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"Mehr als ein Delikt":
Ein Journalist wird ermordet. Schon bald vermutet Hauptkommissar Baumann einen Zusammenhang zu dessen investigativen Recherchen. Während Baumann und sein Assistent in dem Fall ermitteln, birgt ein Ausgrabungsteam in Süditalien einen sensationellen Fund, kämpft eine Berliner Firma mit unlauteren Mitteln ums Überleben und bereitet der Bruder des ermordeten Journalisten, der Künstler Sven Ludwig Richter, eine Vernissage vor. Wenig später wird auch auf ihn ein Mordanschlag verübt.
Für lange Zeit bleiben den Ermittlern die Zusammenhänge verborgen, bis Hauptkommissar Baumann schließlich die Hintergründe erkennt. Aber es sind nur Indizien, die ihn und seinen Assistenten schließlich auf die richtige Spur lenken. Beweise hat er nicht. Noch nicht.
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Ein Kriminalroman
von Katharina Kohal
Texte: © Copyright Katharina Kohal
Alle Rechte vorbehalten
Katharina Kohal c/o AutorenServices.de Birkenallee 24 36037 Fulda
Bildmaterialien für Coverfoto: © Copyright by Depositphotos
Ausschnitt Foto von adamico:
Apulische Landstraße und Trullis
Alle Rechte vorbehalten
Mord, Betrug und eine Sommerromanze in trügerischer Idylle:
Ein Journalist wurde ermordet. Schon bald vermutet Hauptkommissar Baumann einen Zusammenhang zu dessen investigativen Recherchen. Während Baumann und sein Assistent in dem Fall ermitteln, birgt ein Ausgrabungsteam in Süditalien einen sensationellen Fund, kämpft eine Berliner Firma mit unlauteren Mitteln ums Überleben und bereitet der Bruder des ermordeten Journalisten, der Künstler Sven Ludwig Richter, eine Vernissage vor. Wenig später wird auch auf ihn ein Mordanschlag verübt.
Für lange Zeit bleiben den Ermittlern die Zusammenhänge verborgen, bis Hauptkommissar Baumann schließlich die Hintergründe erkennt. Aber es sind nur Indizien, die ihn und seinen Assistenten schließlich auf die richtige Spur lenken. Beweise hat er nicht. Noch nicht.
Eine Prise Humor, ein Schuss Romantik und mitunter ein Hauch Fernweh sind die Zutaten für ihre Kriminalromane.
Katharina Kohal lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Mit dem Eintritt in den Ruhestand öffneten sich ihr neue Freiräume und Möglichkeiten, und sie entdeckte ihre Lust am Schreiben neu.
Bisher erschienen von ihr:
»Ein fast perfektes Team«,
»Mehr als ein Delikt«,
»Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus«,
»Eine mörderische Tour«,
»Cyber Chess mit tödlicher Rochade«,
»Verstörende Erinnerung« und
»Mosel, Morde und Miseren«.
Ratlos schaute sich Adrien Danesi in dem spartanisch eingerichteten Berliner Atelier um. Er war allein und hatte Zeit, die Werke genauer zu betrachten. Sein Bruder, der Maler Sven Ludwig Richter, war bei einem Kunden zu einer Ortsbesichtigung.
Im Gegensatz zu Sven hatte Adrien den Nachnamen ihrer Mutter, einer gebürtigen Italienerin, angenommen.
Adrien Danesi arbeitete als freischaffender Journalist. Seit Jahren war er recht erfolgreich und durchaus nicht bei jedem beliebt. Seine Berichte und Recherchen hatten ihm bereits eine Morddrohung eingebracht.
Nun also stand er im Atelier seines Bruders und wartete. Es war ihm ein Rätsel, wie Sven vom Verkauf der Bilder leben konnte. Was er hier sah, waren für ihn keine Gemälde, sondern einfach auf weißer Leinwand verschmierte Farben. Eigentlich gefiel ihm hier nur ein einziges Bild: ein Porträt, das Sven vor ein paar Jahren von ihm gemalt hatte. Adrien schaute sich weiter im Atelier um und entdeckte eine großformatige Leinwand, die sein Bruder offenbar gerade bearbeitete. Kurzentschlossen zog er sich den farbbeschmierten Malerkittel über und griff nach einer der herumliegenden Farbtuben. Mit schwungvoller Geste drückte er einen kräftigen Streifen Kobaltblau auf die Leinwand, und dann noch einen zarteren in Ocker. Mal sehen, ob Sven etwas merken würde.
Eine freundliche Stimme sprach ihn von hinten an.
»Hallo, ich will Sie nicht lange stören.«
Halb im Umdrehen antwortete Adrien: »Ich nehme an, ... «
Mehr konnte er nicht sagen.
Adrien Danesi konnte nie wieder etwas sagen.
Der Schuss traf ihn direkt in den Kopf.
Der lange, nasskalte Winter wollte offenbar kein Ende nehmen, denn auch jetzt, Ende März, ließ sich die Sonne kaum blicken, und der Himmel sah grau und trüb aus. Professor Hartwig stand, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, am Fenster seines Dienstzimmers im archäologischen Institut. Aber das kalte ungemütliche Frühjahrswetter war nicht der eigentliche Grund, der ihn freudlos aus dem Fenster schauen ließ. Der Grund seiner sorgenvollen Miene war ein Brief. Er war an ihn persönlich adressiert. Die Sekretärin hatte ihn zusammen mit der anderen Post auf seinen Schreibtisch gelegt. Professor Hartwig las ihn zweimal durch, aber der Inhalt wurde auch beim zweiten Mal nicht erfreulicher. Der Brief kam vom Rektor der Uni.
Wieder einmal stand das archäologische Institut auf dem Streichprogramm. Alle Jahre wieder, so konnte man schon sagen. Aber diesmal schien es ernst zu sein. Die Haushaltsmittel der Uni fielen für dieses Jahr noch knapper aus als die Jahre zuvor. Im kommenden Jahr sollten ganze Institutionen geschlossen werden.
Nun also stand die Existenz von Professor Hartwigs Institut zur Debatte. Nein, nicht zur Debatte, sondern es stand fest, dass es das archäologische Institut im nächsten Jahr nicht mehr geben wird.
Er schaute grübelnd aus dem Fenster in das triste Grau hinaus. Aber dann schob er alle düsteren Gedanken weit von sich.
Jetzt erst einmal Apulien, sechs herrliche Wochen Italien! Hartwigs Miene hellte sich auf. In ein paar Tagen würde es losgehen. Der Gedanke an Sonne, Olivenhaine und abends ein oder zwei Gläser Wein auf einer Terrasse im Süden Italiens besserte seine Stimmung sofort. Und er würde die nächsten Wochen mit jungen Leuten verbringen. Die Arbeit mit den Studenten und Doktoranden hatte er immer sehr genossen. Durch sie fühlte er sich mit seinen zweiundfünfzig Jahren junggeblieben. Natürlich war ihm bewusst, dass das Lächeln so mancher Studentin vor allem seiner Position und weniger seiner Person galt. Und diese Position würde mit der Schließung des Instituts erheblich geschwächt werden. Das schmerzte ihn umso mehr.
