie oben erwarten würde, bis Frank mit einem knappen „Na fein, das werden wir ja alles sehen“ die langatmigen Erläuterungen unterbrach. In der folgenden halben Stunde widmeten sie sich schweigend ihren Aufzeichnungen und Fotografien. Dann steckte Frank seinen Laptop weg und streckte sich auf der Isomatte aus. Magnus schien wieder mal kein Ende zu finden, er blätterte unschlüssig im Skizzenblock und ergänzte hier und da ein Detail. Nach fünf Minuten schaltete er die Beleuchtung aus und legte sich ebenfalls hin. Wie die Nächte zuvor lag Heike noch lange wach. Neidvoll vernahm sie Brittas leise Schnarchgeräusche. Schließlich suchte sie in ihrer Kulturtasche nach den Schlaftabletten. Durch das Rascheln in ihrem Schlaf gestört, wälzte sich Britta auf die andere Seite. Aber gleich darauf waren wieder ihre gleichmäßigen Atemzüge zu hören. Endlich fand Heike die Schachtel, drückte eine Schlaftablette heraus und zerteilte sie. Doch an ein Getränk, um sie schlucken zu können, hatte sie nicht gedacht. Mit Widerwillen zerbiss sie die halbe Tablette und würgte sie herunter. Die trockene Substanz blieb an ihrem Gaumen kleben und löste einen Hustenanfall aus. Erschrocken fuhr Britta hoch. „Was ist denn los?“ Aber augenblicklich erkannte sie die Situation und griff nach ihrer Wasserflasche. „Hier, versuch mal, was zu trinken!“ Hastig nahm Heike ein paar kräftige Schlucke. Endlich gelang es ihr, die Tablettenreste hinunter zu spülen. Übrig blieb ein ekeliger, bitterer Geschmack im Mund. Als Heike wieder zu Atem kam, fragte Britta: „Woran hast du dich denn so fürchterlich verschluckt?“ Versehentlich war sie zum Du übergegangen. „Ich hatte eine Tablette genommen.“ In der Zwischenzeit war Miguel aus seinem Zelt gekrochen und leuchtete mit der Taschenlampe in Richtung des Damenzeltes. „Braucht ihr Hilfe?“ Heike verneinte und betonte, dass alles wieder in Ordnung sei. Die Sache war ihr peinlich. Irgendwann, weit nach Mitternacht, schlief sie endlich ein.
Tagebucheintrag, von Paraitepuí bis zum Camp Kukenan
Nach einem leichten Mittagessen in dem Pemón-Dorf Paraitepuí ging es zu Fuß durch die Savannenlandschaft der Gran Sabana. In der Ferne waren schon die nebelverhangenen Tafelberge einschließlich des Roraima zu sehen. Die Flussüberquerung bewältigten wir problemlos. Nach einer fünfstündigen Wanderung, Pausen eingerechnet, erreichten wir unser Camp. Wer wollte, konnte noch ein Bad im Kukenan nehmen. Das vorzügliche Abendessen entschädigte für die Mühen der anspruchsvollen Wanderung.
Persönliche Aufzeichnungen, 07. März
Es muss an jenem Tag begonnen haben, als sie ihm zum ersten Mal begegnete. Ich hatte keine Ahnung, wo es war, vermutlich auf diesem Kongress. Von da an schien sie wie verändert. Eine Zeit lang wusste ich nicht, woran es lag, bis ich die Ursache erkannte: Sie hatte sich verliebt. Wanda, der ich mich so eng verbunden fühlte, war mir plötzlich fremd geworden. Bislang hielt ich sie für eine lebenskluge Frau. Doch dann begann ich an ihrem kritischen Urteilsvermögen zu zweifeln. Ganz eindeutig hatte er sie mit seiner charismatischen Art geblendet und mit Leichtigkeit um den Finger gewickelt. Sie vertraute ihm mehr als mir und verletzte mich damit zutiefst. Eifersucht gepaart mit Misstrauen ergibt eine explosive Mischung. Im Nachhinein muss ich gestehen: Ich verhielt mich ihr gegenüber mitunter ungerecht und reagierte oft ungehalten. Und dieser Umstand trug letztendlich dazu bei, dass sie sich immer mehr von mir entfernte. Obwohl ich das Unheil kommen sah, traf es mich dann mit voller Wucht.
