Mötergeschichten - Helga Jürgens - E-Book

Mötergeschichten E-Book

Helga Jürgens

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Beschreibung

Ein kritisches Lesebuch über die gegenwärtige Verbindung zwischen Hund und Mensch in unserer Lebenswelt. Von Dogmatismus frei vertritt die Autorin die Position, dass die heutige Antwort unserer Gesellschaft nicht reicht, um der Mensch-Hund-Beziehung in ihrer Bedeutung gerecht zu werden. Leider werde dem Funktionieren des Hundes eine bedeutsame und übersteigerte, oft sogar zentrale Rolle zudiktiert. Ein neues selbstkritisches Bewusstsein müsse sich bilden, lautet ihre aus Erkenntnis gereifte Forderung! Dafür erweitert sie ihre Perspektive durch das Ideengut moderner und klassischer Denker. Die sogenannten Möter mit ihrem naturhaften Einfluss auf die Psyche ihrer menschlichen Partner verdienen wieder den Platz, den ihnen in zehntausenden von Jahren unsere Vorfahren in Erkenntnis ihres Wertes selbstverständlich zubilligten: Ihre Kompetenz erstreckte sich ehemals auf die zuverlässige Rolle in der gemeinsamen Bewältigung schwieriger alltäglicher (Über-)Lebensaufgaben von Mensch und Hund. Heute sind sie darüber hinaus kompetente Vermittler in einem zeitlos gültigen Auftrag: uns den Zugang zum Verständnis der Natur unseres Planeten zu erhalten oder zu öffnen und dadurch ein humanes Dasein alles Existierenden auf unserer Erde anzustreben. Vor allem aber sind sie für uns Spender von emotionaler Beständigkeit, Zuneigung und Lebens-Freude... Oft hoch emotional aber nie sentimental erzählt, erfahren wir die bedeutsame Rolle von Mischlingen, Rassehunden und Streunern in der Lebens-Gestaltung der mit ihnen verbündeten Menschen. Aber auch das Leid, das die moderne Lebensführung unerwartet dem Hund-Menschgespann zufügen kann.

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Sei meine Zunge, erzähle von mir, so werde ich ewig leben.

Weisheit der Aborigines

Helga Jürgens

Foto: 2016, Helga Jürgens mit Aminah

Die Autorin

Jahrgang 1937. Als Kriegskind aufgewachsen mit großen Hunden. Studium der Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte, und der Theologie sowie der Sportwissenschaften; 43 Jahre Berufsausübung auf diesen Gebieten.

Geliebte und gelebte Ambitionen in alphabetischer Reihenfolge: Afrika, Alaska, Artenschutz, Gespannfahren, Imkerei, Jagd, Martial-Arts, Reiten, Segeln, Zucht von Pferden und Hunden. Qualifikationen auf diesen Gebieten.

Und – last but not least – Leben mit dem ridge-back, dem Afrikaner aus dem vermuteten Ursprungsgebiet von Mensch und Hund.

Inhaltsverzeichnis

Einführung – Ihr wisst nicht, was Möter sind??

Die Stunde Null – oder die Einweisung (1940)

Nelly, eine Fee in Tagen des Grauens (1941)

Mit einem Höllenhund auf Augenhöhe: Groll (1945)

Peggy, die Mötze

Onza, schwarzbraune Eleganz mit Fledermausohren

Gegen den Strich: Rhodesian Ridgebacks

Instinktgesteuert: Seismograf Chirja (1976)

Dolly, der Rinder-Schreck mit rosafarbener Schleife

Mein Großer Freund Shane... (1979)

Lulu aus dem Skaaprevier

Makaranga Ella

Falco, der Freund der „Penner“

Kenya, mein Garde-Offizier

Angola, „Doktor Mäusi“ / und August Neo, die „Nuffnase“

Neo, die „Nuffnase“ / und die kleine Aminah

Aminah, unser „Alien”!

Alchemilla Africana, unsere „Milla“

Die Irrfahrten des Odysseus oder Ody

Wahlverwandtschaften – ein Highlight im Revier

Die Spanierin Adia – Selbst ist die Frau!

Eine Einwanderin namens Sally

Zum Abschied

Verzeichnis zitierter Autoren

Weiterführender Hinweis

Einführung – Ihr wisst nicht, was Möter sind??

Dabei sind sie überall um euch: als kleine schmusige Weicheier, als lärmende Energiebündel, als imponierende Begleiter, stramm linksgehend, manchmal mit einem warnenden Schutz-Gestell an der Front, Maulkorb genannt , als Stolz eitler Herzen im Kreise ebenso beschaffener Konkurrenten – und so fort... Aber wenn ihr wirklich Glück habt, dann sind sie eure stillen, teilnehmenden Gedankenleser, eure Vertrauten in aufregend schönen wie in kummervollen Tagen. Sie gehen mit euch durch dick und dünn. Es ist ein Glück ohnegleichen, ein Team mit ihnen sein zu dürfen!

Sicher wisst ihr inzwischen längst, was dieses Wort „Möter“ zu beschwören versucht: die Kombination zweier Lebensformen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein könnten: Mensch und – Hund.

Geliehen habe ich den Begriff Möter aus „Space-Balls“, dieser lustigen Persiflage von „Star Wars“, dem berühmten alten Science-Fiction-Film, der ganze Generationen von Fans für die Galaxis begeisterte. Der Möter ist dort ein hilfreiches Mischwesen zwischen Mensch und Köter, das den Raumfahrern etwas tapsig, aber mit geheimnisvollen Kräften begabt, zur Seite steht. Also eine Art Alien...

