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Anfängliche Freude über ein Baby, die rasch in Angst, Verzweiflung und Depression umschlägt: Dieses Krankheitsbild nach der Entbindung wird bei jeder zehnten Frau diagnostiziert und aus Scham und Schuldgefühlen oft nicht angesprochen. Dieses Buch will bei Betroffenen und ihrem Umfeld für dieses Phänomen sensibilisieren, erklärt die Ursachen und Wurzeln dieser Krankheit und zeigt Möglichkeiten der Intervention auf. Aus dem Inhalt: Körperliche und psychische Ursachen Risikofaktoren und Krankheitsverlauf Bindungstheorie Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung Soziale Faktoren Wege aus der Krise
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Seitenzahl: 298
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Impressum:
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Ein Imprint der GRIN Verlags GmbH
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Coverbild: pixabay.com
Mutter(un)glück
Marianne Moratz-Buß (2003): Postnatale Depression und ihre Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Interaktion. Möglichkeiten sozialpädagogischer Einflussnahme
Einleitung
Depression
Gedanken zur Bindungstheorie
Eltern-Kind-Interaktion und Depression
Protektive Faktoren und Risikofaktoren
Interventionsmöglichkeiten
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Stephanie Herrmann (2006) : Postpartale Depressionen und ihre Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung
Einleitung
Allgemeine Begriffsbestimmung
Biologische und psychosoziale Veränderungsprozesse durch den Übergang zur Mutterschaft
Postpartale depressive Erkrankungen
Die Bindungstheorie
Die frühkindliche Interaktion zwischen Mutter und Kind
Postpartale Depressionen und ihre Folgen für die Kinder
Hilfs- und Interventionsmöglichkeiten
Gesetzliche Grundlagen
Präventive Hilfsangebote
Resümee
Literaturverzeichnis
Anhang
Dennis Becker / Hannah Pangerl (2009): Schwangerschaftsdepression. Postnatale Erkrankungen und deren biologischen, psychologischen und sozialen Ursachen
Einleitung
Postnatale Erkrankungen
Wer ist betroffen?
Fazit
Quellenverzeichnis
Einzelpublikationen
Schon immer war ich fasziniert von Säuglingen und Kleinkindern. Es erschien mir stets aufs Neue wie ein Wunder, dass sich aus einem kleinen Zellhaufen ein vollständiger kleiner Mensch entwickelt hat. Beeindruckt hat mich auch die Kompetenz von Säuglingen und Kindern, sich selbst bei widrigen Umständen in den meisten Fällen zu gesunden Erwachsenen zu entwickeln.
Leider musste ich jedoch immer wieder beobachten, dass die soziale und ökonomische Umwelt, in der ein Kind aufwächst, auch verheerende Schäden verursachen kann, an deren Folgen der Mensch auch im Erwachsenenalter noch zu tragen hat.
Eine depressive Erkrankung der Mutter eines Säuglings oder Kleinkindes ist eine solche Widrigkeit des Lebens, die Schädigungen oder zumindest Einschränkungen und Erschwernisse bei der geistigen und sozialen, vielleicht sogar bei der körperlichen Entwicklung des Kindes hinterlassen kann.
Da ich in meinem persönlichen Umfeld mehrfach das Phänomen der Wochenbettdepression beobachten konnte, beschäftigt mich dieses Krankheitsbild ganz besonders. So habe ich mich dazu entschieden, meine Arbeit diesem Thema zu widmen, um mich einmal ganz intensiv damit auseinandersetzen zu können. Es ist mir ein persönliches Anliegen, ein tieferes Verständnis für die Ursachen solcher Schädigungen zu erhalten.
Auf diese Weise hoffe ich, selbst Fehler vermeiden und sich an mich wendenden Eltern hilfreichen Rat geben zu können. Darüber hinaus wünsche ich mir, Aufklärungsarbeit leisten und meinen Teil dazu beitragen zu können, dass es künftig immer mehr Eltern gelingt, den Wiederholungskreislauf durch die Generationen zu durchbrechen.
Mein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der frühen Zeit, weshalb ich mich schwerpunktmäßig mit dem Säuglingsalter und nur am Rande mit dem Kleinkindalter allgemein beschäftigen möchte. Dies gilt ganz besonders für die Mutter-Kind-Interaktion in der frühesten Zeit.
Ich habe meine Arbeit in sechs Teile untergliedert.
Zunächst möchte ich allgemein auf depressive Störungen eingehen, die Besonderheiten der mütterlichen Depression nach einer Entbindung untersuchen, von anderen Störungsbildern abgrenzen und ihre Ursachen und Auswirkungen erläutern.
In einem zweiten Teil möchte ich einen ausführlichen Exkurs in das Thema der Bindungstheorie unternehmen, die einen unerlässlichen Teil zum Verständnis der Auswirkungen postpartaler Depressionen beiträgt.
Anschließend werde ich ein Kapitel der Eltern-Kind-Interaktion widmen, die das Bindeglied zwischen Bindungsverhalten und postpartalen Depressionen darstellt.
Danach wende ich mich wieder den postpartalen Störungen zu, um Risikofaktoren und schützende Elemente zu untersuchen. Diese stehen natürlich in engem Zusammenhang mit den Ursachen und Auslösern. Dennoch habe ich mich entschieden, sie erst an dieser späteren Stelle zu erläutern, da präventive Hilfsmaßnahmen an diesen Punkten ansetzen können.
Mit den Interventionsmöglichkeiten möchte ich meine Gedanken zum Thema dann abschließen. Dabei ist mir besonders der Blick auf die sozialpädagogischen Möglichkeiten wichtig, auch wenn ich der Vollständigkeit halber andere, nicht ausschließlich sozialpädagogische Hilfen erwähnen werde.
Ich habe in dieser Arbeit häufig die Mutter genannt, wenn es um die Interaktion mit dem Neugeborenen geht. Selbstverständlich ist auch der Vater hierbei von entscheidender Bedeutung und kann mit seiner Anwesenheit durch die mütterliche Depression verursachte Defizite sehr wohl ausgleichen. Die Bedeutung des Vaters für die kindliche Entwicklung wird noch immer erforscht, und gerade in jüngster Zeit fanden sich vermehrt Hinweise, dass seine Rolle bisher noch immer sehr unterschätzt wird. Diesem Thema habe ich ein eigenes Kapitel gewidmet.