Aufbruch zum Base Camp
Überrascht schaute Frank aus dem Zelt: Um ihn herum war dichter Nebel. Unter lauten Unmutsäußerungen krochen nun auch die anderen aus ihren Zelten. „Damit müssen wir hier rechnen. Aber wartet’s ab: Nach dem Frühstück kann es schon wieder ganz anders aussehen.“ Miguel wusste wovon er sprach, und er behielt Recht. Nachdem alle reichlich gefrühstückt und sich auf die heutige Etappe eingestimmt hatten, schien bald wieder die Sonne. Allen war bewusst, dass ein anstrengender Tag bevorstand. Es würde ständig bergauf gehen, und zwei Flüsse müssten überquert werden, der Rio Tek und der Rio Kukenan. „Du hast die ganze Zeit kein Wort gesagt“, stellte Heike fest. Mit einer knappen Kopfbewegung deutete Britta in Richtung Torsten, der einige Meter vor ihnen lief. Fast neidvoll nahm sie zur Kenntnis, dass Caro ganz offensichtlich kein Problem mit ihm zu haben schien. Beide wanderten nebeneinander und unterhielten sich angeregt. „Ignorier ihn doch einfach“, empfahl Heike, dann beschleunigte sie ihr Schritttempo, bis sie auf gleicher Höhe mit Miguel und Frank war. Bald kamen sie am ersten Fluss an und überquerten ihn ohne größere Schwierigkeiten. Wenig später dann, beim Rio Kukenan, wurde es weitaus komplizierter. Der Wasserstand war höher als bei dem kleineren Rio Tek. Hier erwies sich die Durchquerung als echte Herausforderung, zumal die Strömung das Waten im Wasser erschwerte und die Tiefe nur schwer abzuschätzen war. Miguel behielt alle im Auge und hielt sich bereit, zu helfen. Mit einem Aufschrei glitt Britta auf einem Stein aus und landete im kalten Wasser. Sofort versuchte Miguel, zu ihr zu gelangen. Doch vor ihm war Frank zur Stelle, reichte ihr die Hand und zog sie ans Ufer. Britta vermied es, in Torstens Richtung zu schauen. Aber der widmete sich seiner Fotoausrüstung, die er, wie von Miguel empfohlen, wasserdicht verpackt hatte. Die Sonne trocknete die nassgewordene Kleidung schnell, und nach einer zehnminütigen Rast ging es weiter, stetig bergauf. An einem Orchideenfeld hielten sie inne. „Hier, eine riesige Karnivore!“, rief Magnus begeistert. „Wie ernährt sie sich eigentlich?“ „Meist fangen sie Insekten oder sogar kleine Frösche mit Klebe- oder Klappfallen. Wenn sich die Beute den beiden Blatthälften nähert …“, er demonstrierte den Vorgang mit seinen nebeneinandergelegten Handflächen, „… dann wird das Insekt mit einer schnellen Schließbewegung eingefangen. Das ist die seltenere Form der Fangmethoden. Es gibt nämlich auch noch die Fallgrubenfallen …“ „Lass mal gut sein“, unterbrach ihn Frank, und Miguel mahnte zum Weitergehen. „Wir haben noch eine gewaltige Strecke vor uns. Insgesamt werden es elf Kilometer sein, immer bergan.“ Die Vegetation wurde merklich üppiger und ging in einen dichten Urwald über. Nicht weit vor ihnen tauchten Nebelfelder auf, die sich an den steilen Wänden des Roraima festhielten. Nach einer knappen Stunde hörten sie Stimmen und entdeckten wenig später auf einer kleinen Lichtung die Pemón-Indianer. Sie hatten einen Mittagslunch vorbereitet. „Im Base Camp gibt es dann ein warmes Abendessen“, versprach Miguel. „Das ist ja Service pur!“ „Ich nenne es Verhätschelung“, war Franks nicht ganz ernst gemeinter Kommentar dazu. „Du kannst dir ja Kröten oder Schlangen fangen.“ „Schlangen?!“ Britta sprang entsetzt auf. „Es sind nur kleine, und die verschwinden, wenn sie dich hören.“ Die Bemerkung kam von Torsten. Immerhin war der zynische Ton verschwunden, es klang eher nach gutmütigem Spott. Nach dem Mittagslunch brachen sie bald wieder auf. Das Gelände wurde immer unwegsamer und führte steil bergauf über kantiges Gestein. Unter Zuhilfenahme der Hände arbeiteten sie sich beständig höher. Am leichtfüßigsten schien Heike den Anstieg zu bewältigen. Immer war sie den anderen ein paar Meter voraus. „Ich sagte ja, wie eine Bergziege.“ In gleicher Höhe mit Torsten stieg Miguel scheinbar mühelos über das Gestein. Dicht hinter ihnen mühte sich Britta ab und haderte vor dem nächsten Schritt. Mit den Augen suchte sie nach einem festen Halt. Fast gleichzeitig reichten ihr beide Männer die Hand. Sie ergriff die von Miguel, Torstens ignorierte sie.