Betrachten wir unsere Möter also als etwas ganz Besonderes, als eine Art Mischwesen, „halb Mensch – halb Köter“, wie geschaffen uns auf den Weg der Offenheit für andere Lebensformen zu führen. Treten wir also ein in eine Wechselbeziehung zu diesem faszinierenden, uns sogar heute noch ziemlich unbekannten Wesen! Und damit auf den manchmal dornenreichen Pfad zum Verständnis eines spannenden Teiles der großen geheimnisvollen Natur, in der wir leben.

Unsere Hunde, treue Begleiter in unserm Alltag, sind Wolfsabkömmlinge aus der Frühzeit der menschlichen Existenz und der gefahrvollen Besiedelung der Welt. Sie haben sich sozusagen selbst gezähmt, um in unserer Nähe zunächst neugierig geduldet zu werden und so eher zu überleben und sind allmählich in immer engeren Kontakt mit uns getreten. Der Homo sapiens seinerseits erkannteihre fantastischen, vielfach überlegenen Sinnesorgane, die ihm im harten Existenzkampf der menschlichen Frühzeit bald zur unentbehrlichen Hilfe wurden. Dieser Prozess vollzog sich laut neuester Forschung über einen langen Zeitraum von Zehntausenden von Jahren. Und er vollzog sich zunächst in einer geografisch begrenzten Gruppe von Menschen und Wölfen, deren Erbgut ebenso wie ihre Umwelt – vermutlich Nord- und Mittelafrika – besonders günstige Voraussetzungen für diesen „Quantensprung“ boten, in dem dann auch die Epigenetik ihre bedeutsame Rolle übernahm. Neugier, praktizierte Toleranz, Ausdauer – und vor allem eine hohe Reizschwelle waren auf beiden Seiten Kernvoraussetzungen für diese erfolgreiche Kommunikation. Vieles an diesen Kaniden spricht uns Menschen in einer Weise an, für die wir keine rationale Erklärung finden. Aus dem Bündnis zwischen dem streunenden Hundevorfahren und irgendeinem gutwilligen, ihm zugewandten menschlichen Kumpan, die ihre Nahrung miteinander teilten, entstand in unserer frühen Geschichte zunächst der hilfreiche Beller, der Warner vor gefährlichen Fremden, Tieren oder Menschen. Als er anfing, seine Sippe und ihren Lebensraum sogar unter Einsatz seines Lebens zu beschützen, erwachte im menschlichen Partner ein kameradschaftliches Vertrauensgefühl, ein solidarisches Empfinden, das er vorher diesem Vierbeiner gegenüber nicht kannte. Er akzeptierte ihn als gleichwertiges Mitglied seiner menschlichen Gruppe. Der treue Kumpan, der Wächter und Helfer für Mensch und Tier war geboren!

Die in unserm Sprachraum verbreitete Bezeichnung „Köter“ galt früher den ersten Bauern- und Hütehunden, betonte ihre Zugehörigkeit zu einer menschlichen Sippe, benannt nach dem gemeinsamen Wohnplatz, der Kate oder Kotte, nach der diese ersten tapferen Siedler in wilder Einsamkeit auch selbst „Kätner“ oder „Kotter“ hießen. Ihre Hunde waren dann eben die „Köter“. (Erst als eine neu entstehende Macht- und Luxus-orientierte Klassen-Gesellschaft der Fürstenhöfe und der Städte auch Menschen nicht mehr als Ihresgleichen anerkennt, „die verdreckt sind“, weil sie „schmutzige Arbeiten“ zu verrichten haben, wird auch deren Arbeitshund, der „Köter“, zum Schimpfwort missbraucht.)

Der Hund war an der Seite unserer Vorfahren eine Art unersetzlicher Entwicklungshelfer. Der Mensch lernte seine Welt mit denüberlegenen Sinnen des ihn begleitenden Hundes zu begreifen und in der Wechselbeziehung zu ihm verarbeitete er sein Umfeld mit neuem Verstehen. Durch das Verhältnis zu diesen Mötern erkannte der Mensch aber nicht nur seine Umwelt aus neuer Perspektive – sondern auch Sich Selbst!

So erlangten auch wir, der Homo sapiens, eine höhere Bewusstseinsstufe. „Unser Hund, der älteste Weggefährte des Menschen, ist uns ähnlicher, als wir glauben.“ , referiert Prof. Dr. DR. Martin Grassberger in seiner Recherche „Das unsichtbare Netz des Lebens“.