Hartwig war überzeugter Single. Dabei war es keineswegs so, dass Frauen ihn nicht interessierten, ganz im Gegenteil. Aber durch seine egozentrische und mitunter recht bissige Art schaffte er es immer wieder, sich ernsthaften Beziehungen rechtzeitig zu entziehen.
Den kommenden Wochen sah er mit Zuversicht entgegen, auch wenn er sich auf ein Abenteuer mit ergebnisoffenem Ausgang einließ. Doch falls sein Konzept aufginge, könnte die Schließung des Instituts eventuell noch abgewendet werden, und ihm, Professor Hartwig, würde endlich die Anerkennung zuteil, die er in den letzten Jahren so schmerzlich vermisste. Die Voraussetzung dafür war natürlich ein Erfolg bei den geplanten Grabungen in Apulien.
Hartwigs Spezialgebiet war seit Jahren das Uluzzien, eine archäologische Kultur, in der erstmals der anatomisch moderne Mensch in Europa erschien. Datiert wird das Uluzzien auf einen Zeitraum zwischen 45.000 und 37.000 BP (vor unserer Zeit). Der Name der Kultur geht auf den Ort Uluzzo im südlichen Apulien zurück. Hier wurden in der Grotta del Cavallo Artefakte aus der sogenannten Uluzzien-Kultur gefunden, die vor allem aus Knochen- und Steinwerkzeugen bestanden. Besondere Aufmerksamkeit erregte hier ein Fund Anfang der 1960er Jahre. Zwei Milchzähne konnten anhand der Radiokarbonmethode auf ein Alter vor 45.000 bis 43.000 Jahre bestimmt werden. Weitere Untersuchungen ergaben, dass es sich hierbei um Milchzähne von Kindern anatomisch moderner Menschen handelte.
Kunstgegenstände wurden aus dieser Zeit nicht ausgegraben. Professor Hartwig war allerdings davon überzeugt, dass der Mensch im Uluzzien sowohl die kognitiven Fähigkeiten als auch die handwerklich technischen Möglichkeiten hatte, auch menschliche Skulpturen aus Stein zu schaffen. Mit dieser Annahme hatte er bereits heftige Diskussionen provoziert und stand auf seinem Fachgebiet allein da. Oft wurde er unter Kollegen wegen seiner Theorie angegriffen, bestenfalls belächelt.
Aber in Wagner, seinem langjährigen Assistenten, hatte er einen Verbündeten. Seit vielen Jahren war es ihr gemeinsames Ziel, eine Figur aus der Zeit des Uluzzien auszugraben, und damit die umstrittene These zu untermauern.
Wagner war ein gutaussehender Mittvierziger, der in seiner nachdenklichen und unaufgeregten Art zu dem schnell aufbrausenden Hartwig einen ruhigen Gegenpol darstellte. Fast neidvoll musste der Professor denn auch erkennen, dass sich die Studenten mit ihren Problemen lieber an seinen Assistenten als an ihn persönlich wandten. Seit Beginn des Studiums der Archäologie war Wagner an Hartwigs Institut, zuerst als Student, dann als Doktorand und später als sein engster Mitarbeiter. In all den Jahren hatte er für Hartwig oft genug die Routinearbeiten erledigt und alle unliebsamen organisatorischen Aufgaben abgenommen. Hinter seinem Rücken wurde er auch Der ewige Assistent genannt.
Im Vorjahr bekamen beide Kenntnis von einem sensationellen Fund in der Nähe von Torricella, einer kleinen Gemeinde in Apulien. Es war ein Zufallsfund. Bauarbeiter fanden beim Ausschachten gut erhaltene Teile eines menschlichen Unterkiefers. Die Untersuchungen mit der Radiokarbonmethode ergaben, dass die Knochenstücke aus einer Zeit von 42.000 bis 40.000 Jahren vor unserer Zeit stammten, also aus dem Uluzzien. Daraufhin wollte Hartwig unbedingt an gleicher Stelle Grabungen durchführen. Aber bislang fehlten die finanziellen Mittel dazu.
Letztendlich war es Wagners Idee, mit dem Vorhaben an die Öffentlichkeit zu gehen, um auf diese Weise einen Sponsor zu gewinnen. Hartwig gelang es, in der Wochenendbeilage einer regionalen Zeitung auf sich und sein Spezialgebiet aufmerksam zu machen. In einem Interview berichtete er über die Uluzzien-Kultur, den Fund der Unterkieferteile im Vorjahr und die Möglichkeit, bei den geplanten Ausgrabungen in Apulien auf Artefakte oder gar menschliche Darstellungen aus dieser archäologischen Kulturepoche zu stoßen.
Erst nach mehr als zwei Wochen meldete sich ein potentieller Interessent, ein Herr Kunzmann, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung des Benno Bonke Verlages. Hartwig war enttäuscht. Den Verlag schätzte er nicht besonders, schon dessen Namen fand er lächerlich, Benno Bonke!
Wenn der Gründer aber so hieß, war Wagners Gegenargument. Nicht nur der Name missfiel Hartwig, sondern auch das Format des wissenschaftlichen Journals, das der Verlag monatlich herausbrachte. Nach seinem Empfinden war alles zu reißerisch aufgemacht, die Themen zu spektakulär gewählt und die Schreibart zu populärwissenschaftlich.
Ein erstes Aufeinandertreffen von Hartwig und Kunzmann endete dementsprechend mit einer herben Enttäuschung. Erst Wagners nochmalige Bemühungen brachten eine Annäherung. Schließlich bot Kunzmann eine Zusammenarbeit zu beiderseitigem Nutzen an. Die Kosten für die Ausgrabungsarbeiten würde die Stiftung übernehmen, wenn im Gegenzug der Benno Bonke Verlag ein Exklusivrecht auf alle Berichterstattungen erhielt. Und zu diesen Bedingungen gehörte, dass eine Wissenschaftsjournalistin, Frau Louisa Dittmar, bei den Grabungen zugegen sein würde und uneingeschränkt fotografieren und Berichte schreiben konnte. Obwohl Hartwig sie noch nicht persönlich kannte, hatte er ihr gegenüber schon Vorurteile. Es gab mindestens zwei Gründe, warum ihm die Anwesenheit dieser Dame nicht behagte. Ein Grund war, dass er eine Störung bei den Arbeiten, eine Verkomplizierung der Abläufe befürchtete. Sie war eine Außenstehende und würde vor Ort nur hinderlich sein. Aber der eigentliche Grund seiner Aversion war ein anderer. Wohl nicht zu Unrecht nahm er an, dass ihm der Sponsor bei den bevorstehenden Grabungen auf die Finger schauen wollte. »Herr Wagner, wenn Sie meine Meinung dazu hören wollen: Auf diese Weise setzt uns die Stiftung eine Laus in den Pelz.« Wagner grinste, er hatte die Dame bereits kennengelernt.
