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Wo von Engeln gesprochen wird, ist von Musik die Rede. Das Motiv zieht sich durch die Musikgeschichte und durch alle Gattungen. Volkslied, Choral, Chanson, Oper, Operette und große Kompositionen für Chor und Orchester – sie alle kennen den Gesang der himmlischen Heerscharen. Warum singen und musizieren Engel? Diese Frage erscheint umso relevanter, vergegenwärtigt man sich das grosse Interesse moderner Gesellschaften am religiösen Phänomen der Engel. Bei aller religionswissenschaftlichen Beschäftigung mit der Funktion des Engel-Booms bleiben jedoch Leerstellen: Ausgeklammert ist neben dem Motiv der musizierenden Engel der interreligiöse Aspekt der Engelsmusik. Anhand von ausgewählten Themenkreisen und Musikbeispielen zeigt Wolfgang W. Müller, welche Bedeutung und Funktion das Bild der musizierenden Engel für das religiöse Bewusstsein und für das Verständnis von Musik hat. Unter religionsphilosophischer, theologischer, interreligiöser und musikalischer Perspektive geht er der Gestalt der singenden Engel kenntnisreich auf den Grund.
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Seitenzahl: 309
Wolfgang W. Müller
Eine Kulturgeschichte
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Abbildung Umschlag: Fra Angelico,Verherrlichter Christus im Gericht des Himmels (1423)Lektorat: Anna Ertel, GöttingenKorrektorat: Anja Borkam, LangenhagenCover: Weiß-Freiburg GmbH, Freiburg i. Br.Layout: Andreas Färber, mittelstadt 21, Vogtsburg-BurkheimSatz: Daniela Weiland, textformart, GöttingenDruck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad LangensalzaPrinted in GermanyISBN Printausgabe 978-3-7965-5128-4ISBN eBook 978-3-7965-5129-1DOI 10.24894/978-3-7965-5129-1
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Meinen Nichten und Neffen gewidmetJulius, Meret, Leon, Bianca und Till
1.Intermezzo
2.Die Rede von den Engeln
2.1Werbung
2.2Film
2.3Populäre Musik
2.4Literatur
2.5Bildende Kunst
2.6Philosophie
2.7Spiritualität
2.8New Age
2.9Wiederkehr der Engel in der säkularen Gesellschaft
3.Das Motiv der Sphärenmusik
4.Die religiöse Rede von den Engeln
4.1Religionswissenschaft
4.2Tenach und Altes Testament
4.3Neues Testament
4.4Judentum
4.5Islam
5.Die Rede von den Engeln in den Theologien
5.1Judentum
5.2Christentum
5.2.1Orthodoxie
5.2.2Katholische Theologie
5.2.3Reformierte Theologie
5.3Islam
6.Die Ikonographie des Engelkonzerts
Exkurs: Das Motiv des gefallenen Engels
7.Musikalische Elemente der Rede über die Engel
7.1Gloria
7.2Sanctus
Exkurs: Engelchor und Marienlob
7.3Te Deum
7.4Cherubikon
7.5Erzengel
7.6«In Paradisum»
7.7Franz Schubert und die Musik der Engel
7.8Schutzengelmotiv
7.9Alban Berg oder die Musik der Engel und die Dodekaphonie
7.10Olivier Messiaen oder die Sprache der Engel
7.11Karlheinz Stockhausen oder die Musik der Engel in der Postmoderne
7.12Moderne jüdische Kompositionen zur Engelsthematik
7.13Neuauflage der Sphärenmusik? Kaija Saariaho
7.14Neuere geistliche Musik
8.Warum singen Engel?
9.Bibliographie
9.1Literatur
9.2Booklets
9.3Onlinequellen
9.4Videos
10.Anhang: Liturgische Texte
10.1Gloria (deutsch)
10.2Gloria (lateinisch)
10.3Sanctus (deutsch)
10.4Sanctus (lateinisch)
10.5Te Deum (lateinisch)
10.6Te Deum (deutsch)
11.Verzeichnisse der Abbildungen und Notenbeispiele
11.1Abbildungen und Abbildungsnachweise
11.2Notenbeispiele
Abb. 1: Caravaggio: Riposo durante la fuga in Egitto (ca. 1597)
Das um 1597 entstandene Bild «Riposo durante la fuga in Egitto» von Caravaggio (1571–1610) zeigt ein weihnachtliches Motiv: Die Heilige Familie befindet sich auf der Flucht nach Ägypten und wird bei einer Rast unter einem Baum dargestellt (Abb. 1). Maria und das Kind schlafen, der Esel ist an dem Baum festgebunden. Joseph erscheint ein Engel. Caravaggio malt diesen Boten in atemberaubender und androgyner Schönheit. Durch seine Platzierung und seine Leuchtkraft ist der Engel die zentrale Gestalt des Bildes. Joseph blickt ihm mit ernster Miene ins Gesicht und hält ihm ein Notenblatt hin, dessen Melodie der Engel auf seiner Violine zum Klingen bringt. Auch der Esel scheint der Musik zu lauschen, die Maria und das Kind in den Schlaf gespielt hat. Die Noten zeigen sehr genau einen dreistimmigen Instrumentalsatz – man vermutet, dass es sich um den Anfang der Oberstimme der Motette «Quam pulchra es» des Komponisten Noël Bauldewijn (um 1480 – um 1530) handelt, auf dem Notenblatt stehen einige Zeilen aus dem Hohenlied des Alten Testaments. Die Landschaft im Hintergrund orchestriert das Setting des Bildes, sie ist in zwei Hälften geteilt. Der Engel steht in der Mitte. Auf der Seite Mariens mit dem Kind sieht man eine paradiesische Landschaft als Hintergrund. Auf der anderen Bildhälfte sieht man Joseph mit Gepäck und einem Esel als Lasttier. Diese Anordnung der Landschaft scheint für Caravaggio untypisch, andererseits ist sie symbolisch zu verstehen.1 Die «marianische» Bildhälfte verweist als Abbild auf das Reich Gottes, während die andere Bildhälfte die Realität des irdischen Lebens verdeutlicht. Die Heilige Familie ruht sich auf ihrer Flucht nach Ägypten aus. Der Engel fungiert bei der Anordnung der beiden Landschaftshälften in seiner lichterfüllten Position als Verbindung dieser beiden Hälften: hier die irdische Welt, dort die göttliche Welt. Obwohl auf dem Bild Windstille herrscht, wird der Körper des Engels mit einem flatternden Tuch gezeigt. Es kann eine Anspielung auf den Text der Mottete sein, denn die Braut im Hohenlied bittet: «Nordwind, wach auf, und Südwind, komm! Weh durch meinen Garten, Durchwehe meinen Garten! Seine Balsamdüfte sollen verströmen!» (Hld 4, 16).
