Mutter erfinden - Beate Hummel - E-Book

Mutter erfinden E-Book

Beate Hummel

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Beschreibung

Immer wieder in toxische Beziehungen verstrickt: Monas Befreiung aus dem Schatten der narzisstischen Mutter Für die kleine Mona gibt es nur einen Weg, sich vor der Feindseligkeit ihrer kriegstraumatisierten, narzisstischen Mutter zu schützen: Sie erfindet Geschichten über sie, die ihr helfen, Mitgefühl mit sich und der Mutter zu entwickeln. In der Jugend kämpft sie um ihre Freiheit und ihren eigenen Weg. Als junge Frau glaubt sie, der Mutter entkommen zu sein und echte Liebe zu finden. Aber in Wirklichkeit bleibt sie in den alten Mustern gefangen und geht immer wieder toxische Partnerschaften mit ebenfalls traumatisierten Frauen ein, woran sie fast zerbricht. Erst die Freundschaft mit der wesentlich älteren Ursula zeigt ihr den Weg ins eigene Leben.

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INHALT

I – Aufbruch 1974

II – Absturz 1976

III – Kindheit überleben

IV – Aufbruch

V – Neu gefangen

VI – Auszeit

VII – Neuanfang

VIII – Nachwort – Toxische Beziehungen

IX – Dank

I – AUFBRUCH 1974

Die Wolken glitzerten unter mir, waberten, schoben sich übereinander, aber da waren wir längst vorbei, schwebten weiter gegen Südosten über immer mehr Wunderwatte. Noch hatte ich das Adrenalin vom Start im Blut, war berauscht vom plötzlichen Aufheulen der Motoren und davon, wie wir dann nach vorne geschossen waren, in den Himmel.

Während der Himmel langsam dunkler wurde und der Vollmond an Leuchtkraft gewann, klebte ich am Fenster.

Ich, Mona, mit meinen gerade einundzwanzig Jahren, saß in einem Flugzeug und kniff mir ungläubig in den Arm. War ich wirklich unterwegs nach Südamerika?

Mein Sitznachbar, glattrasiert und im schwarzen Anzug, schaute genervt von seiner Wirtschaftszeitung auf, als ich laut lachte.

Aber ich flog. Ich flog in mein Leben. Vorsichtig tastete ich nach meinem Bauchgurt voller Reiseschecks, der unter der Jeans versteckt war. Wahrscheinlich würde ich in den nächsten Monaten ständig überprüfen, ob er noch da war. Wenn ich oft wild zeltete, würde mein Geld für ein halbes Jahr Freiheit reichen.

Bis das Geld ausgegeben war, würde ich so gut Spanisch sprechen, dass ich sofort Arbeit fände. Arbeit als Krankenschwester.

Ha, dachte ich triumphierend mit einem Grinsen zurück zu meiner Mutter, die im kleinlichen, engen Deutschland blieb. Ich habe meinen Beruf gelernt und nicht den, den du für mich geplant hattest. Ich lebe mein Leben und nicht das, in dem du mich unterbringen wolltest.

Als Krankenschwester konnte ich überall in der Welt leben und arbeiten. Auch das Zeugnis über den Berufsabschluss samt Übersetzung steckte als beglaubigte Kopie im Bauchgurt.

Ich würde die Welt sehen, ich würde Menschen helfen, gesund zu werden. Ich würde Liebe finden. Liebe, die echt war, vom Herzen her, und gleichzeitig wild und frei, träumte ich vor mich hin.

Die Wolkentürme nahmen bizarre Formen und wilde Farben an. Es waren die grün-lila Wolken aus der expressionistischen Phase meiner Mutter. Mit einem Schreck wachte ich auf. Meine Mutter sollte gefälligst in ihrem Atelier bleiben und malen, was immer sie wollte.

Die Anden wuchsen aus dem Meer, um sich unversehens in die schrillen Dreiecke und Linien zu verwandeln der Bilder aus Mutters Dali-Zeit.

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen, vorsichtig, dass ich meinen schnarchenden Nachbarn nicht weckte. Was träumte ich nur für dummes Zeug, ich war doch noch mitten über dem Atlantik, die Anden waren weit entfernt.

Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie Mutter in ihrem Atelier saß und ihre langen blutroten Fingernägel nach mir ausstreckte. Vielleicht verhexte sie mich gerade? Sie schickte mir ihre schwarzzornigen Gedanken hinterher und … Nein, das war nicht möglich. Abergläubisch war ich nicht.

Ich war doch entkommen. Ich war meiner Mutter entkommen. Und ich würde nicht über meine Kindheit nachdenken. Nie wieder würde ich über meine Kindheit nachdenken.

In drei Stunden würde ich in Buenos Aires landen. Ich würde kreuz und quer durch Südamerika trampen. Ich würde in Buenos Aires mit wildfremden Männern auf der Straße Tango tanzen.

II – ABSTURZ 1976

Ich saß auf dem Betonboden in einer baufälligen Hütte am Stadtrand von Santiago de Chile, Lorettas Kopf in meinem Schoß. Ihre langen schwarzen Haare schlängelten sich über meine Beine. Sie waren blutverkrustet und voller dorniger Zweige aus dem Gebüsch, in das man sie wohl entsorgt hatte. Der Geruch nach Alkohol und Urin penetrant. Die Ärmel ihres bunten Hemdes waren aufgerissen, die vielen Einstichstellen unübersehbar.

Die Polizeibeamten trampelten an mir vorbei, warfen uns gleichgültige Blicke zu oder grinsten anzüglich, um dann ihrer Arbeit im Büro nachzugehen. Panisch starrte ich auf die Scharen von Kakerlaken, die am helllichten Tag über den Boden flitzten.

Ich konnte Loretta nicht schützen, nie mehr würde ich sie schützen können. Die Temperatur betrug sicher weit über dreißig Grad, aber ich fror.

Die Polizisten beschäftigten sich vermutlich damit zu schauen, wo sie Strafzettel eintreiben konnten, dachte ich. Wer Loretta ermordet hatte, das interessierte nicht.

Ich hörte es, da, wo es hinter meinem Rücken gesagt wurde, aber auch da, wo niemand es aussprach: Putana. Wen kümmerte schon der Tod einer Hure?

Zwei wundervolle Jahre in Chile. So viel Lachen, so viel Tanzen, so viel Liebe machen. Sex mit einer Frau, Sex mit Loretta war das Größte.

