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Karl Georg Mürrigs Kindheit verläuft trostlos: der Vater ein autoritärer Familienregent, die Mutter schwach und unterwürfig, Karl Georg selbst ein kränkliches Kind und nur eine Belastung für die Eltern. Lediglich das gemeinsame Interesse für das weltpolitische Geschehen, das Karl Georg früh entdeckt, verbindet ihn mit seinem unnahbaren Vater. So verbringt er Stunden vor dem Radioapparat und saugt die Nachrichten in sich auf - sie werden ihm zu einem zweiten Zuhause. Als der jugendliche Karl Georg beim Durchstöbern des väterlichen Schreibtisches auf ein Geheimfach stößt, wendet sich das Blatt. Nun, da er die Vergangenheit seines Vaters kennt, ist der Tyrann plötzlich entzaubert und entmachtet. Doch was für ihn Befreiung sein könnte, misslingt. Noch Jahre später flüchtet er sich in die Scheinwelt der Medien, deren Geschichten von Krieg und Gewalt sein Leben zunehmend bestimmen. Es beginnt ein langsamer und doch unaufhaltsamer Abstieg in einen Abgrund, wie ihn die Weltgeschichte immer bereithält ... Eindringlich und präzise in der Durchleuchtung der menschlichen Seele erzählt Günther Loewit die Geschichte eines Lebens, das von vornherein zum Scheitern verurteilt scheint.
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Seitenzahl: 364
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Roman | Skarabæus
Günther Loewit
Roman
für Kerstin
Die letzten Hilferufe sind verstummt. Aus dem beißenden Rauch. Die Verschütteten schweigen. Endlich.
Unheimlich.
Die Stille.
An den Leitungen, die in die Trümmer führen, um den Kontakt mit unsichtbar Verschollenen halten zu können.
Zunehmend resignierende Anrufe waren drei Tage nach der Katastrophe in den Notrufzentralen von Polizei und Feuerwehren eingegangen. Sie stammten von Eingeschlossenen aus dem 5. und 6. Untergeschoß der Tiefgarage des World Trade Centers. Trotz fieberhafter Anstrengungen ist es den Rettungsmannschaften nicht gelungen, zu den in ihren Autos Eingeschlossenen vorzudringen. Seit Tagen gibt es keinen Kontakt mehr mit ihnen.
Der wenige Sauerstoff ist vom glosenden Schutthaufen aufgebraucht, die Hitze zu groß.
Am Freitag, dem 20. September, neun Tage nach dem Einsturz der Zwillingstürme, steigt immer noch so viel Rauch aus dem Trümmerhaufen, dass er vom Weltall aus gesehen werden kann.
‚O God …, damned …, where the hell are you …‘, später ‚please help …, don’t forget us …‘, immer leiser und dünner, flehentlich waren die Stimmen geworden.
Akkumulatoren und Atemluft haben sich verbraucht.
Endgültig.
Die letzten Tage der Hilfsmannschaften sind befreit von den beklemmenden Hilferufen aus der Tiefe.
Zumindest.
Auf der Südspitze Manhattans spielt sich seit dem elften September die außergewöhnliche Spielart einer Katastrophe ab, von Menschen für Menschen erdacht und von ihren Planern so angelegt, dass sie live in die ganze Welt übertragen werden kann.
‚Ground Zero‘, ursprünglich die Bezeichnung für das Zentrum einer nuklearen Explosion, hat sich in wenigen Tagen weltweit als neuer Ortsname durchgesetzt.
Alle Menschen, die in die Tiefgeschoße geflüchtet waren, sind tot. Die Temperatur im Zentrum der kollabierten Reste der einst 415 Meter hohen Wolkenkratzer wird nach wie vor auf über 1000 Grad Celsius geschätzt.
Noch kann niemand genau sagen, wie viele Menschenleben der Terroranschlag gekostet hat. Schätzungen sprechen von bis zu 6000 Toten. Lösch- und Bergemannschaften der New Yorker Feuerwehren suchen, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, nach wie vor nach Lebenden unter den Trümmern. Die Straßenzüge rund um Ground Zero sind nur für Hilfskräfte zugänglich. Sirenengeheul erfüllt seit Tagen und Nächten die Häuserschluchten. Fassaden, Mauervorsprünge, Gehsteige und Straßen sind zentimeterdick mit Ruß und Asche bedeckt.
Bürgermeister Rudolph Giuliani hat den Notstand ausgerufen. Der Luftraum über der Stadt wird von Militärflugzeugen kontrolliert. In New York ist nichts mehr so, wie es vor dem elften September war.
