"Cyber Chess mit tödlicher Rochade" und "Verstörende Erinnerung": Zwei Romane - Katharina Kohal - E-Book
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"Cyber Chess mit tödlicher Rochade" und "Verstörende Erinnerung": Zwei Romane E-Book

Katharina Kohal

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Beschreibung

"Cyber Chess mit tödlicher Rochade":
Eigentlich wollte die Journalistin Tanja Wegner nur einen Artikel über Cyberkriminalität schreiben – doch dann geschieht ein Mord, und sie gerät selbst unvermittelt ins Fadenkreuz der Täter.
Für Hauptkommissar Wiesmann und seinen Kollegen Garcia Hernández wird es zunehmend schwieriger, sie zu schützen, denn der unbekannte Gegner scheint immer einen Zug voraus zu sein.
Ein weiteres, sehr persönliches Problem kommt hinzu: Die attraktive Kommissarin Sylke Bischoff gehört diesmal zu Wiesmanns Team und fordert ihn auf ihre Art heraus.


"Verstörende Erinnerung":
Jan Rothig glaubt, für die Schlüsselszene eines neuen Spielfilms die passende Location gefunden zu haben: ein leerstehendes altes Gebäude in einem verwilderten Park.
Als die Filmschauspielerin Marion Lehenstein zum ersten Mal vor dem maroden Bauwerk steht, stürzen plötzlich verdrängte Erinnerungen auf sie ein. Für ein paar Sekunden entsinnt sie sich an jede Einzelheit – auch an den Fremden, den sie damals aus dem Auto steigen und in das Gebäude gehen sah.
Wenig später erfährt Jan, dass genau an dieser Stelle vor Jahrzehnten ein Mord verübt und dieser nie aufgeklärt wurde. Spontan vermutet er einen Zusammenhang zwischen Marions Flashback und dem damaligen Ereignis. Und er hat die düstere Vorahnung, dass ein weiteres Verbrechen geschehen wird.


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Zum Inhalt der Bücher
Cyber Chess mit tödlicher Rochade
Ein Hinterhalt
Ein Monat zuvor
Eine Message
Aus gegnerischer Sicht
Ein Ausweg
Der König
Courage
Ein Refugium
Honeypot
Emotionen
Königliche Strategien
Ein Fehler
Die Verfolgung
Krisenstimmung
Die Suche
Bestürzende Erkenntnis
Schach matt
Abgründe
Nachklang
Verstörende Erinnerung
Prolog
Ein Meeting
Lost Place
Flashback
Spur in die Vergangenheit
Unheilvolle Begebenheit
Am Set
Vor Ort
Der Neue
Der Drehtag
In der Nacht
Der nächste Tag
Ein erster Hinweis
Ein Zwischenfall
Ein weiteres Verbrechen
Ein neuer Aspekt
Ein Kammerspiel
Tags darauf
Abgedreht
Gewissheit
Zum Schluss
Über die Autorin
Leseprobe

 

 

 

 

 

 

 Cyber Chess mit tödlicher Rochade

 

und

 

Verstörende Erinnerung

 

Zwei Kriminalromane

von Katharina Kohal

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

Texte: © Copyright by Katharina Kohal

Alle Rechte vorbehalten

 

Katharina Kohal

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

 

© Copyright by Depositphotos:

Foto für Hintergrund: garloon,

Ausschnitt: Schachfiguren

Foto für Vordergrund: Andrew Lozovyi,

Ausschnitt: Porträt

© Copyright by Depositphotos:

Foto für Hintergrund: office.fredditomoon,

Ausschnitt: Herbstlicher Wald

Foto für Vordergrund, baranchik_julia,

Ausschnitt: Frau im Park

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Zum Inhalt der Bücher

 

 

Cyber Chess mit tödlicher Rochade

 

Eigentlich wollte die Journalistin Tanja Wegner nur einen Artikel über Cyberkriminalität schreiben – doch dann geschieht ein Mord, und sie gerät selbst unvermittelt ins Fadenkreuz der Täter.

Für Hauptkommissar Wiesmann und seinen Kollegen Garcia Hernández wird es zunehmend schwieriger, sie zu schützen, denn der unbekannte Gegner scheint immer einen Zug voraus zu sein.

Ein weiteres, sehr persönliches Problem kommt hinzu: Die attraktive Kommissarin Sylke Bischoff gehört diesmal zu Wiesmanns Team und fordert ihn auf ihre Art heraus.

 

 

Verstörende Erinnerung

 

Ein ehrgeiziger Locationscout, eine Filmcrew und ein folgenschweres Flashback:

 

Jan Rothig glaubt, für die Schlüsselszene eines neuen Spielfilms die passende Location gefunden zu haben: ein leerstehendes altes Gebäude in einem verwilderten Park.

Als die Filmschauspielerin Marion Lehenstein zum ersten Mal vor dem maroden Bauwerk steht, stürzen plötzlich verdrängte Erinnerungen auf sie ein. Für ein paar Sekunden entsinnt sie sich an jede Einzelheit – auch an den Fremden, den sie damals aus dem Auto steigen und in das Gebäude gehen sah.

Wenig später erfährt Jan, dass genau an dieser Stelle vor Jahrzehnten ein Mord verübt und dieser nie aufgeklärt wurde. Spontan vermutet er einen Zusammenhang zwischen Marions Flashback und dem damaligen Ereignis. Und er hat die düstere Vorahnung, dass ein weiteres Verbrechen geschehen wird.

 

Cyber Chess mit tödlicher Rochade

 

von Katharina Kohal

  

Ein Hinterhalt

 

Seltsamerweise war weit und breit kein Mensch zu sehen. Das beklemmende Gefühl, das sie beim Betreten des Friedhofsgeländes ergriffen hatte, nahm mit jedem Schritt, den sie weiterging, zu. Außer dem Schmerz, den sie empfand, stieg in ihr eine beunruhigende Vorahnung auf, die ihre Gedanken lähmte und sie ängstigte. Für einen Moment erwog sie, auf der Stelle umzukehren. Doch sie musste Gewissheit haben.

Als sie vor der Trauerhalle stand, hörte sie eine getragene Melodie. Sie zögerte einen Augenblick, dann trat sie ein. Offensichtlich war sie der erste Trauergast, denn auch hier war sie allein. Langsam schritt sie nach vorn, auf die Urne mit dem Trauergesteck zu. Plötzlich steigerte sich die Musik zu einem Crescendo und endete abrupt. Irritiert sah sie sich um. Erst jetzt fiel ihr Blick auf das gerahmte Foto der Verstorbenen – entsetzt erkannte sie ihre eigenen Gesichtszüge. In diesem Moment fiel die Eingangstür ins Schloss. Der Fluchtweg war ihr abgeschnitten.

 

Ein Monat zuvor

Sie saßen zu dritt in der Suite des Hotels Adagio de luxe.

„Meine Herren“, begann der König und lehnte sich zufrieden zurück. Er hieß nicht König – und natürlich war er auch keiner. Aber generell betrachtete er sich als Regent in einem fiktiven Schachspiel, und er setzte seine Figuren wohlüberlegt. Heute eröffnete er eine neue Partie.

Jetzt saßen ihm der Turm und einer der beiden Läufer gegenüber. Ersterer übernahm einen Part, den der König niemand anderem anvertraute: Er hielt die Verbindung zu den Springern und Bauern. Und diese wiederum erledigten im Fall der Fälle die schmutzige Arbeit. Ihn, den König, bekamen sie nie zu Gesicht, sie wussten nichts über ihn, nicht einmal, dass es ihn gab.

Es gab auch einen zweiten Turm – so bezeichnete er den jeweiligen Geschäftspartner. Und bei jeder Partie war es eine andere Person.

Den Läufern oblag der technische Teil. Insofern waren sie unabkömmlich.

Es klopfte, und gleich darauf betrat ein Kellner den Raum. Beflissen stellte er drei Gläser und eine Flasche Chabasse XO Cognac auf den Tisch. Einen Remy Martin Louis XIII – so hatte es der König vorgesehen – gäbe es erst nach der gewonnenen Partie.

Mit geübter Geste füllte der Kellner die Gläser und verließ gleich darauf wieder die Suite.

„Meine Herren“, fuhr der König fort. „Die Aufgabe ist klar umrissen.“ Hierbei wandte er sich an den Läufer. „Und wie immer verlasse ich mich auf Ihre Fachkompetenz und absolute Diskretion. Glauben Sie, dass alles in drei Wochen zu schaffen ist?“

„Warum nicht?“, erwiderte er knapp. „Die Aktion ist reine Routine. Vermutlich wird die Angelegenheit schon in ein paar Tagen erledigt sein.“

„Umso besser.“ Dann wandte sich der König an den Turm. „Sollte es zu unerwarteten Zwischenfällen kommen, verlasse ich mich auf Sie.“ Jetzt erfolgte die Rochade – jener Zug, mit dem er selbst sich aus dem Schussfeld nahm und alle heiklen Aufgaben ihm, dem Turm, überließ.

Nachdem die wesentlichen Punkte geklärt waren, erhob der König sein Glas: „Auf ein gutes Gelingen!“

Eine Viertelstunde später war er wieder allein. Alles lief nach Plan, und wie in den zahlreichen Aktionen zuvor hatte er dafür gesorgt, dass die Anzahl der Figuren überschaubar blieb und niemand, außer dem Turm und der Dame seine wahre Identität kannten.

Die Dame war die wichtigste Figur; sie war die engste Vertraute, mit der er – wann immer es ihm möglich war – Tisch und Bett teilte. Und er belohnte sie königlich. Ihre Aufgabe war es, die Treffen in der Suite zu organisieren und Kontakte zu knüpfen.

Zur Strategie gehörte es, das Spiel im Verborgenen zu führen, und er, der König, behielt dabei die Fäden in der Hand. Mit der ihm eigenen Cleverness und erworbenen Skrupellosigkeit hatte er bisher jede Partie gewonnen und es im Laufe der Jahre zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht. Irgendwann, auf dem Zenit des Erfolges, wenn er des Spielens überdrüssig wäre, würde er seine letzte Schachpartie eröffnen. Doch diesen Punkt hatte er noch lange nicht erreicht. Zu verlockend war die Aussicht auf das nächste lukrative Geschäft.