Weitere Details fallen auf: Eine der vier Saiten der Violine ist gerissen und hängt herunter. Obwohl ein Lob- und Wiegenlied für Maria und das Kind gespielt wird, ist der Engel Joseph zugewandt. Joseph und der Esel (!) schauen fasziniert auf den Engel. Der Garten, in dem die Szene spielt, wurde von Caravaggio detailgetreu gemalt, die musikalischen Angaben sind hingegen unvollständig: Was spielt der Engel, was hört Joseph in seiner Vision? Wird mit der Geige etwa nur die Melodiestimme des dreistimmigen Satzes gespielt? Durch diese musikalische Leerstelle öffnet sich den Betrachtenden ein neuer Raum des Sehens. In der Materialität und Immanenz kann sich Transzendenz manifestieren, die schönste Musik kann in der Imagination erklingen.
Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass alle drei monotheistischen Religionen die Rede vom Gesang und Musizieren der Engel kennen. Wo von Engeln gesprochen wird, ist von ihrem Gesang und ihrer Musik die Rede. Dieses Motiv zieht sich durch die gesamte Musikgeschichte und durch alle Musikgattungen. Volkslied, Kunstlied, Weihnachtslied, Kirchengesang, Chanson, Schlager, Oper, Operette, Musical und große Kompositionen für Chor und Orchester – alle thematisieren den Gesang der Engel. Die vorliegende Studie möchte deshalb einer einfachen Frage nachgehen: Warum singen und musizieren Engel?
Diese Frage erscheint umso relevanter, wenn man sich das in der modernen Gesellschaft vorhandene große Interesse am religiösen Phänomen der Engel vergegenwärtigt. Die vorhandene Literatur beleuchtet diesen Engelboom aus unterschiedlichen Perspektiven, Religionspsychologie, Religionssoziologie und Religionswissenschaft gehen der Funktion dieses religiösen Faktums nach. Dabei ist jedoch eine Leerstelle auszumachen, die die vorliegende Arbeit zu füllen versucht: Ausgeklammert bleiben sowohl das Motiv der musizierenden Engel als auch der interreligiöse Aspekt der Engelsmusik.2
Dabei ist der musizierende Engel, das Konzert der Engel, fester Bestandteil der christlichen Ikonographie. Judentum und Islam sprechen ebenfalls vom Gesang und Musizieren der Engel. Die vorliegende Studie geht der Frage nach, welche Bedeutung und Funktion das Bild der musizierenden Engel sowohl für das religiöse Bewusstsein als auch für das Verständnis von Musik haben kann. Wie sprechen Musik und Religion vom Unaussprechlichen?
Musikalisch versteht sich ein Intermezzo als ein eingeschobenes Zwischenstück. Die Rede über Engel, die Angelologie der drei monotheistischen Religionen ist ein solches Element, das zwischen die grundsätzlichen Themen der Gottes- und Schöpfungslehre, der Soteriologie und der Eschatologie eingeschoben wird und sich als ein verbindendes Zwischenstück im interreligiösen Gespräch erweisen kann. Anhand von ausgewählten Themenkreisen und Musikbeispielen geht das vorliegende Buch der Gestalt der Engel in theologischer, interreligiöser und musikalischer Perspektive nach.
1Ebert-Schifferer: Caravaggio. München 2021, S. 30.
2Es ist bezeichnend, dass das «Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam» (hg. von Richard Heinzmann. Freiburg i. Br. 2016) kein Lemma zur Musik kennt. Auch im Artikel über Engel wird der Aspekt der Musik nicht behandelt.
Das Interesse der modernen Gesellschaft am religiösen Phänomen der Engel wird, wie bereits erwähnt, in der Literatur aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Dabei wird der Aspekt der musizierenden Engel nicht berücksichtigt. Ein Beispiel für diese Unterlassung ist der Lexikonartikel Herbert Vorgrimlers (im Artikel über Engel), der von der metaphorischen Bedeutung der Engel für die Künste im Allgemeinen spricht, die Musik dabei aber unerwähnt lässt.3
Die theologische Rede von den Engeln kennt seit Jahrhunderten widerstreitende Positionen. Das Unbehagen der Theologie gegenüber der klassisch-scholastischen Lehre über die Engel kann theologiegeschichtlich an zwei Punkten festgemacht werden: zum einen an dem theologischen Einspruch der Reformation gegenüber einer metaphysisch argumentierenden Angelologie, zum anderen an der radialen Kritik der Aufklärung an dem Aberglauben der Engel.
Im Gegensatz zu diesen beiden radikalen Widerständen von theologischer und philosophischer Seite erlebte die katholische Reform im Anschluss an die Reformation ab dem 17. Jahrhundert einen großen Aufschwung der Angelologie. In dieser Zeit entstanden die populären Michaels- und Engelsbruderschaften. Das zuerst in Spanien gefeierte Schutzengelfest wurde 1609 von Rom gesamtkirchlich zugelassen und am 2. Oktober 1670 als gebotenes Fest der Kirche etabliert.