Diese Brocken einer Radioreportage, die er noch in der Wärme des Bettes gehört hat, sind Anton Hemmelmeyer im Kopf hängen geblieben, ehe er am Samstag, dem 21. September, in den frühen Morgenstunden auf Karl Georg Mürrig stößt.
Dem Gärtner fallen bei seinem morgendlichen Rundgang durch die Grünanlage der psychiatrischen Universitätsklinik die abgeknickten Äste der jungen Kastanienbäume auf. Weil er ihren Befall mit der sich rasch ausbreitenden Miniermotte fürchtet, achtet er besonders auf die Kastanien. Er tritt näher an die beschädigten Bäume heran.
Sein forschender Blick fällt auf ein Paar Unterschenkel. In Jeans. Sie liegen an einer schwer einsehbaren Stelle im Gebüsch unter den Bäumen. Der Rest des Körpers ist von herbstlichem Laub und einigen tief hängenden Ästen verdeckt.
Hemmelmeyer denkt: Ein Obdachloser. Wieder einmal. Er arbeitet sich verärgert zum leblos daliegenden Körper vor und rüttelt an seiner Schulter. Die Schulter gibt nicht nach. Erst jetzt bemerkt er die Kälte, die von dem seltsamen Bild ausgeht. Noch einmal versucht er den Menschenkörper zu wecken. Verunsichert und barsch ruft er: „Hallo, … he!“ Alles bleibt ruhig. Die Situation wird dem Gärtner unheimlich. Er tritt dem Körper mit dem Fuß seitlich ins Gesäß. Unsanft. Wartet.
Nichts rührt sich.
Er denkt nach, blickt noch einmal um sich. Anton Hemmelmeyer ist alleine.
Mut einer Verzweiflung überkommt ihn. Mit aller Kraft tritt er noch einmal auf den Hintern in den abgewetzten Jeans. Nichts, keine Regung.
Beängstigende Ruhe.
Nur den eigenen Herzschlag nimmt der Gärtner wahr. Als ihm bewusst wird, dass er wohl einen Toten vor sich hat, beginnt er zu schreien: „Hilfe, Hilfe, eine Leiche!“
Während er noch schreit, fällt ihm ein, dass eine Leiche keine Hilfe mehr braucht. Doch er kann seine Rufe nicht mehr bremsen und schreit weiter, bis ein erster Arzt aus dem Gebäude im Garten eintrifft.
Der graue Morgen kommt in Bewegung.
Die Polizei wird verständigt.
Bald treffen mehrere Funkstreifen mit Blaulicht und eingeschaltetem Folgetonhorn ein. Uniformierte Männer sperren die Umgebung mit gelben Signalbändern ab. Zur Sicherheit.
Beamte untersuchen Fundort und Leichnam. Einige machen Witze. Irgendwo. Der Ruf nach heißem Kaffee. Hemmelmeyer wird befragt. Notizen. Fotografien werden aus mehreren Blickwinkeln angefertigt, ehe der tote Mann aus dem Dickicht gezogen wird. Ein Kommissar durchsucht seine Kleidung, kann aber weder Ausweis noch sonst einen Hinweis auf die Identität des Toten finden. Der Polizeiarzt, der Todeszeitpunkt und Todesursache bekanntgeben soll, führt ein Fieberthermometer in den After der Leiche ein. Die Temperatur im Mastdarm des toten Mannes beträgt zu diesem Zeitpunkt 26 Grad Celsius. Während der Arzt nachdenklich Temperaturen addiert und subtrahiert, Tag- und Nachtstunden gegeneinander abwägt, kommt die herbeigerufene diensthabende Oberärztin der Klinik und fragt den Polizeiarzt: „Können Sie schon etwas über den Toten sagen?“
Noch bevor der Angesprochene antworten kann, zuckt die Oberärztin zusammen. Ängstlich tritt sie einen Schritt näher an den Toten heran, der jetzt, mit dem Gesicht zur Seite gedreht, frei zugänglich, zur Gänze entkleidet am Kiesweg liegt. Mit zusammengepressten Lippen nimmt sie allen Mut zusammen und beugt sich zu dem erstarrten Gesicht hinunter. Erschrocken fährt sie sich mit den Händen an den Mund.
Um nicht zu schreien.
„Das ist ja …“, entfährt es ihr, fast tonlos und doch voller Schrecken. Dann hält sie inne.
Verstört hebt sie den Kopf und gleitet mit ihrem Blick die Fassade bis zu den Fenstern des dritten Stockwerks hinauf. Abschätzend. Und verfolgt noch einmal den letzten Weg, den der Tote, der unter ihr liegt, genommen haben muss. Und wartet. Bis zum Aufschlag.