Er griff nach der Flasche Chabasse XO und goss sich noch einmal nach.

 

Denkanstöße

 

Wenn sie sich nicht beeilte, käme sie zu spät. Wieder einmal. Pünktlichkeit gehörte nicht zu Tanjas Tugenden. Sie würde Ansgar Hanke treffen, einen Kenner der IT-Branche. Durch Zufall waren sie sich vor Tagen wiederbegegnet und hatten sich spontan zu diesem Gespräch verabredet. Ginny, Tanjas Freundin, wusste nichts davon. Bei dem Gedanken an sie verspürte Tanja ein wenig Schuldbewusstsein, aber nur ein ganz klein wenig. Ihr Job verlangte es, nicht zimperlich zu sein. Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten waren hier fehl am Platz. Seit Jahren arbeitete sie als freie Journalistin für eine Zeitung und war immer auf der Suche nach fesselnden Themen. Jetzt glaubte sie, eins gefunden zu haben: Cyberkriminalität. Ansgar hatte sich bereit erklärt, ihr ein paar Fragen dazu zu beantworten. Im Prinzip hatte sie ihn erst durch Ginny kennengelernt. Vor zwei Jahren, als sie im Rahmen einer Umfrage Passanten interviewte, traf sie die beiden, und alle drei, einschließlich Tanja, fanden das Thema der Erhebung lächerlich. Sie konnte sich nicht mehr entsinnen, worum es dabei ging, jedenfalls machten Ginny und Ansgar sich darüber lustig – und sie lachte mit. Die beiden waren ihr auf Anhieb sympathisch. Spontan beschlossen sie, gemeinsam einen Kaffee trinken zu gehen. So entwickelte sich zwischen ihnen eine Freundschaft. Zu der Zeit waren Ginny und Ansgar ein Paar, Monate später trennten sie sich. Von Ginny hatte sie nie erfahren, was der Grund dafür war, doch konnte sie sich gut vorstellen, dass er sie betrogen hatte. Oder sie ihn? Tanja glaubte, sich zu erinnern, dass Ginny mal von einer neuen Beziehung sprach.

Jetzt betrat sie das Café und sah ihn sofort. Ansgar hatte sie noch nicht bemerkt, er saß mit dem Rücken zur Tür und telefonierte. Als sie hinter ihm stand, hörte sie gerade noch die Worte „Das wird Konsequenzen haben“. Er hatte sie sehr leise gesprochen. Im nächsten Moment sah er Tanja und beendete das Telefonat.

„Ich wollte dich nicht stören“, entschuldigte sie sich.

Doch er winkte ab. „Nichts Wichtiges, ich war sowieso fertig. Aber nun zu dir. Was möchtest du wissen?“

„Eigentlich alles, was es zum Thema Cyberkriminalität gibt.“ Tanja hatte Platz genommen und holte ihren Laptop raus.

Er sah sie mit dem ihm eigenen Lächeln an – einer Mischung aus gutmütigem Spott, Arroganz und Nachsichtigkeit. „So neu ist die Problematik doch nicht. Willst du das deinem Journal wirklich anbieten?“

„Will ich. Also erklär’s mir einfach.“

Für einen Moment ärgerte sie sich über seinen Ton. Aber schließlich war sie es, die etwas von ihm wollte, deshalb hielt sie sich mit einer bissigen Bemerkung zurück. Nachdem sie bestellt hatten, sah sie Ansgar abwartend an. Sie beobachtete, wie er lässig zurückgelehnt einfach nur dasaß, gedankenvoll an ihr vorbeischaute und schließlich den Blick auf sie richtete. Er war sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst und so gar nicht der Typ, den Tanja sich unter einem Computer-Nerd vorstellte.

„Laut einer Studie ist die Anzahl der Cyberattacken auf deutsche Firmen und mittelständische Unternehmen in den letzten Jahren drastisch gestiegen“, begann er etwas umständlich zu erklären. „Der Diebstahl von Daten stellt das größte Risiko dar. Aber oftmals verschlüsseln die Hacker auch firmeneigene Dokumente, so dass die Mitarbeiter des Unternehmens nicht mehr rankommen.“

„Erpressung?“

Ansgar bedachte sie mit einem nachsichtigen Lächeln. „Ganz genau. Lösegeldforderungen sind eine gängige Masche. Nach Zahlung der geforderten Summe werden die Daten wieder freigegeben. Generell wird in solchen Fällen strikt davor gewarnt, auf die Forderungen einzugehen. Das würde nur zu weiteren Erpressungsversuchen führen. Betroffene Institutionen sollten bei der Kripo Anzeige erstatten. Doch das machen die wenigsten. Denn kein Unternehmen redet gern darüber, Hacker in den eigenen Netzen zu haben. Sie befürchten einen Reputationsschaden.“

„Und dann zahlen sie lieber?“

„So ist es. Oder setzen IT-Spezialisten ein.“

„Solche wie dich zum Beispiel?“

„Hm, doch oftmals gelingt es auch denen nicht, die Dokumente zu entschlüsseln.“

„Aber spätestens, wenn ein gehacktes Unternehmen gezahlt hat, dürften die Sicherheitsexperten doch erkennen, wohin das Geld geflossen ist“, warf Tanja ein.

„Eben nicht. Beispielsweise wurden im US-Bundesstaat Florida vor nicht allzu langer Zeit mehrere kommunale Verwaltungen angegriffen. Einige Orte zahlten Lösegelder in Höhe von mehr als einer Million US-Dollar in Bitcoin. Doch an wen das Geld ging, ließ sich nicht nachverfolgen.“

Tanja tippte beflissen auf der Tastatur ihres Laptops. Dann wollte sie wissen: „Wie gelangen die Hacker eigentlich in die Computersysteme?“

„Durch Phishing-Mails zum Beispiel, oder Trojaner.“

„Und wie funktioniert dann so ein Angriff?“

„Die firmeneigenen Computersysteme werden manipuliert.“

„Besten Dank.“ Tanja verschränkte die Arme. „Die Antwort hätte ich mir auch selber geben können.“

„Eben.“ Er grinste sie an. Es war das gleiche jungenhafte, freche Lächeln, mit dem er sie damals bedachte, als sie Ginny und ihn kennenlernte. In Tanjas Augen waren sie das perfekte Paar: locker, attraktiv und schlagfertig. Und nun flirtete er ganz offensichtlich mit ihr. Oder nahm er gar an, sie hätte Interesse an ihm persönlich und das Interview wäre nur ein Vorwand, ihn wiederzusehen? Tanja konzentrierte sich wieder auf das Display des Laptops, spürte aber förmlich seinen Blick, wie er ihre kupferroten Locken streifte, hinabglitt zu den Schultern und dann vermutlich am Dekolletee hängenblieb. Sie ärgerte sich, dass sich wieder eine Haarsträhne aus dem Band, das ihre wilde Frisur zusammenhalten sollte, gelöst hatte. Auch die Kleidung fand sie jetzt unpassend gewählt. Er musste ja annehmen, dass sie ihm gefallen wollte.

„Um auf deine Frage zurückzukommen“, hörte sie ihn jetzt sagen. „Beim Manipulieren des Computersystems gehen die Hacker sehr subtil vor. Sobald sie im Unternehmensnetzwerk sind, suchen sie einen strategisch günstigen Punkt, um die Schadsoftware dort zu platzieren. Sie untersuchen, welche firmeneigenen Programme verwendet werden und tauschen dann eine Datei gegen eine manipulierte aus. Diese arbeitet wie das Original, wurde aber um ein paar Codezeilen ergänzt und reagiert auf die Befehle des Angreifers.“

Sie war dankbar, dass er zu einem sachlichen Ton zurückgefunden hatte. „Und können die IT-Spezialisten herausfinden, wer hinter den Angriffen steckt?“

„Nur manchmal. Dafür muss die Schadsoftware erst einmal gefunden werden. Danach wird der Programmcode genau analysiert. Auch Hacker machen Fehler und hinterlassen Spuren, sozusagen digitale Fingerabdrücke, anhand derer die Identität ermittelt werden kann. Aber wie gesagt, das gelingt nur selten.“

„Doch dir ist es schon gelungen?“, versuchte Tanja ihn herauszulocken. Und wieder zeigte er das verschmitzte Grinsen, das ihn sympathisch erscheinen ließ. „Also: Ja“, stellte sie fest. „Wann zuletzt?“

„Ich weiß nicht, ob ich mit dir darüber sprechen sollte.“

„Komm schon, mach’s nicht so spannend.“

Er zögerte noch, doch dann rückte er raus: „Vor kurzem erst. Genauer gesagt heute. Bei einem Klebstoffhersteller wurden Dokumente verschlüsselt und Daten gestohlen.“

„Ist denn ein Klebstoffhersteller so interessant, dass es lohnt, die Firma zu hacken?“

„In dem Fall schon. Mehr möchte ich nicht dazu sagen.“

„Aber wenigsten, wie das Unternehmen heißt?“

Doch er grinste nur. „Keine Chance. Das fällt in meiner Branche unter die Schweigepflicht.“

„Okay.“ Entschlossen klappte sie ihren Laptop zu.