Meine Freundinnen, die ich hier während meiner Arbeit im Krankenhaus in Santiago gefunden hatte, hatten mich immer gewarnt. Sie mochten Loretta nicht. Wenn ich nur in meinem Kopf blieb, konnte ich das verstehen. Jedenfalls ein bisschen. Ich wusste, wie hart Carmen gekämpft hatte um ihre Ausbildung zur Krankenschwester. Und da hing ich nun mit Loretta ab, die über so viel Ernsthaftigkeit nur lachte.

Loretta hatte die Achseln gezuckt. »Meine Mutter ist krank und ich habe sieben jüngere Geschwister, die immer Hunger haben.« Von irgendwelchen Vätern war sowieso nie die Rede.

Wenn wir uns geliebt hatten, lagen wir zusammen vor der offenen Fenstertür meines Zimmers, um ein bisschen Luft zu bekommen, und Loretta las mir Gedichte von Pablo Neruda vor. Wie ich ihre Stimme liebte, tief wie das Knarzen großer alter Buchen im Sturm.

Da war nichts von kleinbürgerlicher Enge, akademischer Überheblichkeit. Loretta war die klügste Frau, die ich je kennengelernt hatte und die warmherzigste. Sollten sie die Nase rümpfen, dachte ich, Loretta war meine große Liebe, war die echte, wilde Liebe, nach der ich mich meine ganze Kindheit und Jugend lang gesehnt hatte. Dazu gab es eben die dunkle Seite, die Drogen, die Selbstzerstörung und dass sie immer wieder verschwand.

Zwei Jahre Glück und nun war mein Leben vorbei.

Die Türe wurde aufgestoßen. Eine kleine alte Frau kam herein. Sie war mager, das Gesicht voller Runzeln. Ich erschrak vor der Härte ihres Blickes. Die Frau, es musste Lorettas Mutter sein, sprach kein Wort. Ein untersetzter Mann redete kurz mit den Polizisten. Ein anderer brachte einen schmuddeligen rotbraunen Teppich herein. Sie rissen mir Loretta aus den Händen und wickelten sie umstandslos in den Teppich ein. Dass ich in Lorettas Dorf nicht erwünscht war, dass ich bei ihrer Beerdigung nicht dabei sein durfte, musste mir niemand erklären.

Draußen kläfften Hunde, Motorräder hupten und knatterten laut. Meine Arme waren leer.

Ich habe keine Ahnung, wie ich zurück in mein Zimmer gekommen war. Vielleicht hatten die Polizisten mich heimgefahren. Eine deutsche Leiche wäre nicht so egal gewesen wie die von Loretta.

Ich weiß nicht, wie viele Tage es waren. Immer mal wieder klopfte jemand an meine Türe, aber ich schrie nur, sie sollten mich in Ruhe lassen. Ich hatte Angst, sie würden die Türe aufbrechen, wenn ich gar nicht antwortete.

Irgendwann dämmerte in mir etwas, es schien, als würde ich wieder zu Verstand kommen. Ich musste hier weg. Es war mir alles egal. Nie wieder wollte ich in Santiago durch die Straßen laufen, in denen mir Loretta nicht entgegenkam.

Ich wollte nach Hause, ich wollte zu meiner Mutter.

Der Gedanke ließ mich endgültig wieder zum Funktionieren.

So etwas wie eine Mutter hatte ich schließlich nicht. Da gab es nur diese großartige Malerin, die mich, wenn sie mich hier mit Loretta im Schoß hätte sehen können, mit vor Verachtung und Hass verzerrtem Gesicht anstarren und jede Gelegenheit nutzen würde, mich mit Gehässigkeiten in Nebensätzen zu verletzen.

Meine Mutter, nein, die durfte niemals etwas von all dem hier erfahren. Ich musste meine Seele und Loretta in meiner Seele schützen.

Ich dachte an Carmens Mutter, die jede Woche kam, strahlend und voller Stolz auf ihre Tochter, die Krankenschwester, der sie Obst brachte und deren schmutzige Wäsche sie mitnahm.

Ich musste trotzdem hier weg, ich musste zurück nach Deutschland. Aber Mutter durfte das nicht wissen.

Berlin, dachte ich plötzlich. Berlin war weit genug weg von Mutter und ich hatte gehört, dass es dort Bars für lesbische Frauen gab, Orte, an denen ich mich weniger einsam fühlen würde.

Ich raffte mich auf und lief ins Reisebüro. Jemand hatte seinen Flug storniert, deshalb bekam ich kurzfristig ein Ticket. Ich kündigte weder meine Arbeit noch mein Zimmer. Ich holte mir auch meinen letzten Gehaltscheck nicht ab.

Als ich im Flugzeug saß und die Stewardess mich fragte, was ich trinken wollte, dachte ich, dass ich seit Lorettas Tod mit niemandem gesprochen hatte. Aber das konnte nicht stimmen.

Die hämischen und kalten Blicke verfolgten mich immer noch. Eine hartnäckige Stimme in meinem Kopf – natürlich war das die Stimme meiner Mutter – sagte: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.

Vielleicht hatten sie recht. Vermutlich war ich immer noch dieses dumme, fleißige Kind, das, um ein bisschen geliebt zu werden, bereit war, jeden Preis zu zahlen. Chile waren zwei grandiose lebensstrotzende Jahre gewesen. Keine Sekunde hatte ich an Deutschland gedacht. Jetzt klappte eine Tür in meinem Kopf auf und ich starrte auf das Kind, das ich gewesen war.

III – KINDHEIT ÜBERLEBEN

Sogar Klärchen huschte durchs Haus, wenn Mutter ein neues Bild zu malen begann. Ich versteckte mich in der Garderobe, spielte mit meinem Rosenkranz und betete Ave Marias. Ich betete, dass Gott Mutter das richtige Licht und den richtigen Strich schenken würde. »Bitte, Gott, tu das für Klärchen!« Für sich selbst durfte man nicht beten. Mutter hatte nichts gesagt, sie sprach nie darüber, aber wir wussten es immer. Wir wussten es schon, bevor es zum Mittagessen Hühnereintopf aus der Dose gab.

Der herbe Geruch von frischen Farben durchzog das Haus, vermischt mit dem stechenden von Lösungsmitteln.