„Das ist ja der Mürrig“, haucht sie, erschöpft, verzweifelt, und dreht sich im Weggehen schnell um, damit keiner der Umstehenden ihre Tränen sieht.
Nelson Mandela, der bis 1952 als Rechtsanwalt in Johannesburg arbeitet, führt gemeinsam mit Oliver Tambo den ANC an und organisiert den friedlichen Widerstand gegen die Apartheid in Südafrika. Das erklärte Ziel des ANC ist die Aufhebung der Rassentrennung.
Karl Georg Mürrig bereitet seiner Mutter eine schwere Geburt.
Es ist März und der Geburtstermin bereits deutlich überschritten. Im Bauch von Frau Mürrig rührt sich nichts. Außer den üblichen Tritten und Schlägen des Ungeborenen gegen die Bauchdecke der Mutter.
„Bist du dir sicher, dass wir uns keine Sorgen machen müssen?“ Unterwürfig, im Vertrauen, dass der Gatte besser um die Dinge in ihrem Bauch Bescheid weiß als sie selbst.
„Mein Gott, bist du ängstlich, noch ist ja kein Kind in seiner Mutter geblieben“, und nach kurzem Nachdenken: „soweit mit bekannt ist.“
Die Bewegungen des Kindes werden von Tag zu Tag weniger, es hat kaum noch Platz. Frau Mürrig ist unsicher. „Glaubst du nicht, ich sollte doch einmal in die Klinik, zu einer Kontrolle?“
Neun gemeinsame Monate will sie jetzt, zur Mutter gereift, nicht aufs Spiel setzen. „Von mir aus fahr halt, wenn du es nicht mehr erwarten kannst.“ Und Frau Mürrig fährt. Von ihr aus. Alleine. Mit der Straßenbahn. Weil sie nichts mehr dem Zufall überlassen will.
Die Ärzte ziehen nach gründlicher Untersuchung von Mutter und Kind einen Kaiserschnitt in Erwägung. Frau Mürrig ahnt, was der angedachte Eingriff nach sich zieht. Am Telefon bittet sie ihren Mann: „Bitte komme nach, ich soll dableiben.“
„Muss das sein?“
Sie hat die Frage erwartet und will ihm nicht auf die Nerven gehen. Immer wieder betont er die Kostbarkeit der Zeit, seiner Zeit. „Es wird nämlich vielleicht ein Kaiserschnitt.“
Aber der Vater des Ungeborenen ist strikt dagegen. Er ist Arzt. „Von der alten Schule“, wie er den jüngeren Kollegen gegenüber betont. „Mein Kind und seine Mutter sollen durch den Schmerz der Wehen zusammenwachsen.“
Während sie sich trennen. Sagt er, denkt er, vor den anderen Ärzten im Kreißsaal, in Anwesenheit seiner Frau. Zur Strafe. Denn sie hatte die Schwangerschaft anfangs abgelehnt.
Eine Hebamme steht scheinbar unbeteiligt daneben, hört das Gespräch der Männer und streichelt mechanisch Frau Mürrigs Hand.
Die Kollegen wagen nicht, ihm zu widersprechen. Doktor Mürrig ist ihnen bekannt, sein Name klingt noch nach.
Mürrig.
Von früher, als sein Wort über anderer Leben oder Tod entschieden hat. Als das Rollen der „rr“ in Mürrig Teil der Sprache der Zeit war. Unbarmherzig, Widerspruch nicht duldend.
Und eine unsichtbare Angst ist geblieben. Von der Zeit unbehelligt. Wie der Doktor Mürrig selbst auch.
„Werter Kollege, Ihr Kind könnte die Nabelschnur um den Hals geschlungen haben und zu wenig Blut bekommen“, wagt der Oberarzt vorsichtig einen einzigen und letzten Versuch.
„Mein Kind bekommt genug Blut, da bin ich mir sicher“, ist das endgültige Aus für den Kaiserschnitt.
Gemeinsam fahren die Mürrigs nach Hause. In die Kantgasse No. 3., Wien, I. Bezirk.
Irgendwann, Tage später, setzen Wehen ein. Ein Rettungswagen bringt Frau Mürrig auf die Entbindungsstation. Stundenlang wälzt sie sich unter den Schmerzen der Kontraktionen in ihrem Unterbauch hin und her. Ihr Mann arbeitet währenddessen in seiner Ordination weiter.
Später wird er seinem heranwachsenden Sohn auf dessen Frage erklären, das wäre zu der Zeit so üblich gewesen.
„Weißt du, eine gebärende Frau ist kein schöner Anblick, ein Mann muss das nicht unbedingt gesehen haben.“
Endlich platzt die Fruchtblase.