Insgesamt würden außer Hartwig und Wagner noch vier weitere Personen an den Grabungsarbeiten teilnehmen: die Doktoranden Bianca Hoffmeister, Christin Körner, Jannik Wetzloff und David Menke.
Von den Doktoranden hatte Jannik Wetzloff die größte Erfahrung und schon an mehreren Grabungen teilgenommen. Zurzeit schrieb er an seiner Dissertation, die er im Herbst abschließen und verteidigen wollte. Den kommenden Wochen in Apulien sah Jannik nun mit gespannter Erwartung entgegen, wohl auch weil Bianca die ganze Zeit in seiner Nähe sein würde. Aber er bezweifelte, dass sie seine Zuneigung erwiderte. Und wenn doch, so verstand sie es ausgezeichnet, dies zu verbergen. Meist begegnete sie ihm mit gutmütigem Spott oder zog ihn freundschaftlich auf, wenn er es mit seinem Arbeitseifer und Ehrgeiz wieder einmal übertrieb. Im Gegensatz zu der anderen Doktorandin, Christin Körner, war Bianca relativ frei von Eitelkeiten. Im Vordergrund stand ihre natürliche Ausstrahlung, ganz gleich, was sie trug. So beschränkte sich ihre Garderobe für die bevorstehende Zeit in Apulien auch nur auf die nötigsten Kleidungsstücke, und diese passten bequem in eine Reisetasche.
Nicht so bei Christin. Es fiel ihr schwer, sich zu entscheiden. Mit ihrer schlanken, grazilen Figur stand ihr einfach alles gut. Nun stapelten sich die Kleidungsstücke auf ihrem Bett. Sie war noch immer unentschlossen, was sie für die nächsten sechs Wochen einpacken sollte. Schließlich nahm sie den ganzen Stapel und versuchte ihn in die Reisetasche zu packen. Verärgert stellte sie fest, dass die Tasche bei Weitem nicht ausreichte und sie nun doch einen Koffer nehmen musste. Kurzentschlossen legte sie noch ihr Sommerkleid obenauf, und dieses wiederum passte farblich perfekt zu ihren dunkelblauen Augen.
Jannik missfiel der Gedanke, dass diesmal auch David Menke mit von der Partie sein würde. Er war ein Studienjahr unter Jannik gewesen. Eigentlich sollten sie sich fachlich nicht ins Gehege kommen. Trotzdem fühlte sich Jannik in Davids Gegenwart nicht so recht wohl. Dieser hatte zwar kaum Grabungserfahrungen, war aber wortgewandt und wirkte im Gegensatz zu Jannik sehr locker und entspannt. Und er hatte ein umfassendes Fachwissen. Wenn sie sich unterhielten, glaubte Jannik so manches Mal, ein arrogantes Lächeln um Davids Lippen zu bemerken, so als würde er sich über ihn lustig machen. Zudem sah Jannik in ihm einen starken Konkurrenten, wenn es in ein paar Monaten um die Bewerbung auf eine Assistentenstelle an einer der renommierten Universitäten ginge. Die Aussichten waren generell nicht vielversprechend und die Anzahl der offenen Stellen begrenzt. Ungeachtet aller Diskrepanzen stand für Jannik fest, dass sie sich beide in den kommenden Wochen irgendwie arrangieren müssten.
Wieder einmal hatte Wagner seinem Chef die gesamte Organisation und Vorbereitung abgenommen. Für die Fahrt nach Torricella und den Transport des Equipments hatte er zwei Vans gemietet und als preiswerte Unterkunft im Internet ein Bauernhaus gefunden. Komfort würde es kaum geben, aber der Platz wäre ausreichend und die Sanitäranlagen in akzeptablem Zustand. Und die Stiftung des Benno Bonke Verlags würde den Aufenthalt bezahlen. Hartwig konnte zufrieden sein, alles verlief nach Plan.
Ja, wäre da nicht diese Wissenschaftsjournalistin, die der Sponsor bei den Grabungsarbeiten unbedingt dabeihaben wollte. Hartwig seufzte. Zumindest würde sie mit dem Flieger nachkommen und nicht wie alle anderen in einem der Vans mitfahren. So bliebe ihm ihre Anwesenheit wenigstens während der langen Fahrt erspart.
In seinem Dienstzimmer besprach er mit Wagner gerade die letzten Details zur Reise, als es energisch klopfte und gleich darauf eine attraktive Dame den Raum betrat.
»Guten Tag, meine Herren!« Und an Hartwig gewandt: »Dittmar ist mein Name. Ich werde Ihre Grabungsarbeiten dokumentieren. Herrn Dr. Wagner hatte ich ja bereits kennengelernt.« Augenblicklich fand sich Hartwig in seinen Vorurteilen bestätigt. Und irgendwie überrumpelt. Vor ihm stand also die Wissenschaftsjournalistin, eine selbstbewusste Erscheinung, groß und schlank mit langen blonden Haaren. Sie trug Stiefeletten mit hohen Absätzen und in passender Farbe dazu eine modische Lederjacke.
»Wie sieht es mit den Vorbereitungen aus? Wann fahren Sie los?«
Für einen Moment verschlug es Hartwig die Sprache, aber dann entgegnete er gereizt: »Wir brauchen niemanden weiter für die Dokumentation der Grabungsarbeiten, das erledigt ein ausgebildeter Mitarbeiter unseres Teams. Wenn Sie für Ihre Zeitschrift ein paar Bilder machen wollen, dann ist das Ihre Sache, bitte schön. Aber geben Sie sich keinen allzu großen Erwartungen hin. Die Ausgrabungsarbeiten sind in der Regel alles andere als spektakulär, mitunter sehr mühselig und die Ausbeute nur spärlich. Ich befürchte, dass Ihre Berichterstattung magerer ausfallen könnte, als Sie annehmen.«
Louisa Dittmar lächelte. »Da machen Sie sich mal keine Gedanken. Es ist nicht die erste Expedition, an der ich teilnehme. Und mit Enttäuschungen kann ich durchaus umgehen. Also wann startet Ihre Gruppe?«
»Morgen früh.«
»Das passt. Ich fliege übermorgen ab Berlin und komme am frühen Abend in Bari an. Wenn mich dort jemand von Ihnen abholen könnte?« Hartwig nickte nur, und Wagner unterdrückte ein Grinsen. Nach seinem Gespräch mit Kunzmann hatte er die resolute Dame kurz kennengelernt.