Christoph Jung, Verfasser des bemerkenswerten „Schwarzbuch Hund“, reflektiert dazu: „In der ersten Domestikationsphase domestizierten sich Wölfe und Menschen gegenseitig. Aus dem Wolf wurde der Hund und aus dem Cro-Magnon der moderne Mensch. In der zweiten Domestikationsphase wurde der Hund naturwüchsig , (d.h. ohne bewussten Einfluss durch den Menschen) zu einem universellen wie spezialisierten Helfer des Menschen selektiert. In der dritten Domestikationsphase, den letzten 100-150 Jahren, wurden dann gezielt Rassestandards ersonnen... In der heutigen vierten Domestikationsphase wurde aus dem Helfer bei der Arbeit ein Helfer für die Psyche...“

Wurde auch unsere globale Stellung durch die Koexistenz mit unseren Hunden entscheidend beeinflusst? Erlangte dadurch unser Vorfahre, der Cro-Magnon-Homo, den entscheidenden Vorsprung vor dem Neandertaler, der – nach heutiger Kenntnis – kein Haustier kannte? Eine interessante These von Christoph Jung lautet: „Es können nur kleine Nuancen sein, die hier den Wettbewerbsvorteil ausmachten. Der Neandertaler hatte ein mindestens gleich großes Gehirn, sein Körper war robust und leistungsfähig. Vielleicht war die Partnerschaft zum Hund hier ein Zünglein an der Waage der Evolution.“ („Schwarzbuch Hund“)

Und das war erst der Anfang! Wie viele Variationen und Leistungen, vom Jagdbegleiter, vom Arbeits-, Zug- und Lasten-Hund bis zum Spielgefährten für die Kinder – und nicht zuletzt zum Schoßhund – entstanden bis heute aus den frühen, halbwilden Streunern! Und unsere Hunde verstehen es noch immer, wie vor Tausenden von Jahren mit ihrem achtsamen Blickkontakt und mit ihrem ganzen uns zugewandten, hoch sozialen Verhalten in unser Innenleben vorzudringen, – wenn wir unsererseits den vierbeinigen Kameraden unvoreingenommen und mit positiven Gefühlen begegnen...

Offensichtlich war und ist er ein wichtiger Katalysator für uns, unser Möter – er ist also viel mehr als „nur ein Hund “...! Dadurch, dass er mit uns lebt, können auch wir heute uns noch immer wandeln – um die Geheimnisse der Natur und ihrer Lebewesen tiefer zu verstehen. Es ist die mentale Einheit mit ihm, die uns beide weiterbringt.

Dazu mögen die folgenden Stories aus meiner Jahrzehnte langen Arbeit als „Jäger und Sammler“ von Möter-Erlebnissen beitragen. Diese sind so „wie das Leben sie schrieb“, also mit Ecken und Kanten – und manchem tiefen Loch! Und vielleicht nicht immer leicht bekömmlich, wie das bei Wahrheiten so ist... Sie waren auch nicht leicht zu erinnern und zu schreiben, denn sie stellen auch heute noch manche Frage an mich, den menschlichen Partner, deren Beantwortung mir auch jetzt noch schwer war. Und manchmal immer noch nicht möglich...

Meine Erlebnisse enthalten keine verbindlichen Urteile. Es sind meine Eindrücke, meine Empfindungen und Erfahrungen. Ich habe mich bemüht, das besonders Eigenartige und das besonders Charakteristische meiner vierläufigen Freunde hervorzuheben. Der Schriftsteller Siegfried Lenz („So zärtlich war Suleiken“) nennt dies „das bewährte Mittel der methodischen Übertreibung im Dienste der Wahrheitsfindung“.

Vielleicht finden wir manche zukünftige Lösung gemeinsam, über unsere Möter, diese Aliens lesend, schreibend – und über sie erneut nachdenkend...

Die Stunde Null – oder die Einweisung (1940)

„Also gut, aber dann flink, Helgchen! Zieh die saubere Strickjacke an und die guten blauen Schuhe – und du bindest sie selbst zu, du kannst das!... Ja, meinetwegen, nimm dein kleines Kännchen mit... Und jetzt los!“ Endlich gab meine große Schwester Edith nach! Wie oft schon hatte ich gebettelt, mitkommen zu dürfen, um die heiß begehrte Milch aus dem Laden zu holen und dabei die richtige große Welt zu erleben! Es hieß immer, ich sei noch zu klein – dabei stand doch in „so viel Wochen wie ich Finger hatte“ schon mein 3. Geburtstag bevor – das bedeutete: Von Sonntag zu Sonntag war eine Woche. Und Sonntag merkte ich mir: da gab es etwas Besonderes zum Essen: Ein Ei oder Kuchen oder einen (Kaninchen)-Braten...! Jedenfalls sagten sie das mit dem Geburtstag immer, wenn ich mal wieder zu wild war und „brav sein“ sollte.

So zogen wir also endlich gemeinsam los zur nahen Einkaufsstraße. Meine Schwester trug zwei große Kannen, und ich bekam Order, mich an dem Griff einer der beiden festzuhalten und bloß nicht los zu lassen. „Sonst war es das erste und letzte Mal, dass du mitkommst“, drohte sie. Ich selbst durfte voller Stolz meine blecherne kleine Kinderkanne in der anderen Hand tragen.

Im Milchladen wurde heute, wie fast immer Schlange gestanden: Die eine führte vom Eingang zum Tresen mit der Milch-Ausgabe; die andere ging von dort durch einen engen, schmalen Gang zwischen Regalen und Boxen zurück zum Ausgang. Da stand ich nun zwischen vielen Menschen – und sah fast nur Beine! Genauer, gute oder schäbige Schuhe und Strümpfe und solche, die ruhig standen oder andere, die trampelten, scharrten oder sich juckten usw. Das zu betrachten war zwar zunächst neu, bald aber ziemlich langweilig...

Schließlich waren wir am Tresen und meine kleine Kanne wurde mir abgenommen, um sie auch mit etwas Milch zu füllen. Nun der Kanne ledig, wollte ich das Einfüllen der begehrten Flüssigkeit doch auch miterleben – aber ich war zu klein, um über den Tresen schauen zu können! Schließlich gab ich meine Kletterversuche auf, weil ich an der glatten Fliesen-Wand immer wieder abrutschte und drehte mich enttäuscht um.