Seit Ende der 1980er- und Beginn der 1990er-Jahre spricht die Religionssoziologie von einer Wiederentdeckung der Engel in unserer Gesellschaft.4 Engel stehen hierbei für eine Zeit der Krise, für einen Zeitenwechsel, und sie manifestieren den Relevanzverlust der etablierten Religionen in den säkularisierten Gesellschaften Europas:
«Wenn die Religion ihre Anziehungskraft verliert, politische Systeme an Stabilität einbüßen und eine apokalyptische Stimmung sich verbreitet: dann ist die Rettung inmitten dieser Gefahren nahe. Ihre Existenz deutet hin auf einen Ort des Verderbens, auf ein Erfahren von Schmerz, auf eine Stunde von Trauer. Doch in dem Moment, in dem der Engel erscheint, beginnt bereits der Prozess der Heilung und Erneuerung. Das ist der Grund, weshalb Engel ein Zeichen von Glück sind.»5
Peter L. Berger postuliert in seiner Schrift «Auf den Spuren der Engel» einen Weg zur Wiedergewinnung der Transzendenz in der (Post-)Moderne.6 Für den US-amerikanischen Soziologen erstrecken sich Themen und deren Reflexion in der modernen protestantischen Theologie exklusiv auf die Diesseitigkeit, der Himmel leide dagegen unter einer transzendenten Verödung. Das Übernatürliche lebe allenfalls noch als Gerücht unter uns. Vor dem Hintergrund dieser Daseinsanalyse formuliert Berger eine Gegenstrategie: Die Suche nach Engeln habe beim Trivialen, Alltäglichen anzusetzen, um aus der Alltagserfahrung die Erfahrung der Transzendenz zurückzugewinnen. Diese Wiedergewinnung könne in einer säkularen Gesellschaft erreicht werden, indem den Spuren der Engel nachgegangen werde.
In unserer säkularen Gesellschaft begegnen uns Engel vor allem in Werbung, Film, populärer Musik und Literatur. Dabei werden theologische wie außertheologische Motive der Rede über Engel modifizierend aufgenommen. In den folgenden Abschnitten sollen kurz einige Beispiele aus diesen Bereichen vorgestellt werden.
In der Werbung werden Engelmotive, die ikonographisch, kulturell und theologisch in Bezug zur Transzendenz stehen, in der Immanenz aufgelöst: Die ursprünglich transzendente Verheißung materialisiert sich in den zu bewerbenden Produkten. Hierbei stehen Glück, Sicherheit, Wohlbefinden und positive Gefühle im Vordergrund. «Test it», suggeriert eine Werbung für Zigaretten, die einen jungen Mann mit nacktem Oberkörper und großen weißen Flügeln zeigt. Eine andere Werbung für ein Deodorant lässt eine junge Frau in lasziver Position mit Heiligenschein und großen gefederten Flügeln auf einem Deospray sitzen. Das Produkt verspricht, selbst Engel in Versuchung zu führen. Die erotische Aufladung ist ein Beispiel für die Verfremdung des Engelmotivs in der Werbung durch Topoi, die dem klassischen Engeldiskurs unbekannt sind. Im Sinne einer Antiwerbung kennt die Werbung auch einen spöttischen Umgang mit Engeln. Letztlich geht die Vermarktung der Engel in der Werbung von einer gewissen Beliebigkeit der Thematik aus: «Die Engel werden zu einer leeren Metapher degradiert, deren einzige Funktion die Erweckung eines transzendenten Abglanzes ist, mit dem sich buchstäblich alles verkaufen lässt. Gemeinsam ist diesen Engeln ihre Harmlosigkeit und Irrelevanz.»7
Für das kinematographische Interesse am Engelmotiv seien hier stellvertretend zwei Filme genannt: Jean-Luc Godard (1930–2022) drehte 1984 seinen aufsehenerregenden Film «Je vous salue, Marie», der die biblische Geschichte der Verkündigung und Geburt Jesu in einen Vorort von Genf verlegt. Zwei Personen, die als Erzengel Michael und seine kleine Begleiterin agieren, reisen mit dem Flugzeug nach Genf und eröffnen Marie, der Tochter eines Tankstellenpächters, dass sie schwanger werden wird. Marie ist mit dem Schulabbrecher Joseph liiert, ohne mit ihm sexuell zu verkehren. Godards Produktion ist kontrovers diskutiert worden: Für die einen stellt der Film eine ungeheuerliche Blasphemie dar, andere sehen die biblische Botschaft und die Suche nach Sinn in die Moderne transponiert.
Wim Wenders’ Film «Der Himmel über Berlin» aus dem Jahr 1987 mit Bruno Ganz als Hauptdarsteller nimmt ebenfalls das Engelmotiv auf. Der Plot des Films ist einfach: Zu den Engeln, die, unsichtbar für die Augen der Erwachsenen, Menschen in der Großstadt Berlin trösten und Anteil an ihrem Leben nehmen, gehört auch Daniel. Er verspürt das Verlangen, die Welt als Mensch zu erfahren. Aus diesem Grund verlässt er die Sphäre der Engel, verliebt sich in eine Trapezkünstlerin und wird, wie alle Menschen, sterblich. So lernt er die Welt der Menschen aus einer neuen Perspektive – mit aller Sinnlichkeit und Vielfalt – kennen. Dem 1945 geborenen Regisseur Wim Wenders geht es nicht um die Engel als solche. Er bedient sich der Chiffre, um aus der Perspektive von oben das Eigentliche, das Tun und Lassen der Menschen, sichtbar zu machen. Die Zuschauer bekommen aus der engelgleichen Perspektive einen Spiegel vorgehalten. Was in der Schlussszene gesagt wird, schreibt Daniel auf ein weißes Blatt Papier: «Erst das Staunen über uns zwei, das Staunen über den Mann und die Frau hat mich zum Menschen gemacht. Ich … weiß … jetzt, // was … kein … Engel … weiß.»8
Die Unterhaltungs- und Popmusik kennt Bearbeitungen des Engelmotivs quer durch die Jahrhunderte. Insbesondere die thematische Verbindung von Engeln, Musik und Liebe ist ein Longseller in der musikalischen Produktion über die verschiedenen Perioden und Stile hinweg. Einige Beispiele mögen zur Illustration genügen: In der 1927 erstmals aufgeführten Operette «Der Zarewitsch» von Franz Léhar (1870–1948) singt der Protagonist lockend und lieblich (und wissend!) über seine Angebetete: «Du hast im Himmel viel Englein bei dir». In ähnlicher Diktion komponierte Max Reger (1873–1916) für Liebende das Lied «Daz iuwer min Engel walte!» (op. 76). Bing Crosby und Grace Kelly singen später vom Engel der Liebe: «Denn über dich und mich waltet ein Schutzengel, dessen einzige Bestimmung es ist, mir und dir die Liebe für immer wahrhaft zu schenken».9
Die populäre Musik lässt sich in einer außertheologischen Perspektive auch immer wieder vom Motiv der Schutzengel inspirieren: «Da, wo ein Engel die Erde berührt», singt Andrea Berg (2009),10 «(Wie ein) Engel mit zerbrochenen Flügeln» (2017), textet die Sängerin Nina.11 Jimi Hendrix verbindet seinen Song «Angel» (1971) mit dem Gedächtnis an seine Mutter.12 In der Popballade «Angel of Mine» (1980) ruft der Sänger Frank Duval seinen Engel um Hilfe an: «Mein Engel / Hilf mir zu fliegen / Hilf mir den Himmel zu berühren / Hilf mir mein Leben zu finden // Mein Engel / Zeig mir das Licht.»13,
Die Moderne hat sich zugleich von einem naiven Verständnis der Rede von Engeln verabschiedet. Postmoderne und kritische Einwürfe zur Engelthematik bieten die Gruppe Rammstein mit ihrem Lied «Engel» (1997) oder Beyoncé mit ihrem Lied «No Angel» (2013).14 Der Song der Gruppe Rammstein hielt sich lange in den Charts und ist in der Kunst- und Medienwelt vielfach rezipiert worden. Die ersten drei Strophen des Songs lauten:15
«Wer zu Lebzeiten gut auf Erden / Wird nach dem Tod ein Engel werden / Den Blick gen Himmel fragst du dann / Warum man sie nicht sehen kann. // Erst wenn die Wolken schlafen gehen / Kann man uns am Himmel sehn / Wir haben Angst und sind allein / Gott weiß, ich will kein Engel sein. // Sie leben hinterm Sonnenschein / Getrennt von uns unendlich weit / Sie müssen sich an Sterne krallen / (ganz fest) / Damit sie nicht vom Himmel fallen.»