Da es jedoch in unserem Kulturkreis nach wie vor meistens die Mutter ist, die als erste und „primäre“ Bezugsperson einem Kind zur Verfügung steht und sich zudem das Thema dieser Arbeit um die mütterliche Depression dreht, habe ich mich entschieden, zur Vereinfachung meistens nur die Mutter zu nennen. Dennoch sollte der Leser die Wichtigkeit und die ausgleichende Funktion anderer Bezugspersonen stets im Auge behalten.
Auch bei der Wahl des Begriffes „Sozialpädagogin“ habe ich mich zur Vereinfachung auf die Nennung der weiblichen Form beschränkt. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass diese Berufsgruppe sehr von Frauen dominiert wird, sondern auch damit, dass ich glaube, Frauen finden bei sensiblen „Mutter-Themen" eher Zugang zu betroffenen Frauen als Männer.
In vielen der Artikel und Veröffentlichungen, die ich im Laufe der Vorbereitung dieser Arbeit gelesen habe, sind die Begriffe „Wochenbettdepression“ und „Baby-Blues“ bunt durcheinandergemischt und verwechselt worden.
Besonders auf Elternforen herrscht diesbezüglich große Unsauberkeit bei der Verwendung der Begriffe, obwohl die Artikel sachlich oft hilfreich und inhaltlich richtig waren.
Deswegen ist es mir wichtig, diesen Teil meiner Arbeit zunächst mit einer Differenzierung zu beginnen.
Eine Depression ist eine sog. „affektive“ Störung, d. h. eine Störung der gefühlsmäßigen Erregbarkeit. In der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD) 10“ werden affektive Störungen so beschrieben:
„Bei diesen Störungen bestehen die Hauptsymptome in einer Veränderung der Stimmung oder der Affektivität, meist zur Depression hin, mit oder ohne begleitende Angst, oder zur gehobenen Stimmung. Dieser Stimmungswechsel wird in der Regel von einem Wechsel des allgemeinen Aktivitätsniveaus begleitet. [...] Der Beginn der einzelnen Episoden ist oft mit belastenden Ereignissen oder Situationen in Zusammenhang zu bringen.“ (ICD-10, Kapitel V (F), S.i131)
Depressive Störungen zeichnen sich durch tiefe Traurigkeit, Antriebslosigkeit, Gefühle der Sinnlosigkeit bis hin zu Suizidgedanken aus.
Betroffene Patient(inn)en neigen dazu, oft zu weinen, ohne einen Grund nennen zu können. Geringste Vorkommnisse mit anderen Personen oder auch geringfügig erscheinende Alltagsereignisse können als Auslöser für einen Weinkrampf ausreichen. Ihren Mitmenschen erscheinen sie dann übersensibel.
Depressiv kranke Menschen wirken häufig schwermütig, oft grübeln sie viel, manchmal sind sie aber auch leicht reizbar. Die Stimme wird meist leiser und die Sprache ist verlangsamt und monoton.
Häufig gehen mit einer depressiven Episode Gefühle der Minderwertigkeit und ein mangelhaftes Selbstwertgefühl einher. Oft sind diese Selbstzweifel begleitet von massiven Schuldgefühlen, gegenüber anderen Personen versagt zu haben.
Einige der Patienten machen sich über viele Dinge Sorgen, die gesunden Menschen alltäglich erscheinen. In gesteigerter Form kommt es zu Angstzuständen, die bis hin zu von den Patienten nicht erklärbaren Panikattacken führen können.
Gelegentlich treten auch psychosomatische Symptome in der Form von körperlichen Schmerzen auf. Viele Patienten klagen über Kopfschmerzen. Sie beschreiben, ihr Körper fühle sich an, als ob er „nicht zum Selbst gehöre“. Der Schritt wird schleppender und langsamer.
Gewichtsveränderungen, verursacht durch verminderten Appetit oder Heißhunger auf bestimmte Nahrungsmittel, treten ebenfalls häufig auf. Anhaltende Schlafstörungen - und damit eine permanente Steigerung der Müdigkeit und Erschöpfung - sind oftmals das Symptom, aufgrund dessen Betroffene sich entschließen, in die Behandlung kommen (vgl. DSM – IV – TR, 2003, S.i399).
Eine Depression kann auch exogen auftreten, z. B. verursacht durch eine körperliche Erkrankung, wie beispielsweise einen Hirntumor oder durch die Einnahme von Mitteln, z. B. Medikamente oder Drogen. An dieser Stelle soll jedoch nur von endogenen, d. h. ohne eindeutige Außenwirkung entstandene Depressionen die Rede sein.
Depressive Episoden können in Reinform (Major Depression) auftreten oder von manischen Episoden abgewechselt werden, welche durch hohe Betriebsamkeit, Euphorie, vermindertes Schlafbedürfnis und übersteigerte Selbstsicherheit gekennzeichnet sind.
Gelegentlich wechseln depressive und manische Phasen sogar täglich. Dann spricht man von einer gemischten Episode.
Bei einem Drittel der Patienten kommt es zu solchen Mischungen. Ist dies der Fall, spricht man von einem bipolaren Verlauf der Depression (vgl. Fachlexikon der sozialen Arbeit, S.i201).
An einer Depression in der reinen Form erkranken jugendliche und erwachsene Frauen doppelt so häufig wie jugendliche und erwachsene Männer, während vor der Pubertät Jungen und Mädchen gleich häufig erkranken (vgl. DSM – IV – TR, 2003, S.i422). Nach dem Klimakterium nähert sich die Häufigkeit wieder an.
„Postnatale Depression ist die Reaktion auf eine Geburtserfahrung, die allem Erwarteten widerspricht und darüber hinaus die Reaktion auf die gesellschaftlich vollzogene Isolation der jungen Mutter in Form von Wehr- und Hilflosigkeit ihrerseits“ (Windsor-Oettel, 1992; zit. n. Gröhe, 2003, S.i20).
Die im Volksmund „Wochenbettdepression“ genannte Störung wird unter Medizinern auch als Postpartum - Depression (PPD) oder als postnatale Depression bezeichnet. Sie kommt jedoch nicht als eigenständiges Störungsbild in der ICD 10 oder im „Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) IV“ vor.