Westlich von ihnen sahen sie den Zwillingstafelberg des Roraima, den Tepui Kukenan mit seinem sechshundert Meter hohen Wasserfall. „Hier legen wir wieder einen Stopp ein. Wo bleibt eigentlich Magnus?“ Es dauerte Minuten, bevor er in Sichtweite kam. Mit einem entschuldigenden Lächeln erklärte er, dass er zwischendurch nochmal skizziert habe. „Wir müssen zusammenbleiben“, mahnte Miguel. Diesmal klang er ungehalten. Minutenlang stand die Gruppe am Hang und bewunderte den Blick auf den Wasserfall. „Er wurde übrigens durch die Verfilmung von Arthur Conan Doyles Roman berühmt“, wusste Magnus zu berichten. „Stimmt. Der Salto Kukenan ist ein nicht permanenter Wasserfall. Er entspringt in 2.650 Metern Höhe auf dem Plateau des Tepui Kukenan“, ergänzte Miguel. „Bevor wieder jemand nachfragt, was ein nicht permanenter Wasserfall ist, kann ich gerne mit meinem angelesenen Wikipedia-Wissen dienen.“ „Danke, Torsten, es fragt keiner.“ Dann ging es weiter. Der Rest der Etappe fiel allen etwas leichter. Nach einer Stunde erreichten sie das Base Camp. Auf wundersame Weise waren auch diesmal wieder die einheimischen Begleiter schon vor Ort, hatten die Zelte aufgebaut und bereiteten gerade das Abendessen vor. Als Hauptgericht gab es Arepas, einen Teig aus Mais, Wasser und Salz, dazu geschmortes Fleisch, Zwiebeln, Oliven und Kapern. Als Getränk wurde Polar, ein mildes venezolanisches Bier gereicht. Plötzlich äußerte Torsten: „Irgendwie finde ich es unpassend, dass sich Frau Eckert mit Britta duzt und mit allen anderen per Sie ist.“ Er hatte sein Glas bereits erhoben. Zum ersten Mal dieser Tage hatte Heike etwas Farbe im sonst blassen Gesicht. Immerhin griff auch sie zum Glas. „Da muss ich Ihnen recht geben.“ Dann stieß sie nacheinander mit allen an. Torsten überging sie dabei. Mit einem gleichgültigen Schulterzucken nahm er es zur Kenntnis und wandte sich an Miguel. „Fotografierst du eigentlich noch bei jeder Tour?“ „Ja, ich stelle eine Fotostory mit aktuellen Bildern und einem kurzen Reisebericht zusammen. Ihr könnt gerne euer eigenes Bildmaterial mit einarbeiten. Auch Textbeiträge und Magnus’ Skizzen sind willkommen. Zum Ende der Tour gebe ich euch dann das Passwort, um die Datei runterzuladen.“ Die Gruppe saß noch eine Weile beisammen. Diesmal war die Stimmung viel entspannter als die Abende zuvor, sie war fast ausgelassen. Torsten ließ keine Gelegenheit aus, Heike demonstrativ mit ihrem Nachnamen anzureden. Ihr spöttisches Lächeln ertrug er mit Gleichmut. Alle schienen bester Laune und in Vorfreude auf den nächsten Tag zu sein. Erst als es empfindlich kühl wurde, zog sich jeder in sein Zelt zurück. Diesmal hatte Heike rechtzeitig an eine Flasche Mineralwasser gedacht, nahm eine halbe Schlaftablette und drehte sich auf die von Britta abgewandte Seite. Einschlafen konnte sie trotzdem nicht. Wieder lauschte sie in die Dunkelheit hinein und auf die regelmäßigen Atemzüge neben ihr. Etwas weiter entfernt hörte sie die einheimischen Begleiter spanisch reden. In dem Gespräch glaubte sie, Miguels Stimme herauszuhören. Endlich, eingelullt durch die Wirkung der Tablette, die fremden Laute und die Geräusche der Nacht, schlief sie ein.