Das offizielle Video zu «Engel» provozierte ein Verbot: Es verband den Song mit Motiven des berühmten Schlangentanzes Salma Hayeks und nahm verschiedene sexualisierte Motive (zum Beispiel phallische Motive, Fußfetischismus) auf. Die Metalmusik artikuliere, so eine Interpretin, neben brachialer Gitarrenmusik «ein wenig deutsche Melancholie», wenn die Engel «einsam und allein im Himmel schweben».16
Ein theologisch-spiritueller Anklang im Verständnis von Engeln findet sich bei dem Sänger Herbert Grönemeyer. Er besingt in seinem Album «Tumult» (2018) die Geduld der Engel:17 «Und was jetzt noch fehlt / ist Geduld von tausend Engeln […] Der Himmel ist noch taufrisch / Wir haben die Hände frei / gegen Augenwischerei.» Grönemeyer nimmt in seinem Song pastorale Impulse auf, wenn er Geduld, Aktion und Hoffnung miteinander verbindet.
Das Verkündigungsmotiv der Weihnachtsgeschichte findet ebenfalls Eingang in die populäre Musik. Der Song «Mary’s Boy Child» (1956) von Harry Belafonte erzählt die Geburt Christi in aller Einfachheit.18 Unterlegt mit dem für Belafonte typischen Calypsorhythmus, räumt er dem Motiv des Engelsgesangs großen Raum ein: «Als Hirten in der Nacht ihre Herde hüten, / erspähen sie einen hellen, neuen, leuchtenden Stern. / Sie hören einen Chor singen, / und dessen Klang scheint von weit her zu kommen. // […] Trompeten erklingen und Engel singen / Höre, was sie verkünden: Dieser Mensch wird für immer leben, / dank dem Weihnachtstag.»19
Die Ambivalenz zwischen dem Verlust einer möglichen Transzendenzerfahrung, die mit der Musik der Engel verbunden wird, und der gleichzeitigen Sehnsucht nach der Möglichkeit, musikalisch die Nähe der Engel zu spüren, besingt der französische Chansonier Charlélie Couture in seinem Lied «Un jour les Anges» (2016).20 Salopp formuliert besingt er die Tatsache, dass die Engel die Schnauze voll haben ob der Missachtung durch uns Menschen. Aufgrund des Transzendenzverlustes bleibe dem neuzeitlichen Menschen nur der Gesang der Spatzen im Park. Den Engelsgesang, so Charlélie Couture, wird der Mensch – vielleicht – einmal hören, wenn er dereinst im Himmel oben ist.
Aus der Literatur der Moderne ragt Rainer Maria Rilke (1875–1926) mit seiner Behandlung des Engelmotivs heraus. Insbesondere in seinen «Duineser Elegien» (1912–1922) werden Engelmotive wiederholt aufgegriffen. Wie Rilke in seiner Privatkorrespondenz betont, sei seine Beschäftigung mit Engeln dabei nicht nur von den klassischen Topoi bestimmt. Seine Engelmotive nähern sich vielmehr auch außertheologischen Themen, Motiven und Bildern. Rilke geht in seiner Betrachtung des Phänomens der Engel zudem auf die Tradition des Islam ein. So schreibt er beispielweise in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz vom 13. November 1925:
«Wenn man den Fehler begeht, katholische Begriffe des Todes, des Jenseits und der Ewigkeit an die Elegien oder Sonette zu halten, so entfernt man sich völlig von ihrem Ausgang und bereitet ein gründliches Missverstehen vor. Der ‹Engel› der Elegien hat nichts mit dem Engel des christlichen Himmels zu tun – eher mit den Engelgestalten des Islam – […]. Der Engel der Elegien ist dasjenige Geschöpf, in dem die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, die wir leisten, schon vollzogen erscheint. […] Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen. – Daher ‹schrecklich› für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sichtbaren hängen.»21
«Jeder Engel ist schrecklich.»22 Dieses Motiv kehr in den Gedichten Rilkes immer wieder. Er thematisiert damit die klassische religionswissenschaftliche Unterscheidung in der Erfahrung und Wahrnehmung des Heiligen, die sowohl Furcht vor dem Heiligen als auch Anziehung des Heiligen bedingt. In den Engelgedichten der Duineser Elegien geht Rilke nicht mehr von einem biblischen Verständnis der Engel aus, bei der der Engel als treuer Begleiter erscheint: «Wohin sind die Tage Tobiae?» Die Rede des Dichters über die Engel changiert nun zwischen den erschreckenden Motiven, einer Tiefendimension der Dinge, und der Hoffnung, das Scheitern der Existenz überleben zu können: «Fangen die Engel wirklich nur Ihriges auf, ihnen Entströmtes, oder manchmal, wie aus Versehen, ein wenig unseres Wesens dabei?»