Im DSM IV wird allerdings eine Zusatzcodierung „mit postpartalem Beginn“ vergeben, die an die Diagnose einer Störung angehängt werden kann,
„[...] wenn sie innerhalb von vier Wochen nach einer Entbindung aufgetreten ist. Die Symptome der Depressiven, Manischen oder Gemischten Episoden mit Postpartalem Beginn unterscheiden sich nicht von denen affektiver Episoden, die nicht postpartal auftreten.“ (DSM–IV–TR; 2003; S.i471i–i472)
Die Entsprechung im ICD ist die Klassifikation F53.0, die als „leichte psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett, nicht anderenorts klassifizierbar“ gekennzeichnet wird. Sie soll laut ICD 10 jedoch nur vergeben werden, wenn sich die Erkrankung nicht einer der klassischen psychischen Störungen zuordnen lässt. Im ICD 10 wird ein Beginn in einem sechswöchigen Zeitraum nach der Entbindung als Diagnosekriterium angeführt (vgl. ICD 10, 1993, S.i218).
Beim Vergleich der vorliegenden Literatur fällt jedoch auf, dass der für die Zusatzcodierung „mit postpartalem Beginn“ festgelegte Zeitraum noch viel uneinheitlicher interpretiert wird. Viele Autoren bezeichnen Depressionen, die bis zu einem Jahr nach der Geburt eines Kindes auftreten, als „postpartal“ (vgl. auch Gröhe, 2003, S.ii47).
Für eine engere Zeitfestlegung im DSM IV und im ICDi10 mag vielleicht sprechen, dass die meisten Wochenbettdepressionen schon früh einsetzen: 40 % von ihnen beginnen bereits in den ersten drei Wochen nach der Geburt. Bei 50 % der Patientinnen beginnt die Depression immerhin innerhalb der ersten fünf Wochen postpartum (vgl. O’Hara, 1997,+ S.i9).
Dem gegenüber stehen allerdings folglich die 50 % der Frauen, bei denen noch zu einem späteren Zeitpunkt eine Depression diagnostiziert wurde, welche die Zusatzcodierung „mit postpartalem Beginn“ erhielt.
Die Zusatzcodierung „mit postpartalem Beginn“ kann auf die Major Depression, eine von manischen oder gemischten Phasen unterbrochene Depression (Bipolar I Störung), eine von leichteren, die soziale oder berufliche Funktionsfähigkeit weniger beeinträchtigenden manieähnlichen Episoden (Hypomanen Episoden) unterbrochene Depression (Bipolar II Störung) oder auf eine kurze psychotische Störung angewendet werden (vgl. DSM – IV – TR, 2003, S.i471).
Kurze psychotische Störungen können auch infolge eines Traumas auftreten, so dass die Zusatzcodierung „mit Deutlichen Belastungsfaktoren“ möglich ist.
Mir stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob nicht auch die Entbindung als mütterliches Trauma gewertet werden kann, besonders bei schweren Geburten, welche die Gesundheit oder sogar das Leben der Mutter bedroht haben. An dieser Stelle sehe ich eine Überschneidung der beiden Zusatzcodierungen „mit deutlichen Belastungsfaktoren“ und „mit postpartalem Beginn“.
Postpartale Störungen können sowohl neurotischer als auch psychotischer Art sein. Beide Formen sind behandlungsbedürftig, wobei die psychotische Depression in der Regel medikamentös behandelt wird (vgl. Gröhe, 2003, S. 46). Dabei ist der Übergang zwischen beiden fließend.
Die meisten Autoren unterscheiden die postpartale Depression („Wochenbettdepression“) als neurotische Depression von der Wochenbettpsychose (vgl. Fallgatter, Schnizlein, Pfuhlmann, Heidrich; 2002, S.i680; O’Hara, 1997, S.i5).
Drei Studien aus Großbritannien zeigten eine Häufigkeit der Wochenbettdepression von 12 – 15 % aller Geburten. Ähnliche Studien in Nordamerika erbrachten ein Ergebnis von 8 – 12 % (vgl. O’Hara; 1997; S. 5). Wochenbettpsychosen treten dagegen in einer über alle Kulturgrenzen hinweg gleichbleibenden Häufigkeit von zwei pro tausend Geburten auf (vgl. Fallgatter, Schnizlein, Pfuhlmann, Heidrich; 2002, S.i680).
Wochenbettpsychosen können auch nicht depressiver Art sein: es gibt unter ihnen auch andere psychische Störungen, z. B. Schizophrenien. Die depressive Wochenbettpsychose ist jedoch die am häufigsten vorkommende Wochenbettpsychose, so dass ich die Möglichkeit des postpartalen Auftretens anderer Störungen hier nur der Vollständigkeit halber erwähne, ohne im Einzelnen näher darauf einzugehen.
Von Wochenbettdepressionen und Wochenbettpsychosen abgegrenzt werden muss der häufig in den ersten Tagen nach der Geburt auftretende sog. „Baby-Blues“, auch „Heultage“ genannt (Postpartum - Blues, postpartale Dysphorie). Als Auslöser werden von den meisten Medizinern hormonelle Schwankungen angesehen, da der Spiegel der Östrogene und des Progesterons am dritten bis fünften Tag nach einer Geburt rapide abfällt (vgl. Gröhe, 2003, S.i42).
Andere Autoren sehen den überwältigenden emotionalen Eindruck als Auslöser an, den das Geburtserleben hinterlässt (vgl. Fallgatter, Schnizlein, Pfuhlmann, Heidrich; 2002, S.i680).
Hinzu kommen noch körperliche Beschwerden nach der Geburt, z. B. der Milcheinschuss oder generelle Erschöpfungserscheinungen, die das Gefühlsleben einer Frau schon für sich allein genommen gehörig durcheinanderbringen können.
Unklarheit besteht bezüglich der Häufigkeit des Postpartum – Blues: während Riecher - Rössler von 25 bis 40 % der Wöchnerinnen spricht (vgl. Riecher – Rössler, 1997; zit. n. Gröhe; 2003; S.i41), nennen Fallgatter, Schnizlein, Pfuhlmann und Heidrich eine Häufigkeit von sogar 50 – 70 % aller Entbindungen (vgl. Fallgatter; Schnizlein; Pfuhlmann; Heidrich; 2002; S. 680).