Tagebucheintrag, vom Camp Kukenan bis zum Base Camp
Nach einem reichhaltigen Frühstück brachen wir zur zweiten Etappe auf. Zum Glück hatte sich der morgendliche Nebel gelichtet. Auch heute ging es zunächst weiter durch die hügelige Savannenlandschaft. Die Durchquerung des Rio Tek bereitete keine Probleme, aber der Rio Kukenan stellte eine echte Herausforderung dar. Später führte der Weg an Orchideenfeldern und fleischfressenden Pflanzen vorbei. Die Vegetation wurde üppiger und der Anstieg merklich steiler. Nach einer weiteren Stunde erwarteten uns die Pemón-Indianer mit einem Mittagslunch. Danach ging es beständig bergan über kantiges Gestein. Der Weg wurde anspruchsvoller, deshalb legten wir hin und wieder Pausen ein. Besonders beeindruckend war der Blick auf den Tepui Kukenan und den Wasserfall. Nach einer Stunde hatten wir das Base Camp dann erreicht. Unmittelbar vor uns ragt die steile Wand des Roraima auf. Der Aufstieg wird uns morgen über die sogenannte Rampe, den einzig begehbaren Weg auf das Hochplateau des Tafelberges führen.
Persönliche Aufzeichnung, 08. März
Als es dann geschah, fühlte ich mich wie gelähmt und war keines klaren Gedankens mehr fähig. Heute bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass er im Voraus alles durchdacht und geschickt arrangiert hatte. Ich gab mich Mordgedanken hin, sie in die Tat umzusetzen, fehlte mir die Möglichkeit. Doch jetzt spielt mir der Zufall in die Hände. Vielleicht ist es auch eine Bestimmung oder Schicksal, dass ich ihm nach all den Jahren ausgerechnet auf dieser Reise wiederbegegne. Ich betrachte dies als unverhoffte Chance, der Gerechtigkeit endlich Genüge zu tun.
Aufstieg auf den Roraima
Wie am Tag zuvor hingen dichte Nebelschwaden über dem Camp und verbargen die Sicht auf die Steilwand des Roraima. „Der Nebel macht die Sache geheimnisvoller“, versuchte Miguel die Gruppe bei Laune zu halten. Diesmal versprach er nicht, dass sich der Himmel bis zum Start aufklären würde. Und zu aller Verdruss setzte ein leichter Nieselregen ein, der bald in einen Schauer überging. Der Tisch, an dem sie frühstückten, war mit Planen überspannt, auf denen die Tropfen erst ein zaghaftes, dann ein immer stärker werdendes Trommelgeräusch erzeugten. Während des Frühstücks gab Miguel noch ein paar Informationen zum Hochplateau des Roraima, das sie nach einer vier- bis fünfstündigen Besteigung erreichen würden. „In aller Kürze, das meiste ist euch vielleicht schon bekannt: Von Geologen wird angenommen, dass sich der Sandstein der Tepuis vor rund zwei Milliarden Jahren gebildet hat. Die Hochebene, auf der sich der Roraima befindet, entstand vor der Trennung des Urkontinentes Gondwana. Als dieser vor etwa 160 Millionen Jahren auseinanderbrach und Südamerika nach Westen driftete, wurde der Sandstein in die Zwillings-Tepuis Kukenan und Roraima geteilt. Eine Theorie besagt, dass dies durch ein gewaltiges Erdbeben geschah.