Rilke verwendet das Engelmotiv in seiner Dichtung als Chiffre, um klassische Motive der Transzendenz in der Gebrochenheit der Moderne zu rekapitulieren:
«In seiner poetischen Analyse der condition humaine bedient sich Rilke eines Verfahrens, das in anthropologischen Betrachtungen lange Tradition hat: Was der Mensch ist, lässt sich am besten mittelbar, durch Bestimmungen des Nicht-Menschlichen sagen. In einer im christlichen Abendland wohletablierten Topik sind die dafür geeignetsten Gegenbilder die, in denen die Pole der kreatürlich-geistigen Doppelnatur des Menschen jeweils zur Eindeutigkeit vereinseitigt sind: Tier und Engel.»23
In seinem «Brief des jungen Arbeiters» schreibt Rilke lapidar vom «Engel, den es nicht gibt».24 Sollte es dennoch einen Engel in (s)einem transzendenten Lebensraum geben, so Rilke, dann bliebe diese Sphäre dem Menschen immer unzugänglich, obwohl der Mensch mit seinem Denken und Fühlen zum Wirken des Engels beitrüge. «In der Mythologie der Elegien fungiert der Engel so primär als Gegenbild zur menschlichen Existenz, das uns auf die Bedeutung und Würde der ‹unsichtbaren› Seite unseres Lebens verweisen soll.»25
Auf eine eher subtile Behandlung der Engelsthematik im Werk des Schriftstellers Thomas Mann (1875–1955) macht uns der Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) aufmerksam. In einer prägnanten und inspirierenden Weise spricht Blumenberg über die Engellehre, die er in Thomas Manns Roman «Die Buddenbrooks» ausfindig macht.26
Der Roman «Buddenbrooks. Verfall einer Familie» (1901) beginnt mit einer Gartenszene. Die kleine Tony wird von ihrem Großvater, Konsul Buddenbrook, über den Katechismus geprüft. Die Enkelin beginnt zunächst stockend: «Ich glaube, dass mich Gott», kommt dann in Fahrt («geschaffen hat samt allen Kreaturen») und schnurrt schließlich den restlichen Artikel herunter. Als sie bei den materiellen Dingen angekommen ist – «Dazu Kleider und Schuh» –, bricht der Großvater in Gelächter aus. Er lacht vor Vergnügen, sich über den Katechismus «moquieren» zu können. Tonys tastende Frage ganz zu Beginn des Romans: «Was ist das?– Was – ist das», ergänzt er ‒ auf Plattdeutsch und Französisch ‒ mit den Worten: «Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle!»27 Damit distanziert sich der Großvater, so Blumenberg in seiner Deutung der Eingangsszene, von Glaubenssätzen der Kirche, die er als Kinderglauben abtut.
Während die Eingangsszene Gott und Teufel nennt, Engel aber ausklammert, sieht Blumenberg deren Stunde am Ende des Romans gekommen. Der Text endet mit einer Szene am Sterbebett des jungen Hanno Buddenbrook. Hier tritt für Blumenberg jenes Wesen in Erscheinung, das in der Gartenszene zu Beginn des Romans noch fehlte:28 «Eine Zumutung an die Vorstellungskraft, die es im Gartenereignis nicht gegeben hatte, das eine Sache der reinsten Abstraktion des Unzerstörbaren gewesen war.»29 In dieser Schlussszene kommt es zu einem Dialog, der für Blumenberg einen hermeneutischen Schlüssel für das gesamte Romanwerk präsentiert. Frau Permaneder, wie die kleine Tony mittlerweile heißt, sagt unter Tränen über ihren Neffen: «Ach, er war ein Engel!» Darauf erwidert die alte Lehrerin Sesemi Weichbrodt korrigierend: «Nun ist er ein Engel.»30 Die alte Lehrerin ist es auch, die das letzte Wort im Roman hat. Sie rückt ihre Haube zurecht, pocht auf eine Tischplatte und sagt «mit ihrer ganzen Kraft», wobei ihre Haube zittert: «Es ist so!»31
Der allerletzte Satz des Romans lautet: «Sie [Sesemi Weichbrodt] stand da, eine Siegerin in dem guten Streite, den sie während der Zeit ihres Lebens gegen die Anfechtungen vonseiten ihrer Lehrerinnenvernunft geführt hatte, bucklig, winzig und bebend vor Überzeugung, eine kleine, strafende, begeisterte Prophetin.»32 Für Blumenberg beinhaltet dieser Schlusssatz mehr als frömmlerische Rechthaberei. Hanno war der Erste und der Letzte der Buddenbrooks, der sich Fragen der Transzendenz stellte, angesichts seines Leides manifestiert sich in seiner Vorstellungswelt eine engelhafte Überzeitlichkeit, die in Kontrast zu der Debatte um die Frömmigkeit und Unsterblichkeit zu Beginn des Romans steht. Der alte Johann Buddenbrook lachte aus Vergnügen über den Katechismus, er orientierte sich an der Philosophie Arthur Schopenhauers. Hanno korrigiert durch die Rede der Weichbrodt diese Perspektive, er wird zu einem inkarnierten Engel. In den Worten Hans Blumenbergs: «Was des Senators Gartentraum nicht vermocht hatte, der ‹Sohn› brachte es dem toten Vater auf die von diesem verachtete Weise dar. ‹So ist es!› ist das Erweckungswort des inkarnierten ‹Engels›.»33
Der polnische Dichter Czesław Miłosz (1911–2004) bedauert in seinem Gedicht «Von Engeln» (1969) das verlorene Interesse an Engeln – ein Verlust, der für ihn in einem rationalistischen Weltbild begründet liegt:
«Man hat euch die weißen Kleider genommen, / Die Flügel und selbst das Sein, / Ich glaube euch dennoch, Boten. // Die umgestülpte Welt, / Das schwere Gewebe, bestickt mit Sternen und Tieren, / Durchwandelt ihr, die wahrhaftigen Nähte betrachtend. // Ihr rastet hier kurz, / Wohl in der Morgenstunde bei klarem Himmel, / In der Melodie, die ein Vogel nachsingt, / Oder im Duft der Äpfel im Abenddämmer, / Wenn Licht die Gärten verzaubert. // Man sagt, es hätte euch jemand erdacht, / Doch mich überzeugt das nicht. / Die Menschen haben sich selbst genauso erdacht. // Die Stimme – ist wohl Beweis, / Weil sie ohne Zweifel von klaren Wesen herkommt, / Die leicht sind, beflügelt (warum auch nicht), / Mit Blitzen gegürtet. // Ich habe im Traum diese Stimme manchmal vernommen / Und, was noch seltsamer ist, in etwa verstanden / Den Ruf oder das Gebot in der überirdischen Sprache: / bald ist es Tag, noch einer, tu, was du kannst.»34
Der Dichter nennt die Engel in klassischer Diktion Boten, die kurz im Weltlichen rasten. Er weiß um die Vorbehalte der Moderne in ihrem Umgang mit Religiösem und um den Ausschluss der Frage nach Transzendenz. Entgegen dem neuzeitlichen Projektionsvorwurf gegenüber religiöser Rede und der Vermeidung metaphysischer Themen («es hätte euch jemand erdacht») hört Miłosz eine Stimme, die von einem «klaren Wesen» stammt. Er vernimmt die überirdische Sprache jedoch im Traum, in dem er einen Auftrag für sein Tagwerk erhält («tu, was du kannst»). Das Geschilderte eröffnet somit einen Raum, in dem anderes gedacht werden kann.