Bei einer solchen Häufigkeit kann man eigentlich schon gar nicht mehr von einer „Krankheit“ sprechen, sondern muss den Baby-Blues als normales nachgeburtliches Phänomen betrachten, welches auch ohne Behandlung nach wenigen Tagen wieder verschwindet.
Friederun Gröhe (2003, S. 50 ff) hat aus der überwältigenden Flut von Studien eine Übersicht zusammengestellt, in der die wichtigsten Überlegungen zu möglichen Ursachen der PPD verglichen werden. Im Folgenden habe ich einige davon ausgewählt, die mir als besonders bedeutsam erschienen.
Lange Zeit wurden wie auch beim Baby-Blues hormonelle Schwankungen als biologische Auslösefaktoren einer postpartalen Depression diskutiert.
So gelangen Harris et al. (1989) der Nachweis, dass depressive stillende Mütter einen niedrigeren Progesteronwert haben als nichtdepressive stillende Mütter. O’Hara, Schlechte, Lewis und Varner (1991) fanden bei später depressiven Müttern einen geringeren Estadiolspiegel in der 36. Schwangerschaftswoche und am 2. Tag postpartum.
Zwei weitere Studien konnten jedoch keine Zusammenhänge nachweisen (vgl. O’Hara, 1997, S.i15). Gegen eine hormonelle Ursache spricht auch die Tatsache, dass einige der Frauen schon während der Schwangerschaft an Depressionen gelitten haben. Der Abfall des Hormonspiegels setzt jedoch erst frühestens mit der Geburt ein (vgl. Fallgatter, Schnizlein, Pfuhlmann, Heidrich; 2002, S.i648).
Mir selbst erscheint es angesichts der widersprüchlichen Befunde als unwahrscheinlich, dass allein die Hormone eine postpartale Depression verursachen. Sie könnten jedoch bei vorliegender Vulnerabilität bereits vorhandene depressive Tendenzen verstärken und so möglicherweise zur Erkrankung führen.
Als „biologischer“ Einflussfaktor und Auslöser der Depression denkbar sind auch die Erschöpfung und körperliche Beeinträchtigungen, die zunächst durch die Entbindung selbst ausgelöst werden, später jedoch durch Schlafentzug, besonders bei häufig schreienden Babys, verstärkt werden.
Hinzu kommt noch das bereits oben erwähnte Stillen mit damit verbundenen körperlichen Beschwerden.
Besonders erwähnenswert ist an dieser Stelle die von Gröhe genannte Wechselwirkung zwischen ängstlichen Erwartungen der Mutter und Schlafstörungen des Kindes: Sorgt sich die Mutter etwa in ausgeprägter Weise um die Gesundheit des Kindes, so kann genau diese gespannte Atmosphäre dazu beitragen, dass ein Kind unruhiger schläft als bei ausgeglichener Stimmungslage (vgl. Gröhe, 2002, S.i51).
Auch eine familiär bedingte Vulnerabilität ist möglich. So ergaben neuere Forschungen eine Häufung des Krankheitsbildes bei Töchtern, deren Mütter selbst an postpartaler Depression oder überhaupt an einer depressiven Störung erkrankt sind. Deshalb könnte man zunächst annehmen, dass es sich hierbei um erbliche Faktoren und somit eine körperliche Disposition handelt.
Erstaunlicherweise spielen die Väter jedoch keine so bedeutende Rolle bei der Weitergabe der Vulnerabilität wie die Mütter, obwohl sie doch zu ca. 50 % das Erbgut eines Menschen mitbestimmen. So liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei der familiären Häufung nicht um genetische, sondern eine soziale Weitergabe der Vulnerabilität handelt.
Auch aus diesem Grund ist eine Behandlung so wichtig. Möglicherweise kann durch Früherkennung eine „transgenerationale“ Weitergabe (d. h. Weitergabe über mehrere Generationen hinweg) vermieden werden (vgl. Gröhe, 2003, S.i55).
Viele der von Gröhe gesammelten und zusammengefassten Studien legen einen Zusammenhang zwischen depressiven Stimmungen schon während der Schwangerschaft und dem späteren Auftreten der PPD nahe. Auf dieses Thema werde ich nochmals näher eingehen, wenn ich mich mit den Risikofaktoren beschäftige.
Doch nicht nur bei depressiven Stimmungen, die während der Schwangerschaft eine diagnostizierbare Stärke angenommen haben, können Zusammenhänge zur PPD angenommen werden. Auch das allgemeine psychische Befinden der Mutter während der Schwangerschaft hat großen Einfluss auf eine spätere depressive Entwicklung.
Beispielsweise zitiert Gröhe eine umfangreiche Studie von Warner et al. (1996), in der u. a. eine ungeplante Schwangerschaft als Risikofaktor für eine sich entwickelnde PPD nachgewiesen werden konnte. Andere Autoren konnten einen Zusammenhang zu der Geplantheit der Schwangerschaft oder den Gefühlen bei ihrer Feststellung nicht nachweisen (vgl. Gröhe, 2003, S. 51).
Als Indikatoren zählen neben den optimistischen Erwartungen bezüglich des Kindes auch „life stress“ und die Zufriedenheit in der Partnerschaft. Negative Lebensereignisse während der Schwangerschaft oder im Wochenbett traten in den Studien bei postpartal depressiven Frauen wesentlich häufiger auf (vgl. Gröhe, 2003, S. 52).
Diese Punkte werde ich bei der Beschäftigung mit den „protektiven“ Faktoren und Risikofaktoren ausführlicher erläutern.
Unterschiedliche Ergebnisse erbrachten Studien, die den Zusammenhang zwischen komplikationsreichen Geburten und dem Auftreten der PPD untersucht hatten.
Gröhes Bemerkung an dieser Stelle kann ich vollkommen zustimmen, dass der Begriff „geburtshilfliche Komplikationen“ nicht eindeutig genug definiert wurde. Darüber hinaus betont sie, dass nicht der objektive Geburtsablauf, sondern das subjektive Geburtserleben der Mutter entscheidend ist. So zitiert sie beispielsweise eine Patientin (Karin), welche sie interviewt hatte:
„Ich hatte einfach richtig panische Angst, wenn sie [die Hebamme, M. M.-B.] rausging, ... ich hab mich total verloren gefühlt ... total hilflos und verloren. [...] ich hab das erste Mal so wirklich in meinem Leben gedacht: >>das schaff ich nicht!<< [...] ich glaub, da war auch das erste Mal diese Angst, die ich dann inner Depression richtig hatte, ähm, daß ich nich’ mehr wusste, wie’s weitergeht, die Angst, es hört nie auf.“ (Gröhe, 2003, S.i78)
Karin hatte medizinisch gesehen eine normale Geburt. Dennoch wurde die Entbindung für sie zu einer Grenzerfahrung und zu einem traumatischen Ereignis.