„Aber bei der Analyse konnte ich feststellen, wohin der Datentransfer erfolgte.“ Tanja wollte das Gerät wieder öffnen, doch er legte seine Hand darauf. „Das ist jetzt außerhalb des Protokolls. Und falls du den Artikel wirklich rausbringen solltest, dann erwähne um Himmelswillen nicht meinen Namen. Das wäre für mich berufsschädigend.“

Sie sah ihn mit einem entwaffnenden Lächeln an. „Verstanden. Also, wohin sind die Daten geflossen?“

„Auf den Server eines Unternehmens, das schon lange an der Übernahme des Klebstoffherstellers interessiert ist. Aber vorrangig nicht wegen dessen Produkten, sondern weil es seinen Forschungssektor ausgebaut hat. Kurz und gut, den Wissenschaftlern ist eine Produktinnovation gelungen und sie haben sie patentieren lassen. Es handelt sich um einen neuartigen Bioklebstoff, der vor allem für die Biomedizin von Interesse ist.“

Sie war sichtlich enttäuscht. „Ich hatte gehofft, du würdest etwas konkreter werden.“

„Versteh mich doch, Tanja. Mehr kann ich nicht dazu sagen. Nur so viel noch: Heute hab ich durch Zufall herausgefunden, dass eine mir bekannte Persönlichkeit im Vorstand des biomedizinischen Unternehmens ist.“

„Eine Persönlichkeit!“ Tanja betonte das Wort. „Demnach kenne ich sie?“

Er zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise. Aber fest steht, dass der- oder diejenige in jeder Hinsicht von einem Erfolg profitieren würde.“

„Weiß er – oder sie? –, dass du es herausgefunden hast?“

„Alle Achtung!“, lachte Ansgar. „Du bist hartnäckig und versuchst es immer wieder! Aber ich werde nicht schwach, und wenn du mich noch so verführerisch ansiehst.“

 

Ein Vorfall

 

Zwei Tage, nachdem sie sich mit Ansgar getroffen hatte, erreichte sie ein Anruf von Ginny. Für den Bruchteil einer Sekunde durchfuhr Tanja ein Schreck. Er wird doch nicht ...? Und woher sollte Ginny wissen ...? Doch dann sagte sie sich, dass die beiden längst auseinander waren und es für sie absolut keinen Grund gäbe, ein schlechtes Gewissen zu haben. Außerdem war es nichts weiter als eine kurze Affäre, eine einmalige Sache, ohne Konsequenzen – aber durchaus mit Berechnung. Jetzt hörte sie Ginny sagen: „Ich muss mit jemandem reden, Tanja. Können wir uns treffen?“

„Ja, sicher. Wann und wo?“

Eine Stunde später saßen sich die beiden Freundinnen in einem kleinen Bistro gegenüber. Ginny sah betroffen aus. Nach ein paar Augenblicken des Schweigens brachte sie heraus: „Ansgar ist gestern verstorben.“

„Was?!“ Entsetzt starrte sie ihre Freundin an und rang um Fassung. „Sag, dass es nicht wahr ist!“

„Es ist aber so. Er lief gestern seine übliche Joggingrunde und brach plötzlich zusammen. Ein anderer Jogger hat ihn gefunden und sofort den Rettungsdienst angerufen. Aber trotz intensiver Reanimationsversuche konnte er während der Fahrt ins Klinikum nicht wiederbelebt werden. Die Ärzte stellten die Diagnose plötzlicher Herztod.“

„Aber das ist doch nicht möglich! Vorgestern erst hatte ich mit ihm gesprochen!“ Ginny horchte auf, und Tanja glaubte, in deren Blick Misstrauen zu erkennen. „Ich hatte ihn zufällig getroffen und um ein Interview gebeten“, schob sie nach.

„Worüber habt ihr euch denn unterhalten?“ Doch Ginny merkte selber, wie unpassend die Frage war. Leise meinte sie: „Ansgar war gerade erst vierzig geworden.“

„Wer hat dir denn die Nachricht überbracht?“, wollte Tanja wissen.

„Sein Bruder. Heute Vormittag rief er mich an. Er erhielt gestern einen Anruf aus der Klinik, wo man ihm mitteilte, dass Ansgar verstorben sei. Die genaueren Untersuchungen zur Todesursache würden derzeit noch laufen. Aber ihm wurde gesagt, dass diese Art von Todesfällen bei relativ jungen Menschen während sportlicher Aktivitäten keineswegs extrem selten seien. Meist läge den Ereignissen eine bis dahin unerkannte Herzerkrankung zugrunde, zum Beispiel eine infektiös bedingte Herzmuskelentzündung.“ Nach einem beklommenen Schweigen, meinte sie: „Das alles ist so absurd – so unwirklich.“

Tanja schaute ihre Freundin nachdenklich an. Um deren Mund lag ein bitterer Zug, doch die Augen blieben trocken, und sie waren nicht gerötet – offenbar hatte sie nicht geweint. Trotzdem muss die entsetzliche Nachricht für sie ein Schock gewesen sein, auch wenn sie nach eigenem Bekunden längst getrennt waren. „Wollen wir uns einen Cognac bestellen?“, fragte sie. „Ich glaube, ich könnte jetzt einen vertragen.“

Als Ginny den ersten Schluck genommen hatte, wiederholte sie die Frage, worüber ihre Freundin und Ansgar sich zuletzt unterhielten.

„Ich wollte etwas über Cyberkriminalität wissen“, erklärte Tanja wahrheitsgemäß. Plötzlich kam ihr ein befremdlicher Gedanke, und je länger sie darüber nachdachte, umso realer erschien ihr diese Möglichkeit.

Ginny hatte sie beobachtet. „Worüber grübelst du?“, wollte sie wissen.

„Darüber, was Ansgar mir zuletzt über seine Tätigkeit erzählt hatte. Als ich ihn fragte, ob man die Identität der Hacker ermitteln könnte, erklärte er, dass sie manchmal einen digitalen Fingerabdruck hinterließen. Und dann rückte er mit ein paar konkreten Details heraus. Nicht sofort, du kennst ihn ja ... Niemand kannte ihn besser als du“, ergänzte sie eilig. „Aber nach einigem Nachfragen erzählte er von einem Klebstoffhersteller, dem Daten gestohlen wurden. Und Ansgar hätte herausgefunden, wohin der Datentransfer erfolgte. Mehr noch: Er kannte die Person, die davon profitieren würde. Und das alles muss erst vorgestern passiert sein, kurz bevor ich mit ihm sprach.“

Ginny hatte aufmerksam zugehört. „Was genau willst du mir damit zu verstehen geben?“, fragte sie argwöhnisch.

„Wenn alles stimmt, so wie Ansgar es geschildert hat, dann stellte er für den Hacker eine Gefahr dar. Vorausgesetzt, derjenige hat bemerkt, dass seine Identität aufgedeckt wurde. Oder ...“

„Oder was?“

„Könnte es sein, dass Ansgar versucht hat, denjenigen zu erpressen?“

Nach ein paar Augenblicken äußerte Ginny: „Ich traue ihm alles zu.“ Sie sah Tanja prüfend an. „Und ich weiß jetzt, was deine Vermutung beziehungsweise dein Verdacht ist. Du hältst es für möglich, dass Ansgar durch Fremdeinwirkung verstarb.“ Tanja schwieg dazu, ein Zeichen, dass ihr genau dieser Gedanke gekommen war. „Das hieße, dass er ermordet wurde.“ Ginny ließ die ungeheuerliche Idee ein paar Sekunden auf sich wirken, dann fragte sie scharf: „Was hat er dir konkret gesagt?“

„Er hat mir weder den Namen der geschädigten Firma noch den des Unternehmens genannt, zu dem die Daten geflossen sind. Aber er sagte so ziemlich wortwörtlich, dass eine bekannte Persönlichkeit im Vorstand sei und von dem Erfolg profitieren würde. Und verlass dich drauf, ich werde herausbekommen, wer das ist.“

„Lass die Finger davon“, warnte Ginny.

„Das kann ich nicht, ich bin Journalistin, und die Neugierde liegt mir gewissermaßen im Blut. Außerdem verspreche ich mir eine gute Story für einen Artikel.“ Tanja überlegte, wie sie vorgehen könnte, und meinte dann: „Als Erstes werde ich mich mit seinem Bruder in Verbindung setzen. Vielleicht weiß der ja mehr. Es wäre denkbar, dass Ansgar mit ihm darüber gesprochen hat.“

„Soviel ich weiß, hatten die beiden kein gutes Verhältnis zueinander“, gab Ginny zu bedenken. „Ansgar hat ihm garantiert nichts Näheres erzählt.“

„Aber immerhin rief das Krankenhaus ihn an, als sein Bruder verstarb.“

„Natürlich, er ist ja sein engster Verwandter.“

„Und er hat dich angerufen. Demnach wusste er von eurer Beziehung.“

„Möglich. Aber wir haben uns nie persönlich kennengelernt. Meine Telefonnummer stand sicher unter Ansgars Kontaktdaten auf dem Handy.“ Sie schwieg ein paar Sekunden, dann meinte sie entschlossen: „Ich kenne jemanden, der sich in dem Metier bestens auskennt. Er wird einen Weg finden, um Näheres zu erfahren.“

„Arbeitet er ebenfalls in der IT-Branche?“, wollte Tanja wissen.

Ginny schüttelte den Kopf. „Vorerst möchte ich nichts weiter dazu sagen. Aber sobald ich mehr weiß, melde ich mich bei dir.“

 

Die Beunruhigung

 

Am nächsten Morgen, Tanja war dienstlich unterwegs, erreichte sie auf ihrem Handy die Nachricht: „Hab alles herausgefunden! Du hattest recht. Näheres dazu heute Abend. Ginny.“

Tanja holte tief Luft. Demnach war es ihrer Freundin gelungen, die Identität der mysteriösen Persönlichkeit, wie Ansgar den Hintermann bezeichnet hatte, aufzudecken. Und somit hätte sich auch der Verdacht bestätigt, dass er ermordet wurde. Entweder wurden seine Aktivitäten entdeckt, oder er hat versucht, die Person zu erpressen. Wie riskant und leichtsinnig von ihm.

Für einen Moment erwog Tanja, ihre Freundin anzurufen, ließ es dann aber sein.

Erst am späteren Abend, als es auf einundzwanzig Uhr zuging, hielt sie es nicht länger aus – zumal ihre eigenen Recherchen nichts gebracht hatten. Sie wählte Ginnys Nummer, nur um kurz darauf festzustellen, dass sie ihr Handy ausgeschaltet hatte. Sie würde es später nochmal versuchen.

Aber auch da war Ginny telefonisch nicht erreichbar. Besorgt ging Tanja zu Bett, erst weit nach Mitternacht fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Knapp zwölf Stunden später fragte Hauptkommissar Wiesmann seinen Kollegen, den venezolanischen Comisario José Garcia Hernández: „Kommst du mit? Es ist Mittagszeit, mir knurrt schon der Magen.“

Doch der schüttelte den Kopf. „Ich hab mir ein belegtes Brötchen geholt.“

Etwas enttäuscht stemmte sich Wiesmann aus dem Schreibtischsessel. Also würde er alleine essen gehen.