Wie Mutters Ritual für ein neues Bild wirklich aussah, wusste ich nicht, nur Bruchstücke davon. »Ich mache einen Entwurf mit einem Kohlestift«, hatte sie Klärchen erklärt und: »Als Nächstes mische ich die Farben auf meiner Palette. Die Farbtöne müssen genau stimmen.«

Ich schlich zum Atelier, hockte mich gegenüber der Tür auf den Fußboden und stellte mir vor, wie Mutter die Farben von Wolken erfand. Das Linoleum war kalt und ich traute mich kaum zu atmen. Mutter wäre empört, mich hier vorzufinden. Ganz leicht atmen, mich nicht bewegen, es gab mich gar nicht hier. Ich träumte vor mich hin, wie meine Mutter dieses flirrende Weiß entdeckte, von dem sie Vater neulich erzählt hatte.

Später schlich ich davon, um für Klärchen Kakao und ein Brötchen mit Himbeermarmelade zu machen.

An einem solchen Tag sollte Klärchen allein Hausaufgaben machen. Das tat sie nicht. Schließlich war sie gerade erst sieben Jahre alt geworden. Normalerweise hätte sie meine Spielsachen zerstört oder mich gebissen, wenn sie sich langweilte. Aber nicht einmal das tat sie. Ohne Protest aß sie das Brötchen und starrte mich entsetzt an, als sie aus Versehen ein Messer vom Tisch stieß. Das Messer fiel klirrend auf den Boden. Ich hielt den Atem an.

Die Ateliertür öffnete sich kurz: »Bitte nehmt doch ein einziges Mal Rücksicht auf mich!« Mutters Stimme gellte durch den Flur, dramatisch flehend – wie ich heute denke – und verzweifelt, so empfand ich es als Kind. Sie wird Vater erzählen, dass ich nicht aufgepasst habe.

Kein Staubsauger, keine Waschmaschine, kein Radio, keine Musik, das wussten wir. Klärchen weinte lautlos vor sich hin und ich räumte die Küche auf.

Ich ließ Klärchen sitzen und schlich zurück zum Atelier. Ehrfürchtig starrte ich auf die geschlossene Tür, hinter der ein neues großes Kunstwerk sein Leben begann. So hatte es Vater erklärt: »Deshalb musst du aufpassen, dass Klärchen leise ist.«

Abends brachte uns Vater Brötchen mit Frikadellen von der Imbissbude, wenn er von der Arbeit kam. Mutter sah das ja nicht und wir kauten mit schlechtem Gewissen. Niemand sagte etwas.

Ich stellte mir vor, wir wären alle im Turm in einen tausendjährigen Schlaf gefallen und ob es zwei oder drei Tage dauerte oder tausend Jahre, wo war da der Unterschied? Am Ende kam kein Prinz, um uns wachzuküssen, wozu auch? Mutter hatte Klärchen erzählt, dass der Kuss eines Prinzen mindestens so eklig war wie der eines Frosches. Kein Prinz also, aber – Mutter erschien wieder.

Mutter lief durchs Haus, war sehr still, lächelte ein bisschen und räumte kopfschüttelnd, aber ohne zu schimpfen, alles auf, was wir hatten herumliegen lassen. Abends sagte sie dann zu Vater Sätze wie: »Es trägt« oder »Das Licht stimmt«.

Aber so endete es bloß manchmal, nein, so war es nur ganz selten. Vorher, solange Mutter in ihrem Atelier malte, warteten wir alle, auch Vater. Manchmal biss Vater sich die Lippe blutig oder schnitt sich beim Rasieren.

Auch wenn Mutters Malen abstürzte, wie ich es nannte, wusste ich es vorher, obwohl – vielleicht bilde ich mir das nur ein. Die Stille wurde noch stiller. Irgendwann so etwas wie ein Schrei, manchmal polterte etwas auf den Boden.

Dann war ich beschäftigt, denn Klärchen machte sich in solchen Momenten regelmäßig in die Hose. Manchmal tat sie mir leid und ich wollte ihr ehrlich helfen, oft aber auch nicht. Ich wusste, hätte ich Klärchen nicht getröstet, gewaschen und umgezogen, hätte mein Vater mich furchtbar verprügelt. Immer musste Vater Mutter beschützen, dachte ich, nie half er mir. Er wurde rasend, wenn er glaubte, jemand verletzte sie. Ich fand das gemein, ich war doch bloß drei Jahre älter als Klärchen, warum musste immer ich alles tun?

Zähneknirschend lieh ich Klärchen mein Buch mit Tierfotos und eilte zu Mutter. Sie lag bereits im Bett und klagte, sie hätte schwere Migräne. Ich reichte ihr die Tabletten und ein Glas Wasser, holte die Eiswürfel aus dem Kühlschrank und packte sie sorgfältig in einen weichen, dunklen Waschlappen, den es extra für diesen Zweck gab.

Dann rannte ich zu Klärchen und brachte sie ins Bett, egal welche Tageszeit es war, und las ihr Geschichten vor. In diesen Momenten mochte ich sie sogar ein bisschen. Jetzt würde sie mir nicht wehtun und mir nichts kaputtmachen. »Wann kommt Mama wieder?«, fragte sie mich. Manchmal weinte sie vor sich hin, oft schlief sie einfach ein.

Wenn ich später, draußen war es mittlerweile dunkel, noch einmal in die Küche schlich, weil ich Hunger hatte, hörte ich Geschrei und lautes Schluchzen aus dem Elternschlafzimmer.

Ich zog mir einen Hocker heran, riss die Kühlschranktür weit auf, setzte mich davor – in diesem Moment war ich sicher, niemand würde kommen und mich erwischen – und nahm alle die Köstlichkeiten, die nicht für Kinder waren, einzeln in die Hand, roch an ihnen, legte sie wieder zurück. Mutter hatte ein Fest für ihre Künstlerfreunde geplant, aber das würde abgesagt werden.

Natürlich, niemand von uns wusste, wie lange Mutters Leiden dauern würde. Manchmal lag sie länger als eine Woche im Bett. Ich musste zusehen, dass Klärchen sich ordentlich wusch und die Zähne putzte, dass sie vernünftig angezogen war, und sie zur Schule bringen. Frühstück und Abendbrot zu machen, war meine Aufgabe und zu spülen sowieso.

Wenn Mutters Medikamente richtig wirkten, war Klärchen nicht mehr lieb. Sie wusste, jetzt konnte sie schreien, toben, mich beißen, wie sie wollte, Mutter würde es nicht hören. Es würde Mutter nicht stören. Bei diesem Gedanken tat mir der Bauch weh. Noch allerdings war es nicht so weit und ich wollte nicht daran denken, diesen Moment am Kühlschrank hatte ich für mich. Mit einem lustvollen Zögern betrachtete ich ein weiteres Mal all die Köstlichkeiten und begann zu essen.