Ein wichtiger auslösender Faktor scheint auch die Nichtbewältigung der Beziehung zur eigenen Mutter zu sein. So berichtet z. B. Christiane Deneke, die in Hamburg eine Tagesklinik für psychisch gestörte Mütter und ihre Kinder leitet, von 13 Patientinnen, welche sie über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren behandelte:
„Keine dieser Frauen hatte eine gute Beziehung zur eigenen Mutter gehabt, alle beschrieben ihre Mütter als fern, kühl, emotional nicht erreichbar und verfügbar. [...] Die überwältigende Erfahrung der Mutterschaft hatte die Probleme intensiviert beziehungsweise erstmals (wieder) zum Aufbrechen gebracht, da sie die alten Konflikte aktualisierte, vor allem die mit der eigenen, als unbefriedigend und verständnislos erlebten Mutter.“ (Deneke, 2001, S.i155)
Wie aber kann man Liebe geben, wenn man selbst keine erhalten hat? Woher soll die Kompetenz kommen, angemessen und liebevoll mit einem Säugling umzugehen, wenn man selbst über große Teile oder gar die gesamte Kindheit hinweg keinen verständnis- und rücksichtsvollen Umgang erleben durfte?
In den Frauen herrschte ein großes Loch, das mit Zuwendung und Geborgenheit hätte gefüllt werden müssen. Oft steht auch hinter dem Wunsch nach Schwangerschaft die Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe.
Diese grundsätzliche Konfliktlage war bei allen von Deneke behandelten Patientinnen vorhanden, auch wenn sie verschiedene Formen der Kompensation gefunden hatten.
Manche verlagerten ihre Sehnsucht nach Anerkennung und Zuwendung in den Beruf und glänzten dort durch besondere Tüchtigkeit.
Andere stürzten sich in verschiedenste Aktivitäten, die gar keine Zeit zum Grübeln ließen.
Etliche vermieden nahe Beziehungen, um sich vor erneuten Enttäuschungen zu schützen. Das zog sich bis in die Partnerwahl: obwohl sie dem Partner vorwarfen, sie nicht genug zu lieben und zu distanziert zu sein, wählten sie dennoch immer wieder Partner, die ebenfalls nahe Beziehungen vermieden.
Bis zur Geburt des Kindes hatten die Abwehrmechanismen mehr oder weniger gut funktioniert. Nun aber sind sie unter den Anforderungen der neuen Rolle an Nähe und Verfügbarkeit zusammengebrochen. Die Frauen stehen vor dem Dilemma, die Mutter sein zu müssen und sein zu wollen, die sie selbst nicht hatten (vgl. Deneke, 2001, S.i155).
Auch stundenlanges exzessives Schreien des Kindes über eine längere Zeit kann eine Depression verursachen.
Auslösende Faktoren sind dabei vermutlich die andauernde Erschöpfung der Mutter und die zunehmende Gereiztheit in Kombination mit der hilflosen Verzweiflung und Ohnmacht aller Eltern, die ihr schreiendes Kind nicht beruhigen können.
Es ist jedoch zu bedenken, dass anfallsartiges Schreien bei Säuglingen und Kleinkindern auch ein Symptom für eine Depression des Babys seinerseits sein kann. Somit kann es sich auch um eine Wechselwirkung handeln: Die Mutter leidet an depressiven Verstimmungen, die es ihr schwer werden lassen, die kindlichen Signale zu verstehen. Das Kind reagiert mit Schreien, woraufhin die depressiven Tendenzen der Mutter verstärkt werden. So schreibt auch Stephanie Büning:
„Ursachen und Folgen von exzessivem Schreien können von außen betrachtet an einem gewissen Punkt nicht mehr auseinandergehalten werden. Eltern und Kind befinden sich in einem Teufelskreis aus Reaktionen, die sich gegenseitig beeinflussen und das exzessive Schreien aufrechterhalten können.“ (Büning, 2002, S.i15)
Die Autorin vertritt an dieser Stelle die Ansicht, dass den Eltern Unrecht getan wird, wenn man für das exzessive Schreien des Babys immer einen Schuldigen sucht, der mit seinem Fehlverhalten das Schreien ausgelöst hat. Vielmehr plädiert sie für Entlastung der Eltern in Form verschiedenster Beruhigungstechniken und einer Stärkung der Elternkompetenzen.
Von einer Frau, die Mutter wird, erwartet die Gesellschaft, dass sie sich glücklich fühlt. Auch die Schwangere selbst hat in der Regel ein Mutterbild voller hoher Ideale, die zu erfüllen sie sich nach allen Kräften bemüht.
Oftmals – und besonders bei Erstgebärenden – haben die werdenden Eltern auch eine etwas unrealistische und von ihren Wunschträumen durchzogene Vorstellung von dem Leben mit einem Baby.
Nach der möglicherweise schon für sich selbst genommen traumatischen Geburtserfahrung ist dann alles anders als „geplant“. Das Kind ist möglicherweise anstrengender als erwartet, die eigenen Kraftreserven reichen nicht aus und die Mutter erlebt eine persönliche Niederlage in ihrer eigenen mütterlichen Kompetenz. Je höher zuvor das Idealbild war, desto niederschmetternder wirkt u. U. die Realität.
Viele Mütter wollen und können sich nicht eingestehen, dass sich ihre hohen Vorstellungen von Mutterschaft so nicht realisieren lassen. Es fällt ihnen schwer, Hilfe anzunehmen, da sie dies als persönliches Versagen empfinden.
Hinzu kommt noch die Ambivalenz, die Mütter häufig in der Beziehung zu ihrem Säugling erleben. Da ist plötzlich so ein kleines Wesen, das rund um die Uhr Präsenz und völlige Hingabe einfordert.