Als er das Gebäude verließ, sah er Dr. Zumried, den Strafverteidiger. Beide pflegten ein ambivalentes Verhältnis zueinander. Im Laufe der Jahre bot sich ihnen reichlich Gelegenheit, sich näher kennenzulernen – sowohl beruflich als auch ein wenig privat.

Wiesmann schätzte Zumrieds professionelle Auftritte vor Gericht und dessen clevere Strategien während der Prozesse, obwohl er natürlich die Gegenseite vertrat. Andererseits unterstellte er dem Anwalt einen Hang zum Zynismus. Aber das brachte wohl der Beruf mit sich. Er selbst, so musste Wiesmann sich eingestehen, neigte ebenfalls zu Sarkasmus und trat bei den Vernehmungen oftmals schnoddrig auf. Das zumindest behauptete Garcia Hernandéz, sein engster Kollege.

Mit seinem typischen Lächeln, in dem immer eine Spur Ironie lag, begrüßte Zumried ihn. „Ah, der Herr Kriminalhauptkommissar! Haben Sie für mich wieder einen potenziellen Mandanten an der Angel? Ich verdanke Ihnen viel!“

„Und Sie hauen dann die Schurken, die wir mühsam hinter Gitter gebracht haben, wieder raus!“ Damit war der obligatorische Schlagabtausch, der schon zu einem Ritual geworden war, beendet. „Ich wollte gerade essengehen. Kommen Sie mit?“

„Gerne.“ Sie einigten sich darauf, das Bistro aufzusuchen, das nur ein paar Gehminuten vom Kommissariat entfernt lag. Nachdem sie es betreten hatten, steuerte Wiesmann zielgerichtet auf einen freien Tisch zu. Wenig später hatten sie bestellt.

Jetzt hatte Wiesmann Gelegenheit, einen flüchtigen Blick auf die Garderobe seines Gegenübers zu werfen. Wie immer war der Anwalt korrekt gekleidet. Er trug – das unterstellte Wiesmann zumindest – einen maßgeschneiderten Anzug, dazu teure Schuhe; das graumelierte Haar war perfekt geschnitten, und die goldgerahmte Brille rundete sein weltmännisches, gepflegtes Erscheinungsbild ab. Auf Wiesmann wirkte er wie ein Snob. Doch im Grunde genommen war Zumried ihm nicht unsympathisch. Er war ein unterhaltsamer Gesprächspartner mit unterschwelligem, mitunter schwarzem Humor und einem gehörigen Schuss an Selbstironie. Hin und wieder gab er Episoden aus seinem Berufsalltag zum Besten, ohne dabei die Schweigepflicht gegenüber den Mandanten zu verletzten. Und oftmals entnahm Wiesmann dann ein paar nützliche Erkenntnisse zur Psychologie der Täter. So auch heute.

Unterdessen hatte die Bedienung das Essen und die Getränke gebracht. Während der Anwalt erzählte, aß Wiesmann in Ruhe seine Boulette mit Kartoffelsalat und hörte dabei zu. Zumried sprach von einem Fall, bei dem sein Mandant ihn bis zuletzt belogen hatte und er als sein Strafverteidiger erst während des Prozesses mit der Wahrheit konfrontiert wurde.

„Das sind die absoluten Tiefpunkte in meinem Beruf.“

„Trösten Sie sich“, meinte Wiesmann trocken. „Ich werde ständig belogen. Aber das liegt wohl in der Natur der Sache.“

„Stimmt, so sehe ich das auch. Und eins haben wir beide gemeinsam.“ Etwas misstrauisch wartete Wiesmann ab, was nun kommen mochte. „Bis zum Ende unseres Berufslebens werden wir es mit Gaunern zu tun haben – Sie auf der einen, ich auf der anderen Seite.“

„Welch weise Worte“, konterte er. Dann sah er überrascht auf die Uhr. „Eigentlich müsste ich längst wieder am Schreibtisch sitzen.“

„Und nach dem Essen noch ein Stündchen Beamtenschlaf dranhängen?“

Wenig später verabschiedeten sie sich.

Im Kommissariat wurde Wiesmann bereits erwartet. „Wo bleibst du denn so lange“, empfing ihn Garcia Hernández. „Vor einer Viertelstunde wurde eine Zeugin gemeldet, eine Journalistin. Sie hätte eine dringende Aussage zu machen. Soll ich sie jetzt hereinbitten?“

Eigentlich hatte er keine Zeit, auf seinem Schreibtisch stapelten sich Akten, und ein überfälliger Bericht musste noch geschrieben werden. „Die Zeugin soll kommen“, knurrte er missmutig.

Kurz darauf betrat eine schlanke Frau, sie mochte Ende dreißig sein, den Raum. Sie stellte sich als Tanja Wegner vor. Garcia Hernández erhob sich bei der Begrüßung und bat sie Platz zu nehmen. Wiesmann blieb sitzen und betrachtete sie mit unverhohlenem Interesse. Der limettengrüne Jumpsuit, den sie trug, bot farblich einen starken Kontrast zu ihren wildgelockten roten Haaren. Das auffallende Outfit und die Sommersprossen in ihrem Gesicht verliehen ihrer Erscheinung etwas Leichtes, Unbekümmertes. Doch im Widerspruch dazu stand ihre ernste, besorgte Miene. Sie äußerte die Befürchtung, dass ihrer Freundin Ginny Mai etwas zugestoßen sein könnte.

„Wie kommen Sie darauf?“

Es war Wiesmann, der die Frage stellte – Garcia Hernández hätte sie taktvoller, feinfühliger formuliert. Tanja schilderte so detailliert wie möglich die Begebenheiten der vorherigen Tage. Sie sprach von dem Interview, dass sie mit Ansgar Hanke geführt hatte, und wie sie durch ihre Freundin Ginny von dessen plötzlichem Herztod erfuhr. „Vorgestern sprach sie davon, dass sie jemanden kenne, der Näheres in Erfahrung bringen würde.“ Dann zeigte sie die Nachricht auf ihrem Handy, die sie gestern Vormittag erhielt, und dass sich Ginny entgegen ihrer Ankündigung nicht wieder gemeldet hätte. Tanja sprach von der Beunruhigung, die sie befiel, weil ihre Freundin telefonisch nicht erreichbar war.

„In der Nachricht steht: Du hattest recht. Was meinte sie damit?“

„Zum einen hatte ich geäußert, dass die Hacker womöglich bemerkten, dass Ansgar ihnen auf der Spur war. Somit würde er für sie eine Gefahr darstellen. Zum anderen hielt ich es für möglich, dass er sogar versucht hat, sie zu erpressen. In beiden Fällen wäre davon auszugehen, dass sein plötzlicher Herztod durch Fremdeinwirkung verursacht wurde.“

„Warum hat sich der Verstorbene dann nicht gleich ans BKA gewandt?“, wetterte Wiesmann los. „Die haben ganz andere Möglichkeiten, gegen Cyberkriminalität vorzugehen.“ Er redete sich förmlich in Rage. „Ebenso hätte Ihre Freundin nicht auf eigene Faust etwas in der Sache unternehmen dürfen! Solche Eigenmächtigkeiten bringen gar nichts und sind zudem gefährlich! Unverständlich ist mir auch, warum Frau Mai Ihnen die Nachricht geschickt hat.“

„Sie war euphorisch, weil sie etwas rausgefunden hat, und wollte es mich wissen lassen.“

„Hm, belassen wir es dabei. Geben Sie uns mal die Daten Ihrer Freundin an. Wie heißt sie mit richtigem Namen? Ginny wird ja nur eine Kurzform sein.“

Tanja hob die Schultern. „Ich kenne sie nur unter diesem Vornamen. Als sie sich vorstellte, sagte sie, dass sie Ginny – wie das Getränk Gin – und mit Nachnamen wie der Monat Mai heißt.“ Dann fiel ihr ein: „Vielleicht ist Ginny die Kurzform von Ginette? Wenn Sie den Namen bitte auch notieren würden.“

 Wiesmann schüttelte missbilligend den Kopf, vermerkte dann aber den Vornamen mit einem Fragezeichen dahinter. „Weiter geht’s: Geburtsdatum, Geburtsort, Adresse, Angehörige. Hat sie welche? Und wenn ja, warum hat sich von denen noch niemand gemeldet?“

„Ich weiß nicht, ob sie Verwandte hat. Auch das Geburtsjahr und den Geburtsort kenne ich nicht, nur ihren Geburtstag.“

„Dann nennen Sie uns mal ihre Adresse.“

„Ich glaube, sie wohnt im Stadtbezirk Lichtenberg, die Straße weiß ich nicht, ich war noch nie bei ihr zuhause.“

„Merkwürdig. Sie sagten, dass Sie mit ihr befreundet seien. Was wissen Sie denn überhaupt über sie?“

Tanja kam nicht umhin zu erwähnen, dass sie Ginny und Ansgar damals bei einem Interview kennengelernt hatte und sich aus der spontanen Sympathie eine Freundschaft entwickelte, ohne dass sie persönliche Details über die beiden erfuhr. „Wir haben unsere Handynummern ausgetauscht. Immer wenn wir uns treffen wollten, riefen wir uns an oder schrieben eine Nachricht. Das ist heutzutage so üblich.“

Wiesmann erwiderte nichts darauf, sondern überließ alles weitere Garcia Hernández. Der notierte Tanjas Angaben und kopierte ihren Ausweis. Dann erhob er sich und begleitete sie zur Tür. „Wir werden uns um alles kümmern, Frau Wegner. Ich gebe Ihnen für den Fall, dass Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, meine Mobilfunknummer. Scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen. Jeder Hinweis könnte nützlich sein. Sobald es Neuigkeiten gibt, melden wir uns.“ Sie bedachte ihn mit einem Lächeln und verabschiedete sich.

Als sie allein im Zimmer waren, grinste Wiesmann. „Sie gefällt dir, stimmt’s?“

„Red keinen Unsinn. Aber ein Mindestmaß an Höflichkeit würde auch dir nicht schaden.“

Es war die alte Geschichte. Die beiden Kommissare fielen nicht nur äußerlich durch ihre Gegensätzlichkeit auf. Wiesmann führte die Vernehmungen meist in einem poltrigen, schnoddrigen Ton, Garcia Hernández hingegen pflegte geschliffene Umgangsformen, verunsicherte die Zeugen dann aber plötzlich durch scharfe Fragestellungen und einen kühlen, unergründlichen Blick. Auffallend waren seine graugrünen Augen, die im Kontrast zu dem gebräunten Teint und den dunklen Haaren standen. Im Gegensatz zu dem deutschen Kommissar war er groß und schlank und stets korrekt gekleidet. Wiesmann hingegen war untersetzt mit einer deutlichen Tendenz zum Bauchansatz. Ganz offensichtlich legte er auf sein Äußeres kaum Wert.