Da machte ich die Entdeckung meines bisherigen Lebens und mir blieb fast mein kleines abenteuersüchtiges Herz stehen! Er war gerade in den Laden hereingekommen und zerrte an einer roten, abgenutzten Leine. Ich kannte seinen Anblick bisher nur aus dem Bilderbuch: „Unsere Deutschen Haustiere“, das ich von meinen Geschwistern geerbt hatte, wo er neben einem grün gekleidetem Mann saß. Es war ein Hund! Ein Dackel, ein lebendiger! Mit glänzendem, auf dem Rücken schwarzen Fell, langem Schwanz und einer langen Schnauze. Genau wie im Bilderbuch! Dort hieß er „Alois“.

Der erste lebendige Hund! Außer Nachbars großem Jagdhund, den ich aber nur selten und dann ganz fern hinter dem Zaun eines Zwingers sah.

Dieser hier aber hatte sogar die richtige Größe! So etwa wie unsere Kaninchen. Aber die lebten immer nicht lange, sondern wurden geschlachtet – man konnte sich nicht auf sie einlassen...

Zu diesem verlockenden Wesen musste ich hin! In Windeseile kroch ich auf dem abgenützten rauen Stein-Boden zwischen den vielen Menschenbeinen durch; ein heulender Bengel meines Alters war im Wege, kreischte, boxte und wollte mich nicht durchlassen. Aber da hatte er nicht mit meiner ausgeprägten Liebe zu allem Getier gerechnet – und der Tatsache, dass ich sechs ältere Geschwister hatte. Das schafft Überlebensstrategien! Nach einem Zugriff mit meinen altersgemäß lückenhaften Zähnchen heulte er noch mehr und flüchtete an die Seite, unter Mamas Schürzenrock. Nur noch drei Frauen und ihre Beinpaare – und ich war am Ziel! Meine Schwester suchte und rief inzwischen schon nach mir. Aber ich streckte glückselig die Hand aus – und erreichte seinen mir zugewandten Rücken, berührte das warme seidenglatte Fell – und war für Bruchteile von Sekunden wunschlos glücklich!

Denn ER, der ersehnte Gegenpart, war der allererste Hund, den ich streicheln konnte – und er war so lebendig und warm... Und auf mich reagierend, wandte er auch den Kopf mit der feinen schmalen Schnauze... Aber er fand, im Gegensatz zu mir, diese plötzliche Berührung an seinem Hinterende gar nicht gut – und quittierte sie mit einem kräftigen Zwicken in meine Hand. Er warnte mich durch diesen Biss klar vor weiterer derartiger Berührung, was ich auch sogleich verstand. Ich starrte ihn zunächst sprachlos an, sah seine ernsten klaren Augen, die mich beobachteten und seine leicht gekräuselten Mundwinkel: Und auf eine Weise, die ich – damals wie heute – nicht erklären kann, begriff ich, dass er mich warnte, dass dies ein Biss von regulierter Stärke gewesen war. Ja, dass er ganz anders, nämlich aggressiver, schmerzhafter, heftiger hätte reagieren können – wenn er mich hätte ernsthaft verletzen wollen. Aber er ließ mir die Chance des Rückzuges, des Lernens, des Verstehens... Fast automatisch, randvoll von dieser Erfahrung, kroch ich zurück.

Ich verbiss die Schmerzen, weinte ein wenig – und hatte in aller Zukunft mehr Respekt vor der Eigenatmosphäre fremder Tiere!

Denn ich sah ein, dieser echte, lebendige Dackel hatte einen Grund gehabt, mir Schmerz zuzufügen. Ich war plötzlich von hinten gekommen; er hatte nicht mit mir gerechnet... (Ich wurde auch ärgerlich, wenn meine Geschwister mich plötzlich dabei störten, wenn ich meinen Teddybären zu Bett brachte und ihm dabei ein Schlaflied sang. Dann lachten meine Brüder mich oft aus und freuten sich auch noch, wenn ich wütend wurde...)

Ich begriff: wenn ich willkommen sein will, muss ich vorher sozusagen anfragen, und darf nicht den andern einfach zwingen, jetzt das zu tun, was ich gerade will.

Die Lehre, die mir diese Dackelschönheit im Milchladen erteilte, war für mich tiefgehend und prägend und half mir in der Zukunft sehr im Umgang mit Tieren – aber auch mit Mitmenschen!... Dieser kleine Zufallserzieher sorgte auf seine klare, eindeutige Weise dafür, dass ich zukünftig die Sphäre anderer Lebewesen achtete und so vorab unwillkürlich in die Konfliktvermeidung eintrat.

Und ganz erfüllt von der Erinnerung an dieses Erlebnis, bettelte ich fast genau ein Jahr später darum, ein Löwenkind streicheln zu dürfen. Ich begegnete ihm dabei mit der gebotenen Achtsamkeit und hatte eine wunderbare Begegnung.

(Sie ist dokumentiert in meinem Buch „XAM-ARIB, Die Legende vom Geschenk des Löwen“. Siehe Hinweis am Ende dieses Buches.)

Der Warn-Biss eines Hundes hat mich damals also weder verängstigt, noch meine Zuneigung zu allem Getier irgendwie negativ beeinflusst, weil ich ihn als fast Dreijährige trotz meiner Kindlichkeit intuitiv verstanden habe.