Auf der anderen Seite wünscht sich die Mutter vielleicht, selbst getröstet, bemuttert und gepflegt zu werden. Das Kind wird als „Konkurrenz“ und als „Eindringling“ erlebt. Diese Situation löst bei der Mutter häufig auch Aggressionen gegenüber dem Baby aus, die meistens nur indirekt geäußert und zugegeben werden können.
Obgleich der Mutter meist bewusst ist, dass ein Kind weder für seine Existenz noch für seine Hilfsbedürftigkeit etwas kann, ist sie gegen ihre eigenen überwältigenden Gefühle machtlos. Dieses Wissen löst Schuldgefühle aus.
Nicht selten wünscht sich eine überforderte Mutter insgeheim sogar den Tod des Kindes, weil sie die Situation nicht länger zu ertragen glaubt.
Sich solche Wünsche einzugestehen, löst noch stärkere Schuldgefühle aus, zumal das Umfeld mit hoher Wahrscheinlichkeit voller Entsetzen reagieren würde, sollte die betroffene Frau es wagen, diese quälenden Gedanken laut auszusprechen. Eine Mutter hat glücklich zu sein!
Eine solche Zahl an Enttäuschungen und Überforderungssituationen kann schon eine gesunde Mutter an den Rand ihrer Kräfte bringen.
Bei an Wochenbettdepressionen erkrankten Müttern kommen die depressiven Symptome noch hinzu:
Antriebslosigkeit erschwert die Bewältigung des ohnehin schwierigen und ungewohnten Alltags mit einem Neugeborenen.
Tiefe Traurigkeit lässt den letzten Rest von Freude über das Kind immer weiter schwinden, die doch eigentlich den Antrieb schaffen sollte, neue Kraftreserven zu mobilisieren.
Gefühle der Wertlosigkeit verstärken das bereits angeschlagene Selbstbewusstsein, nicht die gute Mutter sein zu können, die man doch so gerne sein wollte.
Die Mutter steckt in einem Strudel der Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit. Jemand, der gerade einen persönlichen Verlust betrauert, würde das Mitgefühl seines Umfeldes ernten. Man würde ihn hegen und pflegen, versuchen ihn aufzumuntern und zu trösten, ihm eine Phase des „Ausstieges“ zugestehen, in der er sich versorgen lassen darf wie ein kleines Kind.
Eine gute Mutter jedoch, so denken die meisten, hat kein Recht, unglücklich zu sein. Niemand anerkennt, dass auch sie einen Verlust betrauert: den Verlust ihrer eigenen Kindheit, den Verlust ihrer Unabhängigkeit.
Mehr noch: sie muss selbst die Rolle einnehmen, die ihr gerade am meisten fehlt, muss selbst bemuttern, vollkommen zur Verfügung stehen.
Nicht ohne Grund schildern viele betroffene Frauen das Stillen ihres Kindes als Qual: sie fühlen sich ausgelaugt, regelrecht aufgesogen, aufgefressen, ausgehöhlt.
Ein weiteres Problem stellt die soziale Isolation dar. Von Depressionen betroffene Mütter trauen sich häufig nicht, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und über ihre Schwierigkeiten zu sprechen.
Sie fürchten, auf wenig Verständnis zu treffen und obendrein nagt ohnehin ständig das eigene Schuldgefühl, eine schlechte Mutter zu sein. Das muss man sich nicht auch noch von anderen permanent bestätigen lassen. Die Folge ist Rückzug.
Die selbstgewählte Isolation jedoch ist oft ein weiterer Grund für Verzweiflung und Einsamkeit. So verstricken sich die betroffenen Frauen in einen Teufelskreis, aus dem es ohne Hilfe von außen nur sehr schwer ein Entrinnen gibt.
In ganz besonderer Gefahr sind diesbezüglich alleinerziehende Mütter.
Das Leben mit einem Neugeborenen oder einem Kleinkind erfordert ein hohes Maß an Flexibilität. Babys haben die Angewohnheit, sich nicht an die Zeitpläne ihrer Eltern zu halten.
Bedingt durch die von Kind zu Kind unterschiedlichen Rhythmen von Schlaf- und Wachzuständen und den Abständen, in denen das Neugeborene gefüttert werden muss, ist eine beinahe ununterbrochene Präsenz der Bezugsperson notwendig. Dies ist besonders dann der Fall, wenn eine Mutter stillt.
Die Zeiten, in denen eine stillende Mutter abkömmlich ist und von jemand anderem, z. B. dem Vater, „vertreten“ werden kann, sind durch die Notwendigkeit des regelmäßigen Stillens zeitlich sehr begrenzt. Daher fordert es der Mutter ein hohes Maß an Organisation ab, sich Zeiten für sich selbst zu „erkämpfen“. Wie leicht ihr das gelingt, hängt auch vom Grad der Unterstützung in ihrem Umfeld ab.
Diese schwierige Zeit wird durch eine postpartale Depression noch zusätzlich erschwert.
Depressiven Patientinnen fällt schon der ganz normale Tagesablauf schwerer. Eine betroffene Mutter erzählte mir, dass sie allein für das morgendliche Aufstehen aus dem Bett eine Stunde Zeit benötigte. Ganz gewöhnliche Alltagserledigungen, wie z. B. ein Wocheneinkauf, erfordern plötzlich eine unvorstellbare Kraftanstrengung.
Zudem fällt es betroffenen Frauen schwer, sich auf eine Tätigkeit zu konzentrieren. Leicht wandern Gedanken zu anderen Dingen und Angefangenes bleibt liegen.
Angesichts dieser Umstände verwundert es nicht, dass an Wochenbettdepressionen erkrankte Mütter häufig darüber klagen, ihnen wachse zusätzlich zu den Anforderungen des Babys auch alles andere über den Kopf, besonders der Haushalt. Dies mag sich für die Situation der Mutter eines Neugeborenen zunächst relativ normal anhören.
Das häusliche Chaos kann jedoch in einzelnen Fällen dramatische Ausmaße annehmen, so dass auch die hygienischen Bedingungen bedenklich werden. Auch der Streit mit dem Partner ist dann fast vorprogrammiert.
Das größte Problem stellt für die Frauen jedoch meistens ihr eigener Anspruch dar, den Haushalt weiterhin so gut wie zuvor zu meistern, und den Forderungen ihrer Mitmenschen zu genügen.