Kennengelernt hatten sich beide, als Garcia Hernández vor Jahren eine Zeit lang in Deutschland lebte. Danach ging er in seine Heimat Venezuela zurück. Ihr letzter gemeinsamer Fall brachte den Comisario wieder nach Deutschland, und durch Wiesmanns Anregung bewarb er sich auf eine Stelle im LKA. Mit Erfolg – einen Monat später trat er seinen Dienst an.

Obwohl beide eine kollegiale Freundschaft verband, so gab es hin und wieder Rangeleien, eine Art Rivalität, die ihnen in gewisser Weise als Ansporn diente. Wiesmann hielt sich zugute, dass er während der Vernehmungen ohne Umwege und Ansehen der Person direkt zur Sache kam. Dem smarten Comisario warf er vor, durch übertriebene Höflichkeit die Ermittlungen in die Länge zu ziehen. Garcia Hernández wiederum war der festen Überzeugung, nur durch einfühlsames Vorgehen zum Kern der Sache zu gelangen. Oft erfuhr er auf diese Weise wesentliche Aspekte, die seinem deutschen Kollegen entgingen.

„Auf mich macht die Dame einen überdrehten Eindruck“, kam Wiesmann auf Tanja Wegners Aussage zurück. „Aber wenn an der Geschichte was dran ist, müssen wir reagieren.“ Er griff zum Telefon, um die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten.

 Kurz vor siebzehn Uhr erhielt Tanja einen Anruf, sie sollte zur Klärung eines Sachverhaltes nochmal ins Kommissariat kommen.

Eine halbe Stunde später saß sie den beiden Kommissaren gegenüber. Sie war auf das Schlimmste gefasst. Es konnte nur so sein, dass Ginny sich bei ihrer Recherche in Gefahr gebracht hatte.

Wiesmann hatte es seinem Kollegen überlassen, die Vernehmung zu führen. Er selbst saß zurückgelehnt im Schreibtischsessel und beobachtete die Zeugin.

„Frau Wegner“, begann Garcia Hernández etwas umständlich, „in der Zwischenzeit haben wir uns der Sache angenommen und zu dem Fall – wenn es denn überhaupt einer ist – gründlich recherchiert. Um es vorwegzunehmen: Zuerst haben wir mit den Ärzten der Klinik gesprochen, in der Herr Ansgar Hanke verstarb. Derzeit besteht kein Zweifel daran, dass er einem plötzlichen Herztod erlag. Auch den Bruder haben wir kontaktiert. Er selbst ist verständlicherweise zutiefst erschüttert, aber nach dessen Ansicht bestünde kein Grund, den klinischen Befund infrage zu stellen. Im Gegenteil, über unsere Nachfrage zeigte er sich irritiert. Er beschrieb seinen Bruder als ehrgeizigen Menschen, der die Ziele generell zu hoch steckte – vor allem auch, was die körperliche Fitness betraf. Er trainierte zu exzessiv.“

Tanjas Unruhe wuchs. „Haben Sie etwas zu meiner Freundin herausgefunden?“

Garcia Hernández antwortete nicht sofort. Ein paar Sekunden lang ruhte sein Blick, den sie nicht zu deuten wusste, auf ihr. Ebenso spürte sie, wie Hauptkommissar Wiesmann sie mit unverhohlenem Interesse betrachtete.

Endlich kam der Comisario zum entscheidenden Punkt: „Frau Wegner, wir bitten Sie, Ihre Aussage bezüglich Ihrer Freundin Ginny oder Ginette Mai noch einmal zu überdenken.“

„Was soll das heißen? Da gibt es nichts zu überdenken!“, entgegnete sie. „Seit der Textnachricht habe ich von ihr kein Lebenszeichen erhalten. Ginny wollte sich gestern Abend wieder bei mir melden, und das hat sie nicht getan. Das halte ich für äußerst ungewöhnlich. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um sie!“ Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet, so dass die Sommersprossen kaum erkennbar waren. Das Band, das ihre Locken zusammenhalten sollte, hatte sich gelöst – sie selbst schien völlig aufgelöst. „Was wollen Sie mir jetzt zu verstehen geben? Dass meine Freundin sich nicht wieder gemeldet hat, weil sie den Kontakt zu mir abbrechen will?“

„Beruhigen Sie sich doch“, bat Garcia Hernández in nachsichtigem Ton.

Wiesmann konnte sich kaum beherrschen. Es war so typisch! Wieder einmal ärgerte er sich über die übertriebene Höflichkeit seines Kollegen. Während dieser nach einer passenden Formulierung suchte, erklärte er barsch: „Es gibt keine Person mit dem Namen Ginny oder Ginette Mai. Unsere Mitarbeiter haben alle verfügbaren Daten durchforstet. Die Nachfragen beim Einwohnermeldeamt und dem Finanzamt waren ebenfalls erfolglos. Dort taucht der Name nicht auf.“

„Das kann nicht sein!“ Tanjas Blick wanderte zu Garcia Hernández und wieder zurück zu Wiesmann. „Ich kenne sie doch!“ Fieberhaft suchte sie nach einer Erklärung, fand aber keine.

„Haben Sie ein Foto von ihr? Oder ein Selfie, auf dem sie mit drauf ist?“, versuchte Garcia Hernández weiterzuhelfen.

Tanja grübelte einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. „Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir uns je fotografiert hätten.“

„So kommen wir nicht weiter“, bekundete Garcia Hernández. „Wie ich eingangs bat: Bitte überdenken Sie Ihre Aussage nochmal.“

So hilflos und verzweifelt hatte sie sich ewig nicht gefühlt. Wie konnte es sein, dass es für die Existenz ihrer Freundin keinerlei Beweise gab? Ihr Name nirgends zu finden war? Dann fiel ihr ein: „Die Mobilfunknummer, unter der ich ihre Nachricht erhalten habe! Sie gehört ganz eindeutig Ginny.“

Wiesmann lächelte müde. „Auch das haben die Kollegen überprüft. Die Nummer wurde gar nicht vergeben.“

Ungläubig starrte sie ihn an. Sie begann an ihrem Verstand zu zweifeln.

Garcia Hernández erhob sich. Mit den Worten „Sicher liegt hier ein Missverständnis vor“ geleitete er Tanja zur Tür. Als sie wieder allein waren, meinte er: „Die Sache ist mir unerklärlich.“

„Mir nicht“, entgegnete Wiesmann. „Ich nehme an, die Journalistin ist nicht ausgelastet und sucht nach spektakulären Themen. Vermutlich hat sie von dem tragischen Tod erfahren und recherchiert, dass Ansgar Hanke von Beruf IT-Spezialist war. Und was liegt da für sie näher, als sich eine Geschichte drumherum zu basteln? Wenn etwas dran wäre, käme sie damit groß raus – so denkt sie wohl.“

„Aber warum sollte sie die Freundin erfunden haben?“

Wiesmann zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise suchte sie nach einem Aufhänger, um uns die Sache nahe zu legen. Da sie selbst von der Branche wenig versteht, mussten eben ein verstorbener IT-Experte und eine verschwundene Freundin herhalten.“ Für ihn war die Angelegenheit erledigt. „Wir haben anderes zu tun, als Hirngespinsten nachzugehen.“ Er packte seine Sachen. „Kommst du mit?“

Garcia Hernández saß reglos am Schreibtisch. Ein neuer, äußerst beunruhigender Gedanke drängte sich ihm auf. Als Wiesmann merkte, dass sein Kollege ihm gar nicht zugehört hatte, zuckte er gleichgültig mit den Schultern und verließ das Büro.

 

Eine Message

 

Wie vor den Kopf geschlagen fuhr Tanja nach Hause. Sie verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte es sein, dass der Name ihrer Freundin nirgends zu finden war? Schlimmer noch, momentan sah es danach aus, als hätte es Ginny nie gegeben – als existiere sie gar nicht. Zu der Hilflosigkeit, die Tanja ergriffen hatte, kam jetzt ein weiteres Gefühl hinzu: Es war die blanke Wut. Beide Kommissare nahmen sie nicht ernst – der dicke schnoddrige sowieso nicht, aber auch der andere, den sie anfangs für umgänglicher und höflich hielt, glaubte ihr ganz offensichtlich nicht.

Zuhause angekommen, lief Tanja ziellos in der Wohnung umher. Sie spürte förmlich die Gefahr, in der Ginny sich befand. Stärker als zuvor überkam sie die Gewissheit, dass etwas Schreckliches geschehen war. Aber was hätte sie, Tanja, unternehmen können, außer ihren Verdacht der Polizei zu melden? Doch sie war jämmerlich gescheitert.

Fast hätte sie die eingehende Nachricht auf ihrem Smartphone überhört. Hastig griff sie danach und öffnete die Mitteilung: „Brauche dringend deine Hilfe! Treffen um einundzwanzig Uhr am AH Clauß-Mobil. Alles Weitere später. Ginny“. Tanjas Puls begann zu rasen. Ein Lebenszeichen von Ginny! Und ganz offensichtlich war sie in Not. Für einen Moment erwog Tanja, sie anzurufen aber verwarf die Idee sofort wieder. Sie wusste ja gar nicht, in welcher Situation Ginny der Rückruf erreichen würde. Also schrieb sie: „Ich komme“. Dann schaute sie auf die Uhr: Ihr blieben knapp zwei Stunden Zeit. Der von Ginny festgelegte Treffpunkt AH Clauß-Mobil war ein bekanntes Autohaus, es lag in einem Gewerbegebiet und bot preisgünstige Gebrauchtwagen an. Sie selbst hatte ihr Auto dort vor drei Jahren gekauft.

 Es war schon dämmrig, als sie den Wagen auf dem Kundenparkplatz abstellte. Nicht weit von ihr entfernt stand ein Transporter mit der Aufschrift Autoservice und dem Logo AH Clauß-Mobil. Ihr blieb noch etwas Zeit – es war kurz vor einundzwanzig Uhr.