Wie hieß er wohl, dieser mir unbekannte erste Teckel? War er ein Axel, ein Alois oder ein Batzi? Oder eine Olga? Jedenfalls war er bis heute nicht nur der erste, sondern er blieb auch der einzige von allen Hunden, die mir bis jetzt begegnet sind (und das sind sicher nicht nur gefühlte mehr als einige 1000 in allen Größen), von dem ich auf diese Weise sozusagen gemaßregelt wurde. Trotz der vielen Aufgaben und hautnahen Funktionen, die ich seither im Bereich auch unbekannter Hundekameraden wahrnehmen durfte!

Der Respekt vor dem Eigendasein eines anderen Lebewesens, den jener ehrliche Dackel mir unter Frauenbeinen im Milchladen unmissverständlich beigebracht hat, spielt als bleibende Erfahrung in der Konfliktfreiheit meiner vielen späteren Tier-Begegnungen – und darüber hinaus selbst in zwischenmenschlichen Konfliktsituationen – sicherlich eine bedeutsame Rolle.

Seit länger als einem Jahrzehnt nehme ich beispielsweise mit meinen Hunden die Aufgabe einer Jagdaufseherin am Rande eines Naturschutzgebietes wahr, das von Wölfen belebt wird. Wir waren ihnen oft sehr nahe – und haben ihr Dasein angemessen respektiert. Zu einem Konflikt kam es nie...

Nelly, eine Fee in Tagen des Grauens (1941)

Der junge Feldwebel der deutschen Wehrmacht, der kaum 20 Jahre alt, am Russlandfeldzug des größenwahnsinnigen Deutschen Führers teilnehmen musste, brachte auf einem kurzen Fronturlaub eine wunderschöne schwarzweiße Hündin mit zurück in sein Elternhaus. Er erklärte, er habe sie fast erfroren auf dem Grab eines russischen Offiziers gefunden. Vielleicht aber war sie auch nichts anderes als eine auf die schreckliche damals übliche Weise geraubte Kriegsbeute. In düsteren Tagen, in denen die Unmenschlichkeit regiert, ist leider alles möglich , damals wie heute!

Seine Geschwister bestaunten die Erscheinung der English Setter Hündin, eines Wesens kaum bekannter Rasse, in diesen Tagen der Ängste, der Zerstörung und des Grauens wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Zwar war das arme Tier verdreckt und abgemagert und kroch in sklavischer Furcht vor dem Soldaten, der sie mitgebracht hatte. Aber nachdem sie ein paar Tage gefüttert, gestreichelt und verwöhnt, sogar gebadet – und geföhnt(!) – worden war, kam ihre volle Schönheit zur Geltung: Wehendes, leicht gewelltes Langhaar, tiefdunkle große ausdrucksvolle Augen voller Sanftheit, weiche Behänge in identischem Schwarzweiß-Muster – und ihr langer Federschwanz, eine Fahne herrlicher, vorwiegend weißer Feenhaare, die sie intensiv schwenkte, um ihre Zuneigung zu verkünden.

Sofort machten sich die jungen Mädchen, ihre neuen Freundinnen, so schick wie es damals irgend möglich war und gingen mit Nelly auf die Deichpromenade, wo sie mit dieser aufregenden Erscheinung, dieser „Traum-Fee“ natürlich großen Eindruck machten. Doch die Freude blieb nicht lange ungetrübt: Von der Leine gelassen, entschwand der sanft nach Shampoo duftende Märchenhund in den Fischereihafen. Hier gelang es Nelly im Nu, ihre neue Duftwolke, die sie unangenehm in der Nase kitzelte, wieder loszuwerden: Sie wälzte sich genüsslich in Fischabfällen. Glücklich und im Glauben, nun artgerecht duftend willkommen zu sein, kehrte sie zurück. Welche Enttäuschung! Der Ausflug in ihr Eigendasein brachte ihr eine Tracht Prügel ein – ungerecht und nutzlos! Denn Nellys Instinkt blieb stärker als diese groben Dressurversuche.

Im Haus wurde sie – wie damals meist üblich – nachts nicht geduldet und erhielt einen kleinen Kellerverschlag mit Außenzugang, direkt unter dem Kinderzimmer. Wenn nun die allgemeine Bettruhe angesagt war, öffneten ihre Verbündeten zwischen 4 und 14 Jahren im Kinderzimmer das Parterrefenster und die Hündin flog mit einem eleganten Satz hinein. Es öffnete sich sofort eine Bettdecke, damit sie darunter kriechen konnte. Weil dies auf Dauer nicht ohne Spuren abging, erhielt Nelly vorsichtshalber abwechselnd einen Deckenplatz unterm oder auf dem Bett. Aber einmal vergaßen die hilfreichen Geister, die die Hündin so gerne um sich hatten, die lange Nacht-Gardine zur Seite zu ziehen. Nelly flog auch durch dieses Hindernis und – der Deal flog auf. Abends gab es in Zukunft stets eine mütterliche Kontrolle. Auf den Ruf: „Nelly, bist du da?“, hob sich dann entweder irgendwo rhythmisch eine Bettdecke oder Nellys lange Fahne fegte trommelnd unter einem Bett den Boden. Dann musste trotz vielstimmiger Proteste die geliebte Fee leider in den Gartenverschlag zurück.