Eine kurze Erleichterung.
Der besorgte Oberarzt beruhigt Frau Mürrig und sich selbst: „Jetzt wird alles gut, meine Liebe.“
Der ungeborene Karl Georg beginnt seine Reise durch den Geburtskanal. Eine Stunde lang geht alles gut. Auf die Wehen folgen Pausen, in denen sich Frau Mürrig und das Ungeborene erholen, neue Kraft für die nächsten Zentimeter schöpfen können.
Alle halben Stunden kommt der Oberarzt und schiebt Mittelund Zeigefinger durch die Scheide der Mutter, dem Kopf des Kindes entgegen.
„Na, Frau Mürrig, wie weit sind wir schon?“
Er versucht den Kopf zu tasten, drückt mit der freien Hand auf den Bauch, schiebt die Finger im Unterleib nach, wartet, drückt, verweilt, denkt nach. „Geht es meinem Kind gut?“, versucht Frau Mürrig im Gesicht des Untersuchers zu lesen.
Aber erst als er die Finger aus der Patientin gezogen, sich von den Handschuhen befreit und die Hände gewaschen hat, antwortet er ausweichend: „Jetzt bringen wir das Baby einmal auf die Welt.“
Von Zeit zu Zeit nimmt er einen hölzernen Trichter und drückt ihn auf Frau Mürrigs Bauch, um am anderen Ende nach dem Herzen des Kindes im Bauch zu hören. „Es geht ihm gut“, sagt er mechanisch, gezogen, besorgt, den Blick nachdenklich ins Nichts gerichtet. Die Wehen werden stärker.
Ein Lächeln gleitet über das Gesicht der werdenden Mutter. Die Hebamme sagt ihr, dass alles bald vorbei sein würde. Frau Mürrig ist glücklich und schwitzt erschöpft.
In diesem Augenblick beschließt das Kind, nicht mehr weiter vorzurücken. Es verweigert – klemmt und verspreizt sich.
Zu allem Überfluss setzten die Wehen aus. Das Licht der Welt rückt in weite Ferne. Der erwartete Erdenbürger steckt im Geburtskanal fest. Kann nicht vor und nicht zurück.
Ein Patt im Kreißsaal.
Stillstand.
Der Oberarzt kommt in Begleitung eines Kollegen in den Raum. Hastig untersucht er die Gebärende, schaut mit starrem Blick auf die Decke, während seine zwei Finger in der Scheide die Berührung mit dem Schädel des Kindes suchen. Zur Hebamme flüstert er: „Wir müssen den Doktor Mürrig noch einmal anrufen.“
Während er sich die feuchten Handschuhe von den Fingern streift, stellt sie die Verbindung her und reicht dem Arzt den Hörer: aufgeregte Worte, Latein, Deutsch, erregt, von da nach dort und zurück. „Herr Kollege, wenn wir nicht sofort handeln, kann ich für nichts garantieren.“
„Niemand macht Ihnen einen Vorwurf, aber einen Kaiserschnitt lehne ich entschieden ab. Und bitte verständigen Sie mich erst, wenn das Kind geboren ist.“ Dann legt Mürrig auf und arbeitet weiter in seiner Ordination.
Unbeirrt von den Ereignissen, unbeirrt von der neuen Zeit.
Die beiden Ärzte werden unruhig, ziehen sich zurück und beraten. Die Hebamme verabreicht Frau Mürrig ein Wehenmittel. Sie spürt den Stich nicht, zu sehr drückt das Kind in ihrem Becken.
Zweifel und Unsicherheit machen sich breit. Die Gebärmutter zieht sich erneut zusammen und drückt auf das widerspenstige Kind. Angst und Schmerzen verzerren das Gesicht der werdenden Mutter. Schweißperlen und Tränen rinnen ihr über das Gesicht. „Was ist mit meinem Kind?“
Die Hebamme wischt ihr mit einem feuchten Tuch über die Stirn. „Drücken Sie, Frau Mürrig, drücken Sie!“
Dann kommen die beiden Ärzte an das Bett zurück und stemmen sich, wortlos und verzweifelt, mitten im „Drücken Sie, Frau Mürrig, drücken Sie!“ der Hebamme, mit dem ganzen Gewicht ihrer Körper von oben gegen Frau Mürrigs Bauch.
Sie schreit auf.
Und bald auch das Kind, das sich gegen solche Brutalität und Übermacht nicht wehren kann.
Der Knabe hat blutunterlaufene Augen und ein verschwollenes, entstelltes Gesicht. Seine Haut ist blau. Er liegt leblos zwischen ihren Beinen.
Und macht nach seinem ersten Schrei keinerlei Anstalten, seine Lungen erneut mit Luft zu befüllen.