„Du bist doch jetzt zu Hause und hast Zeit“, müssen sich viele Mütter anhören. Auch manche Ehemänner sind diesbezüglich relativ fordernd. In vielen Partnerschaften gibt es nach der Geburt eines Kindes häufig Streit, weil die Vorstellungen von der gegenseitigen Unterstützung durch den jeweils anderen Partner nicht so wie erwartet erfüllt werden.
Mit solchen Problemen haben auch nicht depressive Mütter zu kämpfen. Bei depressiven Patientinnen kommt erschwerend hinzu, dass sie keine plausible Erklärung für ihr „Versagen“ liefern können. Sie haben es eben nicht geschafft, die Wäsche aufzuhängen und Staub zu saugen, obwohl das Kind ganz friedlich geschlafen hat und auch keine Blähungen hatte – sie wissen ja selbst nicht, weshalb sie so unglücklich sind, „nichts“ zuwege bringen und sich wie gelähmt fühlen!
Meistens war es von Seiten der Eltern nicht eingeplant, dass die betroffene Mutter so viel Unterstützung benötigen würde. Manche Partner nehmen sich zwar die ersten Wochen nach der Geburt frei, um die Partnerin unterstützen und die erste Zeit mit dem Kind intensiv miterleben zu können.
Dann jedoch hat wieder Alltag einzukehren. Auch berufliche Verpflichtungen machen dies notwendig. Väter sind meistens bereit, der Mutter abends das Kind abzunehmen, um ihr ein wenig freie Zeit zu verschaffen. (Oft versuchen Mütter diese Zeit jedoch zu nutzen, um Liegengebliebenes zu erledigen – falls sie dazu noch die Kraft aufbringen.) Braucht die Mutter darüber hinaus auch weiterhin noch intensive Unterstützung, so stößt dies häufig auf wenig Verständnis.
An PPD erkrankten Patientinnen fällt es oftmals besonders schwer, die Signale des Babys zu deuten. Dies führt zu großer Unsicherheit. Vielleicht mag darin die häufig verbreitete Sorge ihre Wurzeln haben, das Kind würde womöglich nicht ausreichend wachsen und an Gewicht zunehmen.
Diese Sorge, verbunden mit der eigenen Unsicherheit, führt bei vielen Müttern zu einem überhöhten Kontrollbedürfnis. Betroffene Frauen erzählen, das Kind mehrmals am Tag gewogen zu haben und schildern ihre Erleichterung, nach dem Abstillen anhand der Milliliter-Angaben auf dem Fläschchen einen genauen Überblick über die getrunkene Menge zu behalten (vgl. Gröhe, 2003, Fallbeispiele Karin, Inga, Swantje).
Obwohl es angesichts der übertriebenen Sorge der Mütter zunächst unwahrscheinlich erscheint, kann die durch die depressiven Symptome ausgelöste Desorganisation, Verwirrung und Verlangsamung, je nach Schweregrad der mütterlichen Depression und der (nicht) vorhandenen Unterstützung durch Partner, Bekannte oder Eltern, tatsächlich dazu führen, dass das Kind nicht angemessen versorgt wird.
Langjährige Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass in allen Kulturkreisen und trotz verschiedener Traditionen und Erziehungsvorstellungen Erwachsene auf ein Baby ähnlich reagieren. Es scheint sich dabei um universell angelegte intuitive Verhaltensweisen zu handeln, die durch Signale des Kindes ausgelöst werden.
Beispielsweise versuchen Eltern auf der ganzen Welt, ein weinendes Baby zu beruhigen, indem sie es an die Schulter lehnen, es wiegen oder rhythmisch auf den Rücken klopfen und dabei mit sanfter, beruhigender Stimme in niederfrequenten Sprechmelodien und in langsamem Tempo mit ihm sprechen.
Intuitiv suchen Eltern auch den Blickkontakt zu ihrem Kind, den es zur Rückversicherung braucht, ehe es sich auf z. B. ein aufregendes neues Spielzeug oder eine fremde Person einlassen kann.
Neugeborene sind in ihren Möglichkeiten noch sehr eingeschränkt, diesen wichtigen Blickkontakt herzustellen, da ihre Augen- und Kopfbewegungen noch recht unkontrolliert sind und sie nur in einer Entfernung von ca. 20 cm einigermaßen scharf sehen können. Eltern helfen ihrem Kind, diesen Blickkontakt herzustellen, indem sie ihr Gesicht immer wieder ins Zentrum des Blickfeldes des Neugeborenen bringen und mit Schnalzlauten oder anderen typischen Rufen seine Aufmerksamkeit erregen.
Messungen haben ergeben, dass sie dabei einen durchschnittlichen Abstand von 21 cm zum Gesicht des Kindes halten (vgl. Papoušek, 1995, S.i8). Sie tun das sogar dann, wenn sie eigentlich felsenfest davon überzeugt sind, dass Babys in diesem Alter noch gar nichts sehen können (vgl. Schoetzau & Papoušek, 1977; zit. n. Papoušek & Papoušek, 1997, S.i38).
Kindliche Blickzuwendung wird von den Eltern kontingent und regelmäßig mit einer Latenz von 200 – 600 ms durch eine Grußreaktion belohnt, wobei die Pflegepersonen einen vereinfachten und übertriebenen Gesichtsausdruck aufsetzen, der dem Kind die Einordnung in Schemata erleichtert (vgl. Papoušek, 1995, S.i6). Auf die Relevanz dieser Schemata werde ich im Kapitel über die Eltern-Kind-Interaktion noch ausführlicher eingehen.
In diesem sich stets wiederholenden Kontext lernt der Säugling schon innerhalb der ersten Lebensmonate, dass er durch sein eigenes Blickverhalten auf Seiten seiner vertrauten Bezugsperson etwas bewirken kann. Das Kind speichert diese Erfahrungen, baut darauf auf und lernt, durch Signale um Wiederholung der vertrauten Erfahrungen zu bitten (vgl. Papoušek, 1995, S.i8).
Eine Mutter, welche unter Depressionen leidet, ist oft nicht in der Lage, diese notwendigen Interaktionen angemessen durchzuführen.