Halb mit Kopfschütteln, halb mit einem Lachen schaue ich heute, fünfzig Jahre später, zu dem kleinen Mädchen zurück. Für die Zehnjährige war es einfach etwas, was sie tat, ohne sich Gründe dafür zu überlegen. Mit zwölf Jahren, als ich anfing, Tagebuch zu schreiben, erklärte ich mir meine Kühlschrankfeste: Mutters Seelenauge ist zu und sieht mich nicht. Ich kann tun, was ich will.

Mit vierzehn Jahren schrieb ich: Jetzt will Mutter selbst sterben und nicht mehr, dass ich tot bin.

Und doch, ich erinnere mich gerne daran, noch war Klärchen still, alles war still, und ich feierte mein Fest. Mit einem Gefühl der Sicherheit, einem wirren Glücksgefühl von Freiheit, aber auch der Belohnung für all die Mühe, die auf mich wartete, aß ich Kaviar, Ragout-fin-Pastetchen, wundervoll duftenden Käse. Ich aß so lange, bis ich zu müde wurde, um weiter zu essen.

Manchmal tat ich auch verrückte Dinge: Ich lief ins Atelier, das ich niemals betreten durfte. Mit angehaltenem Atem schaute ich die vielen Bilder an. Manchmal streichelte ich über die raue Oberfläche. Mutter war eine Göttin, sie schuf Märchenwelten. Einmal küsste ich sogar ein Bild. Ich erschrak, das würde Mutter herausfinden und mich totschlagen, und hatte in der Nacht schreckliche Träume. Manchmal tanzte ich vor den Bildern und jedes Mal, obwohl ich gar nicht weiß, was das bedeutete, spuckte ich auf den Boden, bevor ich ging und die Tür vorsichtig wieder ins Schloss zog.

*

Im Alter von ungefähr zwölf Jahren fragte ich Mutter immer wieder, wie das denn gewesen war, mit mir als Baby. Sie antwortete, wie sehr sie gelitten hatte, als Klärchen zur Welt gekommen war. Wie sie um deren Leben gekämpft und sie geliebt hatte, weil Klärchen bei der Geburt fast gestorben wäre. Wie die Kleine ihre ganze Fürsorge gebraucht hatte. Nur eine einzige Frage beantwortete sie mir am Ende: Nein, sie hatte mich nicht gestillt.

Ich saß in meinem weißen Zimmer auf dem Boden und schrieb auf, was Mutter gesagt hatte. Aber was meint sie damit? schrieb ich. Um ein paar Tage später, kaum dass Vater das Haus verlassen hatte, aber bevor sich die Ateliertür schloss, erneut zu Mutter zu gehen, sie also zu stören und neue ähnliche Fragen zu stellen. Warum verstand Mutter meine Fragen nicht? Sie war doch so klug. Was dachte sie wirklich, grübelte ich. Wenn ich mitbekam, dass sie mit Nachbarn oder ihren Künstlerfreunden redete, näherte ich mich oft, um zu lauschen.

Immer wieder neu hörte ich die gleichen Sätze, die sie zu anderen über unsere Familie sagte:

»Das Kind ist schmutzig. Das war schon so, als es klein war. Es hat mit Kacke und Schuhcreme gespielt, sie auf die neue Tapete geschmiert und gegessen. Klärchen dagegen hat weinend am Tisch gesessen, die Hände ausgestreckt, die Fingerchen gespreizt, wenn sie von Breiresten verschmiert waren.«

Mutter erzählte: »Wir haben gehungert, uns die Butter vom Brot gespart, damit das Kind genug zu essen hat.« Meinetwegen mussten sie hungern? Aber das hatte ich nicht gewollt, das konnte nicht meine Schuld sein. Oder doch? Ich wollte weglaufen und zur gleichen Zeit weiter zuhören, immer mehr hören.

Mutters Stimme klang stolz, wenn sie Verwandten erzählte, sie habe das Kind gut erzogen. »Schon mit zwei Jahren hatte es gelernt, alleine in seinem Zimmer zu spielen und mich nicht zu stören, sodass ich arbeiten konnte.«

Wie passte das dazu, dass sie sagte: »Das Kind ist egoistisch«?

Oder: »Das Kind lügt«?

Und immer wieder als zentrale Feststellung unseres jeweiligen Wertes und damit unserer Zukunftsprognose: »Das Kind ist fleißig, aber Klärchen ist so originell.«

All diese Sätze fanden ihren Weg in mein Tagebuch. Stimmte es, dass ich egoistisch war? Was sprach dafür, was sprach dagegen? Wieso haben sie wegen mir hungern müssen, wenn es doch wenige Monate nach meiner Geburt ein Hausmädchen gab, das den Haushalt und mich versorgte? Stundenlang schrieb und grübelte ich, bis ich es nicht mehr ertragen konnte und aus der Wohnung lief zu meinem geliebten Sangbach. Der Sangbach floss durch die ganze Stadt, bis er hinter einer Mauer in der Fabrik verschwand. Dort, im Verborgenen, mündete er in den Main. Am Ufer standen Büsche und viele Pappeln. Der Bach ließ sich nicht aufhalten, er war zu breit, um Staudämme zu bauen. Aber er rauschte laut. Er sang und rauschte, bis mein Kopf still wurde. Ich hockte am Ufer, warf Stöckchen ins Wasser und schaute zu, wie sie davonschwammen. Das Wasser schimmerte und floss weich über meine Hände.

*

Und doch, trotz all meiner unbeantworteten Fragen, davon war ich überzeugt: Ich hatte die wunderbarste Mutter der Welt. Dafür könne ich mich glücklich schätzen, sagte Vater: »Mutter ist eine erstklassige Malerin. Und schau doch, wie schön sie aussieht! Außerdem macht sie den Haushalt perfekt.« Skeptisch begutachtete er das Geschirr, das ich gespült hatte, warf mir einen kritischen Blick zu und fuhr fort: »Dazu die viele Arbeit mit euch Kindern. Das Essen steht immer pünktlich auf dem Tisch. Du solltest dankbar sein. Ihr müsst nichts essen, vor dem ihr euch ekelt, du keine Möhren, Klärchen keinen Spinat.« Vater konnte stundenlang von Mutter schwärmen.