Rührt sich nicht. Schweigt.
Er scheint sich entschlossen gegen ein Weiterleben zu wehren. Beginnt erst zu atmen, als einer der Ärzte eine Absaugsonde tief in seinen Hals einführt.
Nach und nach kommt Leben in den Säuglingskörper. Das Neugeborene wird untersucht. „Frau Mürrig“, sagt der Oberarzt nach einer beängstigenden Weile, „Ihr Kind ist Gott sei Dank gesund. Die Augen werden bald wieder klar sein, ich bin mir sicher, der Kleine wird ein besonders fescher Kerl werden.“
Oft wird Frau Mürrig in den nächsten Jahren ihrem Sohn die Geschichte seiner schweren Geburt erzählen. Fast immer wird sie ihn dabei mit „Karl Georg, mein fescher Kerl“ ansprechen.
Schon im Frühsommer muss Frau Mürrig ihren Sohn abstillen. Von Anfang an steht das Stillen unter keinem guten Stern. Die Milch ist immer zu wenig, und auch wenn Karl Georg getrunken hat, scheint er nicht satt zu sein. Der Vater macht seiner Frau Vorwürfe. Mit Blicken und Worten.
„Du hast den Buben zuerst nicht annehmen wollen, und jetzt stillst du ihn nicht richtig.“
Karl Georgs Mutter ist eine ruheliebende Frau. Versucht möglichst jeden Streit zu vermeiden. Sie trinkt verzweifelt große Mengen von Wasser und Milch, doch so sehr sie sich auch mit den Flüssigkeiten abmüht, die Milch in ihren Brüsten will nicht mehr werden.
Abend für Abend, wenn der Arzt aus seiner Ordination nach Hause kommt, fragt er: „Hat das Stillen heute besser funktioniert?“ Und jedes Mal, wenn sie die Frage hört, spürt Frau Mürrig den Rückzug der Milch aus ihrer Brust. Abend für Abend.
Endlich macht er sie mit seinen Fragen so wütend, dass sie ihn anfährt: „Nimm den Buben und still ihn selber, wenn du es besser kannst!“
Sie erschrickt zuerst über ihren Mut, drückt dann aber den Buben in die Arme seines erstaunten Vaters und verlässt die Wohnung in der Kantgasse. Während sie verzweifelt am Beethovenplatz auf und ab geht, hört sie von oben ihren Mann schreien und toben: „Die Weiber, … sind zu allem zu dumm!“
Sie hofft, dass der finster blickende Stein-Beethoven nichts von dem Geschrei mitbekommt.
Durch drei Stockwerke und die Scheiben der Doppelfenster hört sie den Arzt bis auf die Straße. Sie denkt an ihren Säugling, und dass er das Toben seines Vaters alleine erleben muss, während sie sich drückt, und kehrt um, wieder hinauf, sechs Stiegen, drei Stockwerke.
Als sie die Wohnung völlig außer Atem betritt, erwartet sie den Zorn ihres Mannes. Der aber sagt nur: „Dann werde ich euch morgen eine Säuglingsmilch besorgen.“
Im Herbst bekommt der Säugling seine erste Erkältung. Tag und Nacht hustet Karl Georg und wird mit der Anstrengung kaum fertig. Sein Vater hält die Erkrankung für harmlos und weist seine Gattin an, den Buben wärmer anzuziehen.
„Irgendwann wird jedes Kind ein erstes Mal krank, und die, die nicht ordentlich gestillt worden sind, eben früher.“ Die Sätze des Arztes sind klar und dulden keinen Widerspruch.
Doch die wärmeren Kleider helfen nichts. Karl Georg hustet. Vor allem nachts. Trotz der Schmalzwickel. Herzzerreißend.
„Glaubst du nicht, dass wir dem Kleinen helfen sollten?“
Der Arzt dreht sich um und murmelt unbeherrscht: „Ich versuche einzuschlafen, warum machst du ihm nicht einen frischen Wickel?“ Sie fragt nicht mehr und hofft bei jedem Hustenstoß des Säuglings, dass er der letzte sein möge. Zumindest für die Zeitspanne, die der Arzt zum Einschlafen benötigt.
Aber Karl Georg hustet und hustet, unstillbar, als wollte er sich gegen eine unsichtbare Macht zur Wehr setzen, mit seinen eingeschränkten Mitteln. Bis er sich irgendwann übergibt.
Später, abgewischt und frisch angezogen, schläft er vor Erschöpfung ein.
„Na endlich, ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir“, sagt der Arzt. Und dann schlafen alle Mürrigs. Für eine Nacht.