Interessanterweise verstummt die Rede von den Engeln keinesfalls in der zeitgenössischen Literatur. Der 1969 geborene Schriftsteller Christian Lehnert beispielsweise nimmt das Motiv der Engel auf, um im nachmetaphysischen Kontext moderner Literatur von Transzendenzerfahrungen im 21. Jahrhundert zu sprechen.35 Während der Topos der transzendenten Obdachlosigkeit für die neuzeitliche Literatur konstitutiv ist, bildet das Werk des 1974 geborenen ukrainischen Schriftstellers Serhij Schadan eine interessante Ausnahme davon. Im Werk des Schriftstellers erscheinen Engel in «erstaunlicher Regelmäßigkeit».36
Der Schriftsteller Kurt Drawert beschreibt in seinem Gedicht «Alles neigt sich zum Unverständlichen hin» (2024)37 – bezüglich der Engelsthematik in der Tradition Rilkes stehend – zum einen die Dimension der Engel verneinend («Wie oft noch, dieselbe Verrichtung, der gleiche Weg, Herr // Natürlich antwortet keiner. Wäre noch schöner»), zum anderen den Fragemodus nach einem anderen nicht ganz negieren zu wollen («Wann liegt so ein Leben so komplett neben sich? Weiß das einer / aus der Engel Ordnungen?»).38
Für die bildende Kunst sollen stellvertretend einige Werke aus verschiedenen Perioden vorgestellt werden, in denen das Motiv der Engel eine prominente Rolle spielt.
Für den malenden Dominikaner Fra Angelico, der um 1386/1400 bis 1455 hauptsächlich in Florenz lebte, illustrieren die zahlreichen Engelmotive in seinem Œuvre die Sichtbarmachung des Unsichtbaren in der Immanenz. Michel Feuillet hebt in seinen Schriften zum Werk von Fra Angelico die Verbindung zwischen der Tradition der mittelalterlichen Mystik und den ersten Aufbrüchen des Humanismus in der Renaissance hervor.39
Abb. 2: Fra Angelico: Verkündigung Mariens (1425/1426)
Die Materialität der Malerei wird bei Fra Angelico in den Dienst des Mysteriums sowie seiner theologischen Reflexion und devotionalen Praxis gestellt. Seine Darstellung der Verkündigungsszene von 1425/1426 (Abb. 2) zeigt diesen Stil eindrücklich. Das Gemälde vereinigt die Themen Schöpfung und Inkarnation und spielt mit unterschiedlichen Perspektiven. Die Verkündigung des Engels an Maria findet in einer kleinen Halle statt. Die Säulen der Halle markieren die Grenze zur Transzendenz und bilden damit den emblematischen Ort des Mysteriums. Im Hintergrund sieht man die Vertreibung aus dem Paradies, der Garten ist mit kleinen Blumen übersät. Das Bild spielt für die Betrachtenden mit der Realität und öffnet sich für ihre Assoziationen. Es handelt sich um das dialektische Spiel zwischen Ähnlichem und Unähnlichem.
Abb. 3: Fra Angelico: Verherrlichter Christus im Gericht des Himmels (1423)
Die intensive Beschäftigung des Malers mit dem Motiv der Engel zeigt sich auch in anderen Bildern. Das Gemälde «Verherrlichter Christus im Gericht des Himmels» aus dem Jahr 1423 (Abb. 3) zeigt den auferstandenen Christus in einer Glorie, umgeben vom Chor der Engel und von anderen musizierenden Engeln. Auch dieses Bild spielt mit der Ästhetik und Imagination der äußersten Grenzen. Es ist in den Worten Georges Didi-Hubermans eine Ästhetik des künftigen Bildes:40 eine Ästhetik der Annäherung, die um das Unvollkommene weiß. Der Gesang und die Musik der Engel können dabei als Medium für eine Annäherung an das Göttliche gedacht und verstanden werden.
Auch in den Bildern Marc Chagalls (1887–1985) kehren Engelmotive immer wieder. Der russisch-französische Maler ist bei seinen Engelsdarstellungen von der theologischen Tradition der Orthodoxie geprägt. Als junger Student an der Hochschule für Bildende Kunst in St. Petersburg beschreibt er eine Engelsvision:
«Träume suchten mich heim: ein viereckiges Zimmer, leer. In einer Ecke ein Bett und ich darin. Es wird dunkel. Plötzlich öffnet sich die Zimmerdecke und ein geflügeltes Wesen schwebt hernieder mit Glanz und Gepräge und erfüllt das Zimmer mit wogendem Dunst. Es rauschen die schleifenden Flügel. Ein Engel! Denke ich. Ich kann die Augen nicht öffnen, es ist zu hell, zu gleißend. Nachdem er alles durchschweift hat, steigt er empor und entschwindet durch den Spalt in der Decke, nimmt alles Licht und Himmelblau mit sich fort. Dunkel ist es wieder. Ich erwache. Mein Bild ‹Erscheinung› gibt diesen Traum wieder.»41
Neben dem im Zitat genannten Bild «Erscheinung» (1917) nehmen unter anderen folgende Bilder Engelmotive auf: «Engel mit Palette» (1927), «Engelsturz» (zuerst 1934), «Der Kampf Jakobs mit dem Engel» (1967), «Jakobsleiter» (1973) sowie verschiedene Illustrationen zum biblischen Buch «Hohelied». Das Bild «Dem anderen Licht» aus dem Jahr 1985 (Abb. 4) ist die letzte Lithographie des Künstlers.