Und nicht nur das, Mutter führte eine wunderbare Ehe, so wie eine Ehe sein sollte. Stolz erklärte sie: »Vater und ich gehen immer noch Händchen haltend spazieren.«

Merkwürdig, während ich das schreibe, denke ich, ich habe das geglaubt und nicht geglaubt – gleichzeitig. Vielleicht habe ich es als Kind ganz geglaubt. Händchen haltend wanderten meine Eltern eine Allee entlang und ich starrte hinterher. Um nicht verloren zu gehen, musste ich rennen.

Später in meinem Tagebuch schrieb ich: Nie werde ich eine so gute Liebe schaffen. Und ein paar Seiten später: Mein Vater himmelt Mutter an. Er ist total unterwürfig und dankbar dafür, dass sie ihn geheiratet hat.

Bei uns war es nicht wie bei den Nachbarn, wo die Mutter eine Kuh war, ein dummes Hausmütterchen. Darauf war ich stolz. Als Kind war es selbstverständlich für mich, wie so vieles selbstverständlich war, dass mein Vater sich nur für Mutter interessierte, sie lieben und beschützen wollte. Mit mir sprach Vater bloß, wenn er mich dazu bewegen wollte, Mutter mehr zu helfen. Seine hagere Gestalt hoch aufgeschossen, weit über mir: »Mutter hat doch so viele Sorgen mit Klärchen!«

Vaters Gesicht war knochig und ernst. Immer hatte er Magenschmerzen und trug deshalb locker sitzende Hosen mit Hosenträgern. Ich wusste, das kam von der langen Kriegsgefangenschaft. Vater arbeitete viel, damit es Mutter gut gehen konnte. Aber Mutter schüttelte oft den Kopf über ihn, wie schlecht er gekleidet war, und sie musste ihn beraten, damit er mit seinem Chef und seinen Kollegen zurechtkam. Er sei viel zu weich, sagte Mutter. Nur zu Hause, mir gegenüber, konnte er streng fordern, dass ich alles tat, um Mutter zu helfen.

Ich hatte die beste Mutter der Welt und ich verteidigte sie mit Zähnen und Klauen gegen jeden, der wagte, schlecht über sie zu reden.

Ich sehe Mutter vor mir, wie sie in der Essdiele am Tisch saß und die zehnbändige Propyläen-Weltgeschichte durcharbeitete. Ernsthaft und systematisch. Der Tisch war übersät von Bildbänden, die antike Kunst zeigten, Schüsseln, Töpfe, Goldschmuck, Miniaturen. Beim Mittagessen erzählte sie uns dann von den alten Persern. Ich erinnere mich, wie sie von der Lebendigkeit altpersischer Bronzefiguren schwärmte.

Merkwürdig. Mir fällt auf, ich sehe ihren Rücken, ich sehe diese konzentrierte Haltung. Natürlich weiß ich, dass sie graue Augen und dunkelbraune Haare hatte. Aber das sehe ich nicht. Ich sehe nur ein Schemen von etwas, das in Bildern und Büchern verschwunden ist.

Immer war Mutter beschäftigt. Wenn ich sie etwas fragte, hieß es zumeist: »Stör jetzt nicht!« Dabei hätte ich so gerne mehr von ihr gewusst.

Mit dreizehn Jahren, als das Thema unter den älteren Mitschülern aufkam, begann ich darüber nachzudenken, wie es denn für Mutter gewesen war, als Kind in der Nazizeit gelebt zu haben. Acht Jahre war sie alt, als die Nazis an die Macht kamen.

Wenn ihre Künstlerfreunde zu Besuch waren, gab es manchmal Themen, über die mit Verwandten nie gesprochen wurde. »BDM? Bund deutscher Mädel?« Ehrfürchtig lauschte ich, wie meine Mutter erzählte: »Ja, natürlich. Da hatte ich keine Wahl.« Mutter erzählte, sie habe die Uniform gehasst. Den hässlichen langen Rock. Die anderen Mädchen hätten ständig versucht, den Rock zu kürzen, und seien bestraft worden. Sie habe ihn absichtlich lang gelassen, um zu demonstrieren, wie hässlich das war. Die Scharführerin habe sich geärgert. Sie habe sich viel mehr darüber geärgert als über die Mädchen, die den Rock regelwidrig gekürzt hatten, aber natürlich habe sie Mutter nichts vorwerfen können. Mutter lachte. Das sei ihr freier Geist gewesen, immer schon. Und zum Glück lebten wir jetzt in freien Zeiten.

Also hatte Mutter die Nazis nicht gemocht, hatte sie versucht zu rebellieren, so gut sie das als Kind eben konnte? Meine Mutter war kein Nazi gewesen, beschloss ich erleichtert. Die Mitschüler hatten Eltern, die Nazis gewesen waren, aber ich doch nicht. Mutter war für die Freiheit.

Ich lächelte ein bisschen über meine wunderbare Mutter und ergänzte leise für mich den Muttersatz Und wir sind eine wunderbare Familie, denn vor Gästen fügte Mutter diesen Satz nicht hinzu.

Manchmal, sehr selten, sagte Mutter auch: »Als ich sechzehn war, musste ich mit den anderen BDM-Mädchen während der Bombenangriffe auf dem Dach der Schule Feuerwache halten.«

Irgendwie war sie also während der Flugzeugangriffe nicht im Bunker gewesen, sondern auf dem Dach. War das gut? Sie war jedenfalls eine Heldin. Das verstand ich.

Damals dachte ich, ich würde auch gerne beweisen, was für eine Heldin ich sei, indem ich aufflammende Brände auf dem Dach meiner Schule löschte. Mein Heldinnentum dagegen sollte darin bestehen, niemals zu stören, brav zu spülen, den Boden zu kehren und vor allem niemals zu weinen oder mich zu wehren, wenn meine kleine Schwester mich biss oder kniff.