Nachdem sie gegangen war, meinte Hartwig vorwurfsvoll: »Sie hätten mich warnen müssen!«
Als der Abreisetag unmittelbar bevorstand, verstaute das Grabungsteam alle Gerätschaften in die beiden Vans. Hinzu kamen die persönlichen Dinge wie Isomatten, Schlafsäcke, Reisetaschen - und Christins Koffer. Sie alle verspürten Vorfreude auf die kommende Expedition. Vor ihnen lag eine spannende und vielversprechende Zeit. Selbst Hartwig war bester Laune. Die Querelen an der Uni, die Zukunftssorgen und die unvermeidliche Anwesenheit der Journalistin hatte er erst einmal verdrängt.
Am nächsten Morgen in aller Frühe startete das Team. Der Routenplaner gab eine Fahrzeit von über zwanzig Stunden an. Sie mussten also eine Zwischenübernachtung einplanen.
»Das scheint ja ein kleines Kaff zu sein. Also ins Navi kann ich den Ort nicht eingeben. Wo wollen wir eigentlich Zwischenstation machen?« Jannik tippte vergebens auf dem Navi herum.
»Gib doch erst einmal Bari ein. Von dort aus werden wir dann weitersehen. Außerdem haben wir ja auch noch den Autoatlas dabei. Und wegen der Übernachtung werden wir einfach schauen, wie weit wir am ersten Tag kommen.« Bianca Hoffmeister dachte pragmatisch. Und sie hatte für die kommende Reise noch einen weiteren Vorzug: Sie sprach fließend italienisch.
Hauptkommissar Baumann trat ans Fenster des Dienstzimmers. Mit seiner stattlichen Figur füllte er fast den gesamten Fensterrahmen aus.
»Du wirst mir langsam zu stattlich«, hatte Sylke, seine Frau, erst vor kurzem festgestellt und dabei auf den unübersehbaren Bauchansatz angespielt. Erfolglos hatte sie sich bemüht, ihn zu einer gesünderen Ernährung zu bringen. Aber seine Gegenargumente waren immer der unregelmäßige Tagesablauf und die vielen Überstunden. Klar, er ernährte sich ungesund, aß zwischendurch und trank spätabends zu Hause gerne noch ein Bier. Und meist blieb es nicht bei dem einen.
Völlner, sein Assistent, hatte diese Probleme offensichtlich nicht. Na gut, er war ja auch mindestens fünfzehn Jahre jünger als er selbst. Wie alt genau, wusste er nicht. Vielleicht so Anfang dreißig? Täglich hatte er eine Lunch Box mit geschnittenem Gemüse dabei. Baumann bezweifelte, dass Völlner sie freiwillig mitnahm. Wahrscheinlich versorgte ihn seine Freundin. Mit kaum verhohlener Schadenfreude beobachtete Baumann denn auch, wie Völlner in Momenten des größten Hungers lustlos nach der Plastikschachtel griff und an dem rohen Gemüse knabberte.
»Hier, Chef, wollen Sie auch mal?«, bot er dann an, und jedes Mal lehnte Baumann mit einem verächtlichen »Nee, danke!« ab. Völlner genoss sichtlich die seltenen Gelegenheiten, wenn er und Baumann zur Mittagszeit in einem Gasthof einkehrten und bestellte dann meist etwas Deftiges, Ungesundes. »Arbeitsessen« bezeichneten sie die gemeinsamen Mahlzeiten, bei denen sie ungestört über einen aktuellen Fall diskutieren, Theorien entwickeln und wieder verwerfen konnten. Doch meist kauften sie unterwegs in aller Eile ein paar belegte Brötchen oder aßen zu Mittag in der Kantine.
Baumann schaute auf die Uhr. Um diese Zeit müsste die Urnenbeisetzung vorüber und Völlner bald zurück sein. Die Beisetzung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Außer Sven Ludwig Richter und einem Pfarrer wäre nur Völlner dabei. Für den wenig wahrscheinlichen Fall, dass sich der Mörder von Adrien Danesi in der Nähe aufhielt, wollte Baumann seinen Mitarbeiter vor Ort haben.
Mit dem Stand der bisherigen Ermittlungen war er nicht unzufrieden. Zumindest hatten sie seit gestern einen neuen Anhaltspunkt.
Die Tatsache, dass Adrien Danesi vor nunmehr einer Woche ausgerechnet im Atelier seines Bruders erschossen wurde, ließ Sven Ludwig Richter in den Augen der Mordkommission zumindest zeitweilig als Hauptverdächtigen erscheinen. Doch ein Motiv war nicht erkennbar, auch die Wahl des Tatortes schien absurd. Nachdem Richter als Täter ausgeschlossen wurde, sah es dann ganz danach aus, als galt der Mord ihm selbst und als wäre Adrien Danesi irrtümlicherweise erschossen worden.
Bei der Vernehmung hatte Baumann gefragt: »Könnte es sein, dass der Täter Sie und Ihren Bruder verwechselt hat und eigentlich Sie umbringen wollte?«
Doch Sven entgegnete: »Warum sollte mich jemand ermorden wollen? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Adrien hingegen hatte sich durch seine Tätigkeit als Journalist einige Feinde gemacht. Vor ein paar Monaten bekam er sogar eine Morddrohung. Ich kann mich aber nicht entsinnen, worüber er damals recherchierte. Von seiner Arbeit sprach er kaum.«
Auch für Baumann schien es nach weiteren Überlegungen schlüssig, dass man den Mord im Zusammenhang mit Danesis Tätigkeit als Journalist sehen musste. Möglicherweise war ihm jemand unbemerkt auf das Gelände gefolgt, auf dem sich in einem Teil der ehemaligen Fabrikgebäude nun Ateliers, Werkstätten und Galerien befanden. Und allem Anschein nach hatte der Täter dann den Augenblick abgepasst, in dem sich Danesi allein im Atelier seines Bruders aufhielt.
Unter diesem Aspekt begannen Baumann, Völlner und die Kollegen von der Spurensicherung Adrien Danesis Wohnung noch einmal gründlich zu durchsuchen. In Aktenschränken und Schubladen war eine Unmenge von Fotomaterial untergebracht. Schon das Sichten der älteren Aufnahmen dauerte Tage. Schließlich fanden sie unter anderem einen Arbeitsoverall. Als Baumann die Taschen abklopfte, fühlte er einen festen Gegenstand. Es war eine kleine kompakte Kamera, die in der Brusttasche steckte. Aufmerksam schauten sich Baumann und Völlner die Bilder auf dem Display an. Adrien Danesi hatte offenbar einen Job bei einem Lebensmittelhersteller angenommen und heimlich die Maschinen und Anlagen in den Betriebsräumen fotografiert. Die Bilder zeigten gravierende hygienische Missstände bei der Herstellung von Konserven. Diese Aufnahmen waren immerhin ein erster Anhaltspunkt und könnten zu einer Spur bei der Aufklärung des Mordes führen.