Doch blieb sie dort nicht ganz ungetröstet: Nachbars Jagdhund mit dem passenden Namen Treff, ein Deutsch-Kurzhaar-Rüde, nahm sich auf geheimnisvolle Weise der Einsamen an und nach der entsprechenden Tragezeit von 9 Wochen gab es die freudige Überraschung von 6 Welpen, die Nelly und die Frauen des Hauses liebevoll versorgten. Aber da gab es noch den Vater, der nun genug von dem Hundezirkus hatte!

Zu Nellys Glück fand sich ein Förster auf dem Lande, der die sanfte und seltene Hündin samt ihren Welpen mit Handkuss nahm. Auf diese Weise entging Nelly auch dem Grauen des großen Brandbombenangriffs auf die Hafenstadt, dem unser Heim, ihr erstes Zuhause mit uns, später zum Opfer fiel. Brand und Tod regierten damals unser Dasein in heute für uns kaum vorstellbarem Ausmaß, weil größenwahnsinnige Führende weltweit jedes Maß von Recht und Menschlichkeit verloren hatten.

Es ist zu hoffen, dass Nellys weiterer Lebensweg als schöne Waldfee in ruhiger Waldeseinsamkeit, ihrem Jagdnaturell entsprechend verlaufen durfte und dass auch ihre 6 strammen, kurzhaarigen Welpen in die rechten Hände kamen. Die Kinder, die sie geliebt hatten, durften sie in dieser bedrohlichen Kriegszeit nur ein einziges Malbesuchen und hörten nur noch selten von ihr. Dennoch blieb sie allen ihren Fans lebenslang unvergessen mit ihrer sanften Schönheit, die sie wie eine Märchenfee in einer Epoche wirken ließ, in der das Grauen das tägliche Regiment führte. In jener erbarmungslosen Zeit brachte der enge Kontakt mit ihr Zuneigung, Fröhlichkeit und wieder etwas Lebensfreude in die Herzen ihrer Familie. – Zumindest von einem der Jungrüden war später zu hören, dass er ein sehr begehrter und einsatzfreudiger, wenn auch ziemlich ungestümer Helfer bei der Jagd wurde.

Mit einem Höllenhund auf Augenhöhe: Groll (1945)

Nun zu „Groll“. Er war der Wolfshund des Pastors G. in L. – und wahrhaft gewaltig! – der nach dessen Behauptung tatsächlich einen Wolfsvater gehabt haben sollte, was in der damaligen Schäferhundezucht des sogenannten 3. Reiches nicht ganz abwegig war.

Groll lebte oder eher vegetierte – in den Kellern des Pfarrhauses, wo er neben den Kohlen und Kartoffeln vielleicht auch noch versteckte Kirchenschätze bewachen sollte. Als wir nach dem großen Bombenangriff und der Zerstörung unseres Hauses durch mehrere Brandbomben für ein paar Wochen dort untergekommen waren, hatte ich öfters sein schauerliches Heulen gehört – denn er kam in dieser Zeit nie ans Tageslicht. Nur durch die Kellerschächte drang ein spärlicher Schimmer zu ihm hinunter. An einem dieser Löcher sah ich ihn dann auch eines Tages hinter dem Gitter, in das er immer wieder verzweifelt biss. Die Haushälterin des Pastors kam hinzu und verbot mir, hineinzufassen oder ihm auch nur zu nahen. Er sei abgerichtet, scharf und bissig. Sie öffnete eine Art Hühner-Luke unten an der Kellertür, scheuchte den Hundekopf mit dem Besen dort weg und schob einen Napf mit Fressen hinein. Den angelte sie später mit dem Besen wieder heraus.

Sah der Hund durch einen der Keller-Schächte jemanden draußen vorbeigehen, heulte er in schauerlichen Tönen. Es war ein trostloses Klagen, das mir durch und durch ging. Der Pastor, den ich fragte, ob Groll einmal heraus dürfe und ob ich ihn dann vielleicht streicheln dürfte, sagte entschieden „Nein“ und erklärte mich außerdem für zu klein. Noch ein paar Mal stand ich am Kellerschacht und redete mit dem großen Wolfshund, der dann ruhiger wurde, aber umso mehr jammerte, wenn ich schließlich wieder ging.

Durch unsere Evakuierung nach dem Gutshof Weißenberge und weiter nach H. waren wir von L. für einige Zeit entfernt gewesen. Nach mehreren Monaten zurückgekehrt, fiel mir sofort Groll wieder ein – und immerhin war ich jetzt 8 Jahre alt, also „viel“ größer. Ich wagte den Weg nach L. durch die Gartenreihen jetzt ganz allein und hatte Glück, dass ich den Pastor antraf. Er hatte mir ja im Sommer zuvor leichtsinniger Weise versprochen, dass ich im kommenden Jahr Groll spazieren führen dürfe, weil ich dann sicher groß genugsei. Natürlich hatte er gedacht, dass mein Interesse inzwischen längst erloschen sei. Und er hatte immer noch die gleichen Bedenken; weil ich aber nicht aufgab, ließ er sich schließlich auf einen Versuch ein. Er erklärte, Groll sei sehr gründlich ausgebildet, vielleicht akzeptiere er mich und dann gehorche er mir auch.