Abb. 4: Marc Chagall: Dem anderen Licht (1985), © ProLitteris, Zürich
Das Engelmotiv wird bei Marc Chagall polyvalent verwendet. Ingrid Riedel führt folgende Aspekte auf:42
–Engel fahren aus dem Dunkeln heraus, und es wird um den Segen gerungen wie in der biblischen Erzählung des Jakobskampfs mit dem Engel (vgl. Abb. 5). Dieses Motiv gehört zu den häufigsten Engeldarstellungen bei Chagall, da es zugleich ein Symbol für das Ringen um die schöpferische Kraft des Künstlers ist.
Abb. 5: Marc Chagall: Kampf Jakobs mit dem Engel (1960), © ProLitteris, Zürich
–Engel durchdringen den Menschen mit der feurigen Kraft einer Inspiration: Dieses Motiv findet sich zum Beispiel im sogenannten Prophetenfenster im Fraumünster zu Zürich, wo Chagall bis 1970 einen fünfteiligen Zyklus schuf («Prophet Jesaja mit rötlicher Flamme durchfahrender Engel»).
–Engel als Ausdruck spielender Bewegungsfreude, Akrobaten gleich, die mühelos die Schwerkraft überwinden können, finden sich zum Beispiel in den Bildern «Zirkus» (1978) oder «Fahrendes Volk» (1968). Das Motiv des tanzenden Engels bei Chagall verweist auf die enge Beziehung zwischen Musik, Tanz und Angelologie.
–Engel in Verbindung mit Tiermotiven finden sich zum Beispiel in Chagalls «Hohelied»-Bilderzyklus. Die Verbindung von Menschen und Engeln in der Darstellung von Paaren versteht der Maler einerseits als Ausdruck der individuellen Bezogenheit der Liebe auf den oder die andere(n), andererseits aber auch als Symbol für eine Liebe, die sich selbst übersteigt.
Engel werden bei Chagall häufig in Verbindung mit dem Weiblichen gezeichnet und beschreiben alle Formen der kreativen Inspiration. In solchen Begegnungen und Verbindungen der Gegensätze repräsentiert der Engel bei Chagall oft die «transzendente Funktion der Psyche selbst, ihre schöpferische Funktion, die Bilder und Symbole schafft durch die Verbindung und Überwindung der Gegensätze».43 Engel finden sich bei Chagall auch als Illustration des biblischen Schöpfungsmotivs: «Die Harmonie der Schöpfung wieder herzustellen, nur eines der großen Anliegen des Engels bei Chagall: In der Gegenwart des Engels ist die Schöpfung wieder Musik, erklingt ihr Grundakkord, wie sonst nur in der Gegenwart des Tieres.»44
Der russisch-französische Maler steht mit seinen Engelsmotiven in der modernen Malerei nicht allein. Die Darstellung von Engeln begleitet auch Paul Klee (1879–1940) während seiner gesamten Schaffensphase. Die Engel sind bei ihm als Personifikation des Übergangs zu verstehen. Sie repräsentieren das existenzielle Bedürfnis, die Bereiche der Immanenz und der Transzendenz, Himmel und Erde, Leben und Tod gedanklich zu umfassen und auszuloten. Engel besitzen für Klee die unglaubliche Fähigkeit, Himmel und Erde zusammenrücken zu lassen. Somit werden die Engel zu sympathischen Lebenshelfern. Des Öfteren verkündet Klee programmatisch: «Bei den Engeln ist alles wie bei uns, nur englisch.»45
In Klees früher Schaffensperiode beziehen sich Engeldarstellungen noch auf die christliche Ikonographie, allerdings bereits leicht ironisch gebrochen.46 In der Zeit am Bauhaus in Weimar und Dessau malt Paul Klee keine Engel. Gegen Ende dieser Phase befasst er sich jedoch wieder mit Engelmotiven. «Der trunkene Engel», ein Bild aus dieser Zeit, fliegt nicht mehr, er ist gefallen und trunken vor Liebe und verweist auf ein rotes Herz. Kurzum, der Engel imaginiert das Objekt der Begierde.
Das christliche Motiv des Schutzengels variiert Paul Klee mit seiner «Engelhut»-Thematik, das Bild «Engelhut» stammt aus dem Jahr 1931. Dabei zeichnet er verschiedene Figuren übereinander und zeigt einen größeren Engel, der andere Figuren trägt, die keine Füße haben. Der größere Engel schützt und trägt sie gleichsam. In weiteren Bildern mit dieser Thematik bestehen die beiden Figuren kleine Abenteuer. Ein Bild dieser Reihe heißt «Unter großem Schutz» (1939) und nimmt das ikonographische Motiv der Schutzmantelmadonna aus dem Mittelalter auf.