Baumann wandte sich vom Fenster ab und nahm am Schreibtisch Platz. Nervös tippte er mit dem Kugelschreiber auf der Tischplatte herum. Außer auf die Rückkehr seines Mitarbeiters wartete er jetzt auf einen Anruf. Ohne die Information, um welchen Lebensmittelhersteller es sich handelte, kam er momentan nicht weiter. Und Geduld war seine Stärke nicht.
Tief in Gedanken versunken lief Sven Richter den Weg vom Friedhof zurück zum Auto. Passend zu seiner niedergeschlagenen Stimmung fing es nun an zu nieseln. Der auffrischende Wind wehte ihm den Regen ins Gesicht.
Die Geschehnisse der letzten Tage hatten Sven kaum Zeit zur Trauer gelassen. Zum ersten Mal im Leben empfand er es als Erleichterung, dass seine Eltern nicht mehr lebten. Für sie wäre der Mord an Adrien ein zu heftiger Schlag gewesen.
Jetzt nach der Urnenbeisetzung hatte Sven wieder Zeit für sich. Nachdem er das Auto auf dem Gelände geparkt hatte, ging er zögerlich auf das alte Backsteingebäude zu, in dem sein Atelier lag. Bis gestern war die Tür zu seinen Räumen versiegelt. Aber jetzt war die Spurensicherung abgeschlossen, und er konnte die Räumlichkeiten wieder betreten. Das Leben und die Arbeit mussten weitergehen; er hoffte, durch die Malerei zur Normalität zurückzufinden.
Wie ein Fremder bewegte er sich durch das spartanisch eingerichtete Atelier und blieb vor seinem unfertigen Bild stehen. Da sah er es: Adrien hatte, wahrscheinlich um ihn zu provozieren, auf die Leinwand zwei schwungvolle Streifen aufgetragen, einen kräftigen in Kobaltblau und dann noch einen zarteren in Ocker. Augenblicklich wurde er von einer ihm bis dahin ungekannten Wehmut ergriffen. Das Bild wollte er, so wie es war, belassen. Die beiden Farbstreifen waren die letzte Handlung seines Bruders.
Unterdessen hatten die Mitarbeiter herausgefunden, um welchen Lebensmittelhersteller es sich bei den Aufnahmen handelte. Es war eine Konservenfirma im Großraum von Berlin. Ein Herr Peterson war der Inhaber.
Baumann und Völlner erschienen kurz nach Beginn der Frühschicht im Büro der Firma und verlangten nach dem Chef.
»Herr Peterson ist dienstlich unterwegs«, verkündete die Sekretärin und wollte sich wieder ihrem Tagesgeschäft zuwenden.
Baumann zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Ja, dann rufen Sie ihn doch an und sagen ihm, dass wir ihn dringend sprechen müssen.« Kurz darauf erschien Peterson, weit entfernt konnte er demnach nicht gewesen sein.
Er hatte eine gedrungene, untersetzte Figur und eine ungesunde Gesichtsfarbe. Sein Anzug saß äußerst knapp, über der Gürtellinie sah man deutlich den Bauchansatz.
»Was gibt’s?« Ungehalten schaute er in die Runde.
Hauptkommissar Baumann stellte sich vor, zeigte auch Peterson seinen Dienstausweis und gleich darauf die Aufnahmen.
»Diese Bilder wurden in den Betriebsräumen Ihrer Firma aufgenommen.«
»Wer hat die gemacht?!« Petersons Gesichtsfarbe ging nun in ein tiefes Rot über.
»Nicht Sie, sondern ich frage«, stellte Baumann sofort klar. »Kennen Sie diesen Mann?«
Er legte Peterson ein Foto von Adrien Danesi vor.
»Ja, er wurde vor kurzem bei uns eingestellt, ist aber schon mindestens seit einer Woche nicht zur Arbeit erschienen.«
»Aus seiner Sicht sehr verständlich.«
»Wie meinen Sie das?« Aus Petersons Stimme klang unverhohlener Argwohn.
»Herr Danesi wurde vor einer Woche ermordet.« Schweigen.
»Wann genau haben Sie Herrn Danesi zum letzten Mal gesehen?«
»Sie glauben doch nicht im Ernst …!«
»Ich glaube gar nichts. Herr Danesi hatte offensichtlich ohne Ihr Wissen und Ihre Zustimmung Aufnahmen von den Betriebsräumen gemacht. Er war Journalist und wollte, so nehmen wir jetzt an, hygienische Missstände in der Lebensmittelbranche offenkundig machen.«
»Was hatte er dann hier zu suchen? Sind Sie von der Hygiene oder von der Polizei?«
»Ich hatte mich bereits vorgestellt. Wir möchten uns auch mit Ihren Mitarbeitern unterhalten.«
»Die Geschäfte im Unternehmen führt Herr Unger«, erwiderte Peterson eisig. Mit einer unwilligen Geste gab er der Sekretärin zu verstehen, ihn anzurufen.
Nach wenigen Minuten betrat ein junger Mann den Raum. Anders als sein Chef war Unger eine gepflegte Erscheinung und im Umgang zuvorkommend und höflich.
»Womit kann ich behilflich sein?«
»Bitte zeigen Sie uns die Betriebsräume des Unternehmens.«
»Sehr gerne. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Unger führte die beiden Ermittler zu einem benachbarten Gebäude und ließ sie eintreten. Baumann verschlug es die Sprache. Das konnten nicht die Anlagen sein, die Danesi heimlich fotografiert hatte! Sie befanden sich in einem kleinen Raum und bekamen durch eine Glaswand Einblick in einen hellen, sauberen Betriebsraum. An den wenigen Arbeitsplätzen standen fünf Mitarbeiter in weißen Overalls, sie trugen Einweg-Hauben und Handschuhe. Getrennt vom Produktionsbereich konnten Besucher, Kunden oder die Geschäftsleitung durch die große Glasscheibe die Arbeitsprozesse beobachten.
Zum ersten Mal kamen Baumann Zweifel, ob sie auf der richtigen Spur waren. Wenn das alles nur nicht ein großer Irrtum war.
Am ersten Tag kamen sie bis Trient und legten dort eine Zwischenübernachtung ein. Jetzt in der Vorsaison war es nicht allzu schwierig, ein Quartier für eine Nacht zu finden. Am darauffolgenden Morgen ging es in aller Frühe weiter. Jannik bedauerte, dass Bianca diesmal im anderen Van saß. Aber in den nächsten Wochen würde er noch viel Zeit in ihrer Nähe verbringen können. Und er würde seine Chance nutzen. Das hatte er sich fest vorgenommen.
Nun saß Jannik schon seit Stunden hinter dem Steuer. Rücken und Nacken schmerzten ihm von der langen Fahrt, und laut Navi waren es immer noch mehr als 120 km bis zum Ziel. Wagner war in seine Unterlagen vertieft.