“ Miguel hielt inne und lauschte auf das Geräusch des Regens, der mit unverminderter Heftigkeit auf die Plane, unter der sie saßen, niederging. Alle trugen ihre Regenbekleidung, doch die Nässe kroch durch alle Ritzen und ließ sie frösteln. Selbst der heiße Kaffee vermochte sie kaum aufzuwärmen. Nur Magnus schien von dem ungemütlichen Wetter völlig unbeeindruckt. In Vorfreude auf das Kommende saß er am Tisch, er konnte den Aufbruch kaum erwarten. „Beim Aufstieg wird euch wieder warm werden,“ prophezeite Miguel. „Aber letztendlich verdanken die Tepuis ihre grüne, üppige Vegetation vor allem dem ständigen Nebel und den Regengüssen. Auf manchen Tafelbergen war noch nie ein Mensch. Die Oberflächen wurden bisher nur von Hubschraubern aus fotografiert. Der Tepui Kukenan gilt übrigens als heiliger Berg und darf seit 1997 nicht mehr bestiegen werden. Außerdem wurde der Aufstieg als besonders gefährlich und unfallträchtig eingeschätzt. Aber letztendlich gilt Ähnliches für den Roraima. Ihr werdet heute selbst sehen, dass die Landschaft auf dem Hochtableau keine Hochebene ist, wie man früher annahm, sondern aus Felslabyrinthen mit zum Teil mehreren hundert Meter tiefen Schluchten besteht. Es ist also höchste Aufmerksamkeit geboten. Und bitte keine waghalsigen Unternehmungen auf eigene Faust“, ergänzte er mit einem Seitenblick auf Frank. Noch während er sprach, hatte der Regen nachgelassen und schließlich ganz aufgehört. „Los geht’s“, mahnte er zum Aufbruch. Minuten später hatte ein jeder seinen Rucksack geschultert, und die Gruppe setzte sich in Bewegung. Der Weg führte sie auf einem Pfad aufwärts durch gespenstig anmutende Nebelwälder und ständig wechselnde Vegetation zur Wand des Roraima. Der nun spürbar zunehmende Anstieg bereitete Britta Mühe. Erschöpft hielt sie inne und schaute sich verstohlen um. Hinter ihr war nur noch Magnus zu sehen, der in aller Ruhe fotografierte, vor ihr kraxelten die anderen bergauf, Miguel an der Spitze. Immer wieder blieb er stehen und schaute sich nach der Gruppe um. Als Magnus außer Sichtweite geriet, ließ er sich zurückfallen und ließ die anderen vorbei. Nun führte Frank die Truppe an, direkt hinter ihm lief Heike, dicht gefolgt von Jens, Torsten und Caro. In großem Abstand zu ihnen quälte sich Britta den immer steiler werdenden Pfad hinauf. Bis zur Steilwand würden sie noch eine reichliche Stunde brauchen. Sie schaute zurück und sah Magnus und den Guide nachkommen. Es war offensichtlich, dass beide in gereizter Stimmung waren, Magnus, weil er gemaßregelt wurde, und Miguel, weil er den anderen zum wiederholten Male auffordern musste, nicht absichtlich zurückzubleiben. „Fotografieren kannst du auch später noch. An den interessantesten Stellen legen wir sowieso Pausen ein.“ „Woher willst du wissen, was für mich persönlich interessant ist?“ Miguel antwortete nicht darauf, sondern lief schweigend hinter ihm her. Bald waren sie auf Brittas Höhe. „Stopp, Pause!“, rief er den anderen zu. „Ab jetzt müssen wir zusammenbleiben. Wir erreichen bald den Anstieg über die sogenannte Rampe. Genießt nochmal den herrlichen Ausblick von hier. Es darf auch skizziert werden“, ergänzte er mit einem säuerlichen Lächeln. Magnus stand mit dem Blick abgewandt und schwieg. Der anstrengende Aufstieg führte sie vorbei an Jahrtausende alten Gesteinsformationen und ständig wechselnder Vegetation. Immer wieder legten sie Pausen ein, um ein wenig zu verschnaufen und die grandiose Aussicht zu genießen. „Was ist das hier eigentlich für eine Blüte?“, fragte Torsten. „Eine Mimose.“ „Tatsächlich? Hier, Britta, schau mal! Eine Artverwandte!“ Abrupt kehrte sie ihm den Rücken zu. Sie schaute auf die Weiten der Gran Sabana, die tief unter ihnen lag. „Warum musst du sie immer ärgern?“, fragte Miguel leise. „Eben weil sie sich so schön ärgert.“