War Mutter gerne beim BDM gewesen, fragte ich mich ein oder zwei Jahre später. In der Schule hatte der Geschichtsunterricht mit dem Ersten Weltkrieg geendet. Umso mehr wollte ich über dieses verbotene Thema wissen. »War es gut beim BDM?«, fragte ich von der Zimmertüre her, um schnell flüchten zu können. Ich weiß es auch heute noch nicht. Wenn ich fragte, hörte sie mich nicht, als stünde ich nicht vor ihr. Heute denke ich, sicher war es wunderbar für sie gewesen, eine Gruppe, eine Aufgabe zu haben und nicht zu Hause sein zu müssen. Sie hatte ihr Zuhause gehasst und sich dafür geschämt. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als sie zehn Jahre alt gewesen war und ihre Mutter hatte zwei Jahre später ein uneheliches Kind bekommen. Abgrundtiefe Scham und Schande, der Ekel meiner Mutter, aufgewogen gegen die Höhe des Schuldaches, so empfand ich damals, während die alliierten Flugzeuge sich näherten?

Ich fragte und sie hörte mich nicht. »Stör mich nicht.«

Ein sechzehnjähriges Mädchen mit Wassereimern auf dem Dach der Schule. Meine Mutter warf dieses Bild in die Runde. Ruhig, dann schenkte sie sich eine neue Tasse Kaffee ein. Ihre Künstlerfreunde schwiegen bewundernd.

Mutters Blick glitt durch mich hindurch, bevor sie sich lächelnd ihren Gästen zuwandte. Ich stand auf, ich verstand schon, und brachte das schmutzige Geschirr in die Küche.

Dann lief ich aus dem Haus, zum Sangbach hin, und kauerte mich zwischen die Büsche. In meinem Kopf fuhr wie ein altes Kinderkarussell quietschend das »Warum? Warum bloß?« im Kreis. »Was ist so schlimm an mir?«

Ich begann, mir Geschichten zu erzählen, damit ich Mutter verstehen konnte.

Am Anfang waren es kleine Geschichten, fast Märchen. Ich bin dieser entsetzliche Säugling, der schreit und sich mit Kacke beschmiert.

Meine Mutter hat Migräne und rennt verzweifelt hin und her. Manchmal springt Mutter aus dem Fenster, aber manchmal schmeißt sie mich hinaus. Da ist dann zum Glück ein Engel, der mich auffängt. Sonst wäre ich ja nicht mehr hier.

Je älter ich wurde, desto komplexer wurden meine Antworten, die ich von ihr nie bekam. Die Geschichten wuchsen mit mir und begleiteten mich.

*

Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind – Mutter 1

Die Stille legt sich wie ein Mehlsack auf meine Brust. Die Augenlider wiegen Zentner. Quatsch, das ist ein Klischee, ein Klischee, ein Klischee. Ich muss irgendetwas, was? Zentner – meine Arme und Beine matschiger Haferschleim. Ich muss.

Es ist doch gar nicht still. Der Hahn draußen kräht schon wieder. Kräht und das Kind schreit. Irgendetwas klopft. Ich muss. Das sind sicher die Nachbarn. Es schreit so laut. Schlafen können möchte ich.

Ich muss. Wie bin ich hier bloß her geraten?

Aber jetzt.

Jetzt wälze ich mich aus dem Bett, kurz aufs Klo. Wo sind meine Schuhe, der grüne Rock, die Jacke? Das Blag in den Kinderwagen, weg, bevor die Furie von oben kommt und mich anschreit. Dick und versoffen ist die und hat sicher ihr Lebtag nirgendwo angepackt.

Mein Körper, ich habe immer noch solche Rückenschmerzen und die Zähne sind kaputt. Und Krampfadern.

Ich rumpele mit dem Kinderwagen über den Feldweg, manchmal hört es dann auf zu schreien.

Wie haben das nur all die Frauen durchgestanden, die das Mutterkreuz bekommen haben?

Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Zum Glück war das Buch in der Pfarrbibliothek noch zu haben. Das einzig vernünftige Buch, ansonsten nur Heiligengeschichten.

Jetzt stinkt das Kind auch noch, hoffentlich begegne ich niemandem. Und heute hört es nicht auf zu schreien. Ich muss die Windel …

Ein Hund kommt, schnüffelt am Kinderwagen. »Hau ab, verdammte Töle!« Hier gibt es nur Hunde und Schweine, keine Menschen.

Also zurück in die Wohnung. Müde. Das warme Wasser richten, die Stoffwindel ausspülen und für die Wäsche vorbereiten. Es würgt mich. Ich erbreche gleich. Wenigstens habe ich eine Waschmaschine. Jetzt hat es mir auch noch das frische Handtuch vollgepinkelt. Ein ordentlicher Klaps also. Aber ich, ich muss das Handtuch waschen. Wenn ich doch einfach tot wäre!

Sieben Uhr morgens ist es jetzt. Das Füttern nach Plan ist wichtig, habe ich gelesen. Ich mache das Fläschchen im Wasserbad warm. Das dauert so lange. Messe die Temperatur mit dem Thermometer. Nicht zu heiß werden lassen, sonst könnte das Kind sich beim Trinken verbrennen. Und ich kann von vorne anfangen, die Babymilch zu wärmen.

Wie bin ich nur hierher geraten? Vor einem Jahr war ich noch an der Kunstakademie, hatte schon selbst Unterseminare gehalten, mich auf das Examen vorbereitet. Mein Professor war stolz auf mich gewesen. Er mochte meine Bilder.

Aber ich bin schon neunundzwanzig Jahre alt und ich will doch eine richtige Frau und Mutter sein. Wer hätte gedacht, dass ich gleich schwanger werde wie eine Kuh? So schnell! Und wer hätte gedacht, dass Konrad so wenig verdient, dass wir dieses Kabuff von Wohnung auf dem Land nehmen müssen? Wenn ich wenigstens in Frankfurt wohnte, hier gibt es nichts. Nicht mal eine vernünftige Bibliothek. Nur missgünstige Analphabeten.

Das Blag schreit schon wieder. Am liebsten würde ich ein Kissen …Verdammtes Blag.

Konrad ist so froh. Ein Kind, das Leben geht weiter, das nächste wird ein Sohn. Ein nächstes? Noch so etwas? Noch einmal? In Russland im Lager, fünf Jahre Kriegsgefangenschaft, da hatte er sich immer versprochen, dass er überleben und viele Kinder haben wird.

Ich kriege keine Luft mehr, gleich falle ich um. Ich lege mich noch mal hin. Mein Mann kommt erst um neunzehn Uhr zwanzig. Die Zugfahrt dauert so lange. Bis dahin habe ich das Essen fertig, Kohl und Kartoffeln, zum Glück haben wir Kartoffeln und sogar ein bisschen Butter.