Wenn das Kind sich um ihre Zuwendung bemüht, spiegelt sich auf ihrem Gesicht häufig keine Antwort auf die kindlichen Versuche der Kontaktaufnahme. Sie sieht es weniger häufig an, lächelt ihm seltener zu und kann sich nur schwer auf Nachahmungsspiele mit dem Baby einlassen. Dies hat schwere Folgen für die Entwicklung des Neugeborenen.
Im Jahr 1978 entwickelten Tronick und seine Mitarbeiter ein Experiment, das noch heute häufig für die Untersuchung spezifischer früher Interaktionsmuster zwischen Mutter und Kind herangezogen wird. In ihrem bekannten „Still-Face“-Experiment untersuchten sie die Bedeutung der „Ich-lächle-du-lächelst-zurück“ -Spielchen zwischen Mutter und Kind (vgl. Reck et al., 2001, S.i171).
Bei diesem Versuch wurden die Mütter gebeten, mitten in der Interaktion mit ihrem Kind auf ein Signal hin die Gesichtszüge einzufrieren und an ihm vorbeizusehen, ohne auf das Kind zu reagieren. Damit wurde eine mütterliche Depression unter Laborbedingungen modellhaft nachgestellt.
Die Kinder reagierten auf diese für sie sehr befremdliche Situation in der Regel zunächst damit, sich verstärkt um die Aufmerksamkeit der Mutter zu bemühen. Wenn ihnen das nicht gelang, wendeten sie sich irgendwann irritiert und weinerlich ab. Die Kinder vergewisserten sich jedoch eine Zeitlang immer wieder, ob ihre Mutter sie wohl inzwischen erneut ansah. Blieb die Mutter trotzdem unerreichbar, sanken die Kind in sich zusammen, wendeten sich ab und versuchten, sich selbst irgendwie zu trösten (vgl. Deneke & Lüders, 2003, S.i177).
Die Weinerlichkeit eines Kindes stellt eine gesunde Protestreaktion gegen solch abweisendes Verhalten dar. Babys, welche schon längere Zeit nur zu emotional unerreichbaren und zurückgezogenen Eltern Kontakt hatten, bemühen sich nicht mehr durch Weinen und Unzufriedenheit um Aufmerksamkeit. Sie ziehen sich immer weiter in sich selbst zurück und wirken ihrerseits depressiv!
Dementsprechend reagierten bei dem Versuch Kinder, deren Mütter wirklich depressiv waren, nicht mit verwundertem Protest. Sie waren an dieses Verhalten von der Mutter anscheinend bereits gewöhnt und hatten resigniert.
Eine besonders kritische Phase scheint hier die Zeit zwischen dem 12. und 18. Lebensmonat zu sein, da die Kinder in diesem Alter den Eltern verstärkt emotionales Engagement abverlangen. Bei emotional nicht verfügbaren Eltern verschlechterte sich die Bindungsqualität der betroffenen Kinder dramatisch (vgl. Deneke & Lüders, 2003, S.i177).
Oft zeigt sich eine Depression bei Kleinkindern und Säuglingen in der Form von Wachstums- und Gedeihstörungen (englisch: failure to thrive, FTT). Sie sind wohl neben exzessivem Schreien mit die häufigste Störung, aufgrund der Eltern mit ihren Kindern in eine Behandlung kommen.
„[...] between 15% to 35% of FTT infants have both organic and nonorganic contributors (Singer, 1986; Chatoor, Egan, Getson, Menville, & O’Donnel 1987), whereas only 16% to 30% of FTT children have organic problems severe enough to explain their growth failure (Benoit, 1993).“ (Guedeney, 1997, S.i339)
Nur bei 16 bis 30 % aller aufgrund von Gedeihstörungen behandelten Kindern liegen so schwere organische Ursachen vor, die eine solche Störung allein erklären können. Dagegen wurden bei 15 bis 35 % der Kinder sowohl körperliche als auch seelische Ursachen für die Gedeihstörung gefunden. Daraus lässt sich ableiten, dass zwischen 70 und 84 % aller wegen Gedeihstörungen behandelten Kindern seelische Ursachen zum Teil oder ganz die Ursache der Erkrankung ausmachen.
Leider ist eine genaue Diagnose kindlicher Depression aufgrund fehlender allgemein anerkannter Bewertungsskalen bisher nur sehr eingeschränkt möglich. Allerdings hat sich bei der Untersuchung von Kindern depressiver Mütter gezeigt, dass diese Kinder sowohl in der Interaktion mit ihren Müttern als auch mit anderen erwachsenen Personen negativer reagieren. Das kindliche depressive Verhalten hatte sogar wiederum eine negative Auswirkung auf das Interaktionsverhalten von nicht depressiven erwachsenen Interaktionspartnern:
„In the study in which infants of depressed mothers acted depressed with nondepressed adults, the infants ‘depressed’ style of interacting also had a negative effect on the nondepressed adult’s (teacher’s) behavior (Field et al., 1988). Even though the nondepressed teachers were unaware of the group classification of the infants, their behavior was less optimal with infants of depressed mothers.” (Martinez, Malphurs, Field; 1996, S.i76)
Es liegen folglich durchaus schon Untersuchungsergebnisse vor. Es lässt sich lediglich keine genaue medizinisch anerkannte Diagnose aus dem kindlichen Verhalten ableiten.
Antoine Guedeney kritisiert diesen Zustand demzufolge auch hart:
„The lack of clear definition of withdrawal and depression in infancy, along with the lack of validated assessment scales, is an obvious shortcoming in studies of the clinical consequences of maternal depression.“ (Guedeney, 1997, S.i344)
„Das Fehlen einer klaren Definition von Rückzugsverhalten und Depression bei Kleinkindern im Zusammenhang mit dem Fehlen einer anerkannten Bewertungsskala ist eine offensichtliche Unzulänglichkeit der Untersuchungen über die klinischen Konsequenzen mütterlicher Depression.“
Die mangelnde Fähigkeit, auf die Signale des Kindes adäquat einzugehen, kann sich auch in einer Überstimulation äußern. Diese Gefahr besteht vor allem bei agitierten Depressionen oder bei bipolaren Depressionen mit manischen Phasen.
Säuglinge reagieren auf nicht aggressiv getönte Überstimulation, indem sie sich von der Mutter abwenden und alles passiv über sich ergehen lassen. Die Mütter fassen solches Verhalten oftmals als Ablehnung ihrer Bemühungen auf und antworten mit noch stärkerer Stimulation.