Grolls Befreiung aus dem Kellerverlies bereitet mir heute noch tiefes Schaudern: Der Hund stürzte heraus, war zunächst fast wie blind, winselte und weinte dann um seinen Herrn herum, der ihn kühl und energisch abwehrte, und ihm ein Sitzkommando gab. Das zitternde, unmäßig aufgeregte Tier gehorchte sofort. Nun winkte der Pastor mich heran, hieß mich ihn streicheln, was der starke Wolfshund sich hechelnd und wedelnd gefallen ließ, und ich durfte ihn anleinen. Von diesem Augenblick an gehörten wir zusammen: mit und ohne Leine, mit und ohne Kommandos, ja – mit und ohne Worte. Und Groll war wahrhaft riesig – wir waren beide 8 und im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe.

Von da ab holte ich Groll jeden Tag und für uns beide begann eine wunderbare neue Zeit. Was Groll betraf, so kam er endlich aus der – Scheiße(!) heraus, denn er war oft tagelang ununterbrochen in seinem Gefängnis, wenn der Pastor keine Zeit hatte, mit ihm eine kurze Runde durch die kleine Grünanlage an der Kirche zu gehen. Niemand anderes traute sich an den Hund heran. Der Kohlenkeller und die anschließenden Gänge waren völlig mit Kot verschmiert.

Eigentlich war es meine Mutter, die dem ein Ende machte: Als ich zum ersten Mal mit dem völlig verdreckten Tier zu uns nach Hause kam, nahm sie kurzentschlossen von unserm kargen Besitz die älteste Gartenwanne und etwas Schmierseife sowie eine alte Bürste und wir beide schrubbten und bürsteten Groll, bis er einigermaßen sauber und mit glattem, entfilzten Fell fast nicht wieder zu erkennen war. Zu Grolls Glück hatte meine Mutter die Hundeliebe mit ihrer „Vater-Milch“ eingesogen. Mein Opa mütterlicherseits war ein vergnügter Lebemann, Gastwirt, Jäger – und eben Hundeliebhaber gewesen und es hatten stets mehrere Jagdhunde und Doggen zu seiner Familie gehört. Als ich mit Groll abends nach L. kam und dem Pastor berichtete, dass meine Mutter ihn gesäubert habe, wurde er etwas verlegen und befahl dann ein paar Jungs, die herumlungerten, mit einem Schlauch den Keller gründlich sauber zu spritzen.

Selbst eine alte Matratze fand sich als neues Nachtlager. Dennoch war die Trennung für Groll und mich jeden Abend schwer. Er weinte und heulte, als könne er nicht glauben, dass ich jemals wiederkäme, wenn ich ihn im Keller einsperren musste und ich verließ ihn deshalb auch jedes Mal unglücklich – mit einem Gefühl von gemeinsamer Verlorenheit...

Mit Groll gab es für uns beide viele neue Spiele: Mit anderen Kindern rannte ich um die Kirche herum, während der gehorsame Hund wartend sitzen blieb, bis ich ihn rief. Dann schoss er los und wir rannten johlend weiter vor ihm weg. Er jagte uns solange, bis er mich eingeholt hatte, die meist ganz vorne lief. Dann war er überglücklich und warf mich auch immer mal dabei um. Allerdings mussten wir die Windrichtung beachten: Denn waren wir bei der Umrundung der Kirche fast schon wieder am Startpunkt, wo Groll saß und er kriegte unsere Witterung, dann machte er natürlich gleich kehrt und erwischte uns sofort. Das gab jedes Mal lautes Enttäuschungsgeschrei. Nahm ich ihn mit nach Hause, sah ich zu, dass ich schnell die Gartenpforte vor ihm zuschlagen konnte. Dann setzte der kraftvolle Athlet mit einem eleganten Satz darüber und auf Kommando auch wieder ein paar Mal retour, ein herrlicher Anblick!

Vor der Kommandantur (Kommandostelle der amerikanischen Armee), also unserem Haus gegenüber, standen auf dem Trottoir zwei Wachtposten mit MG’s (Maschinengewehren), die den mächtigen Hund mit einer Mischung aus Misstrauen und Bewunderung beobachteten. Eines Tages kam dann einer dieser mutigen Wächter zu meiner Mutter und orderte, der Hund dürfe nicht mehr über das Tor gehetzt werden. Die GI’s (US Amerikanische Soldaten) fühlten sich offensichtlich nicht wohl, wenn Groll mit mächtigem Satz das Hindernis nahm und ihnen dann in der schmalen Straße ziemlich nahe kam, obwohl er nicht die geringste Notiz von ihnen nahm.