Man muss es schreien lassen, so steht es im Buch. Elke gibt morgen ihre Magisterarbeit ab. Und ich werde nie wieder.

*

War es so? Oder hatte Mutter damals getrunken? Aber ich glaube, dafür reichte das Geld nicht. Merkwürdig, über diese Zeit sprach sie für ihre Verhältnisse erstaunlich oft. Wie schlimm es gewesen war, nicht mehr an der Kunstakademie zu sein, sondern in einem Dorf zu leben, abgeschnitten von allem. Wo es keine richtigen Menschen gab, nur halbe Analphabeten. Und dass ich ein Schreikind war und immer schmutzig.

Die Szene, wie meine Mutter unter dem Eingesperrtsein mit mir als Säugling leidet, ist in meinen Kopf einzementiert. Es kann gar nicht anders gewesen sein. Alles ist vollkommen wahr.

Es war die Hölle für sie, das kann ich schon verstehen. Ich war die Hölle für sie. So schrieb ich damals in mein Tagebuch und es tröstete mich.

Ich war nicht böse, ich war nicht schuld, Säuglinge schreien nun einmal, aber meine Mutter war es auch nicht. Ich durfte Mitleid mit Mutter haben, sie bewundern und lieben. So wie mein Vater das tat, dachte ich.

Mit dem Tagebuch-Schreiben änderte sich das langsam, unmerklich zuerst. Aus den mitleidigen Gedanken wurden zunehmend kritische Fragen: Bin ich böse? Habe ich mir nur eingebildet, traurig zu sein, wie Mutter behauptet? War ich es, die log, oder sie? Meine Fragen an Mutter wurden beharrlicher, aber sie schob mich weg. »Kinder in der Pubertät«, seufzte sie und hob die Arme zum Himmel. »Das ist eine Phase!« oder: »Nerv mich nicht!« oder: »Lass dich nicht ewig von der Schule beeinflussen!«

An vielen langen Nachmittagen und Abenden saß ich allein in meinem Zimmer und schrieb. Ich versuchte, mich zu erinnern: Wie war es, als ich fünf Jahre alt war? Habe ich viel gelogen, wie Mutter behauptet? War ich ein böses Kind? Oder war es Mutter, die verlogen und böse war? Das konnte nicht sein. Die Mütter von meinen Mitschülerinnen, die ihre Zeit mit Kochen, Putzen, Klatsch über Nachbarn und der Bildzeitung verbrachten, wollte ich jedenfalls auch nicht haben.

Manchmal zweifelte ich an allem. Warum hatte Mutter mich überhaupt geboren? Das brachte gleich die nächste Frage hervor: Warum hatte Mutter ihr Studium an der Kunstakademie aufgegeben und Kinder bekommen? Mutter, die Malerin, zu Hause mit Kindern? Was für ein vergeudetes Leben.

Hat meine Mutter mich nur in die Welt geworfen, weil sie durch den Mutterkult der Nazis verkorkst war?, schrieb ich mit fünfzehn in mein Tagebuch und: Mutter war 1931 in die Schule gekommen. Hatte sie überhaupt eine Chance, anders zu denken?

Mutter mit einem Säugling zu Hause? Dazu gab es auch wieder die passende Heldinnengeschichte: Mutter hatte schon während ihrer Schwangerschaft mit mir einen Kurs gemacht, der ihr ermöglichte, Hausmädchen auszubilden. Sie hatte dann so ein Mädel vom Land eingestellt, ein dummes Ding. Gerda hieß die erste, mit der hätten sie so einiges erlebt, aber die hatte ihr das Kind abgenommen, dass sie wenigstens wieder malen konnte.

An diese Gerda habe ich keine Erinnerung, aber an ein späteres Hausmädchen, eine Frau, die ich wohl abgöttisch geliebt habe und von der ich lernte, selbst die Schuhe zuzubinden. Leider gingen die Mädchen immer nach gar nicht so langer Zeit, vielleicht, weil sie heirateten oder weil meine Mutter mit ihnen nicht zufrieden war. Denn den Haushalt machten sie alle nicht gut genug. Davon erzählte meine Mutter. »Davon kann ich ein Lied singen!«, hieß der Satz.

*

Es gibt ein Foto von mir, nein, das stimmt nicht. Ich besitze vier Kinderfotos von mir, die ich Mutter als Jugendliche gestohlen habe. Ich habe sie heimlich aus ihrem Album herausgerissen, weil ich etwas haben wollte von mir als Kind. Wenigstens vier Fotos wollte ich haben. Aber dieses eine Foto liebe ich ganz besonders.

Das Foto ist ein Verkaufsfoto zur Touristenanimation und ich sehe es in Farbe, obwohl die Fotos natürlich damals schwarzweiß waren. Meine Mutter steht links, schmal, elegant mit einem modischen Kopftuch. Zwischen uns ist ein großer dicker Eisbär im zotteligen Fell. Rechts stehe ich, klein, unter dem Arm des Eisbären. Ein zartes, zierliches Kind in einem roten Kleid, das verträumt vor sich hinlächelt.

Es ist ein Reflex, ein Automatismus geworden. Wenn ich dieses Bild betrachte, möchte ich eine Flut an Liebe ausschütten, einen Wall aus schützender Liebe um das Mädchen bauen. Dieses Mädchen ist so zart, so süß. Warum konnte sie es nicht lieben? Wie kann eine Mutter ein solches Kind nicht lieben?

Noch etwas fällt mir auf. Ich weiß nicht, wie meine Mutter aussieht. Ich meine damit, ich bin überhaupt nicht in der Lage, sie zu beschreiben. Das Foto ist leicht verschwommen. Wenn ich es genau betrachte, behaupte ich, Mutter hatte eine lange dünne Nase, aber selbst da bin ich mir nicht sicher. Ich denke: schmale, zusammengepresste Lippen, aber so sieht sie in meiner Vorstellung aus und ich kann nicht wissen, ob das real ist, auf dem Foto ist es jedenfalls nicht zu erkennen.

Bin ich wirklich nur mit gesenktem Kopf durch meine Kindheit geschlichen? Ja, denke ich, und nein, so doch nicht. Aber ich habe vermieden, sie direkt anzuschauen. Ich wusste ja, was ich finden könnte in ihrem Blick auf mich: schwarzen Hass. Dann waren ihre Augen dunkel, Verachtung mit leicht gekräuselten Lippen oder ein leeres Gesicht voller Gleichgültigkeit. Besser war, sie von hinten zu betrachten, wie sie Bildbände studierte.