Doch Karl Georg hustet auch am nächsten Abend. Und am übernächsten. Die Anfälle werden heftiger. Zwischen den einzelnen Hustenstößen pfeift die Luft beängstigend durch Karl Georgs Hals.
Zwei Mal muss die Mutter mit ihm ins Krankenhaus, da sie die Erstickungsanfälle für lebensbedrohlich hält. Der Vater lässt sie gewähren, sagt aber mürrisch: „Ich halte nichts davon, dass du den Buben schon jetzt verweichlichst.“
Bei der ersten Aufnahme in der Krankenanstalt Rudolfstiftung sagt der aufnehmende Arzt: „Frau Mürrig, es war höchste Zeit für Ihren Sohn, dass Sie zu uns gekommen sind.“
Zu Hause erzählt sie mit einem leichten Unterton von Befriedigung ihrem Mann von den Worten des Kollegen. Aber Karl Georgs Vater erwidert nur: „Hättest du den Buben ordentlich gestillt, wäre uns das erspart geblieben.“
Jeden Tag nach der Visite verweilt die verunsicherte Mutter am Krankenbettchen des Sohnes. Sie schämt sich. Für das Nichtstillen-Können. Und dafür, dass sie die Krankheit des Sohnes gegen ihren Mann verwendet hat. Sanft streichelt sie Karl Georgs Kopf, während er kraftlos und erschöpft im Bett liegt und die wiederkehrenden Stiche in seine Venen widerstandslos über sich ergehen lässt. Am Abend wird sie nach Hause geschickt.
Seit zwei Jahren ist Österreich wieder ein selbstständiger Staat.
Ein Jahrzehnt nach der Einführung der Apartheid glauben die schwarzen Einwohner Südafrikas immer noch an eine friedliche Regelung ihrer Probleme. Unter der Führung des ANC wagen sie immer offeneren Widerstand, sehen jedoch im Verzicht auf Gewalt ihre stärkste Waffe. Das Wohlstandsgefälle zwischen Schwarz und Weiß verschiebt sich immer mehr. Jedes Aufbegehren der Schwarzen wird mit Brutalität und wenn nötig auch mit Waffengewalt im Keim erstickt. Dennoch wird die Lage in den Ballungsräumen immer explosiver.
Karl Georgs erstes volles Lebensjahr beginnt mit einer Erkältung und endet mit einer weiteren. Außerhalb der kalten Jahreszeiten entwickelt sich das Kind unauffällig. Seine Mutter kämpft immer noch mit ihrem „Versagen“, wie der Vater ihre Unfähigkeit, das Kind ausreichend mit Muttermilch zu versorgen, nennt. Sie unternimmt ausgedehnte Spaziergänge mit ihrem Sohn. Während sie den Wagen vor sich her schiebt, spricht sie mit Karl Georg: „Es tut mir so leid, dass ich dich zuerst nicht gewollt habe.“
Karl Georg ist ein guter Zuhörer, manchmal lächelt er seine Mutter an. Dann sagt sie: „Aber jetzt habe ich dich umso lieber.“
Sie erzählt ihm von ihren Sorgen und der Unnahbarkeit seines Vaters. Karl Georg liegt in seinem Kinderwagen, hört zu und lächelt.
„Noch nie habe ich mich mit einem Mann so gut unterhalten wie mit dir“, beugt sich Frau Mürrig über den geflochtenen Kinderwagen und strahlt ihren Sohn an. Manchmal fragt sie sich, ob sie ihren Sohn überfordert. Missbraucht.
Dann sagt sie entschuldigend: „Was immer der Papa früher getan hat, jetzt bemüht er sich sehr.“
Karl Georg lächelt.
Bis zum Ende des Sommers kennen die beiden alle größeren Grünanlagen Wiens. Sie haben weite Wege mit der Straßenbahn zurückgelegt und die Sorgen von Karl Georgs Mutter miteinander besprochen.
Lautlos, manchmal, und immer einer Meinung.
„Mein fescher Kerl, bin ich froh, dass ich dich habe.“
Zu Beginn der zweiten Jahreshälfte bemerkt Frau Mürrig erneut das Ausbleiben ihrer Menstruation. Sie ist entsetzt. Eben hat sie das Leben knapp in den Griff bekommen. Einen Mittelweg zwischen Mutter- und Frausein gefunden.
Ihrem Mann sagt sie vorerst nichts, obwohl er Monat für Monat über Einsetzen und Dauer der Blutung informiert werden möchte. „Weil es für mich als Arzt von Interesse ist“, antwortet er kurz und bündig, als ihn seine Gattin einmal nach den Gründen für seine Neugier, ihren Unterleib betreffend, fragt.