Und als hätte er Janniks Gedanken verstanden, bot er sofort an: »Wenn Sie möchten, kann ich Sie ablösen. Sie fahren jetzt schon viel zu lange.« Erleichtert fuhr Jannik bei der nächstbesten Gelegenheit rechts ran. Der andere Van hielt ebenfalls. Nachdem sich alle kurz die Beine vertreten hatten, ging es weiter. Auch die folgende Strecke zog sich endlos hin.
»Bis jetzt sieht es nicht gerade nach Bella Italia aus. Viele Gewerbegebiete und Landwirtschaft.« David saß am Steuer des anderen Vans und war sichtlich genervt von der eintönigen Landschaft und der langen Fahrerei.
»Du wirst deine Klischees bald bekommen«, vertröstete ihn Bianca. Sie saß auf dem Beifahrersitz und hatte den Autoatlas aufgeschlagen. »In der Höhe von Bari geht es auf die SS16, die Strada Statale Adriatica in Richtung Monopoli. Ich nehme an, dass wir dann einen Blick auf das übliche Postkartenmotiv, die blaue Adria, haben werden.«
»Und sicher wieder auf ein Gewerbegebiet kurz vor Torricella«, ergänzte David genervt.
Vom Rücksitz des Vans meldete sich nun Professor Hartwig. »Apropos Bari. Um welche Uhrzeit kommt Frau Dittmar eigentlich an?«
Bianca schaute auf ihr Smartphone. »Das würde zeitlich gerade passen. In einer Stunde landet der Flieger. Wollen wir gleich zum Flughafen?« Die Option bot sich förmlich an.
Und so kam es, dass eine Stunde später die energiegeladene, bestens gelaunte und auffällig gut gekleidete Louisa Dittmar einem übermüdeten, von der langen Fahrt leicht gereiztem Team gegenüberstand.
Alle schauten sie mit unverhohlener Neugier an, auch Hartwig. Das Outfit der Dame übertraf offensichtlich alle Erwartungen und fand durchaus Gefallen bei den männlichen Teilnehmern der Gruppe.
Christins Blick war zu entnehmen, dass sie die ganze Aufmachung mehr als unpassend fand. Bianca war es einfach egal. Sie wollte so schnell wie möglich weiter nach Torricella.
Der Koffer und die Reisetasche von Louisa Dittmar wurden in einem der Vans verstaut, und weiter ging die Fahrt auf Monopoli zu. Wie erhofft gab es von der Strada Statale Adriatica ein paar herrliche Ausblicke auf das Meer. Und dann kam, wie bereits vermutet, in Höhe von Monopoli die Abfahrt in ein weniger attraktives Gebiet.
Die nächste Enttäuschung war die Unterkunft. Alles sah schäbiger und heruntergekommener aus als auf den Fotos. Etwas schadenfroh schielte Christin zu Louisa Dittmar hinüber. Wie würde wohl dieses Luxusweibchen auf die Aussicht reagieren, für die nächsten sechs Wochen hier Quartier zu beziehen? Aber das Luxusweibchen zückte ihr Smartphone und entfernte sich ein paar Schritte. Schweigend begannen Hartwig und die anderen, das Equipment aus den Vans zu holen.
Frau Dittmar kam zurück. »Halt, einen Moment noch. Ich habe gerade mit Herrn Kunzmann gesprochen. Finanziell wäre es in Ordnung, wenn wir uns etwas Ansprechenderes suchen. Ich schlage vor, wir steigen wieder ein und fahren durch Torricella. Bestimmt finden wir eine bessere Unterkunft.«
Nach einem winzigen Augenblick der Überraschung äußerten sich alle zustimmend und erleichtert. Selbst Hartwig ließ sich erstaunlich schnell auf das Angebot ein. Und Christin erwog die Möglichkeit, dass Louisa Dittmar vielleicht doch nicht so fehl am Platze sei, wie sie zuerst annahm. Auf jeden Fall reagierte sie spontan und lösungsorientiert.
Die Fahrt ging noch ein paar Minuten weiter. Tatsächlich fanden sie bald ein recht passables Ferienhaus mit Blick auf Olivenhaine. Der Umstand, dass Vorsaison war und der Ort nicht unmittelbar in Meeresnähe lag, machte es möglich, das Quartier zu einem akzeptablen Preis anzumieten. Wieder begannen alle, das Gepäck aus den Autos zu laden, diesmal jedoch in wesentlich besserer Stimmung. Der Platz im Haus war ausreichend und die Lage der Räume ideal. Der größte Raum sollte als gemeinsames Besprechungs-, Arbeits- und Wohnzimmer genutzt werden. Er ging praktischerweise in den Küchenbereich über.
Mittlerweile war es Zeit zum Abendessen. Brot, Butter, Käse, Salami, zwei Flaschen Rotwein und Mineralwasser hatten sie auf einem Zwischenstopp kurz vor Monopoli gekauft. Auf der Terrasse hinter dem Haus wurde der Tisch gedeckt, und bald breitete sich Urlaubsstimmung aus.
Hartwig räusperte sich und fand ein paar passende Worte als Einstimmung auf die bevorstehenden Aufgaben.
Er dankte auch Louisa Dittmar für ihre Initiative, ad hoc eine angemessene Unterkunft zu suchen, und ergänzte in süffisantem Unterton: »Natürlich wünsche ich auch Ihnen viel Erfolg bei der Berichterstattung für Ihr … Journal.«
Sie überhörte die spöttische Nuance und erhob ihr Glas: »Bitte nennen Sie mich doch alle einfach Louisa!«
Jannik und David waren dabei, in ihrem Zimmer die Reisetaschen auszupacken.
»Was schätzt du, wie alt sie ist?«
»Louisa?«
»Natürlich, wer denn sonst.«
»Vergiss es, du bist definitiv zu jung für sie …«
»… und du definitiv zu blöd. Nein, mal im Ernst. Wie alt schätzt du sie?« David ließ nicht locker.
»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht knapp über vierzig?«
»Auf jeden Fall ist sie sehr attraktiv.«
Christins Bemerkungen drehten sich ebenfalls um Louisa Dittmars Person, wenn auch in weniger wohlwollendem Ton.
»Ich bin mal gespannt, was die Dame morgen an der Grabungsstelle anhaben wird. Die hochhackigen Schuhe und den anderen modischen Kram kann sie ja wohl vergessen.«
Mit einem Blick auf Christins halbausgepackten Koffer bot Bianca lächelnd an: »Sag mir, wenn ich dir helfen soll!«
Sie und Christin teilten sich ebenfalls ein Zimmer. Die drei anderen Räume wurden als Einzelzimmer genutzt.