Wie von Miguel vorhergesagt, erreichten sie gegen Mittag das Hochplateau und bald darauf auch das Zeltlager, das unter einem Felsvorsprung aufgebaut war. Erschöpft aber glücklich bezogen sie ihre Unterkünfte für die folgenden zwei Nächte. Um das Zelt nicht mit Magnus teilen zu müssen, hatte Torsten diesmal darauf geachtet, wo Jens den Rucksack ablegte, und stellte seinen daneben. Mit ihm verstand er sich am besten. Eine Viertelstunde später trafen sich alle auf dem Platz vor dem Zeltlager und schauten sich um. Vor ihnen lag eine bizarre Welt. „Hier könnten wir ein Gruppenfoto machen“, schlug Miguel vor und gab seine Kamera einem der Träger. „Die Herren bitte nach hinten, die Damen nach vorne.“ Nach einigem Hin und Her und Gelächter rief Britta: „Eigentlich stehe ich nicht gerne vorne! Ich ärgere mich immer, wenn ich mich auf Fotos sehe.“ „Das kann ich gut verstehen.“ Aber noch bevor Empörung über Torstens verletzende Bemerkung aufkommen konnte, legte er seinen Arm um sie und gestand: „Weil es mir genauso geht.“
Nach einem leichten Mittagessen führte Miguel die Gruppe zum Aussichtspunkt La Ventana, hinter dessen überhängender Kante es steil nach unten ging. Von hier aus hatten sie einen grandiosen Blick zum Nachbartafelberg Kukenan. Miguel empfahl, den Nachmittag für einen kleinen Erkundungsausflug zu nutzen. „Die längste Ausdehnung des Hochplateaus beträgt ca. fünfzehn Kilometer. Die werdet ihr ja heute sicher nicht mehr erwandern wollen.“ „Worauf du dich verlassen kannst.“ „Wie schon erwähnt: Fast das gesamte Gelände des Hochplateaus ist im Prinzip ein riesiges Felslabyrinth mit tiefen Schluchten. Es besteht die Gefahr, sich zu verirren oder zu dicht an eine Kante zu geraten. Gebt also Acht auf euch. Noch ein Hinweis: Auf euren Erkundungen werdet ihr einzigartige Kristalle entdecken. Ihr dürft sie fotografieren oder zeichnen, aber es ist streng verboten, sie mitzunehmen. Haltet euch strikt an die Vorgaben, am Ende der Trekking-Tour werden in Paraitepuí Kontrollen durchgeführt. Und vor allem bitte keine waghalsigen Alleingänge. Wir sehen uns dann zum Abendessen im Camp wieder.“ Er selbst ging zu den Pemón-Indianern ins Zeltlager zurück. Zwischenzeitlich hatte sich die Wolkendecke zugezogen, und es fing zu nieseln an. „Was ist, Leute, kommt ihr mit?“ Als Torsten keiner weiter folgte, zog er alleine los. Sowohl Frank als auch Magnus hatten schon konkrete Ziele vor Augen, Frank wollte nochmal zurück zum Aussichtspunkt La Ventana, und Magnus hatte auf dem Weg dahin eine prächtige Drosera entdeckt, aber keine Zeit gefunden, sie zu zeichnen. Jens zögerte, er schien noch unschlüssig zu sein. Dann lief er in die gleiche Richtung, in der beide kurz zuvor verschwanden. Nur die drei Damen blieben zurück. „Wollen wir bei dem Wetter wirklich noch was unternehmen?“, fragte Britta. „Außerdem bin ich vom Aufstieg fix und fertig.“ Heike und auch Caro zeigten wenig Verständnis. „Wir sind ja nur die zwei Tage hier oben. Es bleibt kaum Zeit, um alles zu erkunden.“ Mit diesen Worten entfernte sich Heike und lief ein Stück in den dichter werdenden Nebel hinein. Auch Caro zog los, schlug allerdings eine andere Richtung ein. Britta schaute ihnen nach. Sie konnte sich noch nicht dazu entschließen, ebenfalls aufzubrechen. Doch sie wusste, dass sie es bereuen würde, wenn sie die Zeit ungenutzt verstreichen ließe.