Drei Minuten später stieg sie aus und schaute sich aufmerksam um. Zu dieser Zeit war hier niemand mehr vor Ort, auch die Werkstatt hatte längst geschlossen. Die Gebrauchtwagen standen dicht an dicht und boten in der hereinbrechenden Dunkelheit einen idealen Treffpunkt für dubiose Geschäfte, schoss es ihr durch den Kopf. Obwohl sie kein ängstlicher Typ war, empfand sie eine merkliche Anspannung und spürte, wie ihr Adrenalinspiegel stieg.

Vorerst blieb sie neben ihrem Auto stehen und versuchte, über die Reihen der zum Verkauf abgestellten Gebrauchtwagen zu schauen. Langsam stieg die Kälte in ihr hoch, sie zog die Jacke fester um sich. Nachdem weitere fünf Minuten vergangen waren, entschied sie sich zum nächsten Schritt. Prüfend glitten ihre Augen über das Heer von Autos. Wie eine Armada standen die Wagen aufgereiht vor ihr – an die fünfzig mochten es sein. Dass Ginny Mai in einem von ihnen saß, hielt sie für unwahrscheinlich. Vielmehr ging sie davon aus, dass sie abgeduckt hinter einer der Limousinen wartete. Doch warum zeigte sie sich nicht? „Ginny“, rief sie mit gedämpfter Stimme. Nichts. Und noch einmal „Ginny?“ – keine Reaktion.

Mit schnellen Schritten lief sie auf die vordere Reihe der abgestellten PKWs zu – ihr Smartphone hielt sie fest in der Hand. Sie hatte die Taschenlampenfunktion eingeschaltet und leuchtete in den ersten Wagen hinein. Der Lichtstrahl glitt tastend über Fahrer-, Beifahrer- und Rücksitze. Auf diese Weise suchte sie die beiden nächsten Autos ab. Plötzlich löste sich ein Schatten aus der dahinterliegenden Reihe.

„Ginny?“, raunte sie. Alles Weitere geschah in Sekundenschnelle.

Den Schlag wehrte sie routiniert ab und fegte mit einem gezielten Stoß den Angreifer zu Boden. Ihr Knie hielt sie gedrückt auf die bäuchlings liegende, schwarzgekleidete Person. Im gleichen Augenblick sprangen vier weitere Gestalten mit gezückten Waffen hinter den umstehenden Autos hervor – es waren Mitglieder eines Einsatzkommandos, die ihrer Kollegin jetzt zu Hilfe kamen. Einer von ihnen fixierte die am Boden liegende Person mit Handschellen und drehte sie auf den Rücken. Ein Blick in deren Gesicht brachte Gewissheit, dass es sich nicht um Ginny Mai handelte.

Garcia Hernández sprang aus dem Firmentransporter. Wiesmann und er hatten das Geschehen durch die getönten Scheiben der Seitenfenster beobachtet. Im gleichen Augenblick rasten zwei Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene heran. Sie hatten unweit des Gewerbegebietes in einer Seitenstraße bereitgestanden. Der Einsatz und die Suche nach möglichen weiteren beteiligten Personen würde Stunden dauern. So lange wollten Wiesmann und Garcia Hernández nicht warten.

Wie benommen folgte Tanja, die sich ebenfalls im Firmentransporter aufgehalten hatte, den beiden Kommissaren zum Dienstwagen und stieg ein. Die Vorstellung, was passiert wäre, wenn sie dem vermeintlichen Hilferuf von Ginny gefolgt und allein gekommen wäre, mochte sie gar nicht an sich heranlassen.

Nachdem sie die Nachricht ein zweites Mal gelesen hatte, war ihr der Gedanke gekommen, dass nicht Ginny diese Worte geschrieben hatte. Sie war nicht der Typ, der spätabends ein konspiratives Treffen auf unwegsamem Gelände vorschlagen würde. In einer Notsituation, wie es die Nachricht glauben ließ, hätte sie sich an die Polizei gewendet. Nein, plötzlich war Tanja klar, dass man sie in eine Falle lockte. Sie hatte das Kärtchen mit Garcia Hernández’ Mobilfunknummer herausgesucht und ihn angerufen.

Jetzt fuhr sie mit ihm und Wiesmann in deren Dienstwagen zum Kommissariat.

Spätabends betraten sie den Raum, in dem Tanja vor nur wenigen Stunden den beiden Kommissaren gegenübersaß. Kurz darauf kam die Beamtin hinzu, die bei dem Einsatz ihre Rolle übernommen hatte. Sie hieß Sylke Bischoff und war ebenfalls Kommissarin. Als Tanja sich bei ihr bedanken wollte, meinte sie lakonisch: „Das ist mein Job.“

Garcia Hernández erklärte: „Derzeit wird die Identität des Täters ermittelt und das Gelände nach möglichen weiteren Beteiligten abgesucht. Und wie Sie gesehen haben, Frau Wegner, schweben Sie in großer Gefahr. Sie haben korrekt und umsichtig gehandelt, indem Sie mich sofort angerufen haben.“

Unter anderen Umständen hätte sie Genugtuung empfunden, doch jetzt überwogen die Sorge um Ginny und die eigene Angst.

Wie üblich hielt Wiesmann sich nicht mit langen Vorreden und Höflichkeiten auf, sondern kam direkt zur Sache. „Morgen wird es eine Gegenüberstellung geben, und Sie werden uns sagen, ob Sie der festgenommenen Person zuvor schon mal begegnet sind. Des Weiteren denken Sie nochmal gründlich darüber nach, warum man Sie in eine Falle locken wollte und was es mit ihrer ... Freundin auf sich hat.“ Die Pause vor dem Wort Freundin ließ erkennen, dass er an deren Existenz zweifelte. „Wie wir bereits sagten, gibt es niemanden mit dem von Ihnen genannten Namen Ginny oder Ginette Mai.“

Momentan war Tanja keines klaren Gedankens fähig, sie war einfach erschöpft und verstört.

„Jetzt lassen Sie Frau Wegner doch erst einmal zur Ruhe kommen“, unterbrach Kommissarin Bischoff ihren Kollegen. „Vorrangig ist momentan, wie es für die Zeugin weitergeht. In ihre Wohnung kann sie ohne Polizeischutz nicht zurück.“

„Sylke hat Recht“, stimmte Garcia Hernández ihr zu. „Für heute soll es erst einmal genug sein. Wir müssen jetzt überlegen, wie wir für Frau Wegners Sicherheit sorgen können.“

Aha, stellte Wiesmann fest, der smarte Comisario schlug in die gleiche Kerbe. Und er hatte sehr wohl registriert, dass sich beide mit Vornamen ansprachen. Mit finsterer Miene äußerte er: „Sicher haben Sie auch schon eine Idee, verehrte Kollegin, wie wir das anstellen sollen?“

„Die Einhundertzwei“, erwiderte sie. Verständnislos sahen Wiesmann und Garcia Hernández sie an. „Zu Ihrem Verständnis: Ich spreche vom Raum Einhundertzwei, dem Gästezimmer im Kommissariat. Für die eine Nacht wird es wohl gehen. Danach sehen wir weiter.“ Und bevor Tanja etwas entgegnen konnte, erklärte sie: „Handtücher und Hygieneartikel sind vor Ort.“

Garcia Hernández fand den Vorschlag akzeptabel, Wiesmann schwieg vergnatzt, und Tanja blieb keine andere Wahl, als zuzustimmen.

„Dann sehen wir uns morgen acht Uhr in Ihrem Dienstzimmer?“ Es war keine Frage, sondern eine Aufforderung an Wiesmann, die Besprechung auf den morgigen Tag – der in einer halben Stunde anbrechen würde – zu verlegen. Sie erhob sich und gab Tanja zu verstehen, dass sie ihr folgen sollte.

Garcia Hernández sah seinem Kollegen an, dass er sich überrumpelt fühlte. Nachdem die beiden Frauen das Zimmer verlassen hatten, meinte er in versöhnlichem Ton: „Komm, machen wir Schluss für heute.“

Auch wenn Wiesmann der spätabendliche Einsatz auf dem Gelände des Autohauses Respekt abnötigte, so betrachtete er Sylke Bischoff dennoch als Neuling. Vor einem halben Jahr war sie in sein Team gekommen, und es fiel ihm nach wie vor schwer, in ihr eine ebenbürtige Kollegin zu sehen. Nach seinem Empfinden war die Abteilung sein Revier, und niemand hatte ihn hier zu belehren – es reichte schon, wenn Garcia Hernández ihm ständig Kontra gab.

„Aber morgen geht es straff weiter!“, bestimmte er und stemmte sich aus seinem Schreibtischsessel.

 

Überlegungen

 

Nach einer kurzen, weitestgehend schlaflosen Nacht, einem dürftigen Frühstück und einem kräftigen Kaffee fühlte Tanja sich in der Lage, den Vormittag zu überstehen.

Es folgten weitere Befragungen, an denen nun auch Sylke Bischoff teilnahm. Tanja war es recht. Die pragmatische Kommissarin war ihr in jeder Hinsicht sympathisch. Sie zeigte ein gewisses Maß an Empathie, was Tanja bei Wiesmann völlig vermisste. Auch der umgänglichere venezolanische Kommissar war ihr nicht geheuer. Unter seiner vermeintlichen Höflichkeit steckten – so befand Tanja – Kalkül und Härte. Mehr als einmal traf sie sein forschender Blick. Vermutlich sah er in ihr eine Journalistin, die sich mangels anderer inspirierender Themen auf ein ihr bislang unvertrautes Terrain vorgewagt und den Bogen überspannt hatte.