Am nächsten Morgen ging es gleich nach dem Frühstück zur Ausgrabungsstelle. Sie war nicht sehr weit von der Unterkunft entfernt, höchstens zwei Kilometer. Aber da die Gerätschaften transportiert werden mussten, fuhren sie mit den Vans. Für das Ausgrabungsteam war es ein Glücksfall, dass das Erdreich durch die früheren Ausschachtungsarbeiten bereits tief abgetragen war. Aber der Boden war ausgetrocknet und an manchen Stellen hart wie Beton. Das würde die Arbeit erschweren. Als Grabungsfläche legte Hartwig rund um die Stelle, an der der Kieferknochen gefunden wurde, eine Fläche von ca. vier mal fünf Metern fest.
Mit Spatel, Spitzkellen und weiteren Feinstwerkzeugen begannen alle, sich Millimeter um Millimeter tiefer zu arbeiten. Sobald jemand auf etwas Hartes stieß, wurde die Stelle vorsichtig mit dem Pinsel freigelegt. Doch bisher waren es nur unbearbeitete Steine, die sie im Erdreich fanden.
In den Abendstunden wehte meist ein leichter Lufthauch und trug den Duft von Wildkräutern herüber. Aus der Ferne hörte man das Zirpen der Zikaden. Für das Team waren es die angenehmsten Stunden nach den anstrengenden Arbeitstagen.
Da die Küche des Ferienhauses bestens ausgestattet war, ergab es sich, dass abends gemeinsam gekocht und das Essen auf der Terrasse hinter dem Haus eingenommen wurde. Bei milden Temperaturen und einem herrlichen Ausblick auf die Olivenhaine saß die Gruppe oft bis in die späten Abendstunden beisammen.
Und doch schlich sich von Tag zu Tag eine spürbare Frustration ein. Die Alltagsroutine bei den Ausgrabungen war ermüdend und hatte bisher nichts Spektakuläres ans Tageslicht gebracht. Hartwig fühlte sich zusehends unter Druck und nahm nicht zu Unrecht an, dass sein Sponsor nun bald Ergebnisse erwartete. Die Aussage Kein Ergebnis ist auch ein Ergebnis, würde Kunzmann nicht zufriedenstellen. Seit zehn Tagen wurde nun bereits gegraben und die Abtragungen Schicht für Schicht akribisch dokumentiert. Bisher wurde nichts Auffälliges oder Nennenswertes gefunden. Und wie Hartwig vorausgesehen hatte, begann sich Louisa Dittmar sichtlich zu langweilen. Immer öfter setzte sie sich ab und erkundete mit ihrer Kamera die weitere Umgebung. Ihr augenscheinliches Desinteresse an der Grabung entging Hartwig nicht.
»Ja, Frau Dittmar, das ist nun mal so bei Archäologen. Viel Routinearbeiten und wenig Sensationelles. Sicher nichts für Ihre Zeitschrift.«
»Ich habe ja gar nichts gesagt. Aber könnte es nicht doch sein, Herr Professor Hartwig, dass Sie sich mit Ihrer Theorie und der Auswahl der Grabungsstätte gewaltig verspekuliert haben?«
Hartwig verschlug es die Sprache, aber dann reagierte er umso heftiger: »Wenn Ihnen die Angelegenheit für Ihr Journal hier nicht spektakulär genug ist, dann reisen Sie doch einfach ab! Ich werde Sie ganz bestimmt nicht aufhalten. Versprochen. Oder schreiben Sie doch einfach eine nette Homestory und knipsen ein paar schöne Fotos für Ihr Blatt. Passt doch prima: ein hübsches Ferienhaus in idyllischer Landschaft, ein fleißiges aber erfolgloses Ausgrabungsteam und ein schrulliger Professor. Na, wie wäre das?!«
Aber zu seiner Verblüffung warf Louisa lachend den Kopf zurück, wobei ihre langen, blonden Haare schwungvoll nach hinten fielen. Sein Wutausbruch lief offensichtlich ins Leere.
»Was glauben Sie denn, was ich in den letzten Tagen gemacht habe?«
Und genau so war es auch, im Prinzip hatte Hartwig mit seinen sarkastischen Bemerkungen den Nagel auf den Kopf getroffen. Vier, fünf Tage lang hatte sie die Ausgrabungsarbeiten von früh bis abends beobachtet und mit der Kamera dokumentiert. Aber bald schon sah sie sich etwas ausgiebiger in der näheren Umgebung um und fotografierte die Landschaft. Doch das war nicht ihre eigentliche Aufgabe. Ein Reiseführer über Apulien sollte es nun wirklich nicht werden. In unbeobachteten Momenten hatte sie Fotos vom Alltag des Grabungsteams geschossen und schrieb dazu an einem Text. Im Plauderton berichtete sie über die Anstrengungen aber auch über die heiteren Situationen hier vor Ort. Am späten Nachmittag saß sie dann an ihrem Laptop und bearbeitete die Aufnahmen und den Text. Es waren viele Bilder von den Grabungen, Schnappschüsse von Hartwig, Wagner und dem ganzen Team, Aufnahmen von der Runde, wie sie mittags unter dem Sonnensegel Picknick machten und Ciabatta mit Salami, Käse und Oliven aßen. Aber die schönsten Fotos entstanden abends, wenn sich fast alle in der Küche aufhielten, gemeinsam das Essen vorbereiteten oder beim Kochen mit einem Glas Rotwein in der Hand zuschauten und dabei zwanglos plauderten.
Vor der Küchenarbeit drückte sich Louisa erfolgreich. Keiner nahm es ihr übel, denn sie konnte vieles, aber kochen nun gerade nicht. Stattdessen lag sie mit ihrer Kamera von den anderen unbemerkt auf der Lauer. Das Ergebnis sollte ein Special für die Zeitschrift werden; sie dachte da an eine Beilage in Hochglanz. Hartwig würde sie dafür hassen.
Der elfte Tag brachte, wenn auch nicht im eigentlichen Sinn ihrer Erwartungen, eine Sensation. Professor Hartwig fand einen menschlichen Zahn. Mit einem feinen Pinsel legte er ihn frei. Zu Recht konnte er annehmen, dass dieser genau zu dem Unterkiefer gehörte, der im Jahr zuvor bei den Ausschachtungsarbeiten zufällig gefunden wurde, und dessen Datierung auf eine Zeit von 42.000 bis 40.000 Jahre BP fiel. Ob es sich tatsächlich um einen Zahn aus dem Uluzzien handelte, würden die späteren Untersuchungen zeigen. Louisas Kamera klickte ununterbrochen, und Jannik dokumentierte sorgsam die Fundstelle. Alle schienen begeistert und sichtbar erleichtert, dass es nun, wenn auch keine Steinskulptur, so doch einen höchst wertvollen anderen Fund gab. Die Stimmung war so gelöst, wie seit Tagen nicht mehr.