Die Nebelschwaden verschluckten weitestgehend alle Geräusche. Hin und wieder drangen fremde Laute und Gesprächsfetzen der einheimischen Helfer herüber, die einzelnen Personen waren nur schemenhaft erkennbar. Das alles nahm Caro aus der Distanz wahr. Sie saß auf einem Felsvorsprung unweit des Zeltlagers. Entgegen ihrer Ankündigung, die nähere Umgebung noch ein wenig zu erkunden, war sie schon nach einer halben Stunde wieder umgekehrt. Jetzt beobachtete sie, wie sich eine Gruppe aus dem Nebel herausschälte. Beim Näherkommen erkannte sie, dass es Torsten, Magnus und Jens waren, auf dem Rückweg hatten sie sich getroffen. Gleich nach ihnen kam Heike. Caro stand auf und schloss sich ihr an, gemeinsam gingen sie zum Zeltlager zurück. Wider Erwarten war Britta nicht da. „Ich denke, sie hatte keine Lust, nochmal loszugehen?“, wunderte sich Caro. Heike zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Offensichtlich hat sie sich’s anders überlegt.“ Eine Viertelstunde später traf auch Britta ein. „Wo bleibt Frank?“, wollte Miguel wissen, nachdem er sich umgeschaut, ihn aber nirgends entdeckt hatte. „Mach dir mal keine Sorgen“, meinte Torsten. „Er ist ein erwachsener Mensch und wird wohl selber wissen, was er sich zumuten kann.“ Er sollte recht behalten. Zehn Minuten später traf Frank ein. Die Wohlgerüche, die herüberwehten, wurden intensiver und kündigten das baldige Abendessen an. Der Koch wusste unterdessen, dass eine Person aus der Gruppe nur vegan aß, und bereitete deshalb auch ein Gericht ganz ohne tierische Produkte zu. Magnus dankte ihm ausdrücklich dafür. Am Tisch herrschte diesmal eine ausgelassene Stimmung. Ein jeder schien froh, die anstrengende Tour bis dahin geschafft und die Besteigung des Roraima unbeschadet überstanden zu haben. Mittlerweile hatte sich die Gruppe besser kennengelernt, und alle gingen vertrauter miteinander um. Doch Heike widerstand auch Torstens neuerlichem Versuch, ihr das Du anzubieten. In scherzhaftem Ton drohte er: „Ein drittes Mal werde ich Sie nicht fragen, Frau Eckert, selbst wenn Sie mich auf Knien darum bitten würden!“ „Das wird nicht geschehen“, versicherte sie mit einem dürren Lächeln. Nachdem Miguel ein paar Höhepunkte des morgigen Tages angekündigt hatte, beendeten sie den Abend, um am nächsten Morgen frisch ausgeruht das Hochplateau zu erkunden.
Tagebucheintrag, Aufstieg vom Base Camp auf das Hochplateau des Roraima
Gegen Mittag war der Aufstieg über die Rampe geschafft, und wir gelangten auf das Hochplateau. Nach einer gemeinsamen Tour zum Aussichtspunkt La Ventana (Das Fenster) blieb genügend Zeit, auf eigene Faust ein Stück dieser bizarren Landschaft zu erkunden. Durch die Nebelschwaden erschienen die Steinskulpturen und Felsen fast gespenstisch. Aber der beständige Nieselregen und die vom Aufstieg schweren Beine ließen uns bald zum Zeltlager zurückkehren. Das Abendessen krönte den erlebnisreichen Tag, und die Mühen dieser anstrengenden Etappe waren bald vergessen.