Erst als sich die Wölbung des Bauches nicht mehr vor dem Arzt verbergen lässt, eröffnet sie ihm beim Abendessen: „Mein Lieber, ich glaube, wir bekommen noch einmal Nachwuchs.“
Während er stumm weiterkaut, zählt sie seine Gedanken: Zum ersten die Summen, die ein weiteres Kind verschlingen würde. (Immer wieder macht er auf die Kosten der Hustensäfte für Karl Georg aufmerksam.) Zweitens die Angst, wieder zwei bis drei Monate auf die Freuden der geschlechtlichen Befriedigung verzichten zu müssen. („Das waren zwei lange Monate“, hat sie noch in Erinnerung, neben den Schmerzen während des ersten Geschlechtsverkehrs nach Karl Georgs Geburt.) Drittens befürchtet er wohl ihr neuerliches Versagen, das Neugeborene ausreichend mit Muttermilch zu versorgen. Weiter kommt Frau Mürrig nicht.
„Dann hoffen wir, dass unser zweites Kind gesund zur Welt kommt“, ist alles, was der Gatte sagt.
Frau Mürrig atmet auf, während der Arzt den nächsten Bissen zum Mund führt.
Im Winter zum Jahr 1959 sucht Frau Mürrig zwar zweimal den Kinderarzt wegen Karl Georgs Husten auf, ein Krankenhausaufenthalt ist aber nicht mehr notwendig.
Fidel Castro arbeitet bis 1953 als Rechtsanwalt in Havanna. Da ihm, wie vielen seiner Mitbürger, die Diktatur Fulgencio Batistas ein Dorn im Auge ist, widmet er sich danach ausschließlich dem Kampf gegen das kubanische Regime. Ein erster Umsturzversuch schlägt fehl und Castro flüchtet zu den Rebellen in die Berge, von wo aus er Guerillaattacken gegen die verhasste Regierung organisiert. Er sticht vor allem als glänzender Redner hervor und zieht immer mehr Bewohner des Landes in seinen Bann. Der Widerstand gegen den zunehmend korrupten Polizeistaat wächst unter Castros Führung, bis Batista keinen Ausweg mehr sieht und am 31. Dezember 1958 die Insel fluchtartig verlässt. Im Februar 1959 wird Fidel Castro Ministerpräsident und bindet Kuba im Lauf der folgenden Monate wirtschaftlich und ideologisch eng an die Sowjetunion, was zu zunehmenden Spannungen mit den USA führt.
Am 6. März schenkt Frau Mürrig einem zweiten Kind das Leben. Diesmal verlaufen Schwangerschaft und Entbindung ohne Komplikationen. Die Tochter bekommt den Namen Katharina Anna und gedeiht von Anfang an prächtig. Sehr zur Freude des Vaters ist Frau Mürrig diesmal ohne Einschränkungen in der Lage, den Säugling mit Muttermilch zu versorgen. Immer noch hält Doktor Mürrig das vorzeitige Abstillen Karl Georgs für die Ursache seiner häufigen Verkühlungen. Er beschäftigt sich nicht allzu viel mit seinem Sohn, beobachtet ihn vielmehr wie ein Studienobjekt. Bewahrt einen gewissen Abstand.
„Hoffentlich bringe ich keine gefährlichen Bakterien aus der Ordination mit nach Hause“, sagt er beiläufig. Wenn seine Frau „Spiel noch ein bisschen mit Karl Georg, das Essen ist gleich fertig!“ gesagt hat.
Er hält sich dem Sohn gegenüber im Abseits, versteckt sich oft an seinem Schreibtisch. „Ist es dem Buben heute gut gegangen?“
„Schau ihn dir an, er hat ganz rosige Wangen.“
„Ich kümmere mich gerade um die Post“, ruft er aus dem Arbeitszimmer.
Doktor Mürrig hat zumindest aufgehört, seiner Frau Vorhaltungen für ihr „Versagen“ zu machen. Immer wieder aber weist er sie darauf hin, dass Katharina Anna trotz der kalten Jahreszeit keine Erkältungen bekommt. „Gestillte Kinder sind einfach stabiler.“ Immer wieder bringt er den Satz unter.
Nebenbei. In Abwandlungen.
Frau Mürrig versteht die versteckten Anspielungen und fühlt sich umso mehr zu Karl Georg hingezogen. Als seine Beschützerin.
Die hinwendungsvolle Liebe ihres Gatten zur Tochter ist unübersehbar.
„Wenn du nur einen Teil deiner Liebe für die Katharina dem Buben schenken könntest“, wagt sie einmal zu sagen.
Im Bett.