Am Abend standen Bianca und Christin am Herd. Sie probierten ein typisches apulisches Gericht aus: Cicatelli mit Zucchini, Kirschtomaten, Sellerie, Garnelen und einer würzigen Soße. Dazu wurden zwei Flaschen apulischen Rotweins geöffnet. Christin sah in ihrem sommerlichen Kleid hinreißend aus; der leichte Leinenstoff umspielte ihre schlanke Figur. Voller Bewunderung schauten die männlichen Teilnehmer zu ihr herüber, als sie die selbstgemachte Pasta in einer Schüssel auf die Terrasse trug und dann mit einer anmutigen Bewegung am Tisch Platz nahm.
Aber Jannik hatte nur Augen für Bianca. Bianca war einfach Bianca. Sie sorgte sich nicht um die zwei, drei Kilo, mit denen sie möglicherweise über ihrem Idealgewicht lag, sie aß, was ihr schmeckte und kleidete sich mit dem, was sie als bequem empfand. Jetzt trug sie kurze Shorts und lief barfuß über die warmen Terrassenfließen. Es waren ihre natürliche Ausstrahlung, das Selbstverständnis und ihre Präsenz, die andere in ihren Bann zogen.
Wagner lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute in die Ferne. Der Anblick der Olivenhaine in der Abendstimmung gefiel ihm. Im Prinzip mochte er auch die Runde, in der er saß. Wären da unterschwellig nicht der Erfolgsdruck und die Sorgen, die unausgesprochen über allem lagen, könnte er die Zeit hier in vollen Zügen genießen. Sein Blick wanderte zu Louisa Dittmar. Welche Rolle mochte sie wohl tatsächlich spielen? Hatte Kunzmann sie, wie von Hartwig unterstellt, zur Kontrolle mitgeschickt? Vielleicht war das Misstrauen ihr gegenüber auch völlig unbegründet. Wagner hatte nach ihrem Namen gegoogelt und fand bestätigt, dass sie als Wissenschaftsjournalistin arbeitete. Und eigentlich gefiel sie ihm. Nun ja, mitunter war sie nervig und überdreht, aber sie war vor allem auch sehr unterhaltsam, intelligent und attraktiv. Wie ernst mochte wohl das Geplänkel zwischen Hartwig und ihr sein? Schwer zu sagen. Doch es gab andere Probleme, als sich derartigen Betrachtungen hinzugeben. Und passend zu den Wolken, die nun allmählich am Himmel aufzogen, verfinsterte sich sein Blick wieder.
Jetzt war es Louisa, die ihn verstohlen beobachtete: ein attraktiver Mann, aber immer etwas distanziert und sehr ernst. Vermutlich ist er mit seiner Arbeit verheiratet, waren Louisas Gedanken. Und mit dieser Einschätzung lag sie wohl nicht ganz falsch. Mehr als eine Beziehung war bereits an seinem beruflichen Ehrgeiz zerbrochen. Louisa schaute weiter in die Runde. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass sie David offensichtlich gefiel.
Professor Hartwig riss sie aus ihren Betrachtungen. »Bei aller Gemütlichkeit. Auch wenn wir heute einen ganz wesentlichen Fund freigelegt haben, so dürfen wir doch unser eigentliches Ziel, die Suche nach Artefakten aus dem Uluzzien nicht aus den Augen verlieren. Es stellt sich die Frage: Wollen wir an gleicher Stelle noch tiefer gehen oder das Areal vergrößern? Auf jeden Fall befinden wir uns in den Schichten, in denen der Kieferknochen und nun auch dieser Zahn gefunden wurden. Was meinen Sie dazu, Jannik?«
Wagner zuckte zusammen. Professor Hartwig überging ihn einfach. Und Jannik hatte offenbar schon einen Vorschlag parat.
»Ich würde das Areal erweitern und über die bisherige Fläche hinausgehen. Hierzu habe ich mal eine Zeichnung gemacht, wie die zusätzliche Grabungsfläche aufgeteilt werden könnte.« Er stand auf, um den Plan zu holen. Verstohlen schaute Louisa zu Wagner hinüber. Der saß steif und mit zusammengepressten Lippen auf seinem Stuhl. Jannik kam zurück und legte den Plan auf den inzwischen freigeräumten Tisch.
»Ich habe mir gedacht, dass wir die bisherige Grabungsfläche nach allen Seiten um jeweils einen Meter erweitern könnten. Das klingt erst einmal nach nicht sehr viel zusätzlicher Fläche, aber immerhin wären es weitere zweiundzwanzig Quadratmeter. Das Areal sähe dann so aus.« Er deutete auf die Zeichnung. »Wir könnten uns an den Grabungsrändern der bisherigen Fläche beginnend weiter nach außen vorarbeiten.«
Alle beugten sich nun über Janniks Plan.
Der Himmel hatte sich unterdessen komplett zugezogen, und bald fielen die ersten schweren Regentropfen. Eilig wurde das Blatt zusammengefaltet, und das ganze Team verzog sich in das geräumige Wohnzimmer.
Schließlich meinte Bianca: »Ja, das klingt eigentlich logisch, doch so sensationell finde ich die Idee nun auch wieder nicht.« Sie hatte sich von Janniks Überlegungen mehr erhofft, hatte aber auch keinen besseren Vorschlag.
Gemeinsam wurde auf der Zeichnung eine Aufteilung vorgenommen und genau bestimmt, wer an welcher Stelle dann am nächsten Morgen graben sollte.
»Wenn es in irgendeiner Weise weiterhilft, kann ich ja mal mitbuddeln«, war Louisas wohl nicht ganz ernst gemeintes Angebot.
»Wirklich sehr nett, Frau Dittmar, aber von buddeln kann hier keine Rede sein. Knipsen Sie mal lieber weiter«, konterte Hartwig sofort.
Als sich alle zu ihren Zimmern begaben, sprach Wagner seinen Chef an. »Meine Meinung ist jetzt wohl gar nicht mehr gefragt? Sie haben sich gleich an Jannik gewendet.«
»Um Himmels willen! So war es wirklich nicht gemeint! Mir ist es einfach wichtig, die jungen Mitarbeiter zu fordern. Und ich wollte mal testen, was Jannik sich über den weiteren Fortgang der Grabungen gedacht hat. Hätten Sie eine andere Idee oder einen Vorschlag?«
Aber Wagner winkte ab. »Nein, ist schon gut.«
Im Zimmer meinte David leichthin: »Du hast dir ja offensichtlich richtig Gedanken gemacht, wie es weitergehen soll. Hast du übrigens Wagners Gesicht gesehen, als Hartwig nach deiner Meinung fragte? Sieht fast so aus, als wäre der Kronprinz abgesetzt und du jetzt der Liebling des Chefs«, spottete er weiter.
»Da kann ich doch nichts dafür, wenn Hartwig mich und nicht Wagner gefragt hat.