Persönliche Aufzeichnung, 09. März
Die Umstände hinderten mich daran, meinen Plan schon heute auszuführen, und so bleibt mir nur der morgige Tag. Wenn ich ihn jetzt vor mir sehe, ihn sprechen höre, kostet es mich ungeheure Überwindung, meine Hassgefühle zu verbergen. Das ganze Ausmaß des Unrechts wird mir wieder bewusst und bereitet mir zunehmend körperlichen Schmerz. Diese persönlichen Aufzeichnungen wird nie ein anderer Mensch zu lesen bekommen. Sie sind nur für mich bestimmt und dienen dazu, mich bei der Ausführung meines Planes zu bestärken. Einer Rechtfertigung bedarf es nicht.
Die Katastrophe
An diesem Morgen traf sich die Gruppe schon vor dem Frühstück, um den Sonnenaufgang zu erleben. Heike fehlte. Gestern Nacht hatte sie es zuerst einmal ohne Schlaftablette versucht, nahm dann gegen zwei Uhr doch eine halbe und schlief erst in den frühen Morgenstunden ein. Auf Brittas freundlichen Zuspruch reagierte sie mit einem benommenen „Ich komme erst zum Frühstück.“ Etwas unausgeschlafen aber sichtlich beeindruckt beobachteten sie gemeinsam den Sonnenaufgang über der Gran Sabana. „Wie in Jenseits von Afrika ...“, hauchte Britta entrückt. „Falscher Kontinent“, entgegnete Torsten. „Und es fehlt die Musik.“ Trotz des klaren Wetters sah Miguel besorgt in Richtung Westen. Von dort schob sich eine dunkle Wolkenfront heran. Deshalb drang er darauf, bald zum Zeltlager zurückzukehren. Der Frühstückstisch war reichlich gedeckt. Unterdessen war auch Heike aufgestanden. Blass und schweigsam saß sie am Tisch. Außer Kaffee, frischgepressten Säften und Früchten gab es Arepas Dulces, Weißbrot mit Schinken, verschiedene Käsesorten und Cachapas. Wieder drängte Miguel mit Blick in den Himmel: „Wenn wir nachher noch einen guten Ausblick in die Ferne haben wollen, sollten wir das Frühstück nicht endlos ausdehnen. Ich befürchte einen Wetterumschwung, und wir haben heute noch viel vor uns. Jeder bekommt ein Lunchpaket und ein Getränk mit auf den Weg.“ Ohne großes Bedauern ließ Magnus seine halbaufgegessenen, in Kokosfett frittierten Maisfladen auf dem Teller liegen und erhob sich. „¿No le ha gustado a usted?“ Hinter ihm stand der aufmerksame Koch, der gestern für ihn das vegane Gericht zubereitet hatte. „Er fragt, ob es dir nicht geschmeckt hat“, übersetzte Miguel. „Doch, doch! Im Moment bin ich aber satt“, versicherte Magnus eilig. Lächelnd griff er nach der Marschverpflegung und verstaute sie im Rucksack. Alles, was er für den heutigen Tag benötigte, hatte er schon bei sich und wartete jetzt auf die anderen. Um die Zeit zu überbrücken, blätterte er in seinem fast vollgezeichneten Skizzenbuch. „¿Dibujó usted esto?“, fragte der Koch bewundernd. Er hatte ihm verstohlen über die Schulter geschaut. Magnus glaubte, ihn verstanden zu haben, und nickte. Ohnehin war niemand in Sichtweite, der für ihn übersetzen konnte. „Wollen Sie mal schauen?“ Er gab dem Koch das Skizzenbuch. Der betrachtete die Pflanzenstudien und die grobskizzierten Landschaften. Als Magnus bemerkte, wie seine Augen dabei strahlten, fasste er einen Entschluss. „Sie können es behalten.“ Der andere verstand ihn nicht. Magnus wiederholte sein Angebot. „Ich schenke es Ihnen.“ Ungläubig schaute ihn der Indianer an, dann schien er zu begreifen. „Gracias, muchas gracias, señor.“ Magnus selbst fand seine Geste großherzig. „Ich zeichne in diesem hier weiter“, erklärte er und deutete auf einen Block, der aber auch schon zu einem Drittel mit Zeichnungen gefüllt war. Der Koch lächelte und verbeugte sich. Magnus war sicher, dass er ihm heute Abend etwas Besonderes zubereiten würde. Unterdessen hatten sich die anderen um Miguel versammelt. Als die Gruppe vollständig war, drängte er zum Aufbruch.