Groll fühlte sich bei uns sehr wohl und mochte vor allem meine Mutter. Meine Brüder – dem bürgerlichen Alltag entwöhnte Ex-Soldaten – ignorierten ihn seltsamerweise und er sie. Ich glaube, auch sie hatten Respekt vor ihm, denn er kam ihnen in keiner Weise freundlich oder gar unterwürfig entgegen. Und ich war nicht bereit, ihnen, die seit der Rückkehr von der Front oft grob und schwer berechenbar waren, Groll in irgend einer Form anzubieten. AufWunsch meiner Mutter begleitete ich mit Groll als „Anstandsperson“ meine 17-jährige Schwester Edith und ihre Freundinnen, wenn sie sich mit ein paar jungen kontaktfreudigen GI’s (siehe oben) zu einem Stadt-Spaziergang durch die Trümmerlandschaften trafen. Sie hatten nichts dagegen, dass ich mit dem Hund beschäftigt war, und ich durfte auf diese Weise mit meinem großen Beschützer mitten durch die teils gesperrte Stadt und überall mit hin promenieren. Dabei war mir Ediths jeweiliger Begleiter dann sehr hilfreich, wenn ein fremder großer Hund nahte und gar zu knurren wagte: Denn dann hatte auch Grolls perfekter Gehorsam seine Grenze und seine schätzungsweise 50 kg ließen mich wie den fliegenden Robert – aus dem „Struwwelpeter“ (eine Art damaliges Komik- und Erziehungsbuch) – hinterherschießen. Dem beugte folgendes Ritual vor: Sah ich von weitem einen großen, steif heran kommenden Rivalen, reichte ich dem GI die Leine und bat in frisch gelerntem Amerikanisch: „Please, take the dog!“ Das klappte ganz vorzüglich: Der GI war stolz wie ein Spanier, ich fiel nicht hin und Groll konnte seinem Namen mit grollender Männlichkeit alle Ehre machen.

Die tägliche Gemeinschaft dieser Zeit vom Sommer 1945 über mehr als ein Jahr mit meinem Hundefreund sah folgendermaßen aus: Nach den wenigen Schulstunden, die wir aus vielerlei Gründen auch nicht regelmäßig hatten, flog der Schulranzen in die Ecke, bis zum nächsten Morgen; ein hastiges bisschen Essen – und fort war Helga nach L. Irgendwann kam ich dann mit Groll wieder, spielte mit ihm im Garten oder lag mit ihm auf der Wiese, bei Regen unter dem Verandavorbau, mit einem meiner drei Lieblingsbücher und las ihm vor. Es waren dies zwei wunderbare Bildbände mit den Titeln „Naturgeschichte der Säugetiere“ und „Naturgeschichte der Reptilien und Lurche“. Das dritte hieß „Mbogo“ und war eine Büffelgeschichte aus Afrika. Ich hatte alle drei Bücher aus einem Haufen Schriften herausgezogen, die die Amis (Amerikanische Besatzung) bei der Beschlagnahme (vorübergehende Enteignung) der Häuser als „Nazi-Literatur“ (die sie keineswegs waren) auf die Straße geworfen hatten, um sie zu vernichten. Noch heute besitze ich diese mittlerweile arg zerfledderten Leseschätze. Groll war ein geduldiger Zuhörer und sah sich auch höflich die Bilder von Löwen oder Giraffen an, die ich ihm zeigte. Ich glaube, wir träumten dann beide von Wildnissen in Afrika. Zumindest waren wir uns einig, dass wir einen gemeinsamen Traum von der großen Freiheit hatten! Grollwälzte sich dann voll Vergnügen auf den Rücken, sah in den strahlenden Himmel über uns und ließ sich den Bauch kraulen. Er war der perfekte Kamerad und wir waren beide wunschlos glücklich. Niemand störte uns und niemand kümmerte sich um uns, bis irgendwann Edith uns zum verordneten Begleitdienst anforderte.

Welch ein Schatz, den niemand beachtete, war dieser Hund! Seine souveräne Ruhe in all den unruhigen und ungeordneten Zuständen um uns herum! In all seiner Erniedrigung zu einem verkoteten Höllenhund in einem grausigen schwarzen Labyrinth hatte er die Fähigkeit zu ehrlicher, tiefer Zuneigung bewahrt – und seine Würde! Wie vereinsamt und im Leerlauf wäre ich in meiner Familie damals gewesen ohne Groll!

Während ich dies jetzt schreibe, wird mir wieder die große Gabe an Lebensmut, Aufrichtigkeit, Treue bewusst, die ich ihm verdanke. Von ihm durfte ich lernen, wie man Größe auch in den entsetzlichsten Situationen bewahrt. Noch heute leide ich aber auch unter dem Gefühl, Groll schließlich wieder in seine schreckliche Welt zurückgebracht zu haben, als wir unseren damaligen Wohnort endgültig verließen. Es war mir nicht gegeben, ihn dauerhaft zu befreien. Zwar fragte ich den Pastor, wie lang der damals 8-jährige Groll wohl leben könne, mit dem festen Vorsatz, bald zurückzukehren, um ihn dann, wenn ich ja richtig groß geworden war, für immer zu übernehmen. „Er kann wohl 16 werden“, meinte sein Herr. Ich rechnete, dass ich dann, mit 16, vielleicht auch alleine zurückkehren durfte, ihn befreien und ihn behalten könnte. Dieser illusorische Gedanke gab mir etwas Trost. Ich hatte noch keine Vorstellung von der weiteren Lebenslage in dieser Zeit der Umbrüche, von den damals kaum zu bewältigenden Entfernungen in Deutschland und den Entwicklungen der Zukunft.

Ob der Pastor vielleicht ein wenig mehr Empfinden für seinen Hund entwickelt hat, während er uns gelegentlich glücklich zusammen sah? Oder ging Groll wieder ganz und gar verloren?

Seither sind durch viele meiner Lebenszeiten vierläufige Kameraden meine geliebten und zuverlässigen Begleiter geblieben, die mich nie enttäuschten und die ich immer schmerzhaft verlor. Und irgendwie sind sie alle miteinander verbunden, lebendige Anteile dieses meines ersten großartigen Kameraden.

Peggy, die Mötze

„Boxer ohne Papiere zu verkaufen, 2½ Jahre alt, in Urexweiler, Saar“.

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