Als Jugendliche habe ich mich an diesem Foto gerieben, weil dort für mich ihre Widersprüchlichkeit deutlich wurde. Es gab keine Modezeitschriften im Haus. Mode war etwas für Weibchen, für kopflose, geistlose, triebhafte Muttertiere. Das hatte Mutter oft gesagt. Und doch verbrachte Mutter jede Woche drei Stunden beim Friseur für die perfekte Dauerwelle und war modisch gekleidet. Obwohl ich das damals nicht mitbekam, weil Mutter darüber nicht sprach und neue Kleidung nicht zeigte, gab sie offensichtlich einiges vom angeblich nicht vorhandenen Geld für Kleidung aus. Sie ist eine Heuchlerin, dachte ich trotzig.

Ihre Fingernägel waren immer sorgfältig gefeilt und in einem dunklen Rot lackiert, das mich an geronnenes Blut erinnerte. Sie geisterten durch meine Träume.

In meinen Albträumen sah sie zu, wie ich starb. Sie tötete mich nicht, dazu hätte sie mich anfassen müssen. Die Finger mit den roten Krallen zeigten auf mich, ich floh rückwärts und stürzte in einen reißenden Fluss, trieb auf einen Wasserfall zu, während ein nie gesehenes Lächeln ihre Lippen umspielte. Schweißnass wachte ich auf und kotzte. Der Eimer stand sicherheitshalber immer neben meinem Bett, damit Mutter nicht so oft das Bettzeug waschen musste.

*

Ich stand bei der bösen Oma am Fenster und beobachtete die Autos. Sie hatten liebe oder böse Gesichter und ich wartete darauf, ob als Nächstes ein liebes oder böses Auto um die Ecke gefahren kam.

Ist das meine erste bewusste eigene Erinnerung? Ich bin nicht sicher. Aber davon gibt es kein Foto, nichts, was Pseudoerinnerungen schaffen könnte. Und niemand konnte es mir erzählt haben, denn ich hatte mein Spiel niemandem verraten. Schon als Kleinkind wusste ich, dass wichtige Dinge geheim sein und bleiben müssen. Warum?

Dreieinhalb Jahre war ich bei Klärchens Geburt und für mindestens zwei Monate bei der Oma entsorgt. Was ich alles an Märchen und Spielen erfand, um mich zu beruhigen, erstaunt mich heute. Die Erinnerung macht mich traurig und doch war das Spiel wunderbar. Es war spannend. Bestimmt käme als Nächstes ein liebes Auto um die Kurve. Und wenn ich recht hatte, mein Spiel gewonnen war, freute ich mich. Das war so ein helles, süßes Gefühl im Bauch.

Und wieso wusste ich, dass die Oma, die Mutter meiner Mutter, böse war? Meine Welt war offensichtlich von Anfang an geteilt in Gut und Böse. Und meine Mutter musste mir schon früh, wie später so oft, erzählt haben, dass ihre Mutter böse war. Die böse Oma war jedenfalls eine praktische Frau, die einen großen Gemüsegarten und Enten, Hühner und Gänse versorgt hatte, im Gegensatz zur lieben Oma, der Mutter meines Vaters, die den Tag damit verbrachte, Patiencen zu legen.

Wenn ich von heute aus daran zurückdenke, friere ich. Zu sagen, Mutter hatte mir das beigebracht, ist falsch. So stimmt das nicht. Mutter machte wenige Worte, aber sie schaffte es, damit ein Netz zu spinnen, das alle in der Familie von den anderen auf Abstand hielt. Jedes Familienmitglied war einsam in seinem eigenen Knoten gefesselt. Die eine Oma war böse, die andere lieb und dumm. Mich bei einer von ihnen geborgen zu fühlen, wäre Verrat gewesen. Und sicher machten sich beide Omas Sorgen, was ich meiner Mutter über sie erzählte.

Vor den Gänsen auf dem Hof der bösen Oma hatte ich Angst, aber wenn ich erst einmal im Garten war, war es schön. Ich aß Johannisbeeren und spielte mit Weinbergschnecken. Es war spannend zu sehen, was sie taten, wenn ich ihren Weg unterbrach, sie einfach woanders hinsetzte oder ihnen Hindernisse baute.

Das Essen der bösen Oma sei eklig gewesen, schleimige Lauchsuppen, an denen meine Mutter gewürgt hatte, die sie irgendwie hinunterzwingen musste. Warum hatte ich diese Suppen geliebt? Sie waren weich und warm? Nie hätte ich das zugegeben, niemals war ich illoyal, aber ich aß brav und mit heimlicher Freude. Und würde für den Rest meines Lebens Suppen und Lauch lieben. Die silberne Teekanne auf ihrem fein ziselierten Gestell und die geschliffenen Teegläser in ihren silbernen Einfassungen. Das ist schön, fühlte ich als Kind, das ist feierlich und freute mich auf Tee, aber nie käme ein Wort über meine Lippen. Ich habe Oma nie gesagt, wie schön ich das fand. Ich durfte Mutter nicht verraten. Und später, als Schulkind wusste ich: Kreativität und Schönheit waren ganz anders, das hatte ich von Mutter gelernt.

Lange stille Wochen. Ich weiß nicht, ob ich weinte, ob ich fragte: Warum bin ich nicht zu Hause? Vermutlich eher nicht. Das Kind wollte gut sein, tapfer sein, keine Last für niemanden.

Als ich wieder nach Hause kam, war Klärchen da, meine Mutter mit dieser kleinen Schwester immer und überall beschäftigt, und ich allein im Kinderzimmer. Immerhin war ich schon dreieinhalb Jahre alt.

Es gab eine neue Heldinnengeschichte. Klärchen wäre fast gestorben, meine Mutter auch. Was das miteinander zu tun hatte, verstand ich nicht. Meine Mutter gab alles, um Klärchen zu retten. Sie malte nur noch wenig, denn Klärchen brauchte sie. Klärchen war jetzt zu Hause und ich wurde in den Kindergarten geschickt. Die Nonnen im Kindergarten waren nicht unfreundlich und das Kind war brav. Jetzt galt es, Klärchen zu retten, deshalb musste ich besonders brav sein.

Mit sechzehn schrieb ich: Die großartige Mutter. Bei den Nazis hat sie Brände auf dem Schuldach gelöscht und nun war sie wieder eine Heldin, die ihren Säugling rettete.

*