Dann zeigte ihr Wiesmann ein Foto von dem Täter. „Kennen Sie ihn?“

Tanja schüttelte den Kopf. Sie sah seinen zweifelnden Blick und versicherte: „Ich hab ihn nie zuvor gesehen.“

„Natürlich wissen Sie auch nicht, warum er es auf Sie abgesehen haben könnte?“

„Doch.“ Zumindest schien Wiesmann verblüfft. „Ich befürchte, dass Ginnys Aktivitäten entdeckt wurden und derjenige, der sie überwältigt hat, im Besitz ihres Smartphones ist. Mit Sicherheit hat er die Nachricht gelesen, die sie mir geschickt hat. Er nimmt nun an, dass ich über alles informiert sei.“ Nach einer kurzen Atempause drängte sie: „Meine Freundin ist in akuter Gefahr! Wenn nicht schon etwas Schlimmes passiert ist!“

Auf die letzte Bemerkung ging Wiesmann nicht ein. „Wir wissen unterdessen, wer der junge Mann ist, der Sie gestern mit einem Messer niederstechen wollte.“ Er ließ Tanja keine Zeit, ihr Entsetzen auszudrücken. Unbeirrt fuhr er fort: „Der Täter ist vorbestraft und keinesfalls IT-Spezialist. Es kann sich demnach nicht um einen Hacker handeln. Wir gehen davon aus, dass er als Auftragsmörder agierte. Derzeit wird er vernommen, um an den oder die Hintermänner zu kommen.“

„Dazu brauchen wir Ihre Mithilfe, Frau Wegner.“ Wieder traf sie dieser forschende Blick. Garcia Hernández ließ sich Zeit, bevor er die nächste Bemerkung abschoss: „Nach wie vor gibt es aber keine Beweise dafür, dass es eine Ginette – oder Ginny Mai überhaupt gibt.“

Tanja atmete tief durch. Natürlich. Sie hatte es so kommen sehen. Noch immer zweifelten die Beamten an ihrer Existenz. Sie wusste, dass ihre Freundin, wenn sie noch lebte, in äußerster Gefahr war. „Das Smartphone!“, fiel ihr ein. „Unterdessen müssen Sie doch herausgefunden haben, unter wessen Namen die Mobilfunknummer angemeldet ist!“

„Das sagte ich Ihnen doch. Die Nummer wurde gar nicht vergeben. Und der Täter trug wie erwartet kein Handy bei sich.“

So war also der Stand der Dinge. Und wieder stieg ein Gefühl der Verzweiflung in ihr auf. Resigniert sah sie zu Sylke Bischoff hinüber, und in deren Blick glaubte sie, eine Spur Verständnis zu erkennen.

Im Gegensatz zu ihren Kollegen ging sie nicht davon aus, dass Tanja Wegner sie belog, vielmehr nahm sie an, dass ihre Aussage der Wahrheit entsprach. „Ich befürchte, dass alle Daten zu Frau Mais Person gelöscht wurden, um Spuren zu beseitigen, beziehungsweise die Suche nach ihr zu erschweren“, meinte sie jetzt.

„Okay, das müssen wir hier nicht ausdiskutieren“, fuhr Wiesmann dazwischen. „Unsere IT-Abteilung wird sich darum kümmern. So, von meiner Seite aus gibt es momentan keine weiteren Fragen an Frau Wegner.“ Und an Tanja gewandt bestimmte er: „Halten Sie sich zu unserer Verfügung.“

Verständnislos starrte sie ihn an. „Heißt das, ich kann jetzt gehen? Und wenn ja, wohin? In meiner Wohnung würde ich mich nicht sicher fühlen.“

„Zwei Beamte, genauer gesagt, ein Mitarbeiter und eine Kollegin werden Sie dorthin begleiten. In deren Beisein packen Sie für die nächsten Tage alles Nötige ein und können noch ein paar Dinge regeln – zum Beispiel Ihren Arbeitgeber informieren. Während Ihrer Abwesenheit wird die Wohnung observiert, wobei nicht damit zu rechnen ist, dass die Täter ein Risiko eingehen werden. Aber da man Sie für eine gefährliche Zeugin hält, wird man Sie weiterhin verfolgen.“

„So gesehen hat mir Ginny mit ihrer Nachricht einen Bärendienst erwiesen.“

„Für uns war der Hinweis wesentlich, und durch den gestrigen Einsatz“, hierbei warf er Sylke Bischoff einen kurzen Blick zu, „konnte zumindest einer der Kriminellen gefasst werden. Jetzt hoffen wir, dass wir durch ihn an die Hintermänner herankommen.“

Für Wiesmann war die Vernehmung beendet, er griff zum Telefon und erteilte eine knappe Anweisung. Gleich darauf betrat eine junge Beamtin den Raum und bat Tanja, ihr zu folgen.

Dann waren die Kommissare wieder unter sich. Mit Blick auf Sylke Bischoff äußerte Wiesmann: „Wie Sie wissen, schätze ich Ihre Beiträge und Überlegungen sehr.“

„Aber?“

„Bringen Sie diese doch bitte nicht in Anwesenheit von Zeugen vor. Und erst recht nicht, wenn wir verschiedener Meinung sind.“

„Tut mir leid, wenn Sie es so aufgefasst haben. Aber der Gedanke, dass alle Daten zu Frau Mais Person gelöscht sein könnten, kam mir spontan.“

„Und vermutlich liegt Sylke mit dieser Annahme genau richtig.“

Natürlich! Garcia Hernández, der Frauenversteher, der sich von der attraktiven Kollegin offensichtlich angezogen fühlte, fiel ihm in den Rücken!, dachte Wiesmann erbost. „Selbstverständlich ist mir dieser Gedanke auch schon gekommen“, behauptete er dann. „Trotzdem müssen wir im Auge behalten, dass unsere Zeugin womöglich ganz eigene Strategien verfolgt. Und solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, gehe ich davon aus, dass es diese Freundin gar nicht gibt.“ Als er in Sylke Bischoffs Miene eine Spur Betroffenheit zu erkennen glaubte, schob er nach: „Aber davon abgesehen ist Ihre Theorie nicht ganz verkehrt.“

„Da bin ich aber beruhigt.“ Was er als Bestürzung deutete, war blanke Ironie. „Ich bin kein Neuling auf diesem Gebiet“, stellte sie klar. Das stimmte. Bevor Sylke Bischoff auf eigenen Wunsch zu Wiesmann und Garcia Hernández ins Kommissariat wechselte, war sie in einem anderen Bundesland stellvertretende Leiterin einer Fachabteilung des BKA. Diesen Fakt übersah Wiesmann gern. Er wusste nicht viel über seine neue Kollegin – nur, dass sie Ende vierzig und geschieden war und eine erwachsene Tochter hatte.

„Diese Diskussionen bringen gar nichts“, griff Garcia Hernández schlichtend ein. „Wir müssen jetzt überlegen, wie wir vorgehen.“

„José hat recht. Wir sollten zum nächsten Punkt kommen: der Vernehmung.“

Auch diese Vertrautheit missfiel Wiesmann. Er selbst hatte den venezolanischen Comisario noch nie mit dem Vornamen angesprochen, obwohl er ihn schon lange kannte. Doch für Befindlichkeiten, wie er derartige Verstimmungen bezeichnete, war jetzt nicht der rechte Zeitpunkt. Mit Blick auf Sylke Bischoff erklärte er: „Einverstanden. Sicher legen Sie keinen Wert darauf, dem Verursacher des gestrigen Angriffs persönlich gegenüberzusitzen. Es reicht, wenn Garcia Hernández und ich ihn vernehmen.“

„Im Gegenteil“, erklärte sie. „Ich werde dabei sein.“

Bevor Wiesmann etwas erwidern konnte, klingelte das Telefon. Verärgert nahm er ab und hörte einen Augenblick schweigend zu. Dann entschied er: „Bleiben Sie vor Ort. Wir kommen.“ Und an Sylke Bischoff und Garcia Hernández gewandt: „Während Frau Wegners Abwesenheit wurde in ihre Wohnung eingebrochen. Wir fahren hin.“ Mit einer Behändigkeit, die ihm keiner zugetraut hätte, sprang er auf, griff nach seiner Jacke und stand im nächsten Moment an der Tür. „Also, los geht’s!“

 

Maßnahmen

 

Knapp zwanzig Minuten später standen sie in Frau Wegners Wohnung. Auf den ersten Blick war nichts Außergewöhnliches erkennbar – es gab keine Einbruchsspuren.

„Das Türschloss wurde fachmännisch geöffnet“, erklärte der Beamte, der Tanja gemeinsam mit einer Kollegin begleitet hatte. Sie selbst stand blass aber aufrecht daneben. Wie dramatisch die Situation und wie dringend ihre Unterbringung an einem sicheren Ort war, wurde ihr jetzt so richtig bewusst.

„Mein Laptop fehlt!“, kam sie Wiesmanns Frage zuvor. „Er lag auf dem Schreibtisch.“

In dem Moment erschienen die Kollegen von der Spurensicherung. Während sie ihrer Arbeit nachgingen, nahmen Tanja und die Kommissare im Wohnzimmer Platz.

Sylke Bischoff fragte: „Haben Sie eine Sicherung Ihrer Daten?“

„Ja. Im Prinzip sichere ich sie dreifach: einmal in der Cloud und zusätzlich auf zwei externen Festplatten, die ich getrennt aufbewahre. Diejenige, die am Laptop angeschlossen war, ist natürlich auch weg.“

„Womit haben Sie sich zuletzt an Ihrem Gerät beschäftigt?“

„Ich hatte zu verschiedenen Klebstoffherstellern recherchiert, in der Hoffnung, dabei auf das gehackte Unternehmen zu stoßen.“

„Wie hieß es?“, wollte Sylke Bischoff wissen.

„Das weiß ich nicht. Ansgar hat den Namen nicht genannt.“

„Wissen Sie, bei welcher Softwarefirma er gearbeitet hat?“

„Nein, leider nicht. Ginny hätte es bestimmt gewusst.“

„Wir werden es selber herausbekommen“, schaltete Wiesmann sich ein. „Und Sie packen jetzt wie besprochen ein paar Sachen ein. Die Kollegen werden Sie von hier fortbringen.“

„Wohin und wie lange?“

„Sie werden vorerst im Hotel Claris untergebracht. Für wie lange kann ich Ihnen nicht sagen. Auf jeden Fall bis zur Klärung des Falls und der Festnahme der Täter.“ An der Tür drehte Wiesmann sich noch einmal um. „Die Wohnung wird versiegelt und beobachtet.“

 Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Das Hotel, in dem Tanja für die kommenden Tage bleiben sollte, wurde vorrangig von Geschäftsreisenden und für Tagungen genutzt. Alles wirkte anonym und unpersönlich – für die diskrete Unterbringung gefährdeter Zeugen bestens geeignet.