Während sein erigiertes Glied auf sie wartet. Zu einem solchen Zeitpunkt, so hat sie es gelernt, ist ihr Mann am ehesten zu Zugeständnissen zu bewegen. Doch diesmal kommt es anders.
Doktor Mürrig setzt sich auf.
In wenigen Sekunden verlässt alles Blut sein steifes Glied und sammelt sich im Kopf. Hochrot und mit hervortretenden Adern fährt er seine Frau an: „Was unterstellst du mir da!“
Er schreit.
Sie fährt, noch am Bettrand sitzend, zusammen. „Pssss…“, fährt es ihr durch den Kopf, „die Kinder schlafen doch schon.“ Sonst fällt ihr nichts ein. Im Schrecken des Augenblicks.
Mit Wut hat Frau Mürrig um diese Stunde nicht gerechnet. Die geschlechtliche Vereinigung ist dem Arzt wichtig.
Sonst.
„Ich unterstelle dir gar nichts“, sagt sie kleinlaut, legt sich knapp an den äußeren Bettrand und zieht sich die Decke bis zum Hals. „Ich meine es nur gut für dich und deinen Sohn.“
Sie versteckt sich, eingerollt, mit angezogenen Knien, die Hände über Kreuz an die Brust gepresst im Dunkel unter dem Kopfpolster.
„Hättest bloß du den Buben von Anfang an geliebt und ordentlich gestillt, dann wäre mir eine Menge Kummer erspart geblieben.“ Wiederholt er sich, wieder und wieder, seit Monaten. Seit über einem Jahr. Zu verschiedenen Anlässen. Zermürbend.
Sein unerwarteter Zorn ebbt ab.
Frau Mürrig beginnt zu weinen. Sie dreht sich zur Seite, damit er ihre Tränen nicht sieht. Ihr verhaltenes Schluchzen versetzt das Ehebett der Mürrigs in ein unmerkliches, rhythmisches Hin und Her.
Ein Auf-hoher-See.
Minuten vergehen. Es geschieht nichts.
Dann sagt der Arzt: „Hör auf zu heulen, du weißt, dass ich mich um euch alle drei kümmere.“ Und fügt nach kurzem Nachdenken hinzu: „Und zwar ohne Unterschied.“
Sie möchte es gerne glauben und kann nicht. Doch um der Ruhe und des Friedens willen sagt sie: „Ich weiß, es tut mir leid.“
Die See wird ruhiger.
Da dreht sich Doktor Mürrig um, so, dass sein Gesicht ihrem Rücken zugewandt ist. Er rutscht in ihre Hälfte des Bettes. Mit seinem rechten Arm umfängt er ihre Hüften, zieht das Nachthemd nach oben und beginnt sie zwischen den Beinen zu streicheln.
Frau Mürrig widersetzt sich nicht, bleibt aber ruhig liegen. Beginnt nicht, sich zum Rhythmus seiner bemühten Finger zu bewegen, kommt ihm nicht durch eine Drehung ihres Körpers im Bett entgegen. Befriedigt nicht die Erwartung ihres Gatten. Widersetzt sich als Verletzte, bestraft den Arzt. Sie denkt an das Lächeln, das ihr Karl Georg am Morgen schenken wird. So verharrt sie geraume Zeit, bis sie irgendwann spürt, dass das Blut wieder in das Glied des Gatten zurückgekehrt ist. „Du bist eine gute Frau, ich werde mir Mühe geben“, sagt er jetzt.
Wenigstens.
Denkt Frau Mürrig, wenigstens Mühe, und lässt die Lust, die er fordert, zu. Davor würde keine Ruhe sein.
Während der Arzt nach dem Geschlechtsverkehr sofort einschläft, liegt sie noch lange wach und denkt nach.
Und kommt zu keinem Ergebnis. Bis der Schlaf ein weiteres Denken unmöglich macht.
Fidel Castro ist am Höhepunkt seiner Macht. Es gibt auf Kuba so gut wie keinen Widerstand gegen ihn. Die Verstaatlichung amerikanischer Konzerne sowie die Enteignung der meist ausländischen Plantagenbesitzer verschaffen ihm uneingeschränkte Sympathie in der Bevölkerung. Allerdings ist eine große Zahl der Anhänger des Batista-Regimes nach Florida geflohen, von wo aus sie versuchen, die US-amerikanische Regierung davon zu überzeugen, dass Castros Rückhalt in der Bevölkerung weit überschätzt werde. Schließlich gelingt es den Exilkubanern, die US-Regierung für den Plan zu gewinnen, dass eine bestimmt vorgetragene Gegenrevolution Castro stürzen und die amerikanischen Interessen auf Kuba wiederherstellen würde.
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