Beginnend mit der Machtübergabe an die Nazis in Deutschland im Jahr 1933 spiegeln die Engelsmotive im Œuvre Klees die politischen Umstände. In seinen Engelbildern tauchen Motive des Abgründigen, des Bösen, des Teuflischen auf und sie zitieren die christliche Thematik des gefallenen Engels Luzifer. Wörtlich übersetzt bedeutet Luzifer Lichtträger (von lat. lumen für Licht und ferre für tragen); anders als in der römischen Mythologie wird er im christlichen Verständnis mit dem obersten Teufel als Sinnbild des Bösen in Verbindung gebracht. Ihm ist der urmenschliche Charakterzug eigen, sein zu wollen wie Gott. Diese Ambiguität zeigt sich in Klees Bildern aus dieser Phase. Es geht um das ständige Verstricktsein in Gut und Böse und damit um einen Prozess der Metamorphose.47
Im Bild «Engel im Werden» aus dem Jahr 1934 (Abb. 6) markiert ein rotes Kreuz auf graublauem Grund in der rechten oberen Bildhälfte den Ort der Entstehung des Engels, dessen Gestalt in den gegen oben ausschwingenden linearen Formbegrenzungen und dem Kreis angelegt ist. Klees Engelbilder weisen stets auf den prozessualen Charakter ihres Entstehens hin. Die Betrachtenden werden in den assoziativen Formbildungsprozess einbezogen. Motive und Assoziationen zu Höhe, Fall und Abfall stellen sich ein und fügen die engelgleichen Figuren in gewagten Kompositionen zusammen. Zugleich scheinen sie sich ihres Daseins schalkhaft zu erfreuen.48
Zu dieser Thematik gehört auch das Motiv der Erzengel. Im Jahr 1938 komponiert Klee das Bild «Erzengel» (Abb. 7): Überwiegend rechteckige Farbfelder in Pastelltönen werden aneinandergesetzt, darauf zeichnet er – als Kontrast zu den Farbfeldern – mit dicker schwarzer Tinte abstrakte Zeichen. Die Zeichen erinnern an arabische und ägyptische Schriftzeichen. Beim Betrachten stellt sich die Figur eines Gesichts ein. Links unten findet sich ein liegender Stab, der auf das Motiv des Geführtwerdens durch den Erzengel Gabriel verweist. Das ausgewogene Verhältnis von aufsteigenden und absteigenden, ruhigen und wilden Motiven, das im Bild herrscht, veranschaulicht das Wirken des Erzengels Michael, der die Menschen durch die Zwischenreiche führt. Gute und böse Kräfte halten sich die Waage, und der Erzengel als Präsenz zwischen Göttlichem und Menschlichem verfügt über kämpferische Qualitäten, die ihren Ausdruck in den schwarzen Linien finden.
Abb. 6: Paul Klee: Engel im Werden (1934)
In seinen letzten beiden Lebensjahren, als der Künstler von seiner Krankheit gezeichnet ist, malt Klee Wesen der Zwischenwelt, die er «im Vorzimmer der Engelschaft» verortet. Sie sind engelgleich, mit kleinen Schwächen und Unzulänglichkeiten, erscheinen weniger metaphysisch als menschlich, sie sind altklug, sehen nicht hässlich aus und haben weder weibliche noch männlich Züge, sie scheinen vergesslich oder zweifelnd zu sein. Die bunten Ansammlungen der Engelsmotive sind nicht explizit religiös konnotiert, sie greifen auf die christliche Ikonographie zurück, aber auch auf literarische Vorbilder und das Volkstheater. Sie sind nicht immer geschlechtslos wie die Engel in der christlichen Ikonographie. Die Engelbilder in der letzten Schaffensperiode Klees zeigen eine Verdichtung. Sie handeln von Hoffen und Zweifeln, Vergänglichkeit und Tod, Fatalität und Transzendenz. Die Bilder «Engel voller Hoffnung», ein warmes farbiges Bild, «Engel, übervoll», aber auch der Engel im dunklen Raum, «Hörender Engel», entstehen alle im Jahr 1939. Das Bild «Angelus Militans» (1940) verweist auf das Moment der Wehrhaftigkeit und des Widerstands gegen das NS-Regime. In Auseinandersetzung mit seinem körperlichen Leiden malt Klee ebenfalls im Jahr 1940 das Engelbild «woher? wo? wohin?» und visualisiert darin existenzielle Fragen. Das Motiv der Engel erhält in dieser Schaffensperiode einen Zug, der sich von einer christlichen Vorstellung emanzipiert.
Abb. 7: Paul Klee: Erzengel (1938)
«Die Engel bei Klee sind Begleiter, keine Führungsgestalten und stellen nicht die Frage nach der Religion und wie der Einzelne es damit halten möchte. Sie lassen die christliche Vorstellung aber auch nicht völlig unberührt, sondern tangieren die Symbolik des Christentums und sind peripher mit dessen Glaubensinhalten verbunden. In dieser ambivalenten Rolle haben Klees Engel etwas ausgesprochen Modernes: Sie stehen noch in der Tradition christlicher Vorstellungen, ohne aber ein Glaubensbekenntnis abzufordern.»49
Angesichts des absoluten Nihilismus und des verlorenen christlichen Glaubens seiner Zeitgenossen schafft sich der Maler einen Kosmos der leisen Ironie und der Zwischenwelten. Ab 1933 sind die Engel in Klees Œuvre das Ergebnis einer gesteigerten Spiritualität, die mit sich selbst Schabernack treibt. Diese Spiritualität ist auf sich selbst zurückgeworfen und repräsentiert das Selbstgespräch eines Einsamen. In der Literatur zu Klees Werk ist von einer paraspirituellen Frömmigkeit die Rede.50 Gemeint ist damit eine Haltung, die sich vom christlichen Glauben entfremdet hat, doch Spuren seiner lutherischen Frömmigkeit noch in sich trägt. Die Frage nach Engeln ist nicht ein theologisches l’art pour l’art weltfremder Geister, sondern hängt in vielfältiger Weise mit unserem Menschenbild zusammen. Ein Enkel Paul Klees, Alexander Klee, beurteilt die Engelmotive im Werk seines Großvaters wie folgt:
«Ich denke, die Engel in den Bildern Klees sind doch oft Abbild eines inneren Engels des Künstlers, der das Engelbild der Geschichte verwandelt und verwendet hat als eine Art Katalysator, der Tiefgehendes, Emotionales und Hintergründiges zu Bildsprache werden lässt. Zur Sprache des Künstlers, der sich nicht unbedingt festlegt, sondern Unsagbares in der Schwebe hält. Das ‹Zwischenreich› Klees ließe sich wohl nur, wenn überhaupt, mit Engelschwingen erkunden. Auch wenn die Biographie so einige Hinweise zu geben vermag: Stationen im Leben, die glücklichen Engel, ein Krisenengel und die tragisch verkündenden Engel der letzten Jahre, oft wie auf einer Bühne, Distanz wahrend, das Unausweichliche ahnend.»51
Ein Bild Paul Klees, welches er im Jahr 1920 malte und das später der Philosoph Walter Benjamin (1892–1940) kaufte, hat eine ganz eigene Rezeptions- und Wirkungsgeschichte erhalten, die ein Signum für die Gräueltaten des 20. Jahrhunderts geworden ist: «Angelus Novus» (Abb. 8