Während Wiesmann ein paar Worte mit der Geschäftsleitung wechselte, warteten Garcia Hernández, Sylke Bischoff und Tanja in der Lounge. Ihr Smartphone hatte man ihr zum Auslesen der Daten abgenommen. Stattdessen gab ihr der Comisario ein Handy, in dem die wichtigsten Nummern eingespeichert waren.

„Das ist für den Notfall. Sie nehmen nur Anrufe von uns entgegen, von niemand anderem!“, schärfte er ihr ein. „Und wir kündigen uns persönlich an, bevor wir wieder auftauchen. Hier im Hotel sind Sie erst einmal in Sicherheit. Verlassen Sie auf keinen Fall das Zimmer. Das Essen wird Ihnen gebracht.“ Er bemerkte ihre Unruhe und erklärte: „Wie lange genau Sie hierbleiben müssen, können wir natürlich nicht vorhersagen. Richten Sie sich auf ein paar Tage, gegebenenfalls auf zwei bis drei Wochen ein. Wir arbeiten mit Hochdruck, um den Fall schnellstmöglich zu lösen.“

Dann übergab Sylke Bischoff ihr einen Laptop, der in aller Eile eingerichtet worden war. „Damit Sie sich in der Zwischenzeit nicht langweilen“, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

Stimmt, daran hatte Tanja gar nicht gedacht. Sie wollte weiterarbeiten, diesmal an einem Bericht über die bisherigen Ereignisse. Sobald die Sache hier ausgestanden wäre, würde sie ihn einer Zeitung anbieten. Aber nicht irgendeiner, sondern einer bekannten, überregionalen, die bundesweit erschien. Abgesehen von den Unwägbarkeiten und der Gefahr, die für sie bestand, kam ihr dieser Fall nicht ungelegen. Mit der Veröffentlichung des Beitrages wollte sie ihre Karriere als Journalistin forcieren. Doch der Gedanke an Ginny und die Ungewissheit, was mit ihr geschehen sein mochte, trübte ihre Stimmung.

Garcia Hernández’ Ermahnung: „Surfen Sie nicht im Internet und nehmen Sie keinen Kontakt zu Bekannten oder Freunden auf“, riss Tanja aus ihren Überlegungen.

Wiesmann kam zurück. „So, das Wesentliche ist abgesprochen. Hier ist Ihre Schlüsselkarte für das Zimmer 406. Wir nehmen den Fahrstuhl.“

„Kommen Sie mit?“, fragte Tanja verwundert.

„Natürlich. Wir wollen uns persönlich davon überzeugen, ob Sie sicher untergebracht sind.“

Wenig später betraten sie die 406. Es war ein Einzelzimmer und dementsprechend eng. Wiesmann zwängte sich zwischen Bett und Schreibtisch zur Balkontür und öffnete sie. Prüfend sah er sich um und warf einen Blick auf die gegenüberliegenden Bürogebäude. „Nicht gerade berauschend. Aber soweit alles okay.“

„Sagen Sie mir Bescheid, wenn noch etwas fehlen sollte“, bot Sylke Bischoff an. „Meine Nummer ist eingespeichert.“ Dann verabschiedeten sie sich und ließen Tanja verunsichert und mit beunruhigenden Gedanken zurück.

 Im Kommissariat angekommen, besprachen sie das weitere Vorgehen.

„Ich kümmere mich darum, dass die Todesursache im Fall Ansgar Hanke geklärt wird. Sylke, wenn du dich bitte mit unserer IT-Abteilung in Verbindung setzen würdest?“

„Ich rufe dann an. Und die Vernehmung?“

„Die habe ich für heute vierzehn Uhr angesetzt. Ich will aber nicht, dass wir dort zu dritt antanzen“, stellte Wiesmann klar.

Garcia Hernández war es recht. „Also werdet ihr beide das alleine erledigen. Ich werde mich mit dem Gerichtsmediziner in Verbindung setzen.“ Dann sah er auf die Uhr. „Es ist Mittagszeit, heute würde ich mal essen gehen. Kommt ihr mit?“

„Gerne.“ Sylke Bischoff war schon an der Tür. „Holst du mich in fünf Minuten ab?“

„Mach ich.“ An Wiesmann gewandt fragte er: „Und was ist mit dir?“

„Hab noch zu tun“, brummte er. Nachdem die Kommissarin gegangen war, grinste er böse. „Du kümmerst dich ja sehr um sie. Was deine Liebste wohl dazu sagen würde?“

„Das Verhältnis zu Sylke ist rein kollegialer Natur. Und überhaupt: seit wann interessiert dich meine private Beziehung?“, erwiderte er kalt. Er spielte auf Wiesmanns verständnislose Reaktion an, als er mitbekam, dass Garcia Hernández und Carolin Dombach ein Paar waren. Das war und blieb ein wunder Punkt in ihrer beider Freundschaft. Aber Garcia Hernández war momentan nicht so recht zufrieden: Seit einem halben Jahr lebte Caro wieder in ihrer Heimatstadt an der Küste, und sie sahen sich nur noch an den Wochenenden, meist fuhr er dann zu ihr. Die gemeinsamen Stunden wurden immer seltener. Er riss sich aus seinen Gedanken, griff nach der Jacke und ging rüber zu Sylke Bischoff.

Zehn Minuten später war auch Wiesmann unterwegs. Die Behauptung, er müsse über die Mittagszeit durcharbeiten, war nur ein Vorwand. Er hatte nicht vor, mit den beiden, sozusagen als fünftes Rad am Wagen, essen zu gehen. Dann schon lieber alleine.

„Ah, der Herr Kommissar. Wie immer tief in Gedanken.“

„Hallo Herr Zumried! Das trifft sich gut.“

In gespielter Überraschung runzelte der Strafverteidiger die Stirn. „Brauchen Sie meine Hilfe?“

„Nicht direkt. Ich will gerade essen gehen. Kommen Sie mit?“

„Nur auf einen Kaffee. Ich bin etwas in Eile.“

Wenig später standen sie an einem der Bistrotische am Imbissstand gleich um die Ecke. Im Prinzip passte Zumried mit seinem feinen Anzug nicht hierher. Leicht vorgebeugt, um ihn nicht zu beflecken, hielt er den Pappbecher und trank vorsichtig daraus. Angewidert verzog er das Gesicht. „Eine jämmerliche Brühe ...“

Wiesmann aß eine Boulette. Zwischen zwei Bissen fragte er: „Sagt Ihnen der Name Heiko Mierisch etwas?“

Der Anwalt schüttelte den Kopf. „Noch nie gehört. Was ist mit ihm?“

„Er sitzt in Untersuchungshaft. Wegen versuchten Mordes.“

„Womöglich eine Beziehungstat?“

„Wohl kaum“, erwiderte Wiesmann trocken. „Ich bin sozusagen auf dem Weg zum Gerichtsgebäude und nahm an, dass Sie dort vielleicht auch hinwollen.“

Zumried grinste. „Sie hofften wohl, mich vorher noch ein wenig ausfragen zu können? Aber daraus wird nichts. Mit dem Fall bin ich nicht betraut.“

„Schade. Davon einmal abgesehen ist der Täter trotz der Schwere des Deliktes nicht der, den wir suchen.“

„Ein Auftragsmord“, vermutete der Anwalt. „Womöglich wieder mal ein kleiner Fisch, der im Auftrag der Hintermänner einen unliebsamen Zeugen aus dem Weg schaffen soll?“

„Davon gehen wir aus.“

„Mit Sicherheit wird er gar nicht wissen, für wen er seinen Kopf hinhält. Und das meist für eine lächerlich geringe Summe.“

„Höre ich da Verständnis oder gar Mitleid raus?“

„Mitleid auf keinen Fall. Aber berufsbedingt muss ich die Beweggründe der Angeklagten kennen. Meist sind es existenzielle Sorgen – Geld spielt die größte Rolle dabei. Oder die Täter sind unter Druck geraten und werden erpresst. Dann sind sie gewissermaßen gezwungen, weitere Straftaten zu begehen. Oftmals kommen sie aus ärmlichen Verhältnissen, Drogenabhängige zum Beispiel, die für den nächsten Schuss bereit sind, schwere Verbrechen zu begehen. Die Hintermänner kennen deren Biographie und machen sich selbst die Hände nicht schmutzig. Als Anwalt versuche ich dann, eine Vertrauensbasis zu den Angeklagten aufzubauen, um die Hintergründe in Erfahrung zu bringen. Dabei erlebe ich immer mal wieder schwere Rückschläge.“

„Inwiefern?“

„Wenn ich erkennen muss, dass mich ein Mandant belogen hat.“ Wiesmann nutzte die Gelegenheit und hörte zu. Ohnehin war er noch mit der Boulette beschäftigt. „Am unangenehmsten sind die Situationen, wenn während eines Prozesses Dinge zutage treten, die der Angeklagte mir bis dahin verschwiegen hat.“

„Was zum Beispiel?“, fragte er mit vollem Mund.

„Die Mandanten sprechen nur ungern über persönliche Notlagen. Angst vor Vergeltung spielt eine große Rolle. Da hilft es auch wenig, wenn Strafminderung durch eine umfängliche Aussage in Aussicht gestellt wird. Die Quelle allen Übels sind meiner Ansicht nach die Strafvollzugsanstalten. Ein ewiger Kreislauf. Wer dort einmal eingesessen hat, gerät oftmals in einen Strudel von Abhängigkeiten und kommt selten wieder heraus. Zumindest nicht ohne Hilfe.“ Dann fragte er unvermittelt: „Wie war nochmal der Name des Beschuldigten?“

Wiesmann war mit seiner Boulette fertig und wischte sich die Finger ab. „Mierisch, Heiko Mierisch.“

Es schien, als käme Zumried nun doch eine Erinnerung. „Ich werde auf jeden Fall in unseren Dateien nachsehen. Aber wahrscheinlicher ist, dass ich bisher nichts mit ihm zu tun hatte. Zumindest kann ich mich momentan nicht an ihn entsinnen. Also dann, auf ein andermal. Und viel Erfolg bei der Vernehmung.“ Der letzte Satz klang ein wenig zynisch.

 

